Bishdariels Bruder
Bishdariels Bruder
oder
Die Schatten der Vergangenheit
Der Sendbote für die Träume ist der zwiegestaltige Bishdariel, den man den Träumer und Ewigen Schläfer nennt, denn ihm entspringt ein jeder Traum, der je von einer Kreatur geträumt, und er ist es, der in der Nacht die Träume in die Köpfe der Schläfer trägt. Und zwiegestaltig nennt man ihn, da er zwei Gesichter hat: Ein Antlitz ist so schön und bunt wie das Gefieder eines prachtvollen Vogels. Und in dieser Gestalt, als prächtiger Vogel mit schillerndem Federkleid, bringt er den Menschen die süßen Träume, in denen sie Kraft für den nächsten Tag schöpfen dürfen.
Seine andere Gestalt ist aber von solcher Abscheulichkeit, daß ein Daimon sich bei ihrem Anblick in Ekel winden würde: Moderndes Fleisch hängt von den blanken Knochen des gewaltigen Krähenvogels, die rußfarbenen Schwingen sind durchlöchert, nur wenige zerschlissene Federn sein Kleid. Der Hauch des Todes umwölkt sein widerwärtig anzuschauendes Haupt, der Gestank nach Verwesung und Verfall ist allzeit um ihn. Sein Schnabel ist scharf und gebogen wie der eines Raubvogels, mit langen scharfen Klauen zerfetzt er den Frevler, dem Gewissenlosen, das schlafende Herz in der Brust. Die Augenhöhlen Bishdariels, des Peinigers, aber sind leer und tot, und dennoch weiß er stets, wo diejenigen zu finden sind, die er heimsuchen soll.
Aus dem Schwarzen Buch von Punin
Praeludium
Der Mann ohne Namen erwachte. Stöhnend blickte er auf seinen schwarzen Waffenrock, der ebenso blutgetränkt und zerhackt war wie das Kettenhemd aus dunklem Metall. Im Rücken spürte er weichen Schlamm, feucht und glucksend. Ein schwerer, süßlicher Geruch, den er vom Schlachttag her kannte. Fahles Licht flackerte vor seinen Augen. Ansonsten war es dunkel. Sein Schädel dröhnte wie eine Kriegstrommel. Die Übelkeit war atemberaubend.
Irgendeine Wunde am Arm brannte niederhöllisch. Auch die Stirn glühte. Am schlimmsten aber war der pochende, klopfende Schmerz im rechten Unterschenkel - ein Gefühl, als säße ein fetter Oger auf seinem Schienbein und nagte daran. Der Knochen, etwas stimmte mit ihm nicht. Sein Bein fühlte sich merkwürdig schlaff an. Ein verwirrender, lauernder Brechreiz. Schwindel im Kopf. Sternchen. Ihr guten Zwölfe, gleich würde er kotzen. War das der Tod? Wenn ja, dann war er jämmerlich. Ganz anders als in den Heldensagen.
Reiß dich zusammen, herrschte sich der Namenlose an. So schnell stirbt ein Mensch nicht. Du bist am Leben. Aber wo war er? Die behandschuhte Rechte ertastete neben ihm, im Morast, eine Waffe. Ein Rabenschnabel. Ein schwarzglänzender Schatten, der auf seiner Brust gesessen hatte, flatterte ob der Bewegung kreischend auf. Eine Krähe? ! In jäher Panik rieb er sich über die Augen. Beide waren heil und nicht ausgehackt, den Göttern sei Dank.
Erst jetzt merkte er, dass er sich kaum bewegen konnte. Kalt, schwer und dampfend lag ein Pferdekadaver auf seinem rechten, schmerzenden Bein, das andere steckte noch im Steigbügel. Vermutlich war das eingeklemmte Bein gebrochen.
Die Nacht roch nach Blut, Tod, beginnender Verwesung und ausgeglühtem Metall. Irgendwo in der Nähe brannte ein Feuer. Vielstimmiges Stöhnen und Gewinsel, aus der Ferne auch laute, hektische Schreie.
„Mutter, Mutter....Mein Bauch, oh, mein Bauch....“
Irrsinniges Gelächter.
„Heilige Zwölfe, steht mir bei!“
Weitere Krähen schwirrten in Schwärmen durch die Luft, hässliche schwarze Fetzen vor unruhig flackerndem, rotem Hintergrund. Knurrende Hunde balgten sich um irgendein Aas, von dem sich der Mann nicht vorstellen wollte, wie es aussah. Rauch oder Nebel zog über die Einöde, die von zerklüfteten Hügeln aus Leibern, mattglänzendem Metall, Pfeilen und Lanzenschäften starrte.
Eine Schlacht . . . das hier war ein Schlachtfeld. Jähes Grauen packte ihn. Der Krieger versuchte sich unter dem dunklen, massigen Pferdeleib herauszuwühlen, aber nur das klebrige, blutstarrende Fleisch des Tieres gab nach.
Er griff nach dem Rabenschnabel und drückte damit gegen den Sattel. Auch das half nicht viel. Schließlich kam er auf die Idee, den eisenverstärkten Schaft der Waffe als Hebel einzusetzen. Ein Stein gab ein gutes Widerlager ab. Nach einigen Fehlversuchen hob er das Tier an. Ein nasses Geräusch, dann glitschte auf der anderen Seite etwas Übelriechendes aus dem Bauch. Die Eingeweide.
Ftt, ftt, ftt ....Krah, krah.
Erneut flatterten Krähen auf.
Aber er hatte jetzt keine Zeit, Ekel zu empfinden oder zu speien. Mit dem gesunden linken Bein stemmte er sich gegen den Boden und wand sich langsam, ganz langsam unter dem Kadaver hervor. Das andere Bein war eindeutig gebrochen. Nun, da es nicht mehr belastet wurde, war der Schmerz erträglich, nur die Übelkeit machte ihm zu schaffen. Irgendetwas hatte ihn am Kopf getroffen, denn er fühlte sich benommen, wie in Bausch gepackt. Tatsächlich, dort lag ein Helm mit schnabelförmigem Visier, völlig zerbeult.
Die allgegenwärtige Feuchtigkeit und der Geruch nach nassem Schlamm sagten ihm, dass in der Nähe ein Fluß sein musste. Langsam kroch er los, über einige bleiche Leiber hinweg, die steif und verrenkt neben ihm lagen. Schließlich lag er wieder in rötlich glänzendem Matsch. Würgend gab er seinen Mageninhalt von sich. Danach fühlte er sich besser.
Tatsächlich, dort vorne war Schilf. Wasser war gut, er hatte brennenden Durst. Mühsam robbte er auf die schimmernde Fläche hinter den sacht raschelnden Halmen zu. Auch dort lagen überall Körper. Wie die Stacheln eines Igels ragten Pfeile aus dem Boden, einige davon waren abgebrochen. Nebel waberte durch die Nacht – sowohl in seinem Kopf als auch vom Fluß her.
Ein Stöhnen war von einem der Leiber zu hören. Der Soldat trug ein Kettenhemd und einen schwarzen Waffenrock wie er selbst, der mit einem gebrochenen Rad unter einem Schwingenpaar geziert war. Der Helm in Form eines Rabenkopfes war geschlossen. Irgendwie schien der Verwundete zu seiner Seite zu gehören, auch wenn keiner der übrigen Gefallenen diese Rüstung trug. Er kroch auf ihn zu und hob das Visier. Ein blasses, müdes Frauengesicht starrte ihn an. Die Kriegerin lebte. Sie schien ihn, wenn auch nur mühsam, zu erkennen.
„Bishdarielon....“
Dann verschwand der Glanz aus ihren Augen, wie das Licht einer Kerze, das von einem jähen Windhauch ausgelöscht wurde. Sie war tot.
Der Mann mit dem gebrochenen Bein prallte zurück und fiel auf die Seite. War das sein Name – Bishdarielon?
Mit voller Wucht kehrten die Schmerzen zurück. Er schrie, brüllte wie ein verwundetes Tier, dann umfing auch ihn gnädige Dunkelheit.
1. Kapitel: Nacht
Siehe den Tag! Er endet, wenn die Nacht anbricht.
Siehe die Gier! Sie füllt den Becher, wenn Steine schreien und Vögel weichen.
Siehe die Angst! Sie lacht, wenn der Himmel das Trauergewand näht.
Siehe das Siegel! Es bricht, wenn die Federn golden fallen.
Siehe den Abgrund! Er verschlingt, was am Ochsenflusse grast.
Siehe den Zorn! Er leert den Becher, wenn Löwe und Einhorn nicht vereint.
Siehe den Goldenen Altar! Er vergeht in Flammen, wenn . . .
Jahresorakel vom 1. Praios 1027 BF, abgebrochen
Mag sein, dass Ihr Euch nicht mehr für den Krieg interessiert, meine Schüler. Aber irgendwann wird sich der Krieg wieder für Euch interessieren.
Rohal der Weise
Purpurne Nebel waberten in der endlosen Finsternis vor seinen Augen.
Hast du wirklich geglaubt, mich mit einem solchen Taschenspielertrick täuschen zu können, du schmieriger Gaukler? Was für eine jämmerliche Finte, den Friedwanger mit einem Eibenbäumchen zu vertauschen und als Nebel vom Grab entkommen zu lassen. Einem Scharlatan auf dem Marktplatz angemessen, aber eines Gottes unwürdig.
Merwan gluckste, halb wahnsinnig, halb selbstgefällig.
Ist das alles, was du kannst, Phex ?
Der Vampir öffnete die blassen Lider und enthüllte zwei Pupillen ohne jedes Leben, ohne einen Funken Licht. Mit einem klickenden Geräusch legte er die Krallen gegeneinander. Sein starrer Blick fiel auf die verzerrte Fratze unter der Dämonenkrone.
Die klauenbewehrten, spinnenbeinähnlichen Finger tasteten über den Marmor des Altars, auf dem vor noch nicht allzu langer Zeit Weihrauch zu Ehren des „Götterfürsten“ verbrannt worden war. Aber die heiligen Rauchschwaden waren aus diesem Tempel ebenso verschwunden wie die Predigten oder frommen Gesänge der Praiospfaffen. Für immer. Zufrieden sah das Kind der Finsternis die Blutflecken auf dem Stein und die tiefen Scharten, die Warunks Schwerter darauf hinterlassen hatten. Eisiger Nachtwind blies durch die zerschlagenen Fensterscheiben, die bis vor kurzem von Greifen oder bunten Heiligenfiguren geziert worden waren. Einzelne Wolkenfetzen zogen draußen am fahlen Mondlicht vorbei. Obwohl das Gemäuer erst vor wenigen Jahren errichtet worden war, wirkte es bereits so trostlos und leer wie eine seit vielen Jahrhunderten verfallene Ruine.
Gerade deswegen kam er so gerne hierher.
Was konnte Ihm gefälliger sein als ein entweihter Tempel des Praios, besudelt mit dem Blut der gnadenlos abgeschlachteten Geweihten? Nur dass die Monstranz mit dem Ewigen Licht verschwunden war, bevor Merwan es hatte schänden können, schmälerte seinen Triumph ein wenig. Dafür hatte er die prahlerische Figur des Gottes mit der Hilfe Maruk-Methais zertrümmert und durch eine andere Statue ersetzt. Ein Kunstwerk. Sein Werk.
Der Tote stand widernatürlich verkrümmt vor ihm, exakt im Augenblick des Todes erstarrt. Das Gesicht, nein, die Fratze verriet noch unter einer fingerdicken Schicht aus Blei stumme, unsägliche Qualen, während sich die Hände verzweifelt ins Leere krallten. Wäre der grausilbrige Glanz des Metalls nicht gewesen, man hätte es für chaotisch herabperlendes Wachs halten können. Dort, wo dem Gärtner das kochende Blei in den Mund gelaufen war, klaffte ein lichtloser Spalt wie ein Zugang in die Niederhöllen.
Mit seinen scharfen Sinnen erschnupperte Merwan unter der Kruste aus Metall den Geruch verbrannten Fleisches. Einen Augenblick lang erinnerte er sich genießerisch an die schrillen Schreie des Mannes, als er mit dem kochend heißen Blei übergossen worden war – beinahe hysterisch ob der Erkenntnis, dass der Tod eines Menschen derart qualvoll sein konnte.
Natürlich hatte er den armen Odelind nicht aus Grausamkeit hingerichtet, jedenfalls nicht nur. Merwan hatte sofort gespürt, dass der verrückte Gärtner über hellseherische Fähigkeiten verfügte, also ein Magiedilettant war. „Borbarads Mund“, so nannten einige Sölder die Statue. Das war sie auch: ein Tor in eine andere Sphäre.
Er ahnte die Anwesenheit von Odelinds Geist in dieser Mumie - und von noch von etwas anderem, Gefährlicherem. Der Agribaalid musste genau im Augenblick des Todes in den Bleimann eingefahren sein. Eigentlich war das nicht vorgesehen gewesen. Aber der Dämon hatte die Macht des Orakels eher gemehrt statt vermindert und - zumindest soweit Merwan es nachprüfen konnte - bislang die Wahrheit gesagt. Nur dass sich der Eingehörnte auf rückwärts gesprochenem Zhayad verständigte, erschwerte die Befragung ein wenig.
„Ich habe euch etwas mitgebracht, meine Lieben.“
Der Magier holte aus einem Beutel ein verstört gurrendes weißes Täubchen hervor. Mit der Rechten zog er aus seiner Schärpe ein Messer, gekrümmt und scharf geschliffen. Ein einziger Hieb, dann sprühte aus dem Hals der Taube Blut und benetzte die Statue. Nachdem das Tier ausgeblutet war, warf er den kopflosen, zuckenden Balg achtlos beiseite. Sollten die Ratten sich daran gütlich tun, die um ihn herum über den Hallenboden huschten.
Fasziniert beobachtete er, wie der Lebenssaft in roten Linien auf den Mund des Götzen zufloss und nach und nach darin verschwand. Gleichzeitig spürte Merwan ein sachtes Summen und Vibrieren im Astralraum. Als würde im Bleigötzen etwas erwachen . . .
Er hob seine rechte Hand mit den krallenähnlichen Fingernägeln und berührte damit die zerfurchte Stirn des Abbilds, gleich unter der siebengezackten Krone. Erneut schloss er die Augen. Wieder waberten purpurrote Schemen in der Dunkelheit, aber auch noch etwas anderes: ein menschenähnlicher Schatten. Der Geist, der gerade gierig Blut geschlürft hatte, wich seinem Zugriff aus wie ein verstörtes Tier und kauerte sich in der Dunkelheit zusammen. Aber es gab kein Entkommen.
Denn hinter (und zugleich über, unter, neben und wohl auch in) ihm lauerte der Dämon, mehr ein eiskalter Hauch aus den Niederhöllen, ein metallisches Ächzen und Knacken als eine sichtbare Wesenheit. Zusammen mit dem Agribaal im eigenen Körper eingesperrt zu sein, musste für Odilbert das schiere Grauen bedeuten. Aber Merwan hatte das Gefühl, dass diese Gellschaft die hellseherische Gabe des Toten noch verstärkte.
„Was – willst – du – von- mir?“ stöhnte der Alte. Er klang furchtsam, aber auch unterwürfig. Gut. Bei der letzten Befragung hatte er ihm mehr Widerstand entgegengebracht.
„Der Friedwanger ist mit einem Gegenstand geflohen, der dem Herrscher der Herrscher gehört. Ein überaus wertvoller Gegenstand. Wo finde ich Alrik Tsalind und das Amulett des Namenlosen?“
Odelind zitterte, so schien es dem Kind der Finsternis wenigstens.
„Ich frage dich noch einmal: Wohin hat Alrik von Friedwang die Schwarze Sonne gebracht?“
Unverständliches Wimmern, Heulen und Stöhnen. Es war wirklich kein Vergnügen, sich mit der Gefesselten Seele eines Verrückten zu unterhalten. Irgendwann würde er sie dem Namenlosen opfern. Oh, das hätte er Odelind wohl nicht spüren lassen sollen. Nun jammerte der Geist nur noch mehr.
„Schade um das gute Blut. Aber was erwarte ich eigentlich von jemandem, der einen Kopf aus Blei hat? Jetzt zu dir, Schänder des Eisens. Wärst wenigstens du so liebenswürdig, mir meine Frage beantworten?“
Der Agribaal schwieg.
SSSMMMRRR, kam es schließlich unwillig zurück. Zumindest hörte sich das metallische Summen und Brummen so an.
„Sprich deutlicher, beim Dreizehnten. Und du, hör auf ständig dazwischen zu winseln.“
SLIIIMMOOORRR.
Der Agribaal klang gereizt und überhaupt nicht unterwürfig. Unter Galotta hatten sich die Diener Agrimoths von besserem als nur Tierblut ernährt. Aber Merwan war nicht der Dämonenkaiser. Der Vampirmagier konzentrierte sich, um dem Dämon seine Willenskraft spüren zu lassen. Einen Augenblick lang stemmte sich die Entität dagegen, dann gab sie nach.
SYLIMMOR. SYLIMMOR.
Der Vampir begriff.
„Was will er denn dort?“ dachte Merwan erstaunt.
Fast bereute er seine Frage. Denn nun flackerten schemenhafte Bilder in der Dunkelheit auf, die einen Moment lang das Grauen in seinen untoten Körper zurückkehren ließen.
Die Wölfe waren über die Schafherde hereingebrochen und fanden sie ohne Schutz. Schwarze Reiter fegten mit erhobenen, blutbesudelten Klingen durch die Gassen, Fußvolk drang mit glosenden Fackeln in die Häuser ein oder trieb Scharen schreiender Menschen vor sich her. Wer immer von den Fliehenden niedergetrampelt wurde oder auf den Strömen von Blut ausglitt, dem bereiteten die Mörder ein grausiges Ende.
Dazwischen huschte das Pack grotesker Chimären, ein schwarzer, gesichtsloser Schwarm Hesthothim oder das getigerte Grauen der Zant. Keckernde Irrhalken und kreischende Schlangen mit Fledermausflügeln irrlichterten über den Himmel, in dessen Finsternis sich die lodernden Flammen spiegelten. Die Luft flirrte vor Rauch und Hitze. Durch Rommilys tobten im wahrsten Sinne des Wortes die Niederhöllen.
Rommilys, 12 INGerimm 34 Hal. Kurz vor Mitternacht.
Es wurde höchste Zeit, von hier zu verschwinden. Aber wie?
Er konnte ja nicht einmal den kleinen Finger bewegen. Selbst mit den Augen zu blinzeln traute er sich nicht. Diese ruhelos tasenden, über sein Wams huschenden Finger - wenn er nur nicht so verdammt kitzelig gewesen wäre! Aber die unter vielstimmigem, viehischem Geschrei verreckende Fürstenstadt war nun wahrlich nicht der Ort, um lauthals aufzulachen.
Alrik spürte, wie ihm der Dukatenbeutel abgeschnitten wurde. Das sollte jetzt seine geringste Sorge sein.
„Los, schlitzen wir ihn auf, beim Gierigen Feilscher! Vielleicht hat er auch Gold verschluckt wie der Fettwanst gerade eben!“
Münzen klimperten, als sie durch Leder hindurch abgezählt wurden.
„Nee, der hat seine Talerchen alle hier drin. “
Die beiden Söldner entfernten sich. Alriks Kopf ruckte hoch. Phex sei Dank, das Rapier, das neben ihm lag, hatten sie nicht angerührt. Er musste raus aus dieser Orkscheiße, und zwar schnell. Sonst würde er den toten Mann bald nicht mehr nur markieren.
Der Phexgeweihte sprang auf. Geduckt hastete er auf einen Arkadengang zu und drückte sich in dessen Schatten. Keinen Herzschlag zu früh: Ein schwarzer Schemen mit Kapuzenmantel, Peitsche und Schwert glitt lautlos an ihm vorbei, unsichtbare Wirbel aus Grauen und wisperndem Chaos hinter sich herziehend. Heiliger Assaf – ein Heshthot ?! Glücklicherweise hatten dessen dämonische Sinne ihn nicht bemerkt. Ihm war schon früher aufgefallen, dass Wesen aus der siebten Sphäre Schwierigkeiten mit der Wahrnehmung in dieser Welt hatten. Gut so . . .
Der Mondschatten huschte in eine Gasse, die geradewegs auf den Neuen Markt zuführte. In dem Rauch, der aus den Gassen der Neustadt quoll, sah er weitere Schatten auftauchen. Blutbespritzte Söldner klirrten auf ihn zu. Ein bärtiges Gesicht unter einer rotgesprenkelten Kettenhaube sah direkt in seine Richtung. Diesmal war es unmöglich, sich noch rechtzeitig zu verstecken.
„Hast die dämlichen Gänseanbeter wohl gleich im Dutzend abgemurkst, beim Herrn der Rache?!!“ grölte der Plünderer. Eine Flasche Branntwein in seiner Linken und der schwankende Gang verrieten, dass dieser Transysilier nicht mehr ganz nüchtern war.
Alrik grinste wölfisch und grüßte mit seinem Rapier, das tatsächlich vor Blut triefte. Dann versuchte er sich einfach an dem Rudel Mordbrenner vorbei zu zwängen, die ziemlich angetrunken wirkten. Fast alle trugen Säcke mit Plündergut auf dem Rücken.
„Wart´ mal, wie heisch´n die Parole?“ Einer der Schlächter stellte sich ihm in den Weg, den Säbel locker erhoben.
„Gloria Darpatia!“ zischte Alrik und trieb ihm die Faust unters Kinn. Scheppernd brach der Mann zusammen. Ein Zinnkelch und silbernes Geschirr rollte oder purzelte aus seinem Bündel.
„Karakilscheiße! Da is´ noch einer von den Fürstlichen!“ bellte es hinter ihm.
Alrik schlug einen Haken und verschwand hinter einer Biegung, eine Wassertonne umstürzend. Im Gassengewirr Verfolger abzuschütteln – wenn er von Kindesbeinen an irgendetwas gelernt hatte, dann das. Außerdem kannte er sich in Rommilys leidlich aus, im Unterschied zu seinen Verfolgern. Nach einigen Haken und Biegungen war er sicher, dass die Dreckigen die Jagd aufgegeben hatten: Sie waren betrunken und außerdem schwerbeladen.
Dennoch fühlte er sich wie in einem Alptraum, als sein Blick über die Umgebung wanderte. Hier lag eine nackte und geschändete Frau, dort lehnte ein totes Kind mit durchschnittener Kehle an der Wand. Immer wieder glitt er auf Blut und Gedärm aus. Ein einzelnes Haus brannte lichterloh, ein halbverkohlter Körper lag in der Tür. Schließlich war die Gasse vor ihm derart mit blutigen Leibern verstopft, dass er buchstäblich über Leichen gehen musste. Es wäre noch erträglich gewesen, wären sie noch heil gewesen und nicht auf das widernatürlichste zerhackt und verstümmelt, ja, teilweise die Gliedmaßen und Köpfe abgetrennt worden. Immer wieder verschwanden seine Beine in Lücken zwischen dem rotglänzenden, schlüpfrigen Fleisch und traten in einen regelrechten Blutsumpf.
Bei Phex, er ging hier geradewegs durch eine Totengasse. Seine Augen sahen das Grauen, aber er empfand dabei nichts mehr: Ein Greis, mit Messern an die Tür seines (?) Hauses genagelt. Eine Geweihte der Travia, die Robe zerrissen, vergewaltigt und mit mehreren Stichen umgebracht. Das bleiche Körperchen eines Säuglings, an der Wand zerschmettert. Am Ende der Gasse hatte noch jemand versucht, eine Barrikade zu errichten, zumindest sahen der umgestürzte Karren, die herumliegenden Balken und das Faß daneben so aus. Davor lag ein gefallener Soldat, den Leib mit Pfeilen gespickt. Mit der einen Hand umklammerte er sein linkes Bein, das abgehackt in einer sirupfarbenen Lache hing. Fetter Rauch wälzte sich über die Szenerie. Wie abfließendes Regenwasser strömte Blut das leicht abschüssige Pflaster hinunter. Alrik hatte die Blutnacht von Rommilys erlebt, aber das hier war schlimmer.
Ein herrrenloses Pferd trabte herbei und rollte verstört mit den Augen. Als er einen Schritt darauf zuging, wich es aus und galoppierte mit klappernden Hufen davon. Irgendwo ganz in der Nähe gab es noch Widerstand, wie Schwertgeklirr und Gebrüll bewies. Aus den Geräuschfetzen glaubte er sogar ab und an ein „Gloria Darpatia!“ und „Für Travia!“ heraus zu hören.
Dann gelangte er auf einen kleinen Platz um einen Brunnen, der ebenfalls mit Toten drapiert war. Erneut Pferdegetrappel. Er ging hinter der Brunnenmauer in Deckung, ohne darauf zu achten, dass er dabei auf eine abgehackte Hand trat. Schwarze Reiter galoppierten mit erhobenen Rabenschnäbeln und Klingen vorbei. Wohin jetzt? Die Traviastadt konnte die unheiligen Kreaturen vielleicht eine Zeitlang aufhalten. Nein, es war riskant, sich dort einsperren zu lassen. Verdammt, die ganze Stadt war eine einzige Menschenfalle, ein riesiger Schlachthof geworden. Und er hatte keine Kraft mehr. Nicht nach einer solchen Nacht! Erneut duckte er sich, als ein geflügelter Schatten über die Häuser hinwegglitt. Der schrille und doch heiser krächzende Schrei eines Irrhalken – oder war es ein Karakil? - ließ ihm beinahe die Trommelfelle platzen.
„Da vorne ist er!“ brüllte es in seinem Rücken. Alrik grinste sarkastisch. Offenbar war die Blutdurst seiner Verfolger doch größer als ihre Gier nach Gold und Branntwein.
„Heho, herbei! Da ist noch einer von den verdammten Ochsentreibern! Macht ihn fertig!“
Alrik glitt auf etwas Rutschigem aus, vermutlich Blut, strauchelte und fiel auf die Knie. Ein Armbrustbolzen surrte einen Fingerbreit über seinen Kopf hinweg.
Phex, ich danke Dir. Hab wieder mal mehr Glück als Verstand.
„Pass gefälligst auf, wo du hinrotzt, verfluchtes Golemhirn!“ keifte es halbrechts vor ihm. Offenbar kamen seine Verfolger aus mehreren Richtungen. Rauschwaden waberten umher wie in einer Al´Anfaner Rauschkrauthöhle. Dazwischen rotes, flackerndes Zwielicht und Glutofenhitze.
Ohne sich umzudrehen, lief Alrik los, geduckt und Haken schlagend.
Die Männer und Frauen in den rotglänzenden Rüstungen versuchten ihn zu umzingeln. Alriks Augen irrten umher, nach einer Lücke in dieser Wand aus Waffen und Harnischen suchend. Schließlich hatte er sie entdeckt und taumelte in eine dunkle Seitengasse. Verdammt, die endete an einer hohen Mauer. Erschöpft wie er war, würde er da nicht mehr hinüberkommen. Verzweifelt spähte er nach einer Lücke zwischen den krummen Fachwerkhäusern, die das kleine Gässchen bildeten.
„Glühender Irrhalkenkot, wo ist er hin?“
„Lasst ihn ja nicht entkommen, beim Geifernden Schnitter!“
„Dort! Da hinein!“
„Jetzt sitzt er in der Falle!“
Freudig erregtes Gelächter erklang. Für die Söldner war das hier offenbar nichts weiter als eine lustige kleine Hasenjagd. Sie nahmen einen einzelnen Reichschen nach all dem Gemetzel nicht mehr ernst, vor allem wollten sie sich selbst schonen: Darin lag vielleicht seine Chance.
Der Blick des Mondschatten streifte einen Karren neben einer Kaschemme, beladen mit Fäßern. Alrik rannte los, sprang auf den Stapel und hangelte sich an Efeu entlang aufs Dach. Ein Hieb mit dem Rapier, und das Seil, das die Ladung gehalten hatte, sprang entzwei. Die Fässer polterten seinen schreienden Verfolgern entgegen und rumpelten (hoffentlich) über sie hinweg.
Dachschindeln rutschten ab und zersplitterten auf der Gasse. Schließlich hatte er den First erreicht. Wie ein feuriger Schweifstern ging auf das Nachbarhaus ein Brandgeschoss nieder und detonierte in einem grellen Lichtblitz.
Einige grausame Augenblicke lang überblickte Alrik das Gemetzel in den rauchgefüllten, blutüberschwemmten Straßen der Fürstenstadt. In diesem Moment bemerkte er nicht einmal den Pfeil, der neben ihm am Mauerwerk eines Kamins abprallte, bevor er sich überschlagend auf der anderen Seite des Daches hinunterfiel.
Was von den Bürgern noch laufen konnte, strömte dem Oval der Friedensstadt im Norden zu. Wie zum Hohn auf den Namen des wichtigsten Heiligtums der Travia in Aventurien wurde dort sichtbar (und hörbar) gekämpft. Dämonen brüllten, Pferde wieherten, Waffen klirrten und Menschen schrien in einem einzigen irren Chor des Untergangs. Der Gestank nach Rauch und Schwefel war atemberaubend. Im Süden standen ebenso wie am Darpat offenbar ganze Häuserzeilen in Flammen. Alrik hätte allerdings nicht sagen können, über welche Gebäude sich der Rauch nur träge hinüberwälzte und welche bereits lichterloh brannten.
Ganz in der Nähe glitt eine Schar schwarzgewandeter Hesthothim als Spottbild auf eine Boronsprozession in die Schlacht. Ein zahngespickter, purpurn leuchtender Zant balgte sich mit einer doppelköpfigen Chimäre um einen Zwerg, der schreiend, zappelnd und vergeblich ihren Mäulern zu entkommen versuchte. Mit irrsinnigem Gelächter warfen Plünderer ein zerhacktes Spinett und aufgeschlitzte Gemälde vom Balkon eines Patrizierhauses auf die Straße. Nur einige Schritt entfernt zerstückelten ihre Gefährten einen menschlichen Körper. An der Laterne darüber baumelte ein Badilakaner, dem mit dem Dolch eine blutigrote Dämonenkrone in seine orangefarbene Robe gezeichnet worden war. Die Waffe steckte in der Mitte des unheiligen Zeichens – bis zum Heft im Brustkorb des Toten.
Eine Straße weiter bahnte sich eine Gruppe Flüchtlinge den Weg über Leichen und menschliche Körperteile. Manche von ihnen waren mit Bündeln und anderen Habseligkeiten beladen, andere trugen nur ihre bloßen Gewänder am Leibe. Wer stolperte und fiel, wurde niedergetrampelt. Dabei schrien und brüllten sie wie die Irrsinnigen, als wäre der schwarze Mann hinter ihnen ein Noionit und kein beilschwingender Hesthoth.
Dann versank dieser Teil von Rommilys wieder in wild zuckendes Rot und Schwarz. Ein Pfeil durchschlug die Stulpe von Alriks Stiefel und ritzte schmerzhaft seinen Unterschenkel. Hoffentlich ist er nicht vergiftet, dachte der Baron. Aber er hatte jetzt andere Sorgen.
Wie ein Seiltänzer - wackelig und mit ausgestreckten Armen - balancierte er los. Ein weiterer Armbrustbolzen flog mit bösem Zischen an ihm vorbei in den Nachthimmel. Wenn er geglaubt hatte, dass die Luft hier oben frischer war, dann hatte er sich getäuscht.
Eisige Böen wechselten sich ab mit Backofenhitze. Der Wind blies ihm glimmente Ascheflocken entgegen, beißender Qualm ließ ihn husten und die Augen tränen. Halbblind torkelte er den schmalen Grat zu seinen Füßen entlang, ohne auf die schneidenden Schmerzen in seinem Unterschenkel zu achten. Vielleicht war es ganz gut, dass er sowenig von dem Abgrund unter sich sah. Noch besser war es, dass die über den Rauchwolken herum schwirrenden Wesenheiten auch ihn nicht so schnell erblicken konnten. Zumindest hoffte er das.
Das Schlimme ist, dass sie völlig normal wirken, dachte Linne. Sie sind nicht im Blutrausch. Es scheint für sie selbstverständlich zu sein, was sie tun. Eigentlich sehen sie nicht viel anders drein wie Traviabert, wenn er abends aus dem Kontor nach Hause kommt.
Sie musterte die Söldner. Der eine, kleinere, hatte blonde, schmutzige Haare und einen ungepflegten Stoppelbart. Die blaugrauen Augen starrten sie ebenso mitleidlos wie stumpf an. Eine tiefe Narbe an der Wange kündete von einem längst vergangenen Duell (auch wenn sie auf den zweiten Blick eher aussah wie ein Biss). Sein Kumpan war breitschultrig, das feiste Gesicht unter dem Bürstenhaarschnitt bleich, blutbespritzt und dümmlich. Er sah aus wie ein Schwein und vermutlich war er das auch. Bei den beiden handelte es sich um niederes Fußvolk – Linne konnte sich nicht einmal mit dem Gedanken trösten, von besonders außergewöhnlichen Schurken heimgesucht zu werden.
Der Geruch nach frischem Blut war allgegenwärtig. Draußen tobte der Untergang von Rommilys wie ein dämonischer Orkan. Gurgelnde Schreie und zuckender Feuerschein drangen wie durch Bausch an ihre abgestumpften Sinne. Wenn das hier mit einem Wirbelsturm vergleichbar war, befanden sie sich gerade in seinem Auge. Bald würden die Urgewalten zurückkehren und auch noch ihr armseliges Leben zerschmettern.
Linne hätte sich selbst verfluchen können. Sie hätte auf ihren Mann hören und mit den Kindern zum Traviatempel gehen sollen, als noch Zeit dafür war. Aber irgendwie hatte sie es nicht für möglich gehalten, dass heute die andere Seite siegen würde. Dass Rommilys fallen könnte. Vor allem nicht so schnell.
Raul und Hilberiane schluchzten nur noch ein bisschen. Selbst den Kindern war klar, dass es keine Flucht und kein Verbergen mehr gab, jetzt, wo die beiden Männer alles durchwühlt und zerschlagen hatten. Auch der Holzstapel, das jämmerliche Versteck, hinter dem sie sich verkrochen hatten, war umgestossen worden, die Scheite lagen auf dem Dielenboden verstreut. Die Söldner hatten sich in die Taschen gestopft, was sie für wertvoll erachteten, und die verstörten Hausbewohner kaum eines Blickes gewürdigt.
Das änderte sich nun. Linne hatte früher nie an derartig grässliche, traviaferne Dinge wie Schänden, Plündern und Morden gedacht. Diese Gedanken hatten sie erst gepeinigt, als der Feind vor den Toren der Stadt erschienen war. In ihrer Angst hatte sie sich immer vorgestellt, das Undenkbare, Unaussprechliche müsse mit viel Geschrei und Gewalt vor sich gehen, mit Zerren an den Haaren und Herunterreißen der Kleider, und meist war es in dieser Nacht auch so, wie die Schreie der Rommilyser Frauen verrieten. Aber nicht hier. Der Kleine deutete beiläufig auf den Tisch. Als sie sich dumm stellte, schubste er sie dorthin. Dann ruckte er den Säbel an seiner Seite zurecht. Das erschien ihm Einschüchterung genug und tatsächlich war es das auch. Linne zitterte, die Kinder winselten.
„Willst du zuerst?“ fragte der Schmächtige beiläufig seinen Spießgesellen. Der stopfte sich gerade ein Stück Brot in den Schlund, schüttete eine Kanne Bier hinterher und grunzte etwas, was verneinend klang. Dann rülpste er laut und durchdringend.
„Mach dein Mieder auf“, kommandierte der Blonde, dessen Lederrüstung von vielen Kämpfen und langen Märschen zerschlissen und dunkelrot gefärbt war. Seine Stiefel hinterließen Blutspuren auf dem Boden. Die linke Hand war bandagiert (Seltsam, dachte Linne. Warum fielen ihr all diese Kleinigkeiten auf?). Der Mann schien müde zu sein von der Schlacht, ausgelaugt und träge.
„Wieviel glaubst du is´ das wert?“ fragte der Stoppelhaarige und nahm die kleine, tönerne Traviastatuette aus ihrer Nische.
„Das Ding? Keinen Heller !“
Der Söldling ließ das Götterbild achtlos zu Boden fallen, wo es zersprang. Linne spürte brennende Scham: Sie hätte sich wehren müssen, den Frevel verhindern oder zumindest irgendwie vergelten. Aber sie empfand sonst nur noch zitternde Angst und jämmerliche Schmach. Beides schnürte ihr die Kehle zu. So fühlte es sich also an, besiegt und einem Feind wehrlos ausgeliefert zu sein. Dennoch weigerte sich etwas in ihr, das Grauen zu begreifen. Sie nahm das Gesagte ebenso regungslos zur Kenntnis wie früher das Geschwatze ihrer Nachbarn. Niemand in ihrem Leben hatte sie auf so etwas vorbereitet.
„Habe ich nicht gesagt, du sollst dich ausziehen, Gänschen?“ fragte der Blonde. „Oder soll ich dich eigenhändig rupfen?“ Er lachte über seinen Witz und öffnete den Hosenlatz. „Keine Angst, Süße, wenn du gut bist, lassen wir dich leben . . . vielleicht . . .“
„Wenn nicht, schlitzen wir dich auf - und zwar von unten nach oben. Verstehst du, wie genau? Anschließend werden wir es mit der da probieren!“ Das Schweinegesicht wies mit dem Dolch auf Hilberiane, die heftig zu weinen begann. Er schien der Grausamere der beiden zu sein.
Mit flatternden Haaren und Mantel trippelte der Streuner von Dach zu Dach, trat ins Leere, strauchelte, ging in die Knie, kroch einige Schritt, stand wieder auf, kämpfte gegen einen tückischen Windstoß an und schwankte weiter. Dann glitt er erneut ab, schrie auf. Phex sei gedankt, das Dach war nicht steil genug, um ihn abstürzen zu lassen. Wenn er schnell genug lief, kam er auch unterhalb des Firsts vorwärts.
Der Mondschatten fluchte. In Brabak mit seinen Flachdächern wäre so etwas eine einfache Übung gewesen. Aber seit der Sklaverei in Al´Anfa war er irgendwie nicht mehr in Form. Vielleicht machte sich bei ihm schon das Alter bemerkbar. Nun, diese Bedingungen hier hätten selbst einen jungen Meisterdieb an seine Grenzen gebracht.
Der Dachfirst endete am gähnenden Abgrund einer Straße. Mit voller Wucht spürte Alrik Sumus Griff, der ihn hinunter auf die dunkelrot glänzenden Pflastersteine zu ziehen drohte, hinab zu den anderen verkrümmten Leichen. Der Streuner ruderte mit den Armen, prallte zurück und ging keuchend in die Knie. Bis zur anderen Straßenseite waren es mehrere Schritt – wie viele genau, wollte er gar nicht wissen. Hinter ihm erklangen wütende Rufe.
Alrik nahm mit einem Stoßgebet Anlauf und rannte los. Verflucht knapp landete er auf dem Stufengiebel eines Bürgerhauses, glitt aus.
Der Phexgeweihte strauchelte, konnte sich aber gerade noch an einer Wetterfahne festhalten. Das scharfkantige Metall bog sich durch wie ein Rapier und schnitt schmerzhaft in seine Hand. Während er über die blutende Schnittwunde leckte, sah er die Schlüssel und die Rose, die in die Fahne eingelassen waren. Merkwürdig. Das Stadtwappen von Rommilys wirkte für ihn bereits wie ein Überbleibsel aus einem längst vergangenen Zeitalter.
Plötzlich traf ihn erneut ein eisiger Windstoß – oder war es der Flügelschlag des Karakils, der keinen Steinwurf weit entfernt die Gasse entlang flog? Einen Augenblick lang blickte der hässliche, dunkelgrüne Schlangenkopf in Alriks Richtung, entblößte die Hauer unter dem Zaumzeug und hachte ihm seinen nach Schwefel stinkenden Atem entgegen. Aber der unruhig zappelnde Reiter auf dem Rücken des Dämons beachtete Alrik nicht, sondern trieb weiter eine Schar Rommilyser vor sich her.
Er rettete sich auf die Dachschräge. Vereinzelt lagen hier tote Vögel herum. Der Friedwanger kauerte sich zusammen wie ein gehetztes Tier und spähte zurück. Von seinern Häschern war nichts mehr zu sehen, den Zwölfen sei Dank.
Der Untergang der Fürstenstadt, der Tod ihrer Bewohner, die Feuersbrunst, all das ging rasend schnell, aber dann doch wieder quälend langsam vor sich. Fast schon fühlte sich Alrik einsam inmitten der Masse Hunderter, wenn nicht Tausender Menschen unter ihm, die ihre menschliche Natur abgestreift hatten und sich nur noch benahmen wie Tiere, gleich ob sie nun Jäger oder Gejagte waren: blutrünstige Raubtiere und panisch fliehendes Schlachtvieh.
Kein Zweifel, er hatte einen Logenplatz bei der Vernichtung von Rommilys. Noch war er dem Ganzen merkwürdig entrückt, wie im Krähennest einer untergehenden Karracke. Am Ende würde der Mahlstrom auch ihn in die Tiefe reißen.
Alrik versuchte auf den First zu gelangen, glitt aus und rutschte nach unten. Sein Rapier verhakelte sich und bremste den Fall. Mit dumpfen Poltern landete er auf einer Dachgaube. Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, sich in die Mansarde hinein in Sicherheit zu bringen. Der Friedwanger brach mit der Klinge die Fensterläden auf. Das Haus spie ihm Rauch und Feuer entgegen wie ein Drache. Hier gab es kein Durchkommen mehr. Verbrannte Papierfetzen wehten an ihm vorbei in die Dunkelheit: Liebesbriefe, Gedichte, Musikstücke, Rechnungen? Die Götter mochten wissen, wessen Leben sich hier gerade in Rauch auflöste.
Der Baron hechtete über eine schmale Gasse hinweg aufs Nachbargebäude.
In diesem Moment rasselte unter ihm ein Fuhrwerk mit panisch wiehernden Pferden vorbei. Ihre Rücken glänzten von Schweiß und Blut, die Mähnen wehten. Die offene Ladefläche war bedeckt mit schreienden Verwundeten der Schlacht. Der Fuhrmann sass kopflos auf dem Kutschbock - das erste Opfer des schwarzen Kapuzenmanns hinter ihm. Es war ein Hesthot, der erst mit seiner Peitsche die Pferde bis zur völligen Erschöpfung antrieb und dann mit seinem Krummschwert alles weitere Leben auf dem Wagen auslöschte.
Fassungslos sah der Geweihte dem Höllengefährt nach. War er etwa vor all diesem Unheil gefeit oder lag es nur am allgegenwärtigen Irrsinn, dass er noch unter den Lebenden weilte? Die Szenen unter ihm schienen völlig unwirklich zu sein, wie in einem Alptraum oder Rausch. Rausch, ja, er fühlte sich wie berauscht. Einer von Ismenas Säbeltänzern in Gießenborn hatte einmal behauptet, in höchster Gefahr und bei unerträglichem Schmerz würde sich dank Rahjas Gnade im Blut eine Droge bilden und den Geist betäuben. Gut möglich. Er bevorzugte andere Gaben der Schönen Göttin.
Mittlerweile züngelten große Flammen aus den Fenstern des Hauses auf der anderen Straßenseite. Allein die Hitze ließ Alrik aufstöhnen. Wie an einer Bergflanke hangelte er sich das Dach entlang ein Dutzend Schritt weiter.
Im Schutz eines Kamins beschloss er, zu verschnaufen. Alrik wischte sich zitternd über das ruß- und blutverschmierte Gesicht.
Der Phexgeweihte zuckte zusammen, als ein greller Schrei an seine Ohren drang. Eine lebende Fackel taumelte aus dem Nachbarhaus, einen Feuerschweif hinter den Haaren und der pelzbesetzten Schaube herziehend. Das bärtige Gesicht des Mannes war zu einer einzigen Schreckensfratze verzerrt. Mit infernalischen Schreien wankte er über die Straße und taumelte auf eine Regentonne zu. Eine Rotte Söldner nahm ihn in Empfang: Einer stellte ihm ein Bein, der andere schlug ihm mit flacher Klinge auf den Rücken. Dann sah die Meute johlend zu, wie ihr Opfer sich über das Pflaster wand und bei lebendigem Leib verbrannte.
Der Gestank nach verkohltem Fleisch trat an Alriks Nase, der sich hastig in den Schatten warf. Er würgte.
Kllrrk.
Unter seinem linken Fuss bewegte sich ein Dachziegel und begann zu rutschen – in Richtung der Mordbrenner. Ein halbes Dutzend Männer und Frauen standen feixend um die sich im Feuer krümmende Leiche. Dabei stopften sie sich die Schinkenstücke, Würste und Brotkanten in den Mund, die sie in den Vorratskammern der Rommilyser vorgefunden haben mochten. Eine mit schwarzem Ziegenfell überzogene Feldflasche machte die Runde, als stünde die Meute an einem munter prasselnden Lagerfeuer.
Mit der Stiefelspitze versuchte Alrik den Ziegel an seinem Platz zu halten. Es fehlte nicht viel, und er würde selbst in die Tiefe gleiten.
„Ein Hoch den Todesdienern von Taubrimora!“ brüllte ein Weibstück im Plattenharnisch in das Geprassel der Flammen hinein. Vielstimmiges Gejohle antwortete ihm.
„Verschwindet!“ flüsterte Alrik kaum hörbar, mit dem bestialischen Gestank, Sumus Griff und der Tonplatte unter seinem Fuß kämpfend, die weiter nach unten rutschen wollte.
Aber die Mietlinge hatten es nicht eilig.
„Todesdiener, wie lautet unser Wahlspruch?“
Der Dachziegel schlitterte davon. Alrik schloss schicksalsergeben die Augen. Er spürte die Hitze der brennenden Stadt auf der Wange, roch verbranntes Menschenfleisch und, so bildete er sich zumindest ein, billigen Schnaps.
Kein Klirren.
Alrik blinzelte und spähte vorsichtig nach unten. Dort reckten alle ihre bluttriefenden, schartigen Klingen in die Höhe: „Morden, plündern, schänden, brennen! Schlagt sie alle tot, die Niederhöllen werden die Ihren erkennen!“
Niemand hatte ihn bemerkt. Dann sah er, warum: Der Dachziegel war in eine von hellgrüner Patina überzogene Regenrinne gerutscht.
Phex, das werde ich Dir nicht vergessen. Aber Du musst mir auch weiterhin beistehen. Es soll Dein Schaden nicht sein. Lass mich nur nicht in die Hände dieser Bestien fallen.
Er zitterte, vor Furcht ebenso wie vor Erschöpfung.
Wenn, dann wenigstens nicht lebend.
Ein weiterers Mal brandete derbes Gelächter auf, das durch Hufgetrappel und das Klirren von Harnischplatten unterbrochen wurde. Ein Schwarzer Reiter parierte sein Pferd scharf, so dass es schmerzerfüllt aufwieherte und bellte los: „Habt ihr nichts besseres zu tun, als hier herum zu stehen und zu gaffen wie die Gargylen? Asmodeus braucht euch oben beim Yulag-Tempel. Dort gibt´s noch Säbelarbeit.“ Der Offizier riss sein Reittier wieder herum. Mit einem rohen Schrei sprengte er davon.
Murrend schoben die Söldner ihre Waffen zurück in die Scheiden.
„Ihr habt´s gehört. Befehl is´ Befehl!“ sagte die Söldnerin.
„Selbst wenn er von Asmodeus und nicht mehr vom Kaiser kommt “, sagte ein anderer. Es klang wie eine Frage.
„Dieser Andergaster Holzfällerjunge geht mir langsam auf die Nerven . . .“ hörte Alrik einen Söldner noch maulen, dann war der Trupp auch schon in der Gasse verschwunden.
Erleichtert aufseufzend drehte sich der Mondschatten auf den Bauch und kletterte wie eine Katze die Dachschräge entlang nach oben.
„Hilf .... mir!“ hörte Alrik ein Wimmern. Verwirrt sah er sich um.
„So hilf mir doch!“
Nein, das kam von unten, von der Straße.
Der verbrannte Mann war also wider Erwarten doch nicht tot.
Verdammt, was sollte er tun? Er konnte ihm nicht beistehen, aber durfte er ihn deswegen einfach seinem Schicksal überlassen?
„Hilf mir, gütige Mutter Travia!“ jammerte der Unbekannte.
Erleichtert schob sich der Streuner weiter in Richtung Dachende. Der Rommilyser hatte nicht ihn gemeint.
Phex, wenn der Sterbende nur aufhören würde, so viehisch zu wehklagen . . .
Das Haus gegenüber stand nun lichterloh in Flammen. Asche, Rauch und Funken wirbelten umher. Die Brandgeräusche übertönten selbst das Gewimmer des Mannes.
Oberhalb des Kamins sank Alrik zusammen. Er wusste und konnte einfach nicht mehr weiter.
Ein klagendes Rufen weckte ihn aus seiner Lethargie: Zwischen Dach und Kamin befand sich ein Vogelnest. Vier, fünf Küken reckten ihm tschiepend ihre Hälschen entgegen. Der Anblick war wie ein Sinnbild für das leidende Rommilys im Kleinen. Um ein Haar hätte Alrik losgeheult. Natürlich, es war ja Frühling . . .
Der Phexgeweihte beugte sich über das Nest, in dem die kleinen Vögel ängstlich verstummten und sich niederkauerten. Sollte er sie mitnehmen? Nur zu gern hätte er die unglücklichen Kreaturen ihrem sicheren Tod entrissen, aus der Stadt gebracht und irgendwo großgezogen.
Wenn er in dieser Nacht nur ein Leben hätte retten können!
Eine Welle überderischen Grauens brandete von oben heran. In der flimmernden Luft über der Stadt, in Rauch und Feuer schwirrten überall bizarr geformte Schattenwesen umher. Eines von ihnen stieß gerade mit einem triumphierenden Schrei und feurig rauschenden Flügeln herab. Mehr noch als der Gluthauch ließ der schiere Anblick der Greifenparodie den Phexgeweihten die Hände vors Gesicht heben: Ein stiergroßer, schwarzer Raubkatzenleib mit Adlerkopf, verunstaltet durch die feuerrot schimmernden Schwingen eines Geiers, hasserfüllte, schwefelgelbe Augen, ein krummer, klobiger Schnabel, an dem noch Fleischfetzen klebten - und vier Hörner, die wie gesplitterte Knochen aus Hals, Kopf, Brust und Rücken der Schreckenskreatur ragten.
„Was haben wir denn da? Noch eines von euch feigen Rotpüscheln!“ kreischte der Irrhalk. „Auch du wirst unserer Rache nicht entkommen, schwaches Menschlein!“
Der Gehörnte öffnete seinen Schnabel und blies einen bläulichen Feuerstrahl nach unten. Alrik warf sich zur Seite. Die Flammen trafen das Nest und hüllten die kläglich schreienden Küken darin ein. Verbrannt stürzten sie in die Tiefe.
Der Mondschatten hätte vermutet, dass der Irrhalk weiter im Sturzflug auf ihn herabstossen würde. Aber er flog eine Pirouette und wechselte wie ein tulamidischer Papierdrachen schlagartig die Richtung. Ein Schwall brennender Federn regnete auf Alrik ab, der sich schreiend und zusammenkrümmend zu schützen versuchte.
„Vergeltung für Kholak-Kai!“ geiferte der Dämon, der gegen jede Wahrscheinlichkeit aus der genau entgegengesetzten Richtung angriff, die Vorderpranken mit den dolchlangen Krallen ausgestreckt.
Alrik kämpfte mit Panik, während sein Blick auf der Suche nach einem Fluchtweg umher irrte. Dann war der gewaltige, glühendheiße Schatten auch schon über ihm.
Linne zitterte am ganzen Körper. Stolz machte keinen Sinn mehr. Sie musste an die Kinder denken und nestelte an den Bändern ihres Mieders. Zufrieden grinsend starrte der Blonde auf ihre Rundungen, die darunter zum Vorschein kamen.
Der Söldner ließ die Hose fallen und entblösste haarige Beine. Er sieht aus wie ein Goblin oder Affe, dachte Linne.
Sein Glied, das er nun gegen ihre Beine drängte, war noch klein und schlaff. Er stieß sie auf den Küchentisch. Die Teller mit den Resten des Abendessens stürzten zu Boden, wo sie klirrend zerbrachen. Die beiden Kinder heulten Rotz und Wasser.
„Mamaaa?!“
„Maul halten, ihr Bälger, oder ich schlitz euch gleich auf.“
Sie schloss die Augen. Am besten wäre es, sie würde einfach alles über sich ergehen lassen.
Linne wollte überleben – und verhindern, dass die beiden Scheusale sich an ihren Kindern vergriffen. Irgendwie war das alles hier lächerlich. Beinahe hätte sie sich für die tierische Brunst dieses Mannes geschämt.
Dann spürte sie kalt und schneidend eine Klinge an ihrer Kehle.
„Warum so abweisend, Püppchen? Ist das die vielgerühmte Rommilyser Gastlichkeit?“
Die Fratze des Söldners grinste sie an und hachte ihr mit jedem Wort üblen Gestank ins Gesicht. Auch sein übriger Körperstank, roch ekelerregend nach Schweiß und Blut.
„Na komm, sei lieb zu mir . . . Ein kleines Vorspiel wird doch hoffentlich drin sein!“
Ihre Angst und Hilflosigkeit schien ihn zu erregen, ebenso sein unflätiges Gerede. Er keuchte lustvoll - es hörte sich an, als habe er sich gerade auf der Latrine erleichtert.
„Keine Angst, mein Gänschen. Ich mag Gevögel. Wie besorgt es dir eigentlich dein Mann? Lass mich raten. Aber natürlich . . . Machs Maul auf!“
„Was hast du vor?“ fragte sein Kompagnon beiläufig, der sich gerade einen ihrer Ringe an den Finger steckte.
Auch wenn Linne die Augen nun wieder offen hielt, nahm sie ihre Peiniger kaum noch wahr. Schwielige, gefühllose Hände tasteten über ihr Fleisch. „Unser Vögelchen ist ein bisschen mager. Aber Gänse kann man stopfen. Los, sperr deinen Schnabel auf.“
Seine Finger quetschten ihre Wangen und zwangen die bebenden Lippen auseinander.
Im nächsten Augenblick war von oben her ein Krachen, Poltern, Kreischen und Splittern zu hören. Irgendetwas sehr Massiges fegte mit brachialer Gewalt gegen den Schornstein. Binnen weniger Herzschläge prasselten dessen auseinander gesprengte Ziegelsteine auf das Dach.
Dann rumpelte es im Kamin, als wolle der neues Unheil ausbrüten.
Was auch immer da heranrauschte, es blieb für einen Augenblick im Schacht stecken.
„Ich werde dich kriegen, derischer Wurm!“ kreischte eine Stimme jenseits der Decke. Es klang wie die Stimme eines Gottes im Theater, nur grausamer und durch den Kamin röhrend verzerrt, dumpf und hohl.
„Wenn nicht heute, dann in tausend Jahren! Und wenn nicht dich, dann deine verdammte Seele! Verlass dich drauf, Rotpüschelchen!“
Der Söldner blickte entnervt aufstöhnend von seinem Opfer hoch. Schließlich ließ er ganz von ihm ab.
Dann ging das Gerumpel im Kamin weiter, kam näher.
Eine Aschewolke stäubte hoch, aus der ein schwarzer Schatten mit erhobener Klinge sprang.
„Scheiss Hesthotim!“ fauchte der Blonde und reckte dem Ankömmling sein Messer entgegen.
Auch der „Hesthot“ ging nun, hustend und prustend, in Abwehrstellung. Er sah mehr wie ein übergroßes Kohlenmännchen aus denn ein Dämon.
Von oben war Flügelschlagen zu hören und ein Geräusch, das sich anhörte wie ein Blasebalg oder Drachenodem. Der Eindringling sprang neben den Rauchfang, keinen Herzschlag zu früh.
Ein Schwall bläulicher Flammen füllte den Kamin, loderte aus dessen Öffnung, leckte über die Kacheln und griff gierig nach dem Mantel des Neuankömmlings, der schmerzerfüllt aufschrie. Auch die Söldner taumelten ob der glosenden Hitze zurück.
Ein hasserfülltes Kreischen von oben hallte in dem Kamin wieder.
Der Fremde schlug hastig die Flammen aus, die aus seinem Umhang schlugen. Funken sprühten umher.
Dann griff er nach einem von der Decke hängenden Räucherschinken, riss ihn ab und warf ihn in den bläulichen, tosenden Höllenbrand des Kamins, der mehr an Alchimistenwerk denn an natürliches Feuer erinnerte. Der Geruch nach verbranntem Fleisch stieg in die Luft.
Schließlich brannte das dämonische Feuerwerk herunter, so schnell wie es hochgelodert war. Stattdessen rieselten zwei, drei glühende Federn, vermischt mit Steinen und Mörtelwerk herab. Eine Art Schnuppern, gefolgt von einem erneuten Kreischen, das triumphierend klang.
„Was rieche ich denn da? Rotpüschelbraten . . . Brenne, elendes Menschlein! Verbrenne zu Asche!“
Ein gehässiges, krächzendes Lachen und das Rauschen mächtiger Schwingen waren zu hören, die sich rasch entfernten.
Misstrauisch sah der „Schwarze Mann“ zur Decke, als erwarte er dennoch einen weiteren Angriff. Nachdem dieser ausblieb, schlug er sichtlich erleichtert ein heiliges Zeichen. Dann wandte er sich den völlig verwirrten Söldnern zu.
„Einen guten Abend die Herren“, lachte der Mann, dessen Zähne und Augen sich hell von dem rußgeschwärzten Gesicht abzeichneten, und schlug einen zerfetzten, schmutzigen Mantel zurück, was erneut Asche aufwirbelte. „Wie ich sehe, amüsiert man sich in Rommilys prächtig!“
Fluchend stieß der Söldner Linne von sich und griff nach dem Säbel, der gegen den Tisch lehnte. Da er seine Hose nicht hochgezogen hatte, stolperte er dabei und schlug der Länge nach hin.
Das Lächeln im Gesicht des Neuankömmlings verschwand.
„Du sollest wenigstens deinen Hosenstall schließen, bevor du stirbst.“
Panisch wälzte sich der Galottaner auf den Rücken, die Klinge zur Abwehr erhoben. Wie ein Stachel zischte das Rapier durch die Luft und glitt mit einem nassen Geräusch in den Brustkorb des Blonden. Entsetzt riss der Söldner die Augen auf. Das letzte, was er auf dieser Welt sah, war das eigene Blut, das ihm ins Gesicht spritzte.
Alrik stemmte seinen Stiefel gegen den Unterleib des Sterbenden, riss das Rapier heraus und hob es über den Kopf. Keinen Augenblick zu früh, denn mit erhobenem Morgenstern sprang jetzt der andere auf ihn zu.
Der Mondschatten parierte mit raubtierhaftem Knurren und sah, wie dunkles Blut die schlanke Klinge hinab auf den Korb tropfte. An der stachelbewehrten Eisenkugel klebte eine undefinierbare Masse. Schlag, Gegenschlag. Der Morgenstern taugte nicht besonders zum Parieren, aber sein Gegner war gut gepanzert. Das Rapier ging durch dessen Parade, hinterließ auf dem Harnisch aber nur einen Kratzer. Mit hässlichem Rasseln und Surren der Kette ließ der Mann seine Waffe kreisen. Der Phexgeweihte duckte sich. Fauchend glitten die Stacheln über ihn hinweg.
Beide Gegner atmeten jetzt kurz und keuchend. Es war ein grotesker, fiebriger, unfreiwillig linkischer Tanz, den die Kämpfer vollführten. Wie ein Wirbel schwirrte die Umgebung an Alriks Gesichtsfeld vorbei, der aufgerissene Mund der Frau, die weinenden Kinder, die blutige Pfütze, die sich vom Körper des Toten her ausbreitete. Erneut ein heftiger Schlagabtausch. Deng. Wieder ein Treffer auf die Rüstung des Dreckigen, der nicht durchging. Funken sprühten. Mit einem Wutschrei schlug der Söldner zurück.
Der Morgenstern wickelte sich um den Stahl der Klinge. Ein Ruck, dann war Alrik entwaffnet. Aber auch der Angreifer glitt im Blut aus und ließ im Eifer der Bewegung die Waffe fallen. Brüllend warf er sich auf den Streuner. Der Friedwang prallte gegen die Wand. Zwei behandschuhte Hände schlangen sich um Alriks Mund und Unterkiefer, während eiserne Daumen nach den Augen suchten. Die harte Panzerung quetschte ihm Blut aus der Nase, machte die Finger seines Gegners aber auch schwerfällig. Der Streuner fegte mit den Fäusten die Arme des Mannes beiseite und gab ihm eine Kopfnuss. Klok. Der Söldling taumelte benommen zurück. Alriks Faust krachte ihm ins Gesicht und ließ ihn zurücktaumeln. Aber der Friedwanger war zu erschöpft, um sofort nachzusetzen.
Nun zog der Transysilier einen Dolch. Der Streuner riss sein eigenes Messer aus der Gürtelscheide. Ein kurzer Scheinangriff ließ ihn zurück zucken.
Alrik packte seine ganze Angst, den Hass und die Verzweiflung in einen tierhaften, grellen Schrei. Der Galottaner zögerte kurz, bevor er die Klinge unentschlossen in Richtung von Alriks Hals stieß. Der Mondschatten wich pendelnd aus, die Waffe glitt fauchend ins Leere. Der Baron riss sich die Reste seines Mantels herunter und verwendete ihn als Armschutz. Ein weiterer, zischender Stoß. Der kalt glitzernde Stahl verfing sich im Stoff, riß ihn beiseite. Asche stäubte hoch.
Alriks Messer fuhr durch die Luft, verhakte sich mit metallisch scharrendem Geräusch am Dolch. Der Söldner drückte die Klinge ruckartig zu Boden und hieb nach seinem Gesicht. Ein schmerzhafter Schnitt über der linken Augenbraue. Wieder ein Hieb, diesmal von der anderen Seite her. Alrik duckte sich unter dem Stahl weg, wechselte die Stellung wie bei einer irrsinnigen Pavane. Dann spürte er hinter sich die Tischkante.
Der Geweihte ließ sich, scheinbar von der eigenen Bewegung mitgerissen, mit den Rücken auf den Tisch fallen, und rollte sofort nach links. Der Trick funktionierte. Wie der Stachel einer Maraske bohrte sich der Dolch in die Tischplatte, blieb darin stecken. Alrik trat dem Stoppelhaarigen mit voller Wucht gegen den gepanzerten Brustkorb. Aber der Bursche war so standfest, wie er aussah, und prallte kaum einen Fingerbreit zurück. Stattdessen schlug er dem Friedwanger mit der Linken das Messer aus der Faust, mit der Rechten riss er den Dolch wieder aus dem Holz. Alrik umklammerte das Handgelenk. Zusammen stürzten sie über den Tisch.
Beide polterten und schepperten mit irrsinnigem Getöse auf der anderen Seite zu Boden, rauften wild und verzweifelt, versuchten den anderen zu fassen, in besinnungsloser Wut wie zwei Knappen im ersten Lehrjahr. Der Gardist kam als erster frei. Alrik sah den Dolch hoch über sich aufragen - zum Todesstoß erhoben.
Dann erschien die Frau hinter dem Dämonenknecht, eine Bratpfanne in Händen und hieb sie ihm mit Wucht über den Kopf. Klackend schlugen die Zähne des Söldlings gegeneinander. Ächzend sackte er zur Seite.
Der Baron riss dem Söldner den Dolch aus der erschlafften Hand und trieb ihn keuchend in die Achsel seines Gegners, dort wo die Harnischplatten aufeinanderstießen – ein halbes Dutzend mal.
Fluchend tastete er nach dem Morgenstern und hieb damit auf den Kopf des Regungslosen ein. Eine Klammer hatte sich um Alriks Schläfen gelegt, in denen eine Art kaltes Elidafeuer funkelte. Es knackte dumpf. Der Schädel des Mannes platzte auf, aber der Geweihte schlug immer noch zu. Er wusste, dass er diesen Toten gerade ähnlich zurichtete wie draußen die Zants ihre Opfer, aber es war ihm egal. Schließlich waren von dem Gesicht außer Blut und matschigem Gehirn nur noch die borstigen Haarstoppel zu sehen.
Der Streuner hielt erst inne, als er von hinten die Hand der Frau auf seiner Schulter spürte. Dies und die schiere Erschöpfung ließen ihm die Waffe aus den blutbenetzten Fingern gleiten.
„Es ist genug! Er ist tot . . . “
Alrik warf den Morgenstern weg und suchte das Messer sowie sein Rapier. Immer noch schwer atmend, wischte er die Klinge mit den Überresten des Mantels ab und führte sie zitternd in die Scheide zurück. Der Kampfrausch verflog und hinterließ eine leichte Übelkeit, körperliche Schwäche, zitternde Knie und das unbestimmte Gefühl von Scham und schlechtem Gewissen. Hast du das gerade eben wirklich getan? Nein, das war die falsche Frage. Wärst du gerade eben um Haaresbreite selbst draufgegangen?
Blut sprudelte ihm aus der Nase. Von oben rann es aus dem Schnitt an der linken Augenhöhle vorbei. Die Frau drängte sich heran, versuchte das suppende Rot mit einem Taschentuch abzutupfen. Gröber als beabsichtigt wehrte Alrik sie ab. Fehlte nur noch, dass sie auf das zusammengeknüllte Tüchlein spuckte. Mit dem Handrücken wischte er sich über das im Schmerz erstarrte Gesicht, spie aus und fluchte wie ein Landsknecht.
Um Luft ringend blickte Alrik in die bleichen, verstörten Gesichter der Kinder. Die würden diese Nacht sicherlich nicht so schnell vergessen. In ihren Gesichtern stand Angst: auch vor ihm, der gerade zwei Menschen in ihrem Haus erschlagen hatte - gewiss die ersten Toten, die sie im Leben gesehen hatten. Er selbst empfand wenig. Er schämte sich nicht einmal mehr seiner fehlenden Gefühle. Der Krieg hatte ihn abgestumpft.
Linne wollte die aufgebrochene Tür schließen, aber Alrik hielt sie zurück. „Lasst das. Geschlossene Türen ziehen nur neue Plünderer an.“
„Ich danke...“
„Nein. Ohne deine Hilfe wäre ich jetzt tot.“
Erst jetzt sah Linne, dass sie noch immer die Pfanne in der Hand hielt. Verstört stellte sie das Stück Metall wieder auf den Herd.
„Wo ist dein Mann?“
„Bei der Bürgerwehr. Wie steht die Schlacht, in Travias Namen?“
Alrik starrte sie ungläubig an. Draußen in den Straßen von Rommilys tobten die Dämonen und sie fragte ernsthaft nach dem Ergebnis des Gemetzels vor den Toren der Stadt ?
„Nicht sehr gut. Wir haben verloren.“
Die Frau riss entsetzt die Augen auf. „Traviabert! Mein armer Mann!“
„Wenn er rechzeitig geflohen ist, lebt er womöglich noch. Das fürstliche Heer wurde nicht vernichtet.“ Jedenfalls nicht restlos, fügte der Baron in Gedanken hinzu. Alrik wischte sich mit der schweißnassen Hand den Ruß und das Blut aus dem Gesicht. Nicht vernichtet – in solche Worte konnte man eine verheerende Niederlage auch kleiden.
„Also waren all unsere Gebete umsonst?!“
„Vielleicht nicht ganz. Einige Über...der Unsrigen haben sich entlang der Straße zurückgezogen, Richtung Hohenstein. Asmodeus hat uns ganz schön eingeheizt.“
In Wahrheit waren dass da draußen die Niederhöllen gewesen. Heute ist der darpatische Ochse zur Schlachtbank geführt worden, hatte der Gardist geseufzt, den er mehr tot als lebendig in Richtung Kaiser-Raul-Tor geschleppt hatte. Erst als er den armen Kerl entkräftet hatte fallen lassen müssen, war ihm klar geworden, dass sich an dessen Unterleib keine Beine mehr befunden hatten. Nur blutige Stümpfe,
Einen Augenblick lang kehrte alles wieder.
Die knatternden Banner, der rasselnde Atem der Pferde, ihre vibrierenden, heißen Leiber, das donnernde Trommeln der weit ausgreifenden Hufe - ein Geräusch, das sich anhörte wie eine Lawine aus Körpern und Stahl.
„Zieht die Schwerter! Schützt die Fürstin!“
„Gloria Darpatiaaaaa!“
Am entsetzlichsten, aber auch am großartigsten der Augenblick des Zusammenpralls. Als ob Satinav selbst den Zeitfluss in kleine Stücke hacken würde. Hochspritzender Schlamm. Schemenhafte, von Hass, Angst und Blutdurst erfüllte Gesichter. Blitzende Waffen. Schwertgeklirr. Rotgesprenkelte Rüstungen. Fiebrige Erregung. Das Erstaunen, in diesem wirren Knäuel aus wiehernden, steigenden oder sich über den Boden wälzenden Pferdeleibern noch oben zu sitzen und am Leben zu sein. Klamme Hände, die sich um Schwertgriffe krampften, und wie in Trance jahrelang eingeübte Hiebe und Stiche ausführten. Warme Bluspritzer im Gesicht. Eine irrsinnige Lust am Töten und Kämpfen. Kein Ort hätte schrecklicher sein können. Nirgendwo sonst hätte er in diesem Augenblick lieber sein wollen.
Bei ihnen, auf der linken Flanke war die Schlacht am Anfang noch gut gelaufen. Manch alte Rechnung war mit den ehemaligen Answinisten beglichen worden. Auch er hatte sich in diesem chaotischen Hauen und Stechen ganz manierlich gehalten, fand er, auch wenn er sich ohne Rüstung etwas hatte zurück halten müssen. Die Transysilierin, der er einen hübschen Stich in die Schulter verpasst hatte, würde ihn so schnell nicht vergessen. Der Feind hatte sich erbittert kämpfend zurückgezogen.
Anschließend war es gegen die Irrhalkengarde auf der anderen Flanke gegangen. Dort hatten die Galottaner es den Fürstlichen schon nicht mehr ganz so einfach gemacht. Es war wie ein wilder, nächtlicher Hexentanz auf dem Bockshorn gewesen. Nur mit Schwertern oder Ignifaxi statt Scheiterhaufen und Besen.
Irgendwann hatten sich die Tore aus den Niederhöllen geöffnet. Wie eine nichtstoffliche Sturmflut war das Grauen herangebrandet, noch ehe er überhaupt den ersten Gehörnten zu Gesicht bekommen hatte. Dann Schwefelgestank und Gluthauch – und Schreie, Schreie, Schreie, dazwischen immer wieder das unsägliche Geräusch zerreißenden Fleisches oder berstender Knochen. Alriks Pferd war sofort durchgegangen und in Richtung Stadt galoppiert – wahrlich eine unrühmliche Art, ein Schlachtfeld zu verlassen. Der Elenviner war eben nicht so erfahren gewesen wie „Ruß“, der in der Schlacht am Arvepass geblieben war und er selbst alles andere als ein begnadeter Kavallerist. Möglicherweise hatte aber gerade das ihm das Leben gerettet.
Hinter ihm war das fürstliche Heer - welche Floskel traf hier zu? – aufgerieben, vernichtet, niedergemetzelt ? - worden. Es gab einfach keine Worte, um die Geräusche zu beschreiben, die Hunderte, wenn nicht Tausende vergeblich kämpfender und sterbender Menschen erzeugten. Vor allem nicht die Laute oder den Anblick der leibhaftigen Gehörnten, die zu Dutzenden über das nächtliche, in flackerndes Rot gehüllte Schlachtfeld gehuscht waren.
Der Zant im Rücken. Hechelndes, hetzendes Chaos. Ein gurgelndes, vielstimmiges Brüllen. Heißkalter, nach Schwefel stinkender Atem. Ganz nah.
Den Kampfdämon hatte er erst richtig bemerkt, bemerken wollen, als der schon seine sichelförmigen Klauen in die Kruppe des armen Gauls geschlagen hatte. Hatte das Pferd so entsetzlich schrill geschrien oder war es die Kreatur der Niederhöllen gewesen? Mit seinen dolchlangen Hauern hatte der Zant sich in wenigen Herzschlägen in den Bauch des fallenden Elenviners gewühlt. Das Grauen hatte Alriks Herz sofort in Eis verwandelt. Dieser Klumpen war noch immer nicht ganz aufgetaut.
Schmatzen. Reißen. Fetzen. Dem Dämon ging es nicht allein ums Töten, sondern um die restlose Vernichtung eines Körpers.
Erneut hatte Phex ihm beigestanden. O, Heimlicher, ich danke Dir. Der Säbelzahntiger hatte sich in seiner dämonischen Launenhaftigkeit darauf beschränkt, das Tier mitsamt Sattel, Zaumzeug und Steigbügel zu zerfetzen. Sein Reiter war schon beinahe weich in den Dreck gefallen. Ohne ernsthafte Verwundung war der Baron von Friedwang außer Reichweite gekrochen (er wollte nach einer solchen Nacht nicht kleinlich sein und seine zahllosen Kratzer, Schrammen oder blauen Flecken als Verletzungen zählen). Alrik grinste schief. Sein Glück war wieder mal nicht nur unverschämt, es verdiente geradezu eine Anklage wegen Majestätsbeleidigung.
Irgendwie war es ihm gelungen, sich nach Rommilys durchzuschlagen. So genau konnte er sich an die Einzelheiten nicht mehr erinnern. Hinter ihm war ein Karakilgeschoss detoniert, doch hatte der Schlamm auf seinem Mantel ihn vor dem Gluthauch der Flammen geschützt. Alrik war auf diesen schreienden Gardisten gestürzt und hatte den Schwerverwundeten noch bis zum Raulstor geschleppt – sozusagen als Entschuldigung, falls dort jemand Anstoß an seiner unrühmlichen „Flucht“ genommen hätte.
Aber niemand interessierte sich jetzt, im allgemeinen Untergang, mehr für so eine Lappalie. Die Stadt selbst war gefallen, bevor er mit einigen anderen Versprengten so etwas wie Widerstand organisieren konnte.
Gegen die Zantim, geflügelten Schlangen, Irrhalken und Hesthotim vermochte er mit seinem armseligen Häuflein nun wirklich nichts auszurichten. Als dann noch ein fauchender, faulig stinkender Tatzelwurm herangekrochen kam, geradewegs durch die Stadtmauer, hieß die Parole: Rette sich wer kann – in diesem Fall zur Friedensstadt mit ihrem geweihten Grund und Boden. Alrik war sich nicht sicher, ob der Reiter vor ihm, der rücksichtslos sein Pferd durch die Reihen der Fliehenden gelenkt hatte, wirklich Baron Redenhardt von Oppstein gewesen war.
Jäher Schmerz erinnerte ihn daran, dass noch immer ein Stück Pfeil in der Stulpe des Stiefels steckte und in seine Wade schnitt. Alrik zog sein Messer und trennte die Spitze mitsamt dem sie umgebenden Leder ab.
In diesem Augenblick flog die Tür zur Gänze auf, und eine Rotte der Dreckigen taumelte herein, ein quiekendes Schwein vorneweg, das sie offenbar abstechen wollten. Alrik packte die überrascht aufschreiende Bürgerin, warf sie auf den Tisch und zerrte ihr das Mieder auseinander.
„Was in Travias Na . . .“
„Hör auf zu schnattern, blöde Gans!“ brüllte der Baron und schlug ihr derb ins Gesicht. Blut quoll ihr aus dem Mundwinkel. Linne begann zu weinen.
Die Söldner blieben verdutzt stehen (das Schwein nutzte die Gelegenheit, um sich mit einem beherzten Sprung durch ein offenstehendes Fenster in Sicherheit zu bringen).
„Was ist denn hier los?“ rief eine rothaarige Mordbrennerin in die Runde, der die Hälfe des linken Ohrs fehlte. Ihr Kettenhemd rasselte, als sie ein schartiges, dunkel verschmiertes Schwert hob.
„Nach was sieht es denn aus?“ Alrik öffnete seinen Gürtel. „Halt endlich still, dämliches Miststück....“
Dann deutete er nach hinten: „Ihr Mann ist gerade eben mit einem Sack Gold durch die Hintertür abgehauen. Weit kann er nicht sein...“
Jähe Gier blitzte in den Augen der Plünderer auf, die bereits am Tisch vorbei zum Hinterausgang torkelten. Möglicherweise waren sie wirklich betrunken, vielleicht aber nur berauscht vom gefahrlosen Stehlen und Töten.
Nur die Anführerin der Truppe liess sich nicht so einfach täuschen. „Und was ist mit denen da, bei allen Gehörnten von Yol-Ghurmak?“ Sie wies auf die Leichen auf dem Boden.
„Was soll mit den Trotteln schon sein? Haben sich im Streit um das Weibstück und die Beute gegenseitig umgebracht. Deswegen konnte der andere entkommen . . .“
„Und du – hast du etwa keine Lust auf Duckern?“
„Wie heißt es so schön: Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Haha...“ Alrik leckte der verzweifelt strampelnden Bürgersfrau über die Lippen.
Die Rothaarige schüttelte verständnislos den Kopf und lief nach draußen.
Der Phexgeweihte ließ von seinem „Opfer“ ab. Das hielt sich benommen stöhnend das Gesicht.
„Seid Ihr verrückt?“ zeterte sie. „Musstet Ihr mich gleich schlagen?“
„Nein, aber es hat meine List glaubwürdiger gemacht. Ihr könnt den Zwölfen auf Knien danken, wenn Ihr heute nacht mit blutigen Lippen davonkommt . . ..“
Alrik schloss seinen Gürtel wieder.
„Hier, wischt Euch den Mund sauber.“ Er warf ihr das zerknüllte Taschentuch zu, das auf den Tisch gefallen war.
„Orksch, die Friedenstadt kann ich jetzt vergessen. Gibt es hier irgendwo einen Eingang in die Kanalisation?“
Dort unten kenne ich mich ja sogar ein bisschen aus, dachte er. Seitdem wir damals die Kultisten des Gierigen Feilschers aufgespürt haben. Während der letzten Handelsmesse war das gewesen – kaum zu glauben, dass das im gleichen Rommilys geschehen sein sollte, das draußen im Chaos unterging.
„Werte Frau, ich habe gefragt – von wo kommt man hier in die Kanalisation?“
„J...ja. Vom Hinterhof aus. ...“
„Zu gefährlich, da sind jetzt die anderen.“ Alrik warf die Tür zum Hof zu und verriegelte sie.
„Was wird aus uns?“
„Wo ist die Latrine?“
Linne wies auf einen Gang, der tiefer ins Haus führte.
„Ihr wollt doch nicht etwa ....?“
„Von wollen kann keine Rede sein. Ich stecke so oder so bis zum Hals in der Scheiße.“
„Was wird aus uns?“ fragte Linne erneut.
Gute Frage. Am liebsten hätte er sich allein davongestohlen, aber er fühlte sich auch in der Schuld dieser bratpfannenschwingenden Amazone. Besonders hübsch war sie nicht. Aber allein die verweinten Gesichter ihrer Kinder, die sich hinter einem Schrank verkrochen hatten, waren eine stumme Anklage gegen seine Selbstsucht.
„Nehmt eure lieben Kleinen mit und folgt mir! Schnell jetzt!“ Der Baron schnitt den beiden Toten die Geldbörsen ab und warf eine davon Linne zu. „Das sollte als Reisekasse genügen ...Wie heißen deine Kinder?“ Eigentlich hatte er die Frage nur gestellt, um die zunehmende panisch wirkende Bürgersfrau abzulenken.
„Wwwwie? Hilberiane und Raul....“
„Und du?“
„Linn...Linne...Aaaah!“
Linne schrie auf, als stöhnend ein Mann in der halb offenstehenden Tür zur Straße zusammenbrach. Es war ein Rommilyser, das bleiche Gesicht zu einer einzigen Grimasse des Schreckens und des Grauens verzerrt. Knurrend und heulend zog etwas das brüllende Bündel nach draußen und zerfetzte es. Schwefelgeruch drang in die Stube.
Dann hechelte der Zant weiter, ein purpurn wabernder, zweibeiniger Tiger mit einem zahngespickten Maul, aus dem das Heulen und Wimmern der Verdammten klang. Linne war einer Ohnmacht nahe. Alrik sprach in Gedanken ein Stoßgebet zu Phex.
Es dauerte einige Herzschläge, bis sie sicher waren, dass das, was dort draußen war, nicht zu ihnen hereinkommen würde. Noch nicht.
Immer mehr Schatten huschten vorbei.
„Wir müssen fort!“
„Aber wenn Travibert zurück kommt . . .“ schluchzte Linne hysterisch. Sie wollte aufschreien, als eine behandschuhte Hand eine Fackel durch die Tür herein warf. Aber der Geweihte hielt ihr den Mund zu, während er sie an die Wand drängte.
„Wird er froh sein, Euch nicht geschändet und erschlagen vorzufinden. Los jetzt.“ Alrik stieß die Frau in den Gang und schubste die Kinder hinterher. Dann nahm er noch den Morgenstern an sich.
Die Latrine hinter der Tür bestand aus einem hölzernen Sitzpodest mit einem Loch in der Abdeckung.
„Zurück mit Euch. Holt ein Seil und eine Laterne . . .“
Einige wuchtige Hiebe mit der Waffe, dann war der Podest nur noch Kleinholz. Brechreizerregender Gestank drang an Alriks Nase. Dann starrte er in eine große Sickergrube im Boden. Bis nach unten schien es nicht weit zu sein, dennoch wollte er nicht springen – nicht hier hinein.
„Verdammt, wo bleibt das Seil?“
„Ich .... weiß nicht .... ich habe keins da!“ heulte Linne. Raul reichte Alrik schüchtern eine Laterne.
„Warum brennt die nicht ....? “
Alrik tastete nach der Gürteltasche mit Feuerstein, Stahl und Zunder. Verdammt, irgendwie hatte er die bei dem ganzen Trubel verloren.
„Keine Sorge. Ich werde sie zum Brennen bringen. Mit ....mit der Fackel in der Stube....“.
„Beeilt Euch!“
Alrik schlang sich ein Taschentuch um Mund und Nase und hangelte sich nach unten. Es stank zum Phexerbarmen nach Kot und Pisse. Pflatschend versank er in einem warmen Morast aus beiden. Einen Augenblick lang glaubte er selbst unter seinem Mundschutz zu ersticken. Hoffentlich fliegen wir nicht alle in die Luft, schoss es ihm durch den Kopf, als oben die Fackel aufleuchtete.
Aber dies geschah nicht. Stattdessen brannte die Laterne nun in einem gleichmäßigen Licht.
„Weg mit der Fackel! Reicht mir die Kinder!“
Raul rutschte nach unten, dann Hilberiane.
„Die Laterne! Vorsichtig!“
Poltern und Schreien aus dem Haus bewiesen, das wieder Söldner darin einbrachen – wenn nicht etwas Schlimmeres.
„Hilberiane, nimm die Laterne. Und Ihr - springt!“
„In den Dreck? Nein!“
„Tu´s deinen Kindern zuliebe!“
Schreiend ließ sich Linne fallen. Alrik versuchte sie aufzufangen. Beide taumelten in die aufspritzende Brühe.
„Laaaauuuuuuft!“
Sie taumelten los, einen gemauerten Gang entlang in die Dunkelheit. Bald mündete er in einen größeren Tunnel. Pflatschend kämpften sie sich über den glitschigen, überfluteten Untergrund hinweg. Längst rochen ihre betäubten Nasen nichts mehr. Ein Seitengang tat sich auf. Linne wollte hineinwaten, aber Alrik hielt sie zurück.
„Nein, der Fließrichtung des Wassers nach! Wir müssen zum Darpat . . .“ Seine Stimme hallte grell von den Wänden wieder. Er durfte hier nicht so laut herumschreien.
Im Nebengang waren undeutlich Schatten, Stimmengewirr, Platschen und der Widerschein von Fackeln wahrzunehmen. Auch andere Rommilyser schienen sich hier herunter geflüchtet zu haben. Graubraune, pelzige, nassverschmierte Leiber schwammen umher. Ratten . . . Hilberiane schrie mit heller Mädchenstimme auf und hätte um ein Haar die irrlichternde Laterne fallen lassen. Alrik nahm ihr die Lampe aus der Hand.
Ein weiterer Gang mündete ein. Ein toter Körper glitt von dort heran. Auf dem zerschmetterten Hinterkopf saß eine Ratte, als wäre die Leiche ein Boot und sie der Kapitän. Fluchend stieß der Baron das makabre Floß zurück in die Dunkelheit, bevor die Kinder es bemerkten.
„Geht voran!“ An-an-an, hallte das Echo.
Raul und Hilberiane wateten durch das Brackwasser an ihm vorbei, das ihnen fast bis zum Mund reichte. Ihre Augen waren reine Panik.
Dann folgte mit unsicherem Tritt Linne.
Die Kinder kamen zu langsam voran. Nach einigen Dutzend Schritt übernahm Alrik wieder die Führung. Der Boden wurde immer glitschiger und uneben. „Vorsicht jetzt!“ Etzt-etzt-etzt.
Langsam tastete er sich an den Wänden des Kanals entlang.
Dieser stank nicht mehr nur nach dem Angstschiss der Rommilyser Bürger, sondern mittlerweile auch nach ihrem Blut. Von einem Schacht vor ihnen plätscherte eine Kaskade herab, wie aus dem Maul eines Gargyls. Es war eine dickflüssige, schwarzrote Flüssigkeit. Kein Schmutzwasser . . .
Die Frau schrie hysterisch, dass es in dem engen Gewölbe widerhallte. Auch die Kinder begannen wieder zu weinen.
Alrik würgte. Es gab kaum eine Möglichkeit, sich an der Blutkaskade, die von den Straßen der Stadt in die Kanalisation fiel, vorbeizuzwängen. Da oben mussten wirklich Ströme von Blut fließen. Wie am Schlachttag.
„Wir müssen da durch!“ brüllte der Phexgeweihte und kämpfte seinen Ekel nieder. Nun fang nicht selber an, durchzudrehen. Immerhin kommst du gerade aus einem Gemetzel.
Die totenbleiche Rommilyserin schüttelte nur apathisch den Kopf. Wenn sie hier jemals wieder rauskam, würde sie vermutlich ein Fall für die Noioniten sein.
Alrik hielt sich die freie Hand vors Gesicht und patschte in die rote Flut. Das Blut war warm und roch metallisch, dampfig. Es schmeckte salzig, als es an seine Lippen drang. Er taumelte hindurch, spuckte aus. Angewidert blinzelte er die Augen frei. Der Lebenssaft begann darin bereits zu gerinnen. Das Licht der Laterne hatte sich ins Rötliche verfärbt. Immerhin, gegen jede Wahrscheinlichkeit brannte sie noch.
Für Merwan wäre das hier vermutlich ein Fest.
Er wischte sich über das Gesicht, dann über die Glasscheiben der Laterne. Es dauerte eine Weile, bis er wieder klar sehen konnte.
„Nun kommt schon!“ rief er nach hinten. Keine Antwort. Er stapfte weiter durch den Dreck. Sie würden sich schon entscheiden müssen, ob sie durch Blut waten oder allein im Dunkeln zurückbleiben wollten.
Nasse Geräusche hinter ihm bewiesen, dass seine Begleiter sich für letzteres entschieden hatten. Mit Blut begossen, taumelte die Frau auf ihn zu, die Kinder vorneweg. Sie sagte nichts, röchelte nur matt. Man hätte meinen können, es wäre ihr Blut, das ihr sirupartig in den Haaren, im Gesicht und am ganzen Körper klebte. Das Mädchen und der Junge waren nur auf der einen Seite beschmutzt, vermutlich weil sie doch klein genug gewesen waren, sich vorbei zu zwängen . Sie sehen trotzdem aus wie Familie Galotta.
Alrik spuckte erneut aus. Immerhin, auch feindliche Söldner würden nicht ohne weiteres durch diesen eklen Vorhang schreiten. Und am Ende des Tunnels, den er sich entlang tastete, war nun so etwas wie Licht zu sehen. Genauer der Widerschein von Feuer.
Eine Gittertür versperrte ihm den Weg. Hier drängten sich piepsend die Ratten, zwängten sich hindurch und schwammen davon. Dahinter wälzte sich der Darpat, fett und träge. Er drückte gegen die patinagrünen Stäbe des Gitters und ruckte daran. Versperrt. Natürlich.
Alrik griff nach dem Messer und stocherte in dem Schloss herum. Immerhin war es neu und einigermaßen rostfrei. Das hätte ihm die Sache erleichtern müssen. Aber die Messerspitze war zu dick und er außer Übung. Fluchend gab er nach einiger Zeit auf.
„Ich werde nicht mehr ... zurückgehen. Nicht noch einmal gehe ich da durch!“ drang die gellende Stimme der Frau an sein Ohr. Sie brach halb im Schmutzwasser zusammen, mit der Folge, dass sie nun zur Hälfte schwarzbraun, zur anderen Hälfte blutrot war.
„Halt einfach die Klappe!“ brüllte er sie unvermittelt an. „ Heiliger Assaf, du gehst mir auf den Sack mit deinem ständigen Geflenne. Und ihr auch!“ Letzteres galt den Kindern, die heulten, als wollten sie sich auf diese Weise reinwaschen. „Ich hätte euch niemals mitschleppen dürfen!“
Dann würdest du jetzt trotzdem vor diesem verfluchten Gitter stehen.
Mit wütendem Knurren rüttelte er und zerrte er daran. Im nächsten Moment gab es einen Ruck, und das Mistding ging auf – nach innen. Aus irgendeinem Grund war es gar nicht abgesperrt gewesen, sondern hatte sich nur verklemmt.
Alrik lachte närrisch auf. „Wer sagt´s denn, wer´s sagt´s denn . . .“
Erst jetzt sah er den Fluß in seiner ganzen majestätischen Breite. Roter, zuckender Feuerschein spiegelte sich auf den dunklen Fluten wieder. Schwerer Rauch hatte sich wie Nebel auf das Wasser gelegt. Verzerrte Schatten geisterten durch die Luft. Das Gebrüll der Flammen, Pferdewiehern, Waffengeklirr und grelle Schreie, die mal nach derischem Schmerzen und Tod, mal nach dem Irrsinn der Niederhöllen klangen, vermischten sich zu einer Kakophonie des Untergangs. Vielleicht das Schlimmste von allem waren die schrillen, kehligen Todesschreie von Gänsen, die irgendwo in der Nähe verbrannten oder abgeschlachtet wurden.
Willkommen beim Gallyser Kulturspectaculum, deklamierte es in ihm. Tretet näher, tretet heran. Heute auf dem Spielplan: Der schreckliche Untergang der Fürstenstadt Rommilys.
Reiß dich gefälligst zusammen, herrschte er sich an. Denk lieber daran, wie du aus diesem Schlamassel wieder herauskommst. Andererseits tat es gut, sich vorzustellen, dies alles um ihn herum geschähe gar nicht wirklich.
Eine Leiche dümpelte beinahe in Griffweite auf dem Darpat vorbei, drehte sich sacht mit dem zerhackten Gesicht in seine Richtung, als wolle sie sehen, wer da unverhofft aus dem Bauch der Erde gekrochen kam und trieb dann in die ewige Dunkelheit davon. In der Mitte des Flusses paddelte ein Hund ums nackte Überleben, jaulend und winselnd. Dann war auch er verschwunden, ob ertrunken oder außer Sichtweite geschwommen, vermochte der Geweihte nicht zu sagen.
„Frau, komm herrr!“ gurgelte aus der Entfernung eine rohe Stimme, die sich wie ein Ork oder Trollzacker anhörte. „Rommilys kaputt! Fürstin kaputt! Hahaha!“
Raues Gelächter und erst schamvolle, dann schmerzverzerrte Schreie. In der Ferne grummelten die Ochsenwasserfälle, als wollten sie mit ihrem vertrauten, jedem Rommilyser liebgewordenen Klang gegen diesen infernalischen Lärm ankämpfen.
Der Baron machte einen zaghaften Schritt auf den Fluss zu. Er spürte, dass es sofort tiefer wurde. Hätte er sich nicht am Gitter festgehalten, wäre er im Wasser versunken und weggetrieben worden. Prustend und patschnass hangelte er sich an einem Strauch wieder zurück in den Gang. Wenigstens war er etwas von dem allgegenwärtigen, klebrigen Blut losgeworden.
„Könnt Ihr schwimmen?“
„Wie?“
Alrik brüllte die Frage erneut. Die Neustädterin schüttelte verzweifelt den Kopf. Bei den Kindern brauchte er gar nicht erst zu fragen.
Verdammt, warum nur hatte er sich diesen Ballast aufgehalst? Nun hatte er eine Bürgerliche mit ihren Bälgern am Hals, die nicht einmal besonders gutaussehend war. Eine biedere, einfältige Schnepfe, die noch vor einigen Tagen auf dem Markt über den neuen Kopfputz der Frau Nachbarin oder die hohen Brotpreise geschnattert haben mochte. Warum in Phexens Namen riskierte er für so eine sein Leben? Er hätte sich einfach nur in die Fluten stürzen und davon treiben lassen brauchen. Holzbalken, Äste oder Fässer, an denen man sich festhalten konnte, schwammen weiter draußen genug umher.
Im nächsten Augenblick ergriff ihn Scham. Er war kein Brabaker Gassenstrolch mehr, sondern ein Baron des Reiches und Ritter des Traviniansordens. Jedenfalls auch . . .
„Ich werde versuchen, in der Stadt ein Boot aufzutreiben.“ Der Baron rieb sich über die scharf brennende Stirnwunde. „Oder irgendetwas Schwimmbares. Wartet hier auf mich!“
Der Frau war anzumerken, dass sie ihm nicht glaubte.
„Es gibt keine Boote mehr in der Stadt – die Flüchtlinge sind mit allem nach Perricum gefahren, was schwimmt.“
„Tja, bei Phex, wenn das so ist. Da hättet Ihr Euch beizeiten ein Beispiel daran nehmen sollen. Gehabt Euch wohl!“
„Ihr könnt uns nicht einfach zurücklassen! Nicht in diesem Loch! Ihr seid verpflichtet uns zu retten!“
„Wer sagt das?“
„Die guten Götter !“
„Fragt besser noch einmal nach!“
Sie knallte ihm eine Ohrfeige ins Gesicht.
„Ihr seid ein Unhold! Travia möge Euch verfluchen, wenn Ihr uns nicht helft.“
Alrik lachte bitter auf und hielt sich die glühende Wange. Wie konnte ihm diese Frau in einer derartigen Situation auch noch eine Szene machen?
„Travia? Von der bin ich schon längst verflucht. Seitdem meine Gemahlin mich mit diesem Oppsteiner Gecken Adran betrügt.“
„Mit wem?“
„Meinem Nachbarn.“
„Kann ich verstehen. Ein Scheusal wie Ihr, das unschuldige Kinder einem solchen Schicksal überlässt, hat es nicht besser verdient.“
„Bedankt Euch nur nicht zu überschwänglich. Ich habe euch bereits geholfen. “
„Verrecken lassen hätte ich Euch sollen, als der Verfluchte mit dem Dolch auf Euch losgegangen ist!“
„Tja, das wäre sehr vernünftig gewesen. Dann hätte er Euch anschließend auf meiner Leiche genommen . . .“
Erneut wollte Linne dem Streuner ins Gesicht schlagen, aber dieser hielt ihre Hand zurück. Nach kurzem Zweikampf drückte er ihren Arm nach unten.
„Was seid Ihr doch für ein Schurke! Ihr würdet wohl selbst eine wehrlose Frau schänden, wenn Ihr es könntet!“ schrie Linne unbeherrscht, mit vor Schmerz und Wut verzerrtem Gesicht.
Alrik ließ seine Gegenüber los.
„Nein. Würdet Ihr etwas verspeisen wollen, was noch schreit und zappelt?“
Die Hand der Frau ruckte wieder hoch.
„Ist ja schon gut .... Lasst mich wenigstens in Ruhe nachdenken!“
„Beeilt Euch damit!“
Alrik warf einen Blick nach draußen. Verdammt, der Fluß würde vermutlich selbst ihn umbringen, sobald er sich, erschöpft wie er war, in seine Fluten stürzte. Nichtschwimmer hatten keine Chance – und er auch, falls er eines der Kinder mitnehmen würde. Zum Namenlosen, das hier war wieder mal eine einzige Rattenfalle!
Aber natürlich. Phex hatte ihm einen Einfall geschickt.
Die Ratten waren allesamt verschwunden. Aber wohin? Im Fluß sah er keine einzige von ihnen treiben.
Erst jetzt endeckte er die Böschung neben dem Ausgang. Dort wuselten tatsächlich einige Nager. Darüber erhob sich ein dunkler Schatten: die Flussmauer von Rommilys.
Wieder einmal wiesen ihm also die Geschöpfe des Namenlosen den Weg. Aber er hatte keine andere Wahl.
Wenn er sich dort drüben an dem angetriebenen Ast festhielt, konnte es gehen.... In dem Wasser vor dem Ausfluss gluckste etwas.
„Was ist das?“ schrie Linne, so dass ihre Stimme hohl im Gang wiederhallte.
„Ein Krakenmolch? Ein Darpathecht? Was weiß ich. Brüllt nicht so herum...!“
Vorsichtig streckte er die Hand nach dem morschen Ast aus. Knackend gab das Holz nach. Wieder glitschte er bis zum Bauch ins morastige Wasser. Durch einen seiner eklig vollgesogenen Stiefel hindurch spürte er lose Steine, die nach unten wegglitten. Es roch faulig. Ungeschickt gruben sich seine Hände in die Böschung. Einen Herzschlag lang wurde er abgetrieben. Dann konnte er sich an einem großen, nassglänzenden Stein festhalten. Ratten wuselten davon. Seine treuen Begleiter. . . Die hier waren zum Glück kleiner als im Schratenwald und wirkten genauso verstört wie er selbst.
„Wo seid Ihr?“ Die Frau schrie noch lauter als zuvor.
„Mama, wo ist Papa? Warum kommt er nicht mit?“
„Seid endlich still! Wir sind nicht allein hier!““
Er zog sich wieder an Land – oder besser gesagt auf den Dreck und das Geröll, das der Darpat angeschwemmt hatte. Tatsächlich, hier konnte man einigermassen sicher stehen. Mit etwas Vorsicht war es vielleicht möglich, sich am Fuß der Mauer entlang vorzuarbeiten.
„Reicht mir die Kinder! Nein, nicht so. Setzt den Fuß dort auf den Ast! Vorsicht, dass ihr nicht ausgleitet!“
„Was ist mit der Laterne?“
„Werft sie in den Fluß. Ihr braucht beide Hände, um euch festzuhalten!“
Pflatschend verschwand die Lichtquelle im glitzernden Fluß.
Sie hangelten sich den schmalen Pfad entlang, die Hände in das unregelmäßig gefugte Mauerwerk gekrallt. Es ging besser voran, als Alrik erwartet hätte. Schließlich wich die Uferbefestigung zurück. Dort oben waren Häuser. Es stank nach nassem Fell und Schlimmeren. Gut, hier werden wir schon einmal nicht auffallen.
Ein großer Bottich lag umgestürzt am Ufer.
„Das muss Gerbervlieth sein!“ meinte Linne.
„Wartet hier. Ich suche nach einem Boot!“
„Schwört bei Travia, dass Ihr zurückkehren werdet!“
„Ja ja...“
„Und wenn Ihr keines findet ?“
„Dann werden wir uns eins bauen.“
Geduckt, die Hand am Rapiergriff huschte Alrik die Häuserwände entlang. Die wassergetränkten Stiefel und die triefenden Gewänder fühlten sich grauenhaft an. Kämpfen würde er in dem Zustand schwerlich können. Die Fachwerkhäuser, zwischen denen zarter Rauch waberte, wirkten unwirklich, wie Theaterkulissen. Das Viertel, das bereits außerhalb der Stadtmauern lag, schien völlig menschenleer zu sein. Vermutlich sind die Bewohner schon vor der Schlacht geflohen.
Der Gerber flieht aus Gerbervlieth, deklamierte der Kobold in Alriks Kopf. Wenn Name mal kein Schicksal ist.
Beim Heimlichen, wenn das so weiter ging, würde er noch genauso irrsinnig werden wie die neuen Herren der Stadt.
Irgendwo in der Ferne spiegelten sich blitzend Feuerbälle am Nachthimmel, wie Wetterleuchten. Hylailer Feuer, vermutlich, oder schwere Kampfmagie. Offenbar wurde um den geweihten Grund der Friedensstadt noch gekämpft. Von dort drangen Gebrülle, darunter auch Schreie nichtderischer Natur, sowie Waffengeklirr an sein Ohr. Ein gutes Zeichen. Wenn Asmodeus Schlächter und Gehörnte den Traviatempel jetzt noch nicht eingenommen hatten, würden die versprengten Fürstlichen ihn wohl für längere Zeit halten können. Dann waren die Transysilier wenigstens abgelenkt.
Gerbervlieth war eine Geisterstadt. Hie und da lag ein Erschlagener in einer Blutlache, eine Tür klapperte im eisigen Nachtwind. Ein herrenloses Pferd irrte eine Seitengasse entlang und schleifte ein Bein hinter sich her, dessen sporenbewehrter Stiefel noch immer im Steigbügel steckte. Francesco schlug hastig den Fuchskopf. Er wollte sich gar nicht vorstellen, welche Wesenheit sich den Rest des Reiters geholt hatte.
Ein schnatterndes Fauchen von einem der Dächer ließ ihn zusammenzucken.
Dann sprang das Untier auch schon flügelschlagend herab, grub seinen Schnabel in Alrik Hose und riss ein großes Stück Stoff heraus. Der Friedwang schrie auf, bekam mit der Linken den gefiederten Schwanz der Kreatur zu fassen und schlug sie mit einem Stoßgebet zu Phex gegen eine Fachwerkwand, bis knackend Flügel und Knochen brachen. Mit einem Rapierstoß gab er ihr den Rest. Weiße, blutverschmierte Federn taumelten zu Boden.
Erst jetzt sah er zur Gänze, was da vor ihm auf dem Boden lag. Eine Chimäre . . . Der Körper des unglücklichen Geschöpfes war der eines Fuchses, dem zwei Wildgänseflügel aus dem Rumpf sowie ein Schnabel aus der Schnauze wuchsen. Statt Hinterpfoten besaß die Kreatur zwei platte Gänsefüße: eine groteske Verhöhnung des Phex (und des Hauses Gareth) wie der Travia gleichermaßen. Nur das kranke Hirn eines Anhängers Galottas konnte sich einen derartigen Frevel ausdenken. Allzu gefährlich war das Vieh nicht gewesen. Dennoch zitterten die Glieder des Mondschatten, vor Empörung und Schreck gleichermaßen. Er rieb sich über den blauen Fleck an der Wade und humpelte weiter, wobei er jetzt sorgfältig nach allen Richtungen – auch nach oben - spähte.
Phex schenkte ihm ein weiteres Mal Glück. Neben einem windschiefen Schuppen lag ein schmaler Kahn, kieloben neben der Böschung. Er drehte ihn um. Fauchend huschte ein kleines, struppiges Kätzchen davon, das sich darunter verborgen hatte.
Er holte die anderen nach. Gemeinsam schoben sie das Boot erst zum Ufer und dann an einer seichten Stelle ins Wasser.
„Haltet das mal. Vorsicht, das es nicht abtreibt.“
„Brauchen wir nicht Ruder?“
„Riemen, ja, wo sind die Dinger?“ Alrik sah sich um, konnte aber nichts dergleichen finden, nur einen Pecheimer, Werg und einen Holzbock. Jetzt hätte er die Laterne doch gut gebrauchen können. Hier draußen war es so finster wie in einem Orkarsch. Eisiger Wind heulte durch die Dunkelheit – er hoffte zumindest, dass es nur der Wind war.
„Ich. . .“
Ein schriller, überderischer Schrei ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Er war sich nicht sicher, ob das ihnen galt, aber mit einem Dämon wollte er sich jetzt nicht auch noch anlegen müssen. Nicht schon wieder . . .
„Schnell, ins Boot!“
Mit hohlen Poltergeräuschen stieg die Rommilyserin mit ihren Kindern ein. Letztere waren völlig apathisch und ließen alles mit sich geschehen.
Alrik sprang ins Wasser und stieß das wackelige Boot an. Phex sei Dank, dicker Rauch wälzte sich über den Fluß und nahm dem Verfolger, so es denn einen gab, die Sicht.
Stöhnend zog sich der Geweihte über Bord, von Linne zusätzlich am Arm gepackt. Noch immer dümpelten sie in Ufernähe. „Los, wir rudern mit den Händen!“
Pflatschend Wasser aufschaufelnd, bekamen sie den Kahn langsam von der Böschung weg. In der Strömung begann er sich sacht zu drehen. Nach einigen Augenblicken waren die Häuserreihen in Rauch und Dunkelheit verschwunden. Kühl und glucksend breitete sich rings um sie herum nur noch Väterchen Darpat aus. Die Kinder schoben das Boot noch immer mit den Handflächen an – das Spiel schien ihnen nach all dem Schrecken sogar Spaß zu machen. Offenbar waren sie der Meinung, dass sie es waren, die dem Fahrzeug seinen Schub gaben. Die Strömung war wirklich beeindruckend. Der Fluß führte noch immer Hochwasser.
„Genug jetzt, ihr schöpft ja den halben Darpat ins Boot!“ meinte Alrik schließlich, mit Blick auf das Wasser, dass schon einige Fingerbreit hoch über dem Boden schwappte.
„W...wir? Wieso?“
Die sprudelnden Blasen im Wasser unter den Ruderbänken sahen nicht gut aus.
„Das Boot ist undicht!“ jammerte Linne.
Alrik hätte gerne widersprochen, aber er sah deutlich, wie das Wasser stieg. Natürlich – der Kahn war ans Ufer gezogen worden, um neu abgedichtet zu werden. Nur deswegen war niemand mit dem Boot geflohen: Es war löchrig wie ein Sieb!
„Gut, dass Ihr mich darauf aufmerksam macht. Sehr schön, das wird ja immer besser. Zurück zum Ufer!“
Sie begannen wieder zu rudern, ohne mehr als ein hilfloses Geruckel zu bewirken. Jetzt war es auch für die Kinder kein Spiel mehr.
„Das schaffen wir nie!“ weinte Hilberiane. Obwohl die Nacht kühl war und Alrik eine Handbreit tief in Väterchen Darpat stand, wurde ihm siedendheiß zumute.
Der Kahn sackte unter ihnen weg wie ein Stein und sie bewegten sich kaum vom Fleck. Irgendwo in der Ferne quakten Enten.
„Dort drüben!“ schrie Raul mit hoher Knabenstimme und wies in den Dunst. Ein flaches, unregelmäßig geformtes Etwas schälte sich langsam aus dem Nebel. In der Mitte ragte ein Schatten auf, der durchaus ein Mast mit Segel sein konnte. Der Phexgeweihte traute seinen Augen nicht: Ein herrenloses Floß? Das schickte wahrlich Alveran! Ein Wunder, ja, das musste es sein.
„Nicht aufstehen – sonst sinken wir nur noch schneller. Lasst das Floss herankommen. Es treibt geradewegs auf uns zu.“
Linne war erneut diejenige, die als erste begriff. Ein schriller Schrei entrang sich ihren Lippen. Alrik blinzelte.
Als der Nebel sich etwas lichtete, verstand auch er. Der Baron keuchte. Er hatte in seinem Leben schon viel Grauenerregendes gesehen, aber das übertraf alles. „Schaut weg, Kinder!“ flüsterte er tonlos. Zugleich schämte er sich für seine unnützen Worte.
Das Floß, das geradewegs auf sie zuhielt, kam nicht aus Alveran, sondern aus den Niederhöllen. Es bestand aus halbnackten, blutverschmierten Leibern, Armen, Köpfen, mit groben Stricken zusammengeschnürt. In der Mitte ragte ein einzelner, angespitzter Pfahl aus einem der Körper, auf den ein Soldat der Fürstlichen Garde gespießt worden war. Der Mann lebte noch, obwohl ihm die Spitze mitten aus der Brust ragte, und bewegte sich wie einer der Automaten von Leonardo dem Mechanicus, den Mund lautlos auf und zu klappend. Es war ein Leichenfloß, das hier den Darpat herabglitt.
Das Blubbern mehrerer Blasen erinnerte Alrik daran, dass sie noch immer sanken. Das Wasser stand bereits unter der vorderen Sitzbank, der Bug begann sich deutlich zu neigen. Einige Atemzüge noch, dann würde alles vorbei sein.
Jetzt war keine Zeit mehr, Grauen oder überhaupt irgendetwas zu empfinden.
„Versucht das Boot etwas nach rechts zu drehen! Schnell! Nein, rechts. In die andere Richtung!“
Das Totenfloß stieß das Heck sacht an. Eine blutverschmierte Hand reckte sich in Alriks Richtung. Der Baron griff zu. Sie fühlte sich kalt an, hölzern und glitschig. Ein Fingernagel bohrte sich in seine Handfläche. Denk an nichts. Du musst das Floß festhalten.
„Springt hinüber!“ herrschte er Linne an. Vor Entsetzen gelähmt, kauerten sie in dem Nachen, der jetzt zunehmend einem schiefstehenden Badezuber glich.
„Ich kann schwimmen, ihr nicht! Wenn Ihr nicht ersaufen wollt, aufs Floss!“ Lange würde er es nicht mehr festhalten können. Der Kopf eines der Toten berührte seine Handfläche mit den Haaren und hinterließ eine schwarzglibberige Salbe aus Blut und Hirnmasse. Natürlich, ihr Erzdämonen. Ihr wollt mich um den Verstand bringen. Aber selbst wenn es mein letzter Triumph auf Dere sein sollte - ich stehe das jetzt durch!
Schließlich siegte die Furcht vor dem Tod über das Grauen vor den Toten. Linne warf ihre Kinder auf die Körper und sprang hinterher. Ein schmatzendes Geräusch, einige Luftblasen, dann war der Kahn verschwunden.
Alrik griff in die nassen, glitschigen, breiigen Leiber, und zog sich daran nach oben. Er rutschte aus, griff in einen Mund, schrie auf, langte ihn eine klaffende, ausgeblutete Wunde, hielt sich an einem steifen Arm fest.
Nein, er konnte sich nicht an Tote klammern. Schließlich bekam er einen Strick zu fassen. Eine selbst totenbleiche Linne zog ihn auf die Leiber. Wenn das hier vorbei ist, kann ich sie in Perricum bei den Noioniten abliefern.
Dann sah er den durchbohrten Leib des Gardisten über sich aufragen. Ein grauenvolles Stöhnen drang an Alriks Ohren. Die vor unsäglichem Schmerz aufgerissenen Augen bettelten um Erlösung.
Alrik zog sein Rapier, zielte kurz und hieb ihn in die Halschlagader des Gepfählten. Dunkles Blut sprühte über das Floss.
Ein einziger Alptraum. Verdammt, das hier müssen ein, wenn nicht zwei Dutzend Leichen sein. Eine Siegesbotschaft der Dämonenanbeter nach Perricum.
Der Streuner spürte, wie blanker Irrsinn nach ihm griff. Er gluckste. Ein greller, kalter Blitz zuckte durch seinen Kopf. Plötzlich waren da wispernde Stimmen, Empfindungen und Bilder, die nicht hineingehörten.
So also fühlte es sich an, den Verstand zu verlieren.
Ein Schwarm Fliegen. Überall Fliegen.
Kraftlos schlug er nach den summenden, brummenden Stechmücken. Aber da war nichts, nur das Wasser und darauf das schaukelnde Floß. Er musste sich zusammenreißen, gegen die Bilder wehren – die wirklichen wie die eingebildeten.
Heller, weißer Sand, der aus seinen Haaren und dem Gewand rieselte.
Ein bleicher Nivese in schwarzer Robe berührte seine Stirn mit einer Art Zauberstab.
Der Tod besiegt den Schmerz, flüsterte es an seinem Ohr.
Hörst du sie? Sie schlüpfen schon.
Ein Keller, da war etwas wie ein Gewölbe. Er durfte nicht hinunter, nicht in den Keller. Ihr guten Götter, steht mir bei!
Alrik wollte schreien, den Irrsinn hinaus brüllen, doch er verbiss es sich. Stattdessen entrang sich seiner Kehle ein Gurgeln. Schlagartig wurden seine Sinne wieder klar.
Linne kauerte mit ihren Kindern zu seinen Füßen, zitternd, winselnd, als hätte sie ihren Verstand bereits zu Boron gesandt.
Der Boden unter seinen Füßen war weich, schwammig und uneben.
Das marbide Floß hing ob der einseitigen Belastung bereits schief im Wasser.
„Wir müssen uns besser verteilen. Jeder an ein anderes Ende!“
Linne glotzte ihn ausdruckslos an.
Dann standen sie und ihre Kinder auf.
Ein Pfeil bohrte sich aus dem Nichts in den toten Gardisten.
Das nächste Geschoß durchschlug Rauls Kehle, als wäre sie aus Pergament.
Steif und ohne jeden Laut fiel er über Bord.
Linne sprang reflexartig hinterher. Ein lautes Klatschen war das letzte, was Alrik von ihr hörte.
Einer der Köpfe, die das Floß bildeten, hob sich sacht. Zwei gequälte Augen starrten den Phexgeweihten an.
„Verzeiht, Herr. Ich habe große Schmerzen und in Rommilys meine ganze Familie verloren. Könntet Ihr mich in Travias Namen nicht ebenfalls töten?“
Hilberiane begann zu lachen, laut und für ein Mädchen dieses Alters viel zu schrill. Ihre schönen, blonden Haare färbten sich von einem Moment zum anderen schlohweiß. Die Pupillen verloren jeden Glanz. Alrik hatte im Krieg schon einige Menschen den Verstand verlieren sehen, aber noch niemals ein Kind.
Die Kleine lachte, hielt sich den Bauch und wollte sich gar nicht mehr beruhigen.
Alrik dachte zuerst, das Zischen käme von ihr. Dann sah er den Pfeil aus seiner Schulter ragen.
Die Welt drehte sich schlagartig auf den Kopf.
Wirbelnde Schwärze.
Schmerz.
Graugrünes, seimiges Wasser, das über sein Gesichtsfeld schlug.
Kühle, glucksende Dunkelheit. Nässe.
Nacht. Frische Luft. Geräusche in seinen Ohren. Ein gieriger Atemzug.
Wieder aufsteigendes schwarzes Wasser. Silbrige Luftblasen.
Seine linke, panisch herumrudernde Hand schrammte über den Pfeilschaft. Schmerzen.
Alrik strampelte mit den Beinen. Er musste schwimmen, irgendwie nach oben gelangen.
Wieder Nacht. Schäumendes, weißes Wasser. Die Strömung zog ihn erbarmunglos mit sich.
Gurgelnd ging es wieder nach unten. Nach oben. Hastig einatmen. Wieder nach unten. Wasser schwappte vor seinem Gesicht auf und ab. Ein abscheuliches Spiel. Lange würde er es nicht durchhalten.
Mach mich ruhig fertig, Efferd. Meine Seele bekommt am Ende Phex.
Seine Füße ruderten umher. Als sie gegen etwas Hartes stießen, geriet er in Panik. Er konnte unmöglich schon am Grund des Darpat sein.
Atmen, er musste dringend Luft holen.
Wieder nach oben. Ein Atemzug, vermischt mit Wasser. Grelles Husten.
Nach unten. Dunkelheit.
Schlamm wirbelte auf. Panik.
Er stieß wieder nach oben.
Enten flatterten mit empörtem Geschnatter auf.
Seine schweren Gewänder und der Stahl an der Seite zogen ihn wieder nach unten.
Hektische Armbewegungen. Erneut einen Herzschlag Zeit, um nach Luft zu japsen.
Schilf. Sein Bein trat gegen etwas Hartes.
Dann schlug er auch mit dem Rücken dagegen. Kollernde Steine.
Gleißender Schmerz, als der Pfeilschaft abbrach.
Gütiger Phex, war das schon das Ufer?
Er rutschte über Geröll, dann in Morast. Etwas Scharfes schnitt in seine Hände.
Mehr Schilf. Keuchend, hustend und röchelnd wälzte er sich durch die Stengel. Schließlich blieb er spuckend und röchelnd im Schlamm liegen.
„Ghulscheiße, ich hab´ das Aas aus den Augen verloren“, keifte eine herzlose Frauenstimme ganz in der Nähe.
„Lass doch die armselige Wasserleiche. Hier liegen noch genug zum Ausplündern `rum.“
„Nee, wenn ich einen abmurkse, dann richtig, bei Kor. Hör mal, da drüben . . .“
Alrik stand auf. Mit steifen Schritten, wie ein Seemann, der gerade aus einer Schenke kam, torkelte er aus dem Schilf.
Grinsend stand die Söldnerin vor ihm und legte einen Pfeil auf die Sehne. Aufkreischend stieg ein Schwarm Krähen hoch. Alrik achtete nicht darauf, als vor ihm einer der Totenvögel von einem Pfeil getroffen zu Boden stürzte. Er zog blank.
Das hämische Lächeln der Transysilierin erstarb. Sie ließ den Bogen fallen und fingerte nach ihrem Schwert.
Scharf und pfeifend sauste die Rapierschneide auf ihre Stirn und ließ diese aufplatzen wie eine überreife Melone. Der nächste Hieb spaltete der Soldatin das Schlüsselbein. Sichtlich erstaunt über ihren Tod sank die Frau zu Boden.
Mechanisch parierte Alrik den Hieb des Spießgesellen. Klirrend und funkensprühend prallten die Klingen gegeneinander. Keuchen wechselte sich mit dem Aufplatschen von Schlamm ab. Nach einem kurzen Schlagabtausch wusste der Mondschatten, wo der Schwachpunkt in der Verteidigung des Gegners lag. Er fintete und stieß ihm das Rapier in die Schulter. Der nächste Stich bohrte sich in dessen Bauch.
Wie ein Sack rutsche der Mann in den blutigen Morast und hielt sich den Unterleib.
„Gnaa....Aaaa...!“
Mit wütendem Knurren durchstieß Alrik den Hals des Dämonenanbeters.
Dann sah er, dass das gesamte Ufer mit Waffen und Toten bedeckt war. Er war auf das Schlachtfeld zurückgekehrt.
Erst jetzt bemerkte er seine aufgeschlitzte Seite. Der Galottaknecht hatte ihn zuerst getroffen, und er hatte es nicht einmal gemerkt. Warmes, klebriges Blut suppte herab, rann ihm in den Stiefel. Er hatte ein schlechtes Gefühl.
Seine Kniekehlen wurden weich. Alrik befahl den Beinen, einen Schritt weiter zu gehen, aber sie gehorchten ihm nicht mehr. Mit dem Kopf voran fiel er in die Dunkelheit.
2. Kapitel: Blut
Ich komme wieder!
Grabinschrift, gesehen in der Warunkei
Überall tanzten Schatten. Alles war so unwirklich.
War er tot? Oder begann schon das Fieber? Sein Gefühl deutete eher auf letzteres.
Ein blasses, vornehm geschnittenes Gesicht sah ihn an.
Er erkannte ihn sofort. Das war Alrik ... der Echte. Sein Zwillingsbruder.
Alrik hielt ihn etwas vor dem Mund. Es schmeckte wie Wasser, aber auch nach Blut, Dreck und Leder. Egal, er hatte rasenden Durst. Der Baron von Friedwang trank gierig.
Ein Gespenst? Nein. Das hier waren dann wohl doch die Hallen des Schweigsamen. Natürlich. Es überraschte ihn nicht, dass er hinter der Pforte Uthar als erstes seinem Bruder begegnete. Seinen Bruder, den e r auf dem Gewissen hatte.
„Alrik?“
„Sag jetzt nichts.“
„Wir sind bei Boron, nicht wahr?“
„Wenn du so willst.“
„Es tut mir leid . . . wirklich sehr leid . . . wegen dieser Geschichte mit den Moskitos.“
Alrik lächelte nachsichtig. Er wirkte verklärt, als wäre er allen weltlichen Dingen längst entrückt.
„Schon gut“ sagte er mit begütigender Stimme.
„Verzeih mir. Und wegen damals ... im Dschungel. Ich hätte dich nicht im Stich lassen dürfen.“
„Ja ja. Sprich jetzt besser nicht. Deine Wunde sieht übel aus.“
„Ich bin nur ein wenig erschöpft. Es ist ein Kratzer, sonst nichts.“
„Für einen Kratzer blutest du ganz schön.“
Der Phexgeweihte versuchte sich zu erheben. Stöhnend vor Schmerz sank er wieder zurück. Erst jetzt merkte er, dass er die ganze Zeit über gegen einen Baum gelehnt hatte.
„Ich habe Durst. Kann ich noch etwas Wasser haben?“
Francesco blinzelte und erwachte. Sein Mund war staubtrocken, die Kehle verdorrt. Es stank zum Göttererbarmen, nach Schwefel, Blut, Eisen, Schlamm, Rauch und beginnender Verwesung. Alveran war das hier nicht. In seinem Rücken spürte er einen Baumstamm, den herabhängenden Zweigen nach zu urteilen den einer Trauerweide. Wie passend.
Irgendwo in der Nähe verbrannte knisternd Buschwerk, durch Hylailer Feuer oder einen magischen Flammenstrahl entzündet. Für Beleuchtung war also schon einmal gesorgt.
Erst nach und nach sah er die Walstatt in ihrer ganzen marbiden Pracht. Tote Pferde, Leiber, blutbenetzte Rüstungen, Waffen, Banner, soweit das Auge reichte. Das darüber ausgebreitete Leichentuch der Nacht war bereits mehr bläulichgrau als schwarz gefärbt. Ein eisiger Wind wehte von den in Düsternis schweigenden Feldern und Hügeln im Hintergrund heran.
Alrik fröstelte, was auch an dem Blutverlust lag. Es waren größtenteils Landwehrbauern, die hier in Flussnähe lagen – von Dämonen, Pfeilen oder im Nahkampf niedergemacht, über den Haufen geritten oder aus der Luft mit grausamer Alchimie verbrannt. Zwischen ganzen Körpern lagen Arme, Beine, Köpfe, Eingeweide, Torsos . . . Dutzende, wenn nicht Hunderte Soldaten mussten hier in Richtung Darpat gedrängt, eingeschlossen und restlos abgeschlachtet worden sein. Oder hatten sich diese Unglücklichen selbst in einem Ablenkungsmanöver geopfert, um der fürstlichen Hauptmacht den Rückzug zu ermöglichen?
Im Hintergrund war schemenhaft die Silhouette von Rommilys zu erahnen. Zwischen den Häusern glosten rostrote Brände. In der Ferne sprachen, nein, flüsterten noch immer die Waffen. Fettgefressene Kracken flatterten oder hüpften schwerfällig umher.
Hatte er gerade eben einen Fiebertraum gehabt? Wahrscheinlich, denn er fühlte sich krank. Seine Stirn war heiß. In der Schulter stak noch immer die Pfeilspitze, wie eine riesige stählerne Zecke, die sich festgebissen hatte und nun sein Blut saugte. Der Schnitt an der Seite brannte niederhöllisch, schien aber nicht besonders tief zu gehen.
Im Grunde nur zwei bessere Kratzer. Aber so etwas reichte völlig aus, um einen Mann in ein paar Tagen am Wundfieber verrecken zu lassen. Vor allem, wenn dessen glitschigen Gewänder vom Dreck der Rommilyser Kanalisation, des Darpats und eines dämonisch verseuchten Schlachtfeldes starrten.
Er blickte sich um. Wie besinnungslose Zecher lagen mehrere tote Körper im Schilf verstreut, einige davon halb entkleidet und bereits geplündert. „Seine“ beiden Borbaradianer waren noch immer da, schwer beladen mit Schwertgehängen, Taschen, Stiefeln, Dukatenbeuteln und anderem Plündergut. Ein Mann und eine Frau. Sie sahen beinahe aus wie Bauchladenkrämer oder Marketender. Kein Wunder, dass er trotz seines erbärmlichen Zustands so schnell mit ihnen fertig geworden war.
Der eine, dessen Gesicht mit Blut verschmiert war, röchelte noch schwach und ziemlich feucht. War verdammt zäh, dieser Bursche von der Gegenseite. Er aber auch.
Außerdem gab es noch die tiefschwarzen Leiber zweier Golgariten in voller Montur, die beinahe nebeneinander im Schlamm lagen, der eine halb von einem toten Gegner bedeckt. Orksche Unglücksraben! Die letzte Begegnung mit ihresgleichen war wahrlich ein schlechtes Omen gewesen, vor zwei Wochen im Schratenwald. Selbst die beiden „Ghule“ hatten nicht gewagt, diese Leichen zu plündern. In einem großen Halbkreis lagen erschlagene Dreckige und Chimären um die Toten herum. Die Ordenskrieger mussten ihren Bezwingern vor dem Ende einen wahrhaft heroischen Kampf geliefert haben.
Alrik schauderte. Die bleichen Lippen, puppenähnlichen Glieder, die toten, in den Nachthimmel glotzenden Augen, die um Waffen verkrampften Finger jagten ihm ein unbestimmtes Gefühl von Angst und Beklemmung ein – wie damals, wenn sie als Kinder über den Boronanger geschlichen waren.
Es half alles nichts: Er musste dafür Sorge tragen, nicht bald selbst starr und blass an diesem Ufer herumzuliegen wie ein an Land geworfener Fisch. Noch gehörte er der Welt der Toten nicht an, auch wenn sie bereits aus verstummten Mündern und mit erstarrten Gesten nach ihm rief.
„Nun zeigt mal her, was ihr Hübschen eingesammelt habt!“ Alrik kroch auf die tote Borbaradianerin zu. Die Geldkatzen und Waffen kümmerten ihn nicht. Die Wasserflasche war weitaus interessanter. Er zog den Stöpsel heraus: Der schwere, süßliche Geruch von Branntwein drang an seine Nase. Schon besser. Er nahm einen tiefen Schluck und zischte wie eine Schlange.
Der Phexgeweihte nahm einen weiteren Schluck, dann noch einen. Nebel breitete sich in seinem Kopf aus und ein angenehmer Schwindel. Er musste sich zusammenreißen: Das hier war nicht der richtige Ort, um sich zu besaufen.
„Sei´s drum. Wenn nicht hier, wo dann?“ widersprach er sich selbst, kicherte und ließ noch ein paar Unzen Branntwein die Kehle hinunterrinnen.
Sieh an, dort lag eine pailische Hirtentasche, gekennzeichnet mit einem großen roten Storch. Eine Therbûnitentasche – die schickte ihm Peraine! Hastig riss er sie auf: Eine kleine Phiole, ebenfalls mit Storchensymbol – leider leer. Gierig leckte er die letzten Tröpfchen Heiltrank heraus. Die Flüssigkeit prickelte angenehm auf der Zunge, mehr aber auch nicht. Peraineungefällig fluchend warf er die Phiole beiseite.
Immerhin, etwas trockenes Wirselkraut und frisches Verbandszeug fanden sich auch noch, desweiteren ein sauberes Messer in einer Lederscheide. Alrik riss sich das Wams vom Leib, goss etwas vom Branntwein über die Hände, ballte einige Streifen Leinen zusammen, goss Schnaps darüber und säuberte mit zusammen gebissenen Zähnen die Wunden. Mit dem Messer tastete er in die Schulter. Ein Schmerzensschrei. Schnell noch einen Schluck, bevor er die Lage der Pfeilspitze sondierte. Der Schuß war wirklich nicht sehr tief gegangen.
Schien nur eine Fleischwunde zu sein. Er war eben doch ein Phexenskind. Alrik biss die Zähne zusammen und versuchte das Stück Stahl herauszuhebeln. Die Welt um ihn begann zu wackeln und zu beben, als wolle sie endgültig einstürzen. Tränen schossen ihm über das Gesicht. Ein Ruck, und er konnte das kleine Dreieck mit den Fingern herausziehen. Metallischer Blutgeruch ließ ihm schlecht werden. Er spuckte aus. Gut, dass er Branntwein hatte.
Hastig nahm er wieder einen Schluck (die Feldflasche war nun beinahe leer) und verband sich mit dem restlichen Verbandsmaterial Schulter und Seite.
Er versuchte aufzustehen, taumelte, sank wieder zusammen. Eine Stütze wäre nicht schlecht. Er nahm eine Sturmsense, die aussah wie ein Al´Anfaner Schnitter und benutzte sie als Stock. Ach ja, neue Gewänder taten wohl auch not.
Sein Blick fiel auf einen blonden Waffenknecht neben dem Ysilier, der trotz seiner Halswunde noch pfeifend und röchelnd atmete wie ein alter Hund. Mit der Plünderung dieses Toten waren die Aasgeier offenbar gerade beschäftigt gewesen, denn seine Stiefel lagen bereits ausgezogen neben ihm. Ein weiteres Mal hatte er Glück. Dem unglücklichen Darpatier hatte etwas den Schädel gebrochen, wie die Delle in seinem Birnhelm und der dünne Blutfaden unter der Nase verrieten. Sein Gambeson, die Tunika, der Umhang und die Hose waren kaum beschmutzt. Nur ein paar Ameisen krabbelten schon auf ihm herum, ein Zeichen, dass der Tag wirklich nicht mehr fern sein konnte.
Mit geübten Griffen zog der Phexgeweihte die Leiche aus und kleidete sich neu an. Das ist ja der reinste Marktplatz hier, dachte er unangemessen beschwingt, während er die neuen Stiefel über die Füße zog. Waren ein bisschen eng, aber er wollte nicht meckern. Schließlich entdeckte er das Medaillon auf der weißen Brust des Toten. Er kniete nieder und öffnete es: Ein mit zarten Pinselstrichen gemaltes Backfischgesicht kam zum Vorschein.
„War wohl deine Verlobte, hmm?“ Mit schlechtem Gewissen sah der Streuner ins bläulichgraue Gesicht des jungen Mannes, der mit zartem, wissendem Lächeln vor ihm lag, als wären alle seine Fragen nun zu seiner vollsten Zufriedenheit beantwortet. Eine kleine Ameise kletterte in seinem Mundwinkel herum, dunkle Augen starrten unter halb geschlossenen Lidern hervor. Eine blonde Strähne, die unter dem Helm hervorlugte, wippte sacht im Nachtwind.
Alrik schluckte. Wie der arme Kerl wohl geheißen hatte, der jetzt hier als Krähenfraß herumlag? Besonders alt war er nicht geworden. Was sollte er mit dem Medaillon anstellen? Irgendwie war ihm der Gedanke unangenehm, es womöglich zwölfgötterlosen Plünderern in die Hände fallen zu lassen. Also hängte er es sich selbst um den Hals. Vielleicht war es irgendeinem Krämer ja sogar ein paar Silbertaler wert.
„Es ist eine Sünde vor Boron, Tote zu fleddern!“ ertönte hinter ihm eine matte, aber dennoch befehlsgewohnte Stimme. Alrik fuhr herum (und verzog sofort das Gesicht vor Schmerz). Hastig griff er nach der Klinge, die neben dem sterbenden Söldner lag. Im ersten Moment hatte er mit einem Geist gerechnet. Aber der Mann, der ein schwarzes Kettenhemd trug und den Fluß entlang auf ihn zu hinkte, keuchte wie jemand, der überaus weltliche Leiden zu ertragen hatte.
Sein dunkler Waffenrock war schmutzig und zerrissen, aber das Symbol des gebrochenen Rades mit dem Schwingenpaar gerade noch zu erkennen. Ein dritter Golgarit. Die Reste eines grauen Mantels hingen ihm von den Schultern, wirre schwarze Haare in die Stirn. Nicht nur ob der glasigen Augen hätte man den Mann leicht für eine lebende Leiche halten können. Das totenbleiche Gesicht war mit Blut und Schlamm verschmiert, das rechte Bein dick bandagiert und mit einem Rabenschnabel geschient. Ähnlich wie Alrik stützte er sich auf eine Gehhilfe, ein schartiges, blutbeflecktes Langschwert.
Der Friedwanger spuckte aus. Die schwarzen Raben verfolgten ihn in letzter Zeit wie das Pech. Vermutlich waren sogar sie es, die ihm das Unglück hinterher schleppten.
„Hör zu, Gruftassel, ich hatte schon einen schlechten Tag“, knurrte Alrik. „Und die Nacht war auch nicht viel besser. Also, wenn du unbedingt eine Predigt halten möchtest, hier liegt genug Kundschaft für euereins . . .!“
Hatte dieser Narr denn keine anderen Sorgen? Fast hätte Alrik meinen können, wieder in einem wirren Fiebertraum gelandet zu sein.
Der Golgarit schlug das Zeichen des Boronsrads und biss sofort die Zähne zusammen.
„Du solltest dem Schweigsamen nicht spotten. Schon gar nicht auf einer Walstatt!“
„Du trägst deinen Schnabel ganz schön hoch. Wer sagt eigentlich, dass ich auf deiner Seite stehe?“ Alrik zielte mit der Schwertspitze in Richtung dieses gerupften Totenvogels. Das hochnäsige Gerede des Boronis ging ihm auf die Nerven – er hasste mittlerweile alles, was auch nur im Entferntesten mit Leichen und Tod zu tun hatte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sich bald neues Unheil manifestieren würde. Ziemlich genau dort, wo der Boronsritter stand.
Der bleiche Mann lächelte. „Ganz einfach. Deine Visage würde ich unter tausend anderen wieder erkennen, Francesco di Palazzo. Selbst an einem Ort wie diesen.“ Er hob einen halb gefüllten Wasserschlauch. „Dankst du es mir so, dass ich dir frisches Wasser bringe? Obwohl ich selber kaum noch laufen kann... Na, wenn du so willst, ist der Schlauch auch gefleddert. Für dich, mein alter Freund.“
„Was?“ Der Mondschatten glotzte blöde. Dann begriff er.
„Alriiiik!“
Der Golgarit verstand nicht, dass Francescos Schrei nicht nur als Erkenntnis, sondern auch als Warnung gedacht war.
Im nächsten Herzschlag knallte eine schweflig gelbe Peitsche auf die Wasserflasche, die zu Boden fiel.
Eine schwarze Kutte mit zwei feurigen Augen darin glitt aus dem Nichts auf den Golgariten zu. Ein Schwert zischte durch die Luft. Der Ritter parierte verblüffend schnell mit dem Langschwert. Vor Schmerz aufstöhnend wehrte er einen weiteren Schlag des Dämons ab. Der Stahl zerbrach in zwei Teile, die aus seiner gepanzerten Hand fielen. Ein weiterer Hieb. Die dämonische Klinge frass sich unterhalb des Brustkorbs in das Kettenhemd des Golgariten.
Der Hesthoth grinste, so schien es dem Phexgeweihten.
Dann traf die Peitsche den Krieger am Unterschenkel, den er notdürftig mit einem Rabenschnabel geschient hatte. Der Mann sackte mit grellem, viehischem Brüllen zusammen und ruderte hilflos mit den Armen. In einem fort schreiend rollte er zur Seite.
Der Hesthot hob das Krummschwert zum Todesstoß.
„Einen Augenblick, Schwarzkutte aus den Niederhöllen. Bevor du meinen Bruder erschlägst, musst du erst mich töten.“
Der Dämon glitt völlig lautlos herum.
Francesco empfand fast schon so etwas wie Dankbarkeit, dass er sich nun wieder in sein anderes Ich verwandelt hatte. Mit Verachtung musterte der Mondschatten seinen Gegner. Knisternde Dunkelheit waberte unter dem Kapuzenmantel des Heshthot, ein in einem fiebrigen Rot glühendes Augenpaar starrte ihn an. Eine Art dunkler Sog ging von dieser Gestalt aus, die ganz eindeutig nicht von dieser Welt war.
Der Hesthot sprach (seltsam, Alrik hatte nie Worte aus den unsichtbaren Mündern dieser Dämonen vernommen) – mit zischender (seufzender? ächzender? wispernder? wimmernder?) Stimme.
„Mit was willst du mich besiegen? Mit dem Stock, auf den du dich stützen musst, lahmer Mann?“
„Ja.“
Der Heshthot lachte auf, zumindest interpretierte der Phexgeweihte das unweltlich gurgelnde Geräusch unter der Kapuze so.
Dann glitt der Dämon zum Angriff. Francesco parierte mechanisch. Die Peitsche traf sein linkes Bein. Ein eisiger Schmerz raubte ihm dort sofort jede Kraft. Um ein Haar wäre auch er gestürzt.
Er nutzte die Vorwärtsbewegung seines Körpers, um das Schwert in den Dämon sausen zu lassen.
Es durchstieß die nachtschwarze Kutte, ohne den geringsten Schaden anzurichten. Natürlich. . .
Metall ächzte, als schwärzlicher Dämonenstahl gegen die Klinge des Barons prallte.
Der Friedwanger griff wieder an, hieb allerdings erneut ins wabernde Nichts. O Heimlicher, steh mir bei.
Nun schlang sich die Peitsche um die Klinge, glitt aber ab. Die Wesenheit parierte ihrerseits einen Hieb des Geweihten, tänzelte um ihn und schlug erneut zu. Instinktiv duckte Francesco sich. Das Krummschwert fuhr über den Kopf des Mondschatten hinweg. Die dämonische Klinge surrte überderisch, als wäre sie aus eisernen Hornissen geschmiedet.
Erneut verlor sich Francescos Gegenstoß unter der schwarzen Kutte. Es war ein unwirkliches Gefühl, fast so, als würde er einen an der Wäscheleine aufgehängten Teppich angreifen – und sich dazwischen irgendetwas grotesk Unstoffliches verbergen.
Der Dämon schlug wieder mit der Geißel zu, die sich wie ein gewaltiger Rattenschwanz - oder eine zischende Viper - um das Rapier wickelte. Ein Ruck der gelblichen Klauenhand, und die Waffe wurde Francesco mit urtümlicher Gewalt aus den Fingern gerissen, gegen die es keinen Widerstand gab.
Phex, hilf!
Francescos linke Hand ruckte vor. Die Sense parierte den Schwerthieb, der heimtückisch von unten geführt worden war. Der Geweihte sprang nach hinten. Den nächsten Schwerthieb wehrte er über Kopf ab, den Schaft der Sense mit beiden Händen haltend, während die Peitsche ins Leere knallte. Nicht ganz ins Leere . . . Einen Atemzug später spürte er, wie sich ihr Riemen um seinen Stiefel schlang. Ein Ruck, und er landete schmerzhaft auf dem Rücken. Francesco brüllte und merkte, wie frisches Blut aus seinen Wunden quoll.
Er rollte sich zur Seite. Schlamm sprühte hoch, als das Krummschwert neben ihn in Sumus Leib fuhr.
Der Hesthot zerrte wütend an der Peitsche und damit an Francesco, dessen Fuss noch immer gefesselt war. Wie einen Sack zog der Dämon ihn auf sich zu. Fauchend hob der Kapuzenmann seine krumme Klinge zum Todesstoß.
„Grüß Galotta von mir!“
Francesco stieß die Sense mit der Spitze voran in seinen Gegner, genau in das finstere Wabern unter der Kapuze hinein. Der Hesthoth krisch auf, ein Geräusch, das den Geweihten an eine Mischung aus geschlachtetem Schwein, wütendem Schlinger und einem grellen Vogelschrei erinnerte. Einige Augenblicke lang schien das Wesen unter der Kapuze zu schrumpeln. Dann zerplatzte der Dämon mit einem dumpfen Knall. Eine fahlgelbe Schwefelwolke raubte Franceso den Atem. Hustend rappelte er sich auf.
Der Dieb senkte die geweihte Boronsichel, die neben einem der toten Rabenkrieger gelegen war. Ich danke Dir, Phex.
Sein linkes Bein war taub, wie erfroren. Hastig massierte er es. Nur langsam kehrte das Leben in seine Glieder zurück. Mit verzerrtem Gesicht sah er, dass sich der Gambeson über den Verbänden blutrot gefärbt hatte.
Dann fiel sein Blick auf die Waffe. Zischend löste sich das dunkle Metall auf und zerbröckelte im Wind, als habe es seine ganze Kraft gegen den Dämon verbraucht. Er liess den Schaft fallen, bevor das, was ihm Überderisches anhaftete, seine Hand erreichen konnte.
Francesco wankte auf den Golgariten zu, der leise stöhnte. Der Ritter war also noch am Leben.
Mit den Händen wischte er ihm die Haare und das Blut aus dem Gesicht.
Leise schrie er auf. Er hatte sich nicht getäuscht.
„Alrik? Tatsächlich.... Aber du bist doch tot...“
Das hier waren ganz eindeutig die Züge seines Freundes, nein, Bruders, dessen Namen er nun schon seit so vielen Götterläufen führte: Alrik Tsalind von Friedwang, der verschollene Baronieerbe. Was war das schon wieder für ein Trugbild?
„Nicht ganz!“ antwortete es ihm matt. „Hast du . . . ihn vernichtet?“
„Ja. War knapp. Wieder mal . . .“
„Wir sollten machen, dass wir von hier verschwinden!“
„Gute Idee. Soweit war ich heute auch schon. Unsere Postkutsche fährt aber erst bei Sonnenaufgang, hahaha.“
Francesco kicherte überdreht. Irgendwie gefiel ihm der Gedanke, dass der wahre Alrik noch am Leben sein könnte. Auch wenn das natürlich völlig unmöglich war.
„Dass wir uns so wiedersehen müssen. Dass wir uns überhaupt wiedersehen.... Das hier ist alles nur ein verrückter Traum, nicht wahr? “
„Leider nein.“ Alrik versuchte unter dem blutverschmierten Gesicht ein Grinsen.
Francescos Euphorie verflog rasch wieder. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Eigentlich stimmte gerade überhaupt nichts.
„Wie bist du aus dem Grab rausgekommen? Ich hab dich doch eigenhändig versch...äh, beerdigt. Und was ist das für ein merkwürdiger Aufzug? Dich haben wohl die Golgariten ausgegraben.... O Mann, ich hoffe, du bist nicht nachtragend.“
Stöhnend ließ sich Alrik aufhelfen. „Lass uns anderswo reden. Hier sind wir nicht sicher. Aber zuvor müssen wir Etiliane und Corvinian wegschaffen.“ Er wies auf die beiden toten Boronsritter.
„Wie willst du die denn mitnehmen? Und wohin? Ich wäre schon froh, wenn wir irgendwie von hier wegkämen.“
„Du musst sie in den Fluß werfen. Ihre Rüstungen werden sie auf Grund ziehen. Sie dürfen auf keinen Fall dem Feind in die Hände fallen. Und dann brauchen wir ein Pferd oder so etwas . . . “
Francesco warf dem wahren Alrik die Hirtentasche und den Branntwein in die Arme: „Hier, verbind´ dich erst mal. Der Riss über deinem Auge blutet immer noch . . . Am Ende machst du dir noch deine hübsche Boronskutte schmutzig. Und lass einen Schluck Schnaps für mich übrig. Wenn ich zurückkomme, werde ich dreimal leise pfeifen. Ach ja, und besorg dir eine Waffe. Liegen genug davon herum.“
„Schon gut, Francesco. Wir sind hier nicht mehr in den Sklavenbaracken. Ich kann alleine auf mich aufpassen.“
„Na dann gehab dich wohl.“
„Hehe, so habe ich es auch wieder nicht gemeint, bei meiner Treu.“
„Such dir trotzdem eine Klinge. Kannst du mit `nem Bogen umgehen? Da drüben liegt einer. Aber schieß mich nachher nicht gleich über den Haufen.“
Also gut, spiel’ das Spiel einfach mal mit. Im Grunde musst du froh sein über jede Gesellschaft, die nicht aus Dämonen oder rachsüchtigen Schlächtern besteht. Einmal vorausgesetzt, dass der Mann dort, der wirklich wie dein, haha, toter Bruder aussieht und sich genauso benimmt, zu keiner der beiden Kategorien zählt.
Der Phexgeweihte humpelte geduckt in Richtung Schlachtfeld. Das linke Bein war immer noch taub, wie erfroren. An einer weiteren Trauerweide, in der mehrere Pfeile steckten, blieb er stehen. Es wurde langsam hell, aber die Szenerie, die Praios erste Boten nun vorfanden, würde den Götterfürsten nicht erfreuen. Überall Tote, Tote, Tote, in der überwiegenden Mehrzahl Darpaten. Dicke Schmeißfliegen summten umher. Vor ihm hatte sich ein regelrechter Bluttümpel gebildet.
Zwei Bündel in grün-roten Fetzen lagen daneben, völlig zerfleischt. Die blutgetränkten Roben und die festen, aber ungenagelten Lederstiefel ließen auf Therbûniten schließen.
„Ist ja der reinste Geweihtenkonvent hier“, knurrte der Streuner leise. Vermutlich verdankte er den Perainedienern auch die Tasche mit dem Verbandsmaterial. Auf einer Tragbahre lag eine einarmige Soldatin, den Stumpf notdürftig abgebunden, der Bauch von scharfen Zähnen aufgerissen und ausgeweidet. Ihrem verzerrten Gesicht nach zu urteilen war ihr Tod nicht sonderlich angenehm gewesen.
Roh fluchend trat Francesco die Leiche von der Bahre. Ein Transportmittel für den lahmen Alrik würde er nachher gut gebrauchen können.
Die Sonne ging auf, und der Brabaker spürte die Kraft in seine Glieder zurückkehren. Selbst das Bein begann sich langsam wieder zu erwärmen. Der Nachteil war, dass er bald für jedermann gut sichtbar sein würde. Irgendwie fühlte er sich, als hätte er die ganze Nacht durchgesoffen.
In der Ferne stiegen einzelne Rauchsäulen über dem ansonsten leblos wirkenden Rommilys auf. Weiter westlich brannte ein einzelnes Gehöft. Bis zum Horizont, schien es, lagen Leichen, Pferdekadaver, Waffen und umgestürzte Trosswägen verstreut, als habe sie ein wütender Gigant über die Äcker und Felder verteilt. Das ganze Land, das bis vor kurzem noch grün und braun gewesen war, war nun von einem Leichentuch aus glanzlosem Eisen, grauweißem Fleisch und Rot in allen Schattierungen bedeckt. Es war ein endzeitliches Bild.
Ab und an bewegte sich darin noch etwas: Krähen, Hunde, aber auch einzelne Söldner. In der Ferne stapfte ein Riese über die Walstatt, plump und groß wie ein Turm: ein Golem vielleicht oder ein Oger . . . Francesco wusste, dass die Transysilier diese Menschenfresser in Diensten hielten, aber vielleicht hatte das Untier auch einfach nur der süße, schwere Aasgeruch angelockt.
Ein schmutzigrauer großer Vogel sass neben einer halbierten Leiche, einen bleichen Frauenkopf auf dem Rumpf, der seine Zähne immer wieder ins nackte Fleisch grub. Eine Harpyie.... Francesco spürte etwas Säuerliches seine Kehle hinaufsteigen. Das gefiederte Monstrum, deren Mund blutverschmiert war, kicherte leise in sich hinein. Dann führte sie mit schriller Stimme ein wirres Selbstgespräch, in dem sie ihre verlorene Jugend und Schönheit beklagte. Kopfschüttelnd huschte der Streuner in die entgegengesetzte Richtung davon.
Francesco duckte sich hinter einem Baumstumpf, als ein früher Schlachtenbummler keinen Steinwurf weit von ihm entfernt vorbeitaumelte. Der Mann zerrte gerade einen Ring von einem Finger und warf dann achtlos das abgeschnittene Stück Fleisch weg. Phex sei Dank, der Bursche schien völlig erschöpft zu sein, jedenfalls beachtete er seine Umgebung nicht.
Aber auch Francesco musste sich überlegen, wie weit er sich noch auf diesen Vorhof der Niederhöllen wagen wollte. Ein Pferd, ein Fürstentum für ein Pferd! Angeekelt schlug er den Fuchskopf, als er vor sich eine Krähe auf einem zerstörten Gesicht wippen sah, einen Augapfel im Schnabel haltend wie eine Beere. Mit schwerem Flügelschlag flatterte der Aasfresser davon. Weit und breit waren Krähen, nur Krähen, aber kein einziger borongefälliger Rabe zu sehen.
Francesco stolperte über eine Leiche. Als ein großer Schatten über ihm durch die Luft schwirrte, ging er hinter einen rußgeschwärzten Baum in Deckung. Ein Dämon? Wenn ja, dann hatte er oder sein Reiter ihn nicht erspäht, den vielen Rauch- und Nebelschwaden sei Dank, die ein klirrend kalter Wind über die Felder blies.
Knurrend schnappte etwas Scharfzahniges nach seinem Stiefel. Mehr vor Schreck als vor Schmerz schrie der Geweihte auf. Ein Wolfskopf ruckte über den Boden, einen unförmigen Klumpen neben sich herschleifend, den Francesco erst jetzt als zweiten Kopf erkannte. Eine dieser Verhöhnungen des tobrischen Wappentieres! Ihm stellten sich die Haare zu Berge.
„Scheiß Chimäre!“
Der Körper der Bestie war am Becken zertrümmert. Sah so aus, als wäre ein Schlachtroß in vollem Galopp über das Tier hinweg getrampelt. Der Geweihte zog blank.
Mit wütenden Hieben schlug er die Missgeburt tot, die erst jämmerlich aufjaulend, dann winselnd zusammensank.
Wegen was genau war er eigentlich in dieser Alptraumlandschaft unterwegs? Ach ja, ein Reittier.
Schließlich pfiff er leise durch die Zähne. Phex verwöhnte ihn wieder einmal: Er hatte in all dem Chaos einen Trosswagen mit dem fürstlichen Wappen entdeckt. Zwei Zugpferde standen zitternd und völlig verstört vor dem Fuhrwerk.
Geduckt schlich sich Alrik näher. Die Aasfresser, die auf den Leichenbergen saßen, flatterten entrüstet kreischend auf. Hastig blickte der Geweihte sich um, bevor er weiterging. Kein lebender Zweibeiner war in der Nähe, der daran Anstoß nahm.
Beruhigend flüsternd tätschelte der Friedwanger die Hälse und Flanken der Pferde, die ob des Blutgeruchs mit den Augen rollten und strich über ihre Nüstern.
„Ihr seid die ersten Warunker seit langem, deren Anblick mir Freude bereitet.“
Durch die aufgerissene Plane warf er einen Blick ins Innere: Der Wagen war randvoll beladen mit Brot, Schinken, Käse, Weinkrügen und dergleichen mehr.
Der Mondschatten dankte dem Heimlichen. „Dafür lieb ich das schöne Darpatien: Für seine holde Gastlichkeit in allen Lebenslagen. Na, fürs Frühstück ist schon einmal gesorgt.“
Blieb nur die Frage, wie er mit diesem Gespann über all die Toten fahren wollte. Die Tiere waren völlig apathisch - Phex wusste, welche derischen oder dämonischen Schrecken sie in der Nacht mitgemacht hatten. Die beiden Pferde mussten in ihrer Panik den Wagen fast über das ganze Schlachtfeld gezerrt haben.
„He, verdammich, was machst du mit meinem Fuhrwerk?“
Ein Söldner kam, bleich und übernächtigt, auf ihn zugestapft: Ein glatzköpfiger Mann mit einer hasenschartenähnlichen Narbe über dem Mund, aufgrund des Irrhalken auf dem Waffenrock eindeutig als Transysilier zu erkennen.
Heiliger Assaf, für ein Schlachtfeld herrschte hier einfach noch zuviel Leben. Nun ja, dann musste er eben wieder einmal mit den Wölfen heulen. Zufrieden sah er, dass der Mann sich einen blutigen Verband um den Schwertarm geschlungen hatte und hinkte. Zur Not würde er es – hoffentlich - mit ihm aufnehmen können.
„Dein Fuhrwerk?“ Francesco sah auf das Wappen: „Ich wusste gar nicht, dass der Hornochse dein Zeichen ist.“
„Quatsch keinen Unsinn und verpiss dich.“ Der Reisläufer griff zu dem Katzbalger, der an seiner Seite baumelte. „Oder soll ich dir ein Loch in den madigen Wanst stechen? Wäre doch schade, nachdem du unseren glorreichen Sieg ohne einen Kratzer überstanden hast. Also, Schlappschwanz, verkriech dich, und überlass die Beute denjenigen, die korgefällig gekämpft haben.“
„Seid wann ist es dem Blutsäufer gefällig, sich von Gänseanbetern durchlöchern zu lassen?“, sagte Francesco frech. „Ich habe mich eben nicht so dämlich angestellt wie du. Was willst du überhaupt mit der Karre?“
„Du kannst froh sein, dass ich nicht noch mehr Scharten in meinem Schwert haben möchte. Sonst würdest du jetzt schon aus deinen Rippen glotzen wie die winselnden Rommilyser aus ihren Käfigen. Was ich damit vorhabe, geht dich einen glühenden Irrhalkenkot an.“
Der Transysilier schlug mit der Klinge die zerfetzte Plane beiseite „Da hat wohl einer Hunger, wie?“ Beiläufig zerrte er einen Beutel heran, öffnete den Strick, mit dem er zugebunden war, griff hinein und zog mit schmutzigen Händen ein Stück Brot hervor. „Was zu fressen!? Gut so, beim Herrn der Rache! Ohne Mampf kein Kampf. Nach so einem Gemetzel schmeckt darpatisches Brot gleich doppelt gut, haha.“ Mit einem krummen Haumesser schnitt er sich einen Kanten ab, biss hinein und wischte sich die Krümel vom Wams.
„Nun lass mal deine Griffelchen von dem Brot“, protestierte Frabcesco. „Das habe nämlich ich aufgetrieben.“
„Ach, leck mir doch die Stiefel! In Rommilys gibt es genug zu Beißen – und Besseres!“ Der Söldner spuckte angewidert aus, dann warf er das Stück Brot achtlos beiseite.
„Ja, aber du bist nicht in Rommilys. Hör zu, ich mache dir ein Angebot. Da drüben am Fluß liegt noch reichlich Trinkbares. Wir nehmen das Fuhrwerk mit und dein Zeug laden wir dann auch noch drauf. Danach wird erst mal gefrühstückt. Was sage ich: gefeiert!“
„Was? Scheiß doch auf deine Fressalien. Schmeiß den Rotz jetzt aus meinem Fuhrwerk, oder die einzigen, die mit dir frühstücken, sind die Krähen!“
„Jetzt lass mal schön das Unheiligtum im Dorf! Hier gibt es nämlich noch ein kleines Problem: Bei all den kalten Alriks kommst du mit dem Wagen nicht weit. “
„Was bist denn du für ein Milchbübchen? Über die Stinksäcke fahrt man doch einfach drüber, du Herzchen. Hört sich irgendwie lustig an, wenn ihre Knochen brechen. Da werden dann gleich die Räder geschmiert, hahaha. Mit darpatischem Fett, verstehst du?“
„Ja, verstehe. Aber sollen die Gäule sich an all den Klingen verletzen?“
„O Mann, du bist wohl einer von den Therbûniten, was?“ Die „Hasenscharte“ lachte dreckig und entblößte mehrere graubraune Zähne. Tatsächlich schien es für ihn undenkbar zu sein, dass noch jemand anderes als einer der Seinigen sich auf den Feldern vor Rommilys aufhielt.
Der Glatzkopf klappte einen Deckel im Kutschbock hoch und zog eine Peitsche hervor: „Wer sagt´s denn. Damit prügele ich die Mistviecher von hier bis nach Yol-Ghurmak, wenn es sein muss.“
Der Irrhalkengardist griff nach den Zügeln, die sich in den Beinen eines der Pferde verheddert hatte, zwang das Tier, seine Hufe zu heben und entwirrte das Ganze. Dann schwang er sich auf den Sitz.
„Die Gäule und die Karre sind ein kleines Vermögen wert. Wusste ich´s doch: Der frühe Vogel fängt den Wurm. Sollen die Narren in Rommilys ruhig ihren Werwolf auspennen. Heute Abend werde ich dann feiern, bei Zholvar. Wo, sagtest du, gibt´s hier was zu Saufen?“
„Da drüben, bei der Weide...“
„Na schön, dann schauen wir uns das doch mal an. Du kannst ruhig hinten Platz nehmen“, sagte der Söldner gönnerhaft.
Francesco tat, wie ihm geheißen wurde.
Mit brutalen Peitschenhieben trieb das Narbengesicht die Pferde an. Der Mondschatten kniff die Augen zusammen, wann immer das Fuhrwerk ruckelte, ausrutschte oder über einen Körper hinwegsprang. Es knackte und krachte. Francesco wollte seine Phantasie lieber nicht zu sehr beanspruchen. Er musste zugeben, dass der Transysilier das Gefährt nicht ungeschickt lenkte, auch wenn er dabei schreiend auf die armen Warunker einhieb, dass ihnen das Blut nur so vom Rücken troff.
Der Höllenkutscher drehte sich um: „Hast eine komische Rüstung an. Zu welchem Banner gehörst du eigentlich? Lass mich raten. Redest irgendwie schwarzsichlerisch. Karmanthi von Sokramor?“
Francesco stach der Hafer - sei es nun wegen seiner phexischen Natur oder aus Übermüdung: „Wer sagt, das ich überhaupt zu euch gehöre?“
Der Irrhalkengardist stutzte, dann lachte er freudlos auf. „Scheint so, als hätte ich da einen richtigen Scherzbold aufgegabelt.“ Mit einem abscheulichen Fluch gab er den Warunkern die Peitsche zu spüren. „Bist ein witziger Bursche. Wenn du wirklich einer von den Gänsepaktierern wärst, würdest du jetzt entweder auf Burg Hohenstein oder im Yulagtempel hocken und dir in die Hose scheißen vor lauter Angst. Oder du wärst schon jetzt mausetot, hahaha!“
Francesco nickte zufrieden. Immerhin wusste er nun aus erster Hand, dass es einigen Darpaten noch gelungen war, der vollständigen Vernichtung zu entgehen – sowohl in Rommilys als auch außerhalb. „Wenn du´s genau wissen willst: Ich bin Sokramorier. Und du? Kennst dich wohl aus mit´m Wagenlenken?“
„Allerdings. Bin mal im Hippodrom von Gareth gefahren, ob du´s glaubst oder nicht!“
Wieder zerknackte unter dem Rad ein Knochen.
„Sag bloß, in den längsten vier Meilen Aventuriens? Deswegen bist du´s wohl gewohnt, über deine Mitmenschen zu juckeln als wären sie Pflastersteine, was?“
Der Glatzkopf lachte auf wie ein Irrsinniger. „Du gefällst mir, Kleiner. Nee wirklich. In Yol-Ghurmak waren sie nicht so lustig. Wie heißt du eigentlich?“
„Francesco. Und du, Großer?“
„Olwin. Hast vielleicht schon mal von mir gehört: Olwin Rukus?! Ja, war mal ein Meister des Zügels. Den Schmiss in meinem Gesicht hat mir so ein verdammter Darpatier verpasst, in der letzten Runde, keinen Steinwurf vor der Zielgeraden. Nur deswegen hat diese Rommilyser Ratte gewonnen. Ja, verdammich, ich war ein guter Wagenfahrer. Ei sehr guter sogar. Haben mir aber was angehängt, von wegen Wettbetrug und so. Steckte auch wieder so ein darpatischer Ochsenschwanz dahinter. Tja, beim Herrn der Rache, dafür stoßen wir in Rommilys jetzt ihre Traviageweihten, hähähä. Beim Orkensturm hab´ ich mich freiwillig zum Reichsheer gemeldet und bin da irgendwie hängen geblieben. Naja, und als der Bethanier kam - ich meine, jeder ist seines Glückes Schmied. Hatte irgendwann einfach keine Lust mehr, für diesen dämlichen Schnösel Brin Troßwägen durch Tobrien zu kutschieren. Wie war´s eigentlich bei dir?“
„Na ja, ich bin eher spontan übergelaufen. Da drüben ist es übrigens.“
„Wie? Mitten im Schilf? Was soll da sein?“
„Bosparanjer! Zur Feier des Sieges im Darpat kühlgestellt. “
„Bosawas?“
„Bosparanjer. Schaumwein aus dem Lieblichen Feld. Von der ganz edlen Sorte. Solltest du als Wagenlenker doch eigentlich kennen.“
„Und deswegen brauchst du gleich ein Fuhrwerk? Wegen so ein paar lumpigen Flaschen?“
„Ein paar lumpige Flaschen? Ein ganzes Boot voll . . . und alles andere als lumpig. So ein Rommilyser Pfeffersack wollte damit türmen, den Fluß runter nach Perricum. Weißt du, wie viel der gute Tropfen wert ist?“
„Was will ich mit der Elfenlimonade?! Schnaps wäre mir lieber!“
„Orkenhirn. Damit lassen sich ein paar schöne Duckern verdienen! Was sage ich, ein Vermögen. Weil ich ein guter Mensch bin, würde ich dich sogar am Gewinn beteiligen. Sozusagen als mein Fuhrknecht. Sagen wir, zwei Zehntel.“
„Acht Zehntel oder gar nicht! Immerhin ist das mein Fuhrwerk. Und ich bin nicht dein Fuhrknecht. Ich bin überhaupt kein Fuhrknecht, bei Lolgramoth.“
Unter den Rädern verreckte in diesem Augenblick mit grausigem Todesschrei ein Soldat.
„Ja, aber es ist mein Bosparanjer!“ Francescos Gesichtsmuskeln zuckten, aber er versuchte sich nichts anmerken zu lasssen. Hoffentlich war das gerade einer von der Gegenseite gewesen.
„Warum fährst du das feine Tröpfchen nicht auf dem Darpat in die Stadt? Mit dem Boot?“
„Was? Ach so. Nein, die Strömung ist zu stark!“
„ Dein Problem. Aber ich bin ja kein knausernder Xeraanier. Sechs Zehntel für mich, der Rest für dich. “
„Dein letztes Wort?“
„Ja.“
„Na schön, wie es aussieht, habe ich wohl keine andere Wahl.“
Der Transysilier blinzelte, ließ die Peitsche fallen und zog sein Schwert: „Das mich doch der Namenlose . . .“
Im nächsten Augenblick schrie er auf und ließ die Klinge fallen: Ein Pfeil steckte in seinem Unterschenkel.
Dann schlang Francesco ihm auch schon von hinten einen Strick um den Hals.
„Ich habe es mir anders überlegt. Ich teile doch nicht!“
Der Mann röchelte und schlug mit den Armen um sich.
„Du .... kannsch... all... hnnn!“ röchelte der Söldner. Verzweifelt versuchte er mit seinen Händen Francescos Kopf zu erreichen.
„Glaub mir, ich würde jetzt auch gerne auf unseren Sieg anstoßen. Die Sache hat nur einen Haken. Es gibt gar keinen Schaumwein! Und ich gehöre zu den Darpaten!“
Die Zuckungen des Transysiliers wurden stärker.
„Aaaaarrrrrggg!“
„Ja, du hast Recht, ich sollte längst fort sein. Aber wie, ohne dein Fuhrwerk?“
Francesco schlang den Strick zu.
Der Todeskampf des Mannes war entsetzlich. Als wolle er das Rahjaspiel nachäffen, bäumte er sich mal ruckend auf, mal wand er sich in unsäglicher Qual. Ein trockenes Keuchen kroch über die Grenze, die das Würgeseil seinem Hals zog. Eine sehr enge Grenze. Beide Hände hatten sich in das Hanf gekrallt. Der Mondschatten konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Augen seines Opfers gerade weißlich aus dem angeschwollenen Gesicht traten und die Zunge aus dem Mund hing. Wie bei einem Gehängten . . .
Du bist kein eiskalter Meuchelmörder, der es fertig bringt, einen Menschen langsam und qualvoll von hinten zu erdrosseln, Franceso.
Die Kraft, vor allem aber der Wille zum Töten verließ ihn. Fluchend ließ der Phexgeweihte den Strick los, zog ihn ab.
Verdammte Eitelkeit! Wäre es dir lieber, wenn dieser Schurke dich tötet?
Keuchend und nach Luft ringend sank der Mann auf dem Kutschbock zurück. Olwin wollte etwas sagen, vielleicht fluchen oder ihm sogar danken, aber Francesco brach ihm, jäh entschlossen, mit einem einzigen Handkantenhieb das Genick – schnell und hart, wie er es sonst nur bei Kaninchen tat.
Gleichgültig ließ er ihn vom Kutschbock zu Boden gleiten. Der tote Körper bedeutete ihm jetzt nicht mehr als eine Strohpuppe. Das einzige, was ihm beim Töten wirklich Unbehagen bereitete, war, dass er hinterher kaum noch etwas empfand – nicht einmal Genugtuung, wie damals in Oron. Sein wievieltes Opfer war das nun? Schon bei einem Dutzend hatte er aufgehört zu zählen. Es ging so leicht von der Hand, wenn man sich einmal daran gewöhnt hatte und wusste, wie man es richtig machen musste. Francescos Herzschlag und Atem hatten sich nur unwesentlich beschleunigt, nun beruhigten sich beide wieder.
Der Tote plumpste in den Schlamm, zwischen mehrere Gefallene. Einen Moment später sah es so aus, als wäre auch die Hasenscharte ein Opfer der Schlacht. Francesco blickte zu Alrik hinüber, der an einem Baumstamm lehnte und einen weiteren Pfeil auf die Sehne gelegt hatte.
„Ach richtig, ich wollte ja dreimal pfeifen.“
Misstrauisch sah Francesco auf den Bogen, aber Alrik machte keinerlei Anstalten, auf ihn zu zielen.
„Du bist also immer noch der gleiche hinterfotzige Meuchler wie früher, Francesco . . .“
„Schau dich mal um. Das ist dein neuer Lieblingsgott auch.“
„Versündige dich nicht, bei allen Zwölfen!“
Der Boronsritter sah ihn bleich und müde an.
„Wo hast du diesen Wagen aufgetrieben?“
„Wie ich schon sagte, unsere Kutsche fährt bei Sonnenaufgang. Der gute Olwin war so freundlich, mich ein Stück mitzunehmen.“
„Was ist mit meinen Gefährten? Wir können sie doch nicht einfach liegen lassen.“
„Verdammt, sieht das hier aus wie ein tsaverfluchter Leichenwagen? Der Platz hier hinten reicht gerade für dich und dein kaputtes Bein. Ich werde auf den guten Proviant nicht verzichten, den Phex uns geschickt hat. Schon gar nicht für zwei blutende Leichen. Asmodeus ist kein Nekromant, aber seine Difarspäher sind überall. Also lass sie liegen. Es wird Tag, und ich möchte hier nicht auf den nächsten Besuch warten. Außerdem müssen wir Gewicht sparen.“
„Ich kann sie nicht einfach liegen lassen“, jammerte Alrik, während Francesco ihm aufhalf. „Etiliane, Corvinian. Sie waren wie Bruder und Schwester zu mir.“
„Hunderte Tote liegen hier herum. Glaubst du, die wird niemand vermissen? Wir haben keine Wahl. Los, leg deinen Arm um meine Schulter. Gib mir den Bogen. Wo ist der Köcher?“
Francesco half dem Verwundeten in den Karren. Dann lud er einige Waffen, den Branntwein und die Feldschertasche ein.
„Geht´s?“
„Mehr schlecht als recht. Eigentlich nicht.“
„Schieb den Sack da beiseite. Lehn dich gegen die Truhe. Was machen die Schmerzen?“
„Sind gerade noch erträglich. Corvinian hatte etwas Marbium bei sich.“
„Marbium?“
„Marbokraut. Bleichmohn. Ein mildes Rauschkraut.“ Tatsächlich wirkte Alriks Blick noch immer glasig.
„Rauschkraut? O Mann, lass dich bloß nicht von der Stadtgarde erwischen.“
„Tu mir einen Gefallen: Verschon mich mit deinen dämlichen Witzen.“
Betroffen nickte Francesco. Dann verknotete er die losen Fetzen der Plane an einer der Stangen, die das Verdeck hielten.
„Zieh deine Lumpen aus und wirf sie weg!“ sagte er zu Alrik, barscher als er es beabsichtigt hatte. „Es muss niemand das Zeichen des Golgaritenordens sehen!“
Er selbst zog dem toten Wagenlenker, dessen Hals deutlich sichtbar rote Striemen aufwies, den Waffenrock mit dem Irrhalkenwappen aus und streifte ihn sich selbst über. Das musste als Tarnung genügen. Sein Blick fiel auf den Dukatenbeutel neben der Leiche. Eine kleine Aufbesserung der Reisekasse würde er schon gebrauchen können (die Geldkatze aus Rommilys hatte er bei seinem Bad im Darpat verloren).
Er öffnete das Säckchen aus schwarzem, rot gefüttertem Samt: Einige Silbertaler, eine der goldenen Dämonenkronen Galottas sowie silberne, siebengezackte Zholvaris. Besser als nichts. Falls in diesem Schlachthaus überhaupt noch jemand Fragen nach Würgemalen um den Hals eines toten Gardisten stellen würde, musste er nun denken, er sei einem habgierigen Spießgesellen zum Opfer gefallen. Die Zholvaris brannten unangenehm an den Fingern, als er nach ihnen griff. Angewidert liess er die Münzen wieder in den Beutel fallen. Im nächsten Augenblick hätte er sie gerne noch einmal nachgezählt, nein, in Händen gehalten und betastet – oder besser noch, die Leiche des Erschlagenen weiter geplündert und auch die übrigen Toten nach Habseligkeiten durchsucht.
Francesco rang einen Augenblick mit sich selbst, dann schüttelte er den Kopf. Die langen Klauenfinger des Gierigen Feilschers tasteten offenbar auch schon nach seiner Seele . . . Er fischte mit einem Stoßgebet zum Heimlichen die „guten“ Taler heraus, steckte sie sich in die Gürteltasche und warf den Beutel mit dem verfluchten Geld auf den Kutschbock.
Mit einem „Hüa!“ führte er die Pferde in einer Wende. Dann suchte er sich einen Pfad durch den Sumpf aus Blut und die schroffen Hügel aus toten Leibern.
Er schwebte über einer dünnen, teilweise aufgerissenen Wolkendecke, nein, er flog über sie hinweg, sacht und leicht wie ein Vogel. War die glitzernde Fläche unter ihm das Nirgendmeer? Aber dafür konnte er zuwenig Wasser entdecken. Dort erstreckte sich auch Land, mit Äckern, Wäldern, Hügeln und Wiesen. Rauchende Ruinen standen in der Landschaft, mit verkohlten Dachsparren, die wie Rippenbögen urzeitlicher Echsen aus den Mauerresten ragten. Das Bild der Zerstörung war allgegenwärtig.
Francesco zuckte hoch, von einem jähen Stoß des Wagens aufgeschreckt. Er musste einen Augenblick eingenickt sein . . . Kein Wunder bei seiner Erschöpfung. Die beiden Pferde, froh, einer gewohnten Tätigkeit nachzugehen, zogen das rasselnde Fuhrwerk geradeaus, ganz ohne sein Zutun.
Der Phexgeweihte zweifelte, ob es eine gute Idee gewesen war, auf der Reichsstraße nach Hohenstein zu ruckeln. Aber was sollte er tun: Alrik stöhnte hinter ihm bei jedem Schritt, obwohl der Weg gepflastert war. An eine Fahrt über Stock und Stein ließ sich da gar nicht denken. Also galt es den Rat seines alten Brabaker Lehrmeisters Kedio Wakanabi beherzigen: Wann immer du am völlig falschen Ort bist, tu so, als hättest du alles Recht der Welt, dort zu sein. Mit anderen Worten: Frechheit siegt. Das silberhaarige Halbblut hatte ihm nicht nur die Sprache seines Vaters, sondern auch den Schwertkampf und einige Schläge und Tritte des Hruruzat beigebracht. Was aus dem Mondschatten wohl geworden war?
Francesco hatte gehofft, das Grauen mit dem Schlachtfeld hinter sich zu lassen, aber dem war nicht so. Vereinzelt lagen noch immer tote Fürstliche auf oder neben der Straße, die beim Rückzug das Kriegerpech ereilt hatte. Ein schiefmäuliger, ausgebluteter Kopf steckte auf einem Pfahl, umschwirrt von Fliegen. Die Erinnerung an das Leichenfloß schüttelte Francesco wie ein Fieberschauer. Einen Augenblick tauchte das weißhaarige Mädchen vor seinem inneren Auge auf, mit ihrem glockenhellen Iribaarslachen. Nein, er durfte jetzt nicht daran denken.
Einen Bogenschuss vor ihm brannte ein Bauernhof, sinnlos niedergemetzeltes Vieh lag auf den Wiesen und Feldern verstreut. Auch hier wimmelte es von Krähen. In einem Birnbaum hingen ein halbes Dutzend Erhängte – Männer, Frauen und ein kleines Kind. Eisige Windböen pfiffen über die Ebene und drehten die Leiber sacht im Kreis. Graubrauner Rauch wälzte sich schwer über die Straße.
Der Brabaker schluckte und sandte ein Stoßgebet zu den Zwölfgöttern. Immerhin, der Himmel war wolkenbedeckt, hoffentlich würde das Flugdämonen und Harpyien fernhalten. In der Ferne standen noch immer einzelne Rauchsäulen über der Silhouette von Rommilys, wie Lagerfeuer von Riesen. Bleigrau und verschwommen war im Nordwesten die Wasserfläche des Sees zu erahnen.
Alriks Stöhnen verstummte, offenbar hatte er begonnen zu dösen. Francesco hätte auch liebend gerne geschlafen und seine Wunden kuriert. Phex sei Dank war er nächtliche Arbeit ebenso gewohnt wie Blessuren.
Aus dem Rauch des brennenden Gehöfts schälten sich einzelne Gestalten, die neben der Straße lungerten. Es waren Söldner mit Pferden, eindeutig Galottaner. Mit so etwas hätte er rechnen müssen. Hatten sie das Massaker angerichtet?
Wenn dir gar nichts anderes einfällt, probier es einfach mit einem Lied. Auch so eine Weisheit vom guten alten Kedio. Laut und mit kratziger, rauer Stimme stimmte der Streuner eine schauerliche Weise an, die er im Krieg aufgeschnappt hatte (und wunderte sich sofort, wie leicht sie ihm über die Lippen kam).
Hoch das Banner, das für Borbarad wir trugen
Der Endlos Heerwurm marschiert mit schwankendem Tritt
Feinde, die erst gestern wir erschlugen,
wanken schon heut´ in uns´ren Reihen mit.
Wir sind eine Legion von Toten,
die Straße frei dem schlurfend´ Knochenmann
Es nahn der dunklen Herrin Todesboten
Die Nacht ohn´ Morgen bricht für Euch nun an.
Erhebt euch wie ein lebend’ Mann, ihr Leichen
Zum Morden, Brennen, Sengen seid bereit
Weht unser Banner auch schon über sieben Reichen
Zieh´n wir doch weiter bis in alle Ewigkeit.
Ein stämmiges Weibstück mit Federbarett, das linke Auge von einer ledernen Klappe verdeckt, stellte sich breitbeinig und mit angelegter Armbrust in den Weg. „Hübsches Liedchen! Wohin willst du komischer Vogel?“
„Die Straße entlang. Proviant für unsere, äh, Vorposten liefern!“
„Seit wann kümmert sich dieser Aasgeier Asmodeus denn um seine Frontschweine?“
„Ist ja auch ein Geschenk von der Fürstin!“ Francesco mühte sich, möglichst schief zu grinsen, während er auf das Wappen deutete. In Wirklichkeit hatte er das Gefühl, nackt auf einem Eisblock zu sitzen. Merkwürdig, dass sich Angst immer irgendwie kalt anfühlte, kalt, beklemmend und stechend . . .
„Naja, wenn du aus Versehen zu weit nach Osten fährst, kannste behaupten, einer von den Darpatischen zu sein.“ Das Weibstück kicherte gehässig und nahm einen Schluck aus der Feldflasche. Ein scharfer Geruch nach Branntwein stieg in Francescos Nase. „Nee, die sehen an deiner Orkfresse, dass du aus dem lieblichen Dämonenkaiserreich kommst. Sei´s drum, ich werde gegen den Baum pissen, an dem sie dich aufhängen, hähä.“
Weitere Söldner kamen heran. Alle wirkten bleich und übernächtigt, eher wie Untote denn menschlich. Der Eindruck wurde noch verstärkt von zerfetzten, schmutzigen Wämsern sowie blutigen Verbänden. Heiliger Assaf – sollten die nicht in Rommilys sein, zum Plündern, Vergewaltigen und Brandschatzen? Über einem Lagerfeuer drehte sich das Frühstück am Spieß: eines der Hühner, dessen Artgenossen gackernd auf einer Wiese umherliefen. Die Ähnlichkeit mit dem Gepfählten ließ Francesco übel werden.
„Beim Höllengreif, wie heißt die Losung?“ wollte ein spitzbärtiger Feldwebel mit blutunterlaufenen Augen wissen, der sich gerade beiläufig die Hand bandagierte.
„Rache für Galotta!“ versuchte es Francesco auf gut Glück.
„Falsch!“ Der Weibel griente: „Die Losung heißt: Irrhalkenkot!“ Dann prustete er los. „Verschtehste? Die Losung beim Höllengreif – Irrhalkenkot! Hahaha!“
Francesco quetschte sich ein Lächeln heraus. Irgendwie schienen Asmodeus Soldaten allesamt gut gelaunt zu sein – und ziemlich betrunken. Mit einer Korbflasche in der Hand schwankte der Mann zur Seite.
Schluckend trieb Francesco die beiden Warunker mit einem Zügelschlag an.
Da trat die Söldnerin an die Pferde, die mit den Köpfen scheuten, und griff ans Zaumzeug.
„ Einen Augenblick, mein Hübscher. Wie wäre es mit Wegzoll?“
„Was soll das denn heißen, meine Süße?“
„Ganz einfach. Wer hat eigentlich gesagt, dass wir noch zu diesem zappeligen Hinterwäldler in Rommilys gehören?“ Die Einäugige kicherte und sabberte etwas Branntwein aus den schmutzigen Zähnen. „Nee, jetzt, wo der Kaiser tot ist, führen wir auf eigene Rechnung Krieg. Du bekommst sie gerade ausgestellt.“
Beiläufig richtete sie die Armbrust auf Francescos Bauch: „Sei froh, dass wir uns schon sattgefressen haben, sonst würden wir dich jetzt ebenfalls ausplündern und deinen Madenwanst an die Warunker verscherbeln. Ja, es herrschen finstere Zeiten. Aber gerade deswegen weiß ich ein fröhliches Lied zu schätzen, du Bänkelsänger.“
Die Söldnerin schwankte leicht und winkte fordernd mit der freien Hand.
„Allerdings bezahlt bei uns der Musicus fürs Singen.“
„Wirklich? Merkwürdige Sitten sind das . . .“
Francesco nahm den Samtbeutel und warf ihn der Räuberin neben die Füße (das würde sie hoffentlich dazu bewegen, die Armbrust zu senken und den Weg frei zu geben). Ein paar Zholvari und der Galottadukaten kullerten heraus und glänzten stechend in der Morgensonne. Hastig griff die Frau danach, und auch die anderen Schlagetots eilten herbei. Francesco nutzte die Gelegenheit und trieb die Pferde an. Der Geweihte hörte, wie hinter ihm die Marodeure begannen, sich um die paar Münzen zu streiten und zu balgen, als wären es Diamanten oder Goldbarren. Dem wilden Geschrei nach zu urteilen, wurden rasch Klingen gezogen und auch eingesetzt. Ihm sollte es nur recht sein. Francesco drehte sich nicht einmal um, als von hinten ein Armbrustbolzen in die Wagenklappe krachte. Für eine Flucht im wilden Galopp waren die Pferde ohnehin zu erschöpft, also fuhr er ganz gemächlich weiter - wie er damals oft völlig kühl und ruhig weitergeschlendert war, wenn er einem Brabaker Spießbürger den Dukatenbeutel abgeschnitten hatte.
Die Reichsstraße war in schlechtem Zustand – Schlaglöcher und Wurzelwerk erschwerten das Fortkommen allenthalben: ein deutliches Zeichen dafür, dass es mit dem Land schon vor dem Angriff von Rhazzazor und Galotta bergab gegangen war. Francesco trällerte, ohne groß nachzudenken, die Melodie von Das Mittelreich geht vor die Hunde.
Schließlich sah der Geweihte eine Harpyie vor sich auf einer Feldmauer sitzen. Aus blutunterlaufenen, brennenden Augen starrte ihn ein bleiches Frauengesicht an, eingerahmt von wirren, aschblonden Haaren. Die Chimäre leckte sich die graublauen Lippen – ob liebestoll oder angriffslustig, wusste der Streuner nicht recht zu sagen. Die Pferde, obgleich erschöpft und apathisch, wichen schnaubend zur Seite hin aus.
„Hoho, meine Hübschen. Schön ruhig. Keine Panik auf der Reichsforst. Onkel Francesco bringt euch alle heil nach Hause. Und sich selbst hoffentlich auch... “
Das Ungeheuer ließ das sich nähernde Gespann nicht aus den Augen. Das eine klauenbewehrte Bein hatte sie angehoben wie ein Storch. Ihre schmutziggrauen Flügel ruckten nervös. Der Phexgeweihte hätte ob des grotesken, widernatürlichen Anblicks aufschreien können. Stattdessen biss er die Zähne zusammen, während ihm die Haare zu Berge standen.
„Mich kannst du nicht täuschen, Menschlein!“ krächzte das Mischwesen. „Ich weiß, dass du nicht zum Heer des Meisters gehörst!“
Das Federvieh lächelte irr, hob eine Schwinge (eine verdammt große Schwinge), entblößte ihre Brüste und wiebelte mit den Zähnen das darunter liegende Gefieder. Dabei schielte sie noch immer in seine Richtung. Erst jetzt sah der Mondschatten, dass ihre Mundwinkel blutverschmiert waren. Francesco war sich nicht ganz sicher, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass es die gleiche Chimäre war, die er schon am frühen Morgen auf dem Schlachtfeld gesehen hatte.
Noch einige Schritt, dann würde er die Chimäre passieren müssen. Die Warunker schnaubten nervös, trotteten und stolperten aber weiter geradeaus. Nun bewährten sich die Scheuklappen.
„Ich werde meinen Schwestern von dir berichten!“ keifte die Harpyie. „Wir werden viel Freude haben, wenn wir dir das Fleisch von den Knochen reißen und die Augen auskratzen.“
„Tu, was du nicht lassen kannst!“
Der Kopf der Harpyie ruckte hoch. Fauchend und mit gesträubten Federn starrte sie Francesco an. Der Brabaker riss den Bogen von der Schulter und tastete nach einem Pfeil im Köcher.
Das schien die Missgeburt zu beeindrucken. Mit einem schrillen Schrei erhob sie sich in die Luft und war im nächsten Augenblick aus seinem Gesichtsfeld verschwunden. Pflatschend ließ sie einen Köttel fallen, der sich auf Francescos Waffenrock verteilte. Der Streuner riss ihn sich vom Leib und warf ihn in den Straßengraben. Besser so. Wenn es zum Äußersten kam, wollte er nicht in so einem Borbaradianerfetzen sterben.
Der Wald zur Linken rückte nun immer näher an die Straße heran. Francesco spähte immer wieder in den wolkenverhangenen Himmel. Krähen schaukelten krächzend im Wind, der nach Schwefel stank und noch immer nach Tod und Verwesung. Es war eisig kalt, und doch zugleich drückend schwül.
Richtung Praios sah er einen Karrenweg abbiegen. Niederberg, stand auf einem hölzernen Wegweiser, und eine unleserliche Meilenangabe. Francesco lenkte sein Gefährt dorthin: Besser nichts mehr riskieren . . .
Dunkler Mischwald säumte den Weg, der grasüberwuchert und mit Schlaglöchern übersät war. Äste schlugen und scharrten gegen die Plane und rissen sie endgültig auf. Immer wieder blieben die Räder im Schlamm stecken oder an Wurzeln hängen, so dass Francesco absteigen und anschieben musste. Nach einigen hundert Schritt wurde der Weg so schlecht, dass er endgültig vom Kutschbock stieg und das Gespann führte. Dennoch war die Entscheidung richtig gewesen, wie vielstimmiges Gekreische hinter ihn verriet. Die Harpyie war mit einem ganzen Schwarm ihrer liebreizenden Gefährtinnen zurückgekehrt.
Francesco musterte die zitternden, schweißbedeckten Warunker. Die armen Geschöpfe waren mit sich und der Welt am Ende. Er zog und zerrte das Gespann zwischen die Bäume. Über den Wipfeln schwirrten vereinzelt Schatten.
Ebenso schnell, wie sie am Himmel aufgetaucht waren, flogen die Vogelfrauen auch wieder davon.
Jetzt, da die Anspannung langsam nachließ, spürte Francesco die Schmerzen ebenso wie bleierne Müdigkeit in seinen Körper zurückkehren. Gerne hätte er sich trotz des schneidend kalten Windes einfach ins Moos und Unterholz gelegt und dort geschlafen bis zum nächsten Zeitalter. Aber den Luxus konnte er sich nicht leisten. Sie waren einfach noch zu nahe am Schlachtfeld.
Er zog eine entwurzelte Tanne aus dem Wald und legte sie zusammen mit weiterem Totholz quer über den Weg. Wenn es doch Verfolger gab, sollten sie den Weg für überwuchert und unpassierbar halten. Streng genommen war er das auch. Aber Francesco wollte den wertvollen Karren jetzt noch nicht aufgeben.
Zum Glück wurde die Strecke etwas besser.
Francesco schrak zusammen, als er über sich einen nackten Fuß herabbaumeln sah, und griff zum Schwert. Tatsächlich, dort oben hing ein blutiges Bündel in den Ästen, als sei es geradwegs vom Himmel herabgefallen. Vermutlich war der Körper das auch. Ein Holzschuh, der unter ihm auf dem Pfad lag, zeigte, dass der Tote ein Bauer oder ein Landwehrsoldat gewesen sein musste. Francesco wollte sich gar nicht vorstellen, was genau den oder die Unglückliche hier abgeladen hatte. Eilig zerrte er die Tiere weiter. Der Fuß stieß gegen den Karren, und der Körper fiel wie ein nasser Sack ins Gebüsch. Francesco fluchte leise. Da war kaum noch ein Knochen heil gewesen . . . So genau hatte er allerdings nicht hinsehen wollen.
Längst bewegte er sich nur noch wie in einem schlechten Traum vorwärts - oder wie ein Schlafwandler, der zusätzlich einen Karren wie einen Mühlstein hinter sich herschleppte. Jetzt, gegen Mittag, kam nun doch die Sonne heraus und quälte ihn nach all den Schrecken mit dem gehässigen Anschein, dass die Welt schön und alles in bester Ordnung war. Aber nichts war mehr in Ordnung. Merkwürdig, dass ausgerechnet der strahlende Praiosschein und der freundliche darpatische Wald um ihn herum in Erinnerung riefen, was in den letzten Tagen und Wochen geschehen war.
Wehrheim – durch schwärzeste Magie ausgelöscht. Gareth – durch Galottas Fliegende Festung verwüstet. Tausende, wenn nicht Zehntausende sollten dort ihr Leben verloren haben. Die Reichsbehüterin, Graf Nemrod und Prinzessin Rohaja - erschlagen. Friedwang, seine Baronie Friedwang, stöhnte unter der Geißel der Warunker und eines Erzvampirs. Das stolze Rommilys war in die Hände der Feinde gefallen, wurde seit gestern nacht geplündert und ausgemordet. Es war ein Alptraum und zugleich Wirklichkeit. Der Untergang der Welt, wie er sie einmal gekannt hatte. Stärker noch als sein körperlicher Zustand begann diese Vorstellung ihn zu peinigen.
Das trügerische Idyll um ihn herum, der rotbraune Ameisenhaufen dort, ein munter zirpendes Eichhörnchen, das schnarrende Klopfen eines Spechts, Rauschen der Bäume oder das Summen der Bremsen, Hummeln und Bienen, machte wirklich alles nur noch schlimmer. Er trauerte, das Fürstentum und mit ihm das ganze Reich lagen im tiefsten Unglück, aber dieser Wald schien davon nicht im Mindesten berührt zu sein. Stattdessen herrschte eine Frühlingsstimmung, die ihn, den einsamen Überlebenden, verhöhnte.
Der Gedanke allein gab ihm den Rest. Er blieb stehen, schwankte und versuchte den Weinkrampf noch zu unterdrücken. Dann heulte er einfach los. Alrik sagte nichts, vielleicht schlief er, möglicherweise war er auch peinlich berührt. Francesco war es gleich. Er weinte wie ein kleines Kind, zog den Rotz hoch, schluchzte und fiel sofort wieder in einen lautlosen Krampf voller Schmerz und Wut. Es sind die Nerven, dachte er, und ballte die Fäuste um die Zügel. Machen einfach nicht mehr mit. Das alles ist mehr, als ein einzelner Mensch ertragen kann.
Reiß dich zusammen, Francesco. Phex baut dir eine goldene Brücke nach der anderen, und du greinst herum wie ein kleines Mädchen.
Mit sanftem Schnauben stuppste ihn einer der beiden Warunker an. Es hätte nicht viel gefehlt, und die Liebesbezeugung hätte ihn endgültig zusammenbrechen lassen. Er schmiegte sein Gesicht in das warme, struppige Fell, schloss seine Augen, spürte sie brennen und einen ziehenden Schmerz im Gaumenzäpfchen. Francesco atmete stoßweise. Dann spuckte er aus. Genug geheult. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und führte das Gespann weiter. Es ging ihm besser, wie ein Betrunkener, der sich ausgekotzt hatte.
Der Weg führte weiter nach Süden. Zur Linken wirkte das Land sumpfig, zwischen Weiden und Pappeln glänzte irgendein Altarm des Darpat. Rechterhand stieg das Gelände sanft an, die Hügel waren dicht mit Tannen, Fichten, Buchen und Eichen bestanden. Fein säuberlich aufgeschichtete Holzstapel am Wegesrand zeigten, dass der Forst von Menschen genutzt wurde.
Ein breiter Pfad zweigte gen Westen ab. Auch hier waren Karrenspuren im Boden zu sehen. Francesco beschloss, der Abzweigung zu folgen. Es war wie in einem Fluchttraum, in dem man auch nicht genug Haken und Bögen vor seinem übermächtigen, aber unsichtbaren Verfolger schlagen konnte.
Der Weg schlängelte sich durch bewaldetes Hügelland. Schließlich ging es hinunter in eine Senke. Der Phexgeweihte hatte das Gefühl, dass er sich wieder der Reichsstraße näherte.
Rechts des Wegs glänzte ein kleiner See. An dessen Ufer waren holzschindelgedeckte Dächer zu erahnen, darunter Fachwerkhäuser, in Dreiseitform angeordnet. Ein Gehöft . . . Kein Hofhund bellte, stattdessen liefen einige Hühner gackernd im lichten Wald umher, was sicher nicht üblich war. Sämtliche Stalltüren standen sperrangelweit offen. Fliegen summten um den Misthaufen, Schwalben schwirrten zu einer Scheune und von dort wieder in den Himmel. Der Hof wirkte verlassen. Die Bewohner waren offenbar geflohen – hoffentlich Richtung Hohenstein oder Perricum.
Francesco ließ den Karren stehen und zog sein Schwert. Wenn die Bauern weg waren, hieß das noch lange nicht, dass sich hier keine Dreckigen herumtrieben. Aus dem Karren ertönte ein leises Stöhnen und Schnarchen. Alrik war wirklich eingeschlafen.
Die Tür zum Bauernhaus, einem für die abgelegene Gegend recht schmucken, sauberen Fachwerkbau war abgeschlossen. Die Bewohner hatten selbst die Fensterläden verriegelt. Typisch darpatisch: Als ob der Bauer mal eben auf ein Schwätzchen zu den Nachbarn hinüber gegangen wäre. Nein, die bedrückende Stille passte nicht zu diesem Eindruck. Francesco fühlte sich, als ob sämtliche Menschen auf der Welt von einer Pest dahingerafft worden waren, und er nun als letzter Überlebende umher irrte.
Er ging um den Hof herum. Hinter dem Haus und der Scheune erstreckte sich eine große Fläche Rodungsland. Der Roggen auf dem Acker war bereits hochgewachsen.
Ein Trampelpfad führte in eine Art Laubengang aus Zweigen, Blättern und Baumstämmen, vermutlich sogar in ungefähre Richtung Hohenstein. Mit dem Karren würde da beim besten Willen kein Durchkommen mehr sein.
Im Wald raschelte es. Etwas Großes brach sich dort Bahn. Francesco ging an der Häuserwand in Deckung.
Dann brüllte eine Kuh und stapfte weiter durchs Unterholz. Erleichtert atmtete der Geweihte auf. Für Milch war also auch gesorgt.
Francesco begann zu zittern. Nun wurde ihm auch noch schlecht. Er musste sich dringend ausruhen, erholen, die Wunden kurieren und etwas essen, selbst wenn ihm bei diesem Gedanken noch übler wurde. Das hier stellte für einen heimatlosen Flüchtling das reinste Sanktuarium dar, trotz allem. Er vollendete seinen Gang um den Hof und stand wieder vor der Tür des Bauernhauses. Sein Blick fiel auf das Schloss. Solide Arbeit, aber mit dem Messer würde er es knacken können. Nein, dazu hatte er jetzt einfach nicht mehr die Nerven. Er packte seinen ganzen Frust in einen Tritt gegen den schwächsten Punkt in der Mitte der Tür.
Er trieb wieder den Darpat hinunter, auf einem Floß voll nackter Leichen. Nein, es waren Dutzende Paare, die aussahen wie Adran und Serwa, und sich in travialästerlicher Wollust umschlangen. In der Mitte, auf dem Pfahl, stak er selbst und blickte zum Himmel, der schwarz war von Harpyien. Irgendwo lachte ein kleines Mädchen, vulgär und irrsinnig zugleich. Er erdrosselte Serwa, und sie schlug panisch mit ihren Flügeln. Merkwürdig, in dem blutbespritzten Spiegel hatte sie überhaupt kein Gesicht. Dann stand plötzlich Merwan hinter ihm, in einem schwarzen Umhang, und entblößte die Vampirzähne. Das kann nicht sein. Vampire werfen kein Spiegelbild. Ein tiefes Summen. Ihr Lied. Hörst du sie? Sie schlüpfen schon . . .
Mit einem Aufschrei schreckte er hoch und zog die Klinge dabei schon halb aus der Scheide. Eine schwarze Gestalt stand vor ihm, alles war blutrot. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre aus dem Bett gefallen - ein großes, mit Stroh ausgefülltes Kastenbett.
„Alrik! Die Zwölfe sei Dank . . . Du machst mich ganz verrückt mit deiner dunklen Rüstung!“
Tatsächlich, sein Zwillingsbruder stand vor ihm, bleich und stoppelbärtig. Sein Bein war mit einem Stück Holz neu geschient, der Rabenschnabel steckte wieder im Gürtel. In der Linken hielt er einen Krückstock, der wohl dem Altbauern oder seiner Frau gehört haben mochte. Abendrot glühte durch die weitgeöffneten Fenster des Schlafgemachs herein. Es sah wirklich aus wie Ströme von Blut.
Francesco schob das Rapier wieder in seine lederne Hülle zurück. Langsam hob er seine Beine aus dem strohgefütterten Bett und gähnte. Eigentlich hatte er ja Wache halten wollen. Musste irgendwie eingenickt sein. Orksch, das da in der Tür hätte auch irgendein Schwarzer Reiter oder Irrhalkengardist sein können.
Er kniff die Augen zusammen und musterte den Mann, den er für seinen zurückgekehrten Bruder hielt, genauer. Vertraute er ihm nicht ein bisschen zu viel? Gewiss, der Gedanke, dass Alrik wieder unter den Lebenden weilen sollte, war wunderbar. Oder auch nicht . . . Wie auch immer, der Mann sah (den Umständen entsprechend) aus wie der Gefangene, den er weiland an die Borbaradmoskitos verfüttert hatte. Aber sonst gab es eigentlich nichts, was dafür sprach, dass dieser Bursche wirklich Alrik war. Und wenn ja, müsste er eigentlich ziemlich erzürnt sein: auf ihn, seinen Peiniger.
War es am Ende nur ein Trugbild, das ihn narrte? Das Wundfieber? Ein erstes Anzeichen dafür, dass er den Verstand verlor, nach all dem Grauen der letzten Tage? Oder stand dort ein Gespenst? Ein Widergänger oder Gestaltwandler? Ein finsterer Dämon der Rache?
Aber Phexens feine Spürnase in ihm sagte, dass es wirklich sein Bruder war. Sie waren sich beinahe schon im Schratenwald begegnet, zusammen mit den beiden Golgariten, die jetzt steif und kalt draußen auf dem Schlachtfeld lagen. Aber natürlich, es war Alriks Stimme gewesen, die er damals gehört hatte, mit leicht südaventurischer Färbung. Seine Gefährten hatten ihn damals nur bei einem anderen Namen genannt. Boronian? Boronfried? Francesco kam nicht drauf . . .1
Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als die Dinge so zu nehmen, wie sie waren. Im Vergleich zu all dem, was in Gareth, Rommilys oder Wehrheim geschehen hatte, nahm sich diese Sensation bescheiden aus. Dennoch, irgendetwas stimmte mit seinem „Bruder“ nicht.
„Was ist mit dir? Bist du wieder eingeschlafen?“ drang dessen wohlklingende Stimme wie durch Watte an sein Ohr.
Francesco gähnte erneut und rieb sich über den Mund. „Die richtige Bettschwere hätte ich jetzt dazu. Und du, warum pennst du nicht oder schonst wenigstens dein Bein?“
„Ich konnte nicht schlafen, wegen der Schmerzen und der Übelkeit. Also habe ich Wache gehalten. Einer musste ja die Pferde versorgen. Wenn ich auf bin, ist mir wenigstens nicht schlecht. Naja, nicht so sehr....“
Alrik ruckte sich mit verkniffenem Gesicht auf das Fensterbrett und reichte ihm seinen Wasserschlauch: „Hier, trink. Das Brunnenwasser ist gut und frisch!“
Erst jetzt merkte der Baron, was für einen niederhöllischen Durst er hatte. Gierig schlürfte er das kühle Naß.
„Mir gefällt es hier trotzdem nicht!“ Alrik sah nach draußen. „Bei meiner Treu, wir sind noch immer ziemlich nahe am Schlachtfeld.“
„Nun, die Dreckigen sind erst einmal in Rommilys beschäftigt. Vermutlich wird dort sogar noch gekämpft. Die haben besseres zu tun, als einsame Bauernhöfe im Wald zu plündern, zumal bei Nacht. Im Anbetracht der Umstände ist das hier geradezu Phexens Paradies. Morgen müssen wir versuchen, die Natter zu erreichen und uns den Fluß entlang nach Hohenstein durchzuschlagen.“
„Was zu essen habe ich dir auch mitgebracht!“ Alrik hob die Hirtentasche hoch und zauberte einen Laib Brot, eine Hartwurst, einen Krug mit Eingemachten, eine matschige Birne sowie einen runzligen Apfel hervor. „Üppig ist es nicht, die Vorratskammer war ziemlich leer. Feuer wollte ich auch keines anzünden. Also bleibt die Küche kalt. Hier, Besteck.“
Sein Bruder reichte ihm ein Messer und einen großen Holzlöffel. Francesco nickte dankbar und schnitt sich einen Kanten Brot ab.
„Orksch, lauter Schimmel!“
„Das Brot war alles schimmelig. Wer weiß, wie lange der Hof schon verlassen ist. Das hier geht noch.“
Francesco schnitt das grüne Geflecht weg und stopfte sich das Brot in den Mund. Es schmeckte leicht bitter, aber er wollte nicht klagen. Während er kaute, öffnete er den Krug. Rahjanisbeermarmelade. Mit dem Löffel schaufelte er die dunkelrote Masse hinterher.
„Bescher als nisch allema´.“ Francesco schluckte hinunter. „Hast du schon gespeist?“
„Ja, ein bisschen.“
„Was ist eigentlich mit dem Brot aus dem Wagen? Hmh, lecker.“ Francesco schleckte sich Marmelade von den Fingern.
„Wimmelt nur so von kleinen gelben Maden. Das Fleisch ist faulig, und der Wein sauer. Riecht fast schon schwefelig.“
„Das gibt´s doch nicht, gütige Peraine.“ Francesco nahm wieder einen Schluck Wasser.
„Leider ja. Mit rechten Dingen geht das nicht zu. Vermutlich hat das was mit der Anwesenheit von Wesen aus der Siebten Sphäre auf dem Schlachtfeld zu tun, Boron steh uns bei.“
„Na, der vielleicht gerade nicht.“ Francesco schlug seine Zähne in die Wurst. „Nicht genug mit dem Weltuntergang, nun verderben uns die Dreckigen auch noch das Abendessen.“ Der Streuner lachte über seinen eigenen Witz und aufmunternd in Alriks Richtung. Der schmunzelte wenigstens etwas.
„Ich hab´ das Zeug jedenfalls in den Wald gekippt.“
„Gut. Leg dich trotzdem etwas hin. Du musst völlig fertig sein. Ich halte einstweilen Wache . . .“
„Schlafen kann ich, wenn ich tot bin...“
„Keine Widerrede!“ Francesco sah seinen Bruder streng an. Der schien tatsächlich Alveran näher zu sein als den Lebenden, totenblass wie er war. Alriks Lippen vibrierten vor Schmerz und Erschöpfung. Die glasigen Augen verrieten, dass er wieder Rauschkraut genommen hatte. Er nickte, und humpelte dann zum Bett. Umständlich und mit klirrendem Kettenhemd legte er sich hinein. Wenige Augenblicke später war er eingeschlafen.
Francesco trank noch einige Schlucke, dann hängte er den Wasserschlauch an einen hölzernen Nagel und ging hinüber in die Stube. Dort lag der Bogen mit dem Köcher auf dem Tisch. Die Tür zum Hof stand sperrangelweit offen, das Schloss war ja aufgebrochen. Der Geweihte bereute sein grobes Eindringen. Es wäre besser gewesen, sie hätten heute Nacht hinter einer fest verriegelten Türe schlafen können.
Leise gähnend schlurfte er hinaus ins blutrote Abendlicht. Phex, liebend gerne hätte er jetzt auch einige Stunden oder besser noch Tage weiter geschlafen. Aber die Gegend hier war einfach nicht geheuer.
Francesco erstarrte, als er den Pfeil sah, der geradwegs auf seine Kehle gerichtet wurde.
Sie waren zu dritt, zwei Männer und eine Frau. Smaragdgrüne, große Katzenaugen funkelten ihn an. Dunkelblondes Haar wallte über spitze Ohren. Die leicht kantigen Gesichtszüge zeigten, dass dieser in grünen Bausch gekleidete Elfenjäger nicht mehr ganz reinblütig war. Einige Schritt hinter ihm stand eine Elfe, mit schwarzgelockten Haaren und den Augen einer Waldlöwin – jeder Spann eine Raubkatze. Auch sie war in Jagdgewänder gekleidet und mit einem Langbogen bewaffnet. Den Dritten sah Francesco nur aus den Augenwinkeln, er hielt einen Bogen auf seinen Rücken gerichtet. Der Phexgeweihte dankte dem Heimlichen, dass er den Waffenrock mit dem Irrhalkenwappen weggeworfen hatte, denn sonst wäre er wohl schon jetzt von Pfeilen durchbohrt worden.
Die Schwarzhaarige sah ihn durchdringend an, so durchdringend, dass ihm schwindlig wurde. Ein Zauber? Vermutlich, denn nun sagte sie mit einer glockenhellen Stimme, die an das Murmeln von Wasser oder Rauschen der Bäume erinnerte, etwas zu dem Blonden. Der nickte und senkte Pfeil und Bogen ein wenig. Die Pfeilspitzen, Gewänder, Fibeln und Gürtelschnallen der beiden glänzten und funkelten im Abendlicht wie Sterne, unwirklich und doch überderisch schön. Es war nicht nur der kühle Abendwind, der Francesco erschauern ließ.
„Sanya bha, talar!“ sagte der Elf mit seidiger und doch bestimmter Stimme.
„Phex zum Gruße, Herr Elb!“ Francesco deutete eine Verbeugung an „Und natürlich Frau Elbin! Auch grüße ich euren Gefährten, der gerade mit seinem Pfeil auf meinen Rücken zielt. Bei uns Menschen gehört das allerdings nicht zum Begrüßungsritual. Wir würden so ein Verhalten sogar als grob unhöflich interpretieren.“
Das prickelnde Gefühl in seinem Rücken ließ nach. Auch Nummero Drei hatte seine Waffe offenbar gesenkt.
„Ich werde deinen Phex grüßen, wenn ich ihn sehe.“ Sein Gegenüber lächelte leicht und entspannte den Bogen. „Galandel sagt, du wärst kein Diener der schwarzen Adlerkatze. Wer bist du dann?“
„Baron Alrik von Friedwang. Ein Diener der Fürstin von Darpatien!“
„Ein Baron? Das ist ein Mensch, der anderen Menschen befiehlt, nicht wahr? Aber auch ihm selbst sagen Menschen, was er zu tun und was er zu lassen hat?! Und wer ist das Rosenohr, das in dem Haus beim Schlafen so laut atmet, dass sich die Tiere des Waldes fürchten? Dein Diener?“
Die Stimme des Elfen war mit Ironie geölt.
„Mein Bruder. Und wer seid ihr?“
„Ich heiße Salandrion Wolkenhirte, das ist Galandel Ulmenlied, und hinter dir steht Lamiadon Farnblatt. Du bist also Alrik. Wie dürfen wir deinen Bruder nennen, wenn wir ihn sehen?“
„Er heißt . . . na ja, auch Alrik.“
„Deine Eltern waren nicht sehr erfinderisch, was die Namen ihrer Kinder angeht.“
„Nennt mich einstweilen Francesco und meinen Bruder Alrik.“
„Du bist verwundet. Hast du in der Schlacht gegen die grausamen feygra aus dem Land hinter den Bergen gekämpft?“
„Ja.“
„Habt ihr gesiegt?“
„Müsste ich mich dann im Wald verstecken? Nein. Das Heer der Fürstin wurde in die Flucht geschlagen, Rommilys ist vom Feind besetzt und erleidet eine schreckliche Knechtschaft.“
Zufrieden sah Francesco den Schatten, der sich über die feingeschnittenen Gesichter der Elfen legte.
„Das tut uns leid“, sagte Galandel. „Diese Stadt war nicht so laut, schmutzig und hässlich wie andere Menschenstädte.“
„Ich nehme das mal als Kompliment, auch wenn ich selbst nicht aus Rommilys stamme. Ich bin Baron von Friedwang. Das liegt weiter nördlich in der Schwarzen Sichel.“
„Ich weiß. Dein Vorgänger Gernot hat dort viele der Unsrigen umbringen oder vertreiben lassen“, meinte Salandrion.
Francesco schluckte. Diese Elfen waren ziemlich gut informiert.
„Damit habe ich nichts zu tun. Gernot und ich . . . wir waren nicht gerade Freunde. Wo kommt ihr eigentlich her?“ versuchte der Streuner abzulenken. „Ich wusste gar nicht, dass es so nahe bei Rommilys Spitz.... Elfen gibt.“
„Wir kommen vom Oberlauf der Natter“, sagte der andere Elf, der nun neben Francesco trat. „Dort leben noch einige unseres Volkes. Böse Gerüchte und ein dunkler Wind aus taubra sind bis in unsere Auen gelangt. Es heißt, der Schwarze Drache und der Rote Zauberer hätten sich verbündet, um die Länder des Westens mit einem Heer aus Toten und einem durch die Luft fliegenden Berg zu unterwerfen. Man hat uns ausgeschickt, um zu sehen, ob unserem Dorf eine Gefahr droht.“
„Die Gerüchte stimmen und Gefahr besteht allerdings. Die transysilischen Horden beherrschen bereits das Land vom Großen See bis nach Hohenstein. Wehrheim und Gareth wurden durch schwarze Magie verwüstet. Galotta, den ihr den Roten Zauberer nennt, aber auch die Reichsbehüterin wurden getötet, als die Fliegende Festung auf Gareth gestürzt ist. Das Fürstentum Darpatien, nein, das ganze Reich der Menschen ist dem Untergang nahe. Wenn es nicht schon zu spät ist ...“
Die Bekümmerung der drei Elfen wuchs.
„Dann müssen wir unsere Sippe warnen“, sagte die Frau.
„Hervorragende Bogenschützen und Zauberer wie ihr sollten in diesen Zeiten auf Seiten der Fürstin stehen.“
„A´dhao bhana. Allein kann ich es aber nicht entscheiden“, erwiderte Salandrion.
„Wenn das Reich der Menschen untergeht, werden auch die Elfen verloren sein.“
„Reiche kommen und gehen wie das Laub an den Bäumen“, sagte Salandrion gleichmütig. „Wir Elfen haben unsere Städte schon vor unzähligen Wintern verloren. Die Kinder der Auen sind es gewohnt, vor übermächtigen Feinden zu fliehen und in der Wildnis Zuflucht zu suchen. Was kann uns heute noch schrecken?“
„Bald werdet vielleicht ihr im Wald leben und ein wundersames, halbvergessenes Volk für gobian und fialgra sein“, spottete Galandel.
Salandrion warf seiner Begleiterin einen leicht tadelnden Blick zu. „Soweit ist es mit den Menschen noch nicht, mögen sie in ihrer Schnelllebigkeit – und ihrem Leichtsinn - schon zerza erspürt und vielleicht sogar lieben gelernt haben. Mag sie die Zukunft lehren, den Tod auch zu fürchten. Aber noch ist genügend Saft in diesen Blättern, selbst wenn ihr goldener Glanz bereits den Herbst erahnen lässt. Eine eisige Nacht allein wird sie nicht zu Fall bringen.“
„Ihr Schicksal dauert mich dennoch“, sagte Lamiadon sanft. „Sie haben den Schmerz der Vergänglichkeit und die Wirklichkeit der Welt noch nicht ertragen gelernt. Deine Wunden sind schlecht verbunden, talar, und tief in dir beginnt das Fieber zu brennen. Lass mich dir helfen.“
Der Elf machte einen Schritt auf Francesco zu und legte ihm seine Hand auf das Herz. Der Streuner wollte zurückschrecken, aber die Berührung stellte sich als keinesfalls unangenehm heraus. Die langen, feingliedrigen Finger fühlten sich zart und doch kräftig an, wie der Zweig eines jungen, immergrünen Baumes.
„Bhalsama sala bian´dao“, sprach (sang) der Auelf.
Pulsierende Wärme breitete sich von Francescos Brustkorb über den ganzen Körper aus, strahlte bis in die Schultern und in die Seite, erfasste den pochenden Schmerz und verwandelte ihn ebenfalls in ein Gefühl von Helligkeit und Frühlingssonne. Entspannt schloss der Mondschatten die Augen. Zeit, Schmerzen, Siege oder Niederlagen, das alles hatte plötzlich keine Bedeutung mehr. Seine Wunden begannen sich zu schließen, buchstäblich wie von Zauberhand berührt. Täuschte er sich oder fiel gleichzeitig auch all seine Müdigkeit, Trauer und Erschöpfung von ihm ab?
Francesco öffnete die Augen wieder. Galandel schöpfte aus den Händen gerade etwas Wasser aus dem Brunneneimer, auf dem einige Blätter schwammen. Salandrion war damit beschäftigt, einige Hühner zu fangen und in einen hölzernen Käfig zu sperren. Hatte die Heilung wirklich so lange gedauert? Ihm selbst war es vorgekommen wie einige wenige Herzschläge.
„Ich danke dir. Aber mein Bruder ist schwerer verwundet als ich. Sein Bein ist gebrochen.“
„Auch ihm werden wir helfen. Führe uns zu ihm“, sagte Salandrion.
Francesco ging voran in das Schlafgemach, wo Alrik verrenkt im Bett lag, ein schmutziger, geschlagener Krieger – und leise schnarchte. In der Rechten hielt er noch immer den Rabenschnabel.
Das Gesicht Salandrions verriet leisen Abscheu, während er die Nase rümpfte. So ähnlich musste sich ein Mensch fühlen, wenn er eine Orkhöhle betrat, dachte Francesco. In der Bauernkate roch es tatsächlich nach Schweiß, Blut - und der Verwesung des Schlachtfelds. Für elfische Sinne war der Gestank wohl kaum zu ertragen.
Alrik riss die Augen auf, seine Faust krampfte sich um den Schaft der Streithacke.
„Www...waass??!“
„Keine Sorge, sie wollen dir helfen!“
„Was zum Namenlosen . . .!“
„Du solltest nicht einmal diesen Namen ohne Not aussprechen!“ tadelte Galandel.
„Bian bha la da´in!“ sang-sagte Lamiadon. Alriks Gesichtszügen entspannten sich sofort.
„Elfen ?!. . . Ist das die Möglichkeit.... Ich träume, nicht wahr, Francesco? Das ist alles nur ein Traum....“
Galandel beugte sich über das auf ein Kissen gebettete Bein. Ungläubig schüttelte die schöne Elfe den Kopf. „Der Knochen wäre auf jeden Fall krumm zusammen gewachsen. Und Auftragen von Awa hilft, Krankheiten zu vermeiden.“
„Awa? Was soll das sein?“ fragte der Streuner. „Tut mir leid, ich bin kein Kräuterkundiger.“
„Benetzen mit Wasser. Ich glaube, ihr Rosenohren nennt es Waschen.“
„Nun, werter Frau Elbin, wir kommen gerade vom Schlachtfeld und hatten leider noch keine Möglichkeit, uns frisch zu machen.“ Francesco fühlte sich wie neugeboren und wurde schon wieder frech. Zum Glück beachtete ihn Galandel nicht weiter, sondern löste mit einem eigenartig geschwungenen Messer vorsichtig die Stofffetzen, die um die Schiene geschlungen waren.
„Eichenholz wäre auch besser gewesen. Das hier ist zu weich und selber krumm.“
Die Elfe legte vorsichtig das Bein frei. Ein bläulichschwarzer Fleck mit Wölbung zeigte die Bruchstelle an. Das Fleisch darüber war aufgeplatzt und blutig, aber kein Knochensplitter zu sehen.
Galandel verzog das Gesicht mehr als ihr Patient. Dann legte sie ihre rechte Hand auf den Unterschenkel, eine sehr zarte, feingeschnittene Hand. Sie achtete nicht auf Alriks Stöhnen, sondern sprach die magischen Worte, die auch Lamiadion gebraucht hatte. Die Beule verschwand ebenso wie die Wunde und der dunkle Bluterguss. Das Bein war vollkommen gerade und heil.
Dennoch schien die Heilung anstrengend und kraftraubend gewesen zu sein, denn das helle Gesicht des Elfenmädchens war noch blasser geworden, einige Schweißtropfen standen in ihrer hohen Stirn. Sie ist wirklich schön, zeitlos schön, dachte Francesco. Sein Blick glitt über ihre rosenfarbenen, leicht feuchten Lippen, die großen Katzenaugen und ihre ebenholzfarbenen Haare. Fast schon beneidete er Alrik für die Berührung, auch wenn der nur sehr wenig von dem Geschehen mitbekommen haben mochte.
„Wie geht es dir jetzt?“ Francesco ertappte sich dabei, Händchen mit seinem Bruder zu halten.
„Besser, viel besser. Nur schlafen wäre nicht schlecht.“
„Schlaf nur, Brüderchen, schlaf nur. Ich werde über dich wachen. Du wirst ruhen wie in Travias Schoss.“
Alrik schloß wieder die Augen und murmelte etwas Unverständliches.
„Ich danke euch. Wir stehen tief in eurer Schuld und. . .“
Francesco drehte sich um. Die Elfen waren verschwunden, als hätte sie der Abendwind hinausgeblasen oder er sich ihre Gegenwart nur eingebildet. Aber nein, die fehlenden Schmerzen waren Beweis genug.
Auch vor dem Haus fehlte von den Spitzohren jede Spur. Rasch wurde es dunkel. Gerne hätte er sie dazu eingeladen, heute Nacht ihr Gast zu sein – um wie viel sicherer hätte er sich in der Gegenwart von Elfen gefühlt. Sie hätten ihn und Alrik vermutlich auch über den Fluß ins sicherere Garetien bringen können (Francesco ging davon aus, dass sie in einem Boot die Natter heruntergefahren waren).
Das Misstrauen der Elfen ärgerte ihn, auch wenn er eigentlich tiefe Dankbarkeit hätte empfinden müssen. Nun ja, die Gesellschaft übelriechender, barbarischer Menschen war dem Schönen Volk wohl so unangenehm, wie es für ihn selbst grunzende Orks gewesen wären. Jetzt, da die Wunden größtenteils verschwunden waren, fühlte er sich unglaublich schmutzig. Er beschloss, sich am Brunnen zu waschen, solange man noch etwas sah – aber diesmal würde er wachsamer zu sein.
Francesco sass in dem Schaukelstuhl, einen Becher Tee in der Hand, und starrte auf das Feuer im Kamin, dass er trotz aller Bedenken entzündet hatte. Darüber hing ein Kessel mit dampfendem Wasser. Die Nacht war eisig kalt geworden – niederhöllisch kalt – und er hatte die Idee mit dem Waschen rasch bereut. Der Wind rüttelte an den Fensterläden und der Tür, die er mit einigen Brettern und dem Tisch verrammelt hatte, mit einer Heftigkeit, als solle auch hier ein dämonisches Werk der Zerstörung beginnen. Im Nachbarzimmer stöhnte und wimmerte Alrik im Schlaf.
Nun sass er hier, schlürfte einen heißen Tee und hoffte, dass das Kräuterbündel aus der Vorratskammer überhaupt dafür gedacht gewesen war. Die Brühe schmeckte widerlich bitter, aber irgendwie musste er versuchen, wach zu bleiben. Die zaghaft knisternden Flämmchen malten Schatten an die Wand, geisterhafte Fratzen schwebten durch die Finsternis. Er ahnte, was sie zeigten, aber er wollte sich nicht daran erinnern. Einige Augenblicke lang fühlte sich der Streuner wieder wie ein Kind, das sich im Halbdunkel fürchtete.
Als von draußen etwas gegen die Tür rumpelte, zuckte er zusammen und griff nach dem Bogen. Er war kein guter Schütze und der Köcher bis auf zwei Pfeile leer.
Phex sei Dank, nur ein Windstoß. Oder ?
Francesco blinzelte. Eingeschlafen wäre er gerade eben auch beinahe.
Sein Blick wanderte zu dem Herdfeuer. Auch wenn er offiziell ein Ritter der Travia war, besonders gläubig war er nie gewesen – zumindest hatte er sich nie besonders fromm gegenüber der Hüterin von Heim und Familie verhalten. Gerne hätte der Geweihte etwas Kraft und Zuversicht aus ihrem heiligen Symbol gezogen. Aber das Feuer flackerte schwach und schien selbst mit äußerster Kraft gegen die allgegenwärtige Schwärze ankämpfen zu müssen, anstatt sie zu vertreiben. Kein Trost lag in seinem Schein, sondern nur eine stetige Mahnung an das Gemetzel in Rommilys - in ihrer Heiligen Stadt. Ob der Friedenskaiser-Yulag-Tempel schon gefallen war? Fast schien es, als wäre selbst Travia in dieser Nacht erschöpft und abgekämpft. Mit ihren Kräften und Bosparano am Ende . . .
Unk nur recht fleißig herum, dachte er. Lauf doch gleich zu diesem irren Asmodeus, und frag ihn, ob er dich in seine Bande aufnimmt. Hast du so wenig Vertrauen zu den Göttern, die dich bis jetzt so gut geführt haben? Mit diesen dahergelaufenen Halsabschneidern da draußen wirst du mit der Zwölfe Hilfe fertig. Die kochen auch nur mit Wasser.
Francesco schaukelte sacht und nippte erneut an der Tasse. Es tat gut, seine Hände am heißen Ton zu wärmen. Der Mondschatten erschrak über sich selbst. In zwei Tagen haben diese Hände fünf (oder waren es sechs?) Menschen getötet - und der Meuchler sitzt hier in einem Schaukelstuhl, entspannt sich und trinkt völlig ungerührt ein Tässchen Tee. Plötzlich fühlte er sich wie Marek der Schlitzer von Gareth. Wie konnte man nur so abgestumpft sein?
Aber der Phexgeweihte empfand keinerlei Reue über den Tod der Galottaner. Es handelte sich um keine moralische Frage. Wenn er etwas aufrichtig hasste, dann sinnlose Gewalt, seit den Prügeln seines Stiefvaters in Brabak – und der verfluchten Nacht, als er seine Gefährtin Sine erstochen hatte, heillos betrunken, im Streit um ein paar lausige Silbertaler. Das Sterben seiner Opfer war nicht sinnlos gewesen. Jedenfalls nicht so sinnlos wie das grausige Gemetzel an Frauen, Kindern oder Alten in Rommilys. Leben heißt immer auch Rauben und Totschlagen um des Überlebens willen, im Dschungel wie in der Großstadt. Noch so eine Weisheit vom alten Kedio. Was dem Leben diente, war niemals sinnlos. Asmodeus Mordbrenner aber töteten, folterten und stahlen, weil es ihnen eine dämonische, krankhafte Freude bereitete. Weil sie das Leben hassten, oder einfach nur aus Dummheit. Phex wünschte ihr Verderben, Francesco diente ihm dazu als Werkzeug. Zumindest wollte der Mondschatten sich das einreden.
Überleg dir lieber, wie es morgen weitergehen soll. Der Weg hinter dem Haus führte vermutlich geradewegs nach Hohenstein. Mit den Pferden konnten sie in einigen Stunden dort sein.
Aber da war immer noch Alrik. Ihro Fürstliche Hoheit würde sich sicher über jeden Schwertkämpfer freuen. Es gab für ihn nur ein kleines Problem, das in all seinen großen Problemen eingeschlossen da lag wie eine tulamidische Schachtel: Es durfte keinen doppelten Alrik geben. Eigentlich hatte er seinen älteren Bruder, den Thronerben, an Borbaradmoskitos verfüttert – ohne zu wissen, dass sie Zwillinge waren. Damals auf dem Friedsteiner Maskenball 32 Hal war das gewesen2. Was musste der Narr ihn auch zu einem Zweikampf auf Leben und Tod herausfordern, wie in einem schlechten Heldenmärchen, noch dazu ohne Sekundanten oder sonstige Zeugen? Fast schon reflexartig hatte sich die Hand des Phexgeweihten zu dem Wurfstern mit dem Schlafgift verirrt. Für die Schwarzsichler Adeligen hatte er den wehrlosen Eindringling dann zu einem Hochstapler umgeschminkt und anschließend in der Falle unterhalb seiner Burg verschwinden lassen: Eine Grube mit erinnerungsraubenden Moskitos, die von Gernot zum Schutz der geheimen Schatzkammer angelegt worden war.
Hochwürden Parinor Rukus von Oppstein hatte sich einige Zeit später des stammelnden Deppen angenommen und versucht, dessen Seelenheil zu retten. Der Oppsteiner Inquisitor war davon überzeugt gewesen, dass ein daimonider Hund dem Unglücklichen die Seele gestohlen hätte – ein riesiger schwarzer Zornbrechter. Parinor hatte die Bestie sogar gefangen, in den Friedwanger Tempel gebracht und mit dem Sonnenszepter erschlagen. Im gleichen Moment war auch der Siebenfingrige Anselm – wenn er sich richtig erinnerte, nannten die Friedwänger den „Schwachsinnigen“ so – entseelt zu Boden gesunken. Die Heilige Inquisition konnte wieder mal vollauf zufrieden mit ihrer Arbeit sein: Seele (vermutlich) gerettet, Delinquent tot. . .
In einer Mischung aus Sentimentalität und Zynismus hatte Alrik die Überreste des Siebenfingrigen in einen Teppich gehüllt, in den Schratenwald gebracht und unter der Grabplatte verscharrt. Das Grab war eigentlich ihm selbst – „seinem auf der Flucht im Urwald getöteten Freund“ Francesco di Palazzo – gewidmet gewesen: Irgendwie hatte er von Anfang an geahnt, dass er dieses merkwürdige Monument noch einmal würde brauchen können.
Am liebsten wäre Francesco aufgesprungen, geradewegs nach Friedwang geritten und hätte das Grab wieder geöffnet, um nachzusehen, ob es leer war. Nein, der Mann darin war eindeutig tot gewesen - mausetot. Vielleicht hatte es sich bei dem Fremden ja tatsächlich um einen Hochstapler gehandelt? Aber laut Parinor war er ohne Seele gewesen, und die Geschichte mit dem Geisterhund passte auch zu seinem Bruder– zumindest irgendwie.
Und wenn dieser Alrik dort drüben wirklich der Mann aus dem Grab war? Dann hätte er als Auferstandener allen Grund dazu, auf Rache zu sinnen: Francesco hatte ihm die Baronie gestohlen, die Erinnerung, seine Ehre – und ihn schlussendlich (lebendig?) begraben. Mit so etwas machte man sich für gewöhnlich keine Freunde. Nein, der Siebenfingrige musste, falls er noch lebte, vor Hass geradezu brennen. Und der Herr der Rache hatte in den letzten Tagen im Darpatischen deutlich an Macht gewonnen . . .
Andererseits hatte bislang wenig im Verhalten dieses Alrik auf Feindseligkeit hingedeutet. War er einfach nur sehr raffiniert? Wollte er ihn in Sicherheit wiegen und ihm bei erstbester Gelegenheit einen Dolch in den Rücken jagen? Oder lag es daran, dass er seine Erinnerungen verloren hatte? Womöglich war das sogar der Grund, warum er nun das Gewand des Golgariten-Ordens trug. Gedächtnisschwund fiel durchaus in den Zuständigkeitsbereich der Boronkirche. Aber der Siebenfinger-Anselm, den er zuletzt gesehen hatte, war ein hilfloser Idiot gewesen, eher ein Fall für die Noioniten als für die stolzen Ritter Golgaris.
Natürlich! Wie hatte er ausgerechnet das übersehen können – die Sache mit den fehlenden drei Fingern an der linken Hand. Daran konnte er seinen Bruder erkennen. Auf dem Schlachtfeld hatte der Ritter gepanzerte Handschuhe getragen, aber nun nicht mehr. Er musste einfach nur eine Kerze anzünden, hinübergehen und nachzählen.
Mit diesem Gedanken schlief Francesco ein.
Es rumpelte, krachte und schepperte. Schnaubend stieß das gehörnte Untier die Tür auf, fegte den Tisch, die Truhe und die Balken beiseite und brüllte.
Francesco schrak hoch und griff nach dem Rapier. Um ein Haar wäre er aus dem Stuhl gefallen.
Keine zwei Schritt trennten ihn von der Kuh, die jämmerlich brüllend im Eingang stand.
Der Streuner atmete tief durch.
„Ein kleiner Scherz unter Freunden, wie?“
Aus dem Nachbarzimmer ertönte noch immer leises, regelmäßiges Schnarchen. Es war bereits hell, das Feuer im Kamin niedergebrannt. Der Becher lag zerbrochen neben dem Stuhl auf dem Boden, in einer kleinen Pfütze Tee. Auch der Bogen war mitsamt dem Köcher heruntergefallen.
Die Gehörnte muhte erneut, tief und durchdringend.
„Na gut, bevor du noch unsere neue Nachbarschaft zusammen brüllst.“
Der Mondschatten griff nach einem Schemel und einem Eimer.
Das Tier hatte einen Strick um den Hals – offensichtlich war es ihren Besitzern auf der Flucht entwischt. Daran führte Francesco die Kuh auf den Hof. Das Euter war wirklich prallvoll.
Praios Schild stand bereits hoch über den Bäumen, zeigte sich aber bewölkt. Ansonsten wirkte der Wald friedlich.
Der Friedwanger setzte sich auf den Schemel und begann zu melken: Zumindest versuchte er es. Nach einigen Fehlversuchen (die Kuh stampfte ungehalten) rann gleichmäßig Milch in den Eimer.
„Sieh an, das Bäuerlein ist schon wach!“
Alrik stand bleich und hochmütig lächelnd in der Tür. Im Gürtel steckte der fein ziselierte Rabenschnabel, an der Seite baumelte ein Schwert – eine Bewaffnung, die von Misstrauen kündete. Francesco spürte die spöttische Verachtung in der Stimme des Mannes, und sein eigenes Misstrauen wuchs. Umso mehr, als er die Linke sah, mit der sich der Krieger über das schwarze, lockige Haar strich: Sie war vollkommen heil, kein einziger Finger fehlte.
Da war noch etwas: Das Symbol, das den Schwertgriff zierte, sah selbst aus dieser Entfernung verflucht aus wie Galottas Irrhalkenwappen und die Pommel wie eine schwarze Sonne. Konnte es wirklich sein, dass Alrik aus Versehen die Waffe eines Transysiliers an sich genommen hatte? Oder war es ihm am Ende gleichgültig!!?
„Ausgeschlafen?!“ brummte Francesco. Im Moment fiel ihm einfach nichts Besseres ein. Die Müdigkeit und die Wunden hatten auch ihr Gutes gehabt – man hatte sich auf das Notwendigste konzentrieren müssen. Nun kehrten die komplizierteren Probleme zurück.
„So einigermaßen.“
„Was macht dein Bein?“
„Wunderbar. Scheint völlig geheilt zu sein. Was hast du damit gemacht? Kannst du zaubern?“
„Ich nicht, aber die Elfen, die gestern an deinem Krankenbett waren....“
„Elfen? Dann habe ich das alles doch nicht nur geträumt . . .“
„Nein . . . Das alles . . . war nicht nur ein Traum.“ Francesco kniff die Augen zusammen. „Auch wenn man es dafür halten könnte.“
„Bei meiner Treu, was zu essen wäre jetzt nicht schlecht.“ Alrik sah sich auf dem Hof um, als müsste jeden Augenblick ein Festbankett aus dem Nichts auftauchen.
„Etwas Brot ist noch da. Zusammen mit der Milch dürfte das für den Ritt genügen. Zum Mittagessen sind wir dann hoffentlich auf Burg Hohenstein.“
Alrik setzte sich auf eine Bank neben die Haustür. Der schmucke Dreitage-Bart, der ihm zu wachsen begann, stand ihm gut, dachte Francesco mit leichtem Anflug von Neid. Bald würde er aussehen, wie sich ein Bauernmädchen einen gutaussehenden jungen Edelmann vorstellte. Auch wenn sie eigentlich Zwillingsbrüder waren: Er selbst wirkte in seinem schmutzigen Gambeson, mit filzigen Haaren und Stoppelbart wohl eher wie ein Strauchdieb, bestenfalls wie ein Landsknecht aus der Kaiserlosen Zeit. Nun, es hatte vielleicht sogar Vorteile, wenn man sie nicht auf den ersten Blick als Zwillinge erkannte.
„Du hast bereits Pläne geschmiedet?“ fragte sein Bruder.
„Weiß nicht . . . Hier können wir auf jeden Fall nicht bleiben.“
„Komische Zeiten sind das....!“ Alrik schüttelte den Kopf. „Elfen, so so. Wenn ich denke, dass ich als kleiner Junge immer davon geträumt habe, einmal nach Loskarn zu gehen. Bei meiner Treu: Jetzt begegne ich echten Alben, und ich verschlafe das Ganze. Du musst mir unbedingt erzählen . . .“
„In Loskarn gibt es keine Elfen mehr. Und wir haben keine Zeit für Kindergeschichten. Merkwürdig, dass wir uns ausgerechnet unter solchen Umständen wiederfinden, findest du nicht?“
„Nun ja, im Vergleich zu den Sklavenbaracken des Dom Timotheo ein echter Fortschritt, oder? Immerhin sind wir jetzt frei!“
„Sagten die Schafe, nachdem die Wölfe den Hirten gefressen hatten. Wie bist du eigentlich Golgarit geworden?“
„Ich, ach so. Nun, das ist eine lange Geschichte!“
„Erzähl sie mir.“
„Gerade eben hattest du es noch eilig.“ Alrik schüttelte unwillig den Kopf und wog etwas in der Faust. „Irgendwie hatte ich mir unsere Begegnung anders vorgestellt, nach all den Jahren. Irgendwie ....großartiger!“ Dann knackte er mit den Zähnen eine Haselnuss.
„Willst du auch eine? Habe ich in der Küche gefunden. Oh, verdammt, die hier ist taub.“
Der Baronssohn spuckte einige Bröckelchen aus.
„Freust du dich überhaupt nicht über unser Wiedersehen?“
„Freust du dich denn?“
„Was für eine Frage!“ Alrik sah zum Himmel, als wolle er sie an Alveran weitergeben.
„Wir haben uns seit ...seit . . . damals nicht mehr gesehen . . .“
Merkwürdig, wie er dieses Wort damals betont, dachte Francesco. Laut sagte er: „Ja, unser Abschied war ein wenig turbulent.“
„Mach dir keine Vorwürfe deswegen. Ich an deiner Stelle hätte wohl genauso gehandelt.“ Alrik kaute erneut den Inhalt einer Nuss: „Und du willst wirklich keine?“
„Danke, verzichte. Was sagst du eigentlich dazu, dass ich jetzt für alle Welt der Baron von Friedwang bin?“
Der Ritter lachte auf, eine Spur zu laut vielleicht: „Ein vortrefflicher Streich. Nicht sehr praiosgefällig, dünkt mir, aber sei´s drum. Fast scheint es, als müsste ich dir dankbar sein. Ohne dein . . . sagen wir mal, Einspringen wäre das Lehen sehr wahrscheinlich an einen Rabenmund vergeben worden. Und was diese Familie einmal in Klauen hält, gibt sie so schnell nicht wieder her.“ Alrik griff nach dem Rabenschnabel, der neben ihm lag, und knackte mit der stumpfen Seite eine weitere Nuss.
Francesco erstarrte. Als sich sein „Bruder“ einen Halbspann vorbeugte, befand sich sein Körper im Schein der Mittagssonne. Dort, wo ein vollendeter Schatten hätte sein sollen, war nur ein formloses Wabern zu sehen, wie Rauch. Einen Herzschlag lang glaubte der Mondschatten darin eine Fratze zu erahnen, die ihn höhnisch anstarrte und dann in dem Flirren verschwand.
Der Mann - das Wesen, das sich als Alrik ausgab, wandte sich wieder in seine Richtung. „Die anderen Nüsse sind sehr gut. Du möchtest wirklich n....?“ Der Ritter erstarrte in der Kaubewegung, als er sah, wie Francesco aufstand, sein Rapier zog und dabei die Milch umstieß. Muhend trottete die Kuh davon, während der Inhalt des Eimers im Boden versickerte.
„Was zum Namenlosen?!“ Alrik sah sein Gegenüber verwirrt an. „Unser Frühstück!“
„Du bist nicht Alrik!“ schrie Francesco. „Was bist du dann? Ein Dämon !!?“
„Hast du den Verstand verloren?“ Auch Alrik war aufgestanden, den Rabenschnabel abwehrend erhoben. Die restlichen Nüsse sprangen zu Boden und kullerten davon.
„Natürlich, jetzt wird mir alles klar. Vorgestern bist du in den Leichnam eines der Golgariten gefahren und versuchst mich nun zu narren.“
„Nun mach mal langsam. Du, ich, wir beiden haben ziemlich viel mitgemacht in letzter Zeit. Sind eben alle ein bisschen durch den Wind!“ Alrik hob begütigend die Linke, an der wie zum Hohn alle zehn Finger prankten. Mit merkwürdigem Lächeln machte er einen Schritt auf Francesco zu. Irgendwie wirkten seine Augen glasig und starr. War der Grund Marbokraut – oder etwas anderes?
„Das Gute an euch Bha`Leveks ist, dass man euch mit derischen Waffen austreiben kann. Weiche von mir, Dämon!“
„Hör zu, wir können über alles reden. Lass dein Schwert fallen!“
Nun ging seinerseits Francesco in Abwehrstellung. „Keinen Schritt weiter, Ausgeburt der Niederhöllen!“ Die Stimme des Phexgeweihten gellte.
Alrik sah ihn tief in die Augen. „Du würdest es bereuen, mich anzugreifen. Lass dein Schwert sinken.“
Die Klinge in Francescos Händen zitterte leicht. Einen Augenblick lang war er sich seiner Sache nicht mehr ganz so sicher. Er senkte die Waffe.
„Sehr gut. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, wirklich nicht. Und nun lass es zu Boden fallen!“
Im Grunde hatte Alrik Recht, dachte Francesco. Wenn er nur einer Sinnestäuschung aufgesessen war? Er berührte mit dem Rapier den Boden. Sein „Bruder“ machte einen weiteren Schritt auf ihn zu, den Blick immer noch auf ihn geheftet, den Rabenschnabel leicht erhoben.
Was ist, wenn er gerade einen Zauber auf dich wirkt?
Francesco riss den Stahl wieder hoch.
Im gleichen Augenblick sauste der Rabenschnabel mit der stumpfen Seite voran herab. Beide Waffen prallten in der Luft gegeneinander, klirrten und sprühten Funken.
Reflexartig schlug Francesco mit einem Sichelhieb zurück und traf Alrik am Arm. Die Klinge knirschte in das eiserne Kettengeflecht der Rüstung und riss es auf. Etwas Blut sprühte heraus. Der Golgarit ließ den Rabenschnabel fallen und schrie auf, mehr überrascht als schmerzerfüllt. Es klang ziemlich menschlich.
Francesco wurde wieder unsicher. Sein Gegner hatte mit dem stumpfen „Hinterkopf“ des Raben zugeschlagen, ihn also nicht töten wollen. Nein, er kämpfte hier mit keinem Dämon. Vielleicht lag das mit dem Schatten daran, das Alrik keine Seele mehr hatte? Und auch Verstümmelungen konnte man heilen, wie er es selbst beim maraskanischen Taluedwasser erlebt hatte. . .
Aber ihm blieb keine Zeit zum weiteren Nachdenken. Hastig trat er die Streithacke beiseite, die einige Schritt über den Hof in Richtung Brunnen schlitterte. Alrik nutzte die Gelegenheit, um scharrend sein Schwert zu ziehen. Jähes „Verstehen“ trat in seine Augen.
„Bei meiner Treu! Es geht dir also immer noch um meine Baronie und meinen guten Namen. Nun bereust du es, mich damals in der Burg am Leben gelassen zu haben, nicht wahr?“
„Du Mistkerl hast dich also wirklich die ganze Zeit verstellt!“ Auch Francesco ging wieder in Abwehrstellung, seinen Körper vorsichtig auspendelnd. „Kannst dich also doch an alles erinnern! Wenn man ein kaputtes Bein hat, ist es wohl besser auf Gutwetter zu machen, wie?“
„Aha, plötzlich bin ich für dich kein Dämon mehr? Musst du dir soetwas nicht einreden, wenn du mich endgültig aus dem Weg schaffen willst?“ Alrik zögerte noch mit dem Angriff, was auch an seiner stark blutenden Wunde am rechten Oberarm lag. Stattdessen umkreisten sie sich langsam auf dem Hof, wie zwei Kater, die sich nicht aus den Augen lassen wollten. Stahl glänzte matt in der Mittagssonne.
Mit grellem, rau krächzendem Zetern stieg ein Eichelhäher zwischen den Baumwipfeln auf und ließ sich auf dem Zweig einer Tanne nieder. Von diesem wippenden Aussichtspunkt aus schimpfte er in einem fort in Richtung der Streithähne.
„Auf dem Schlachtfeld dachte ich wirklich, unsere Freundschaft hätte eine zweite Chance verdient. Warum sonst hätten uns die Götter auf diese Weise zusammenführen sollen? Mein alter Fehler: Sobald es gegen Bösewichter geht, glaube ich immer, auf Seite der Unsrigen gäbe es keine Schurken! Ich Narr wollte mir einreden, wir könnten einfach so tun, als wäre nichts gewesen. Du hast mich eingelullt wie dieses verdammte Marbokraut !“
Alrik hob das Schwert und sah seinen Gegner über die Klinge hinweg an. „Mir wurden mein Erbe, meine Erinnerungen, meine Ehre und meine Seele gestohlen! Bis auf die Sache mit der Seele bist du an allem schuld! Die Borbarad-Moskitos haben mich fast wahnsinnig gemacht. Im Schratenwald hast du mich lebendig begraben. So etwas tut man einem Freund nicht an, Francesco! Nun werden wir dort weitermachen, wo wir auf der Burg, haha, unterbrochen wurden. Jetzt hast du keine vergifteten Wurfsterne mehr im Ärmel. Gütiger Praios! Wahrscheinlich hast du sie deinen Kameraden alle in den Rücken geworfen - bevor du desertiert bist.“
„Hör zu, Alrik...!“
„Genug! Kämpf um dein Leben, denn mehr hast du nicht mehr auf dieser Welt! Wie ich . . .!“
Letztere Worte hatte Alrik beinahe geschrien. Das Schwert sauste durch die Luft. Klirrend prallte Stahl gegen Stahl, glitt scharrend ab. Die Kämpfer strauchelten, suchten Halt, griffen erneut an. Surrend prallten die Waffen gegeneinander, bogen sich leicht durch, verhakten sich an den Griffen. Keuchend und mit hochrotem Kopf stieß Francesco ihn aus dem Block zurück. Seine Handgelenke schmerzten. Er ist eindeutig der bessere Schwertkämpfer von uns beiden, trotz seiner Verwundung.
Er stieß nach Alriks Unterschenkel, aber der parierte mühelos. Aus der gleichen Bewegung heraus hieb der Krieger nach Francescos Kopf. Instinktiv duckte der Geweihte sich, und die Klinge strich über ihn hinweg.
Francesco spürte, wie er jähzornig wurde. Mit einer Serie wuchtiger Hiebe deckte er den Golgariten ein. Als der seine Waffe band, hämmerte ihm Francesco die Linke unter die Nase.
Alrik taumelte zurück, strauchelte über den Eimer und rang verblüfft um sein Gleichgewicht.
Du magst der bessere Fechter von uns beiden sein, aber ich bin heimtückischer.
Hastig wischte sich Francesco den Schweiß von der Stirn. Sein Atem ging schwer.
„Hör zu, Alrik, da gibt es etwas, was du wissen musst . . .!“
Der Streuner hatte so schnell gesprochen, dass die Worte kaum zu verstehen gewesen waren.
Mit einem Spalthieb griff der Ordenskrieger wieder an. Francesco riss die Klinge zu Abwehr nach oben. Einen Herzschlag lang sah er in das Gesicht seines Gegners wie in ein Spiegelbild. Alriks Mundwinkel blutete. Er tänzelte in einer einzigen Bewegung vorbei und schlug nach unten. Eine Finte!
Das Irrhalken-Schwert ratschte über Francescos Unterleib, fast genau über die gleiche Stelle, wo ihn der feindliche Söldner getroffen hatte. Vermutlich ist es sogar dessen Waffe...
Der scharfkantige Stahl schlug das Fleisch über sicher einen Halbspann hinweg auf. Der Schmerz ließ Francesco mehr als die Wucht des Aufpralls zurück taumeln.
„Wir sind Brüder!“ stieß er mit verzerrtem Gesicht hervor.
Alrik hatte bereits nachsetzen wollen, aber nun stutzte er.
Mit grimmigen Lachen griff er erneut an. Dieser Hieb war unsicher, und der Streuner schlug die Klinge beiseite.
„Ich habe es in Brabak herausgefunden! Wir wurden bei der Geburt getrennt und . . .!“
„Elender Lügner! Willst du mich auch noch verspotten?“
„Ich schwöre es bei allen Zwölfen! Wir sind Zwillingsbrüder! Frag Lacertinus von Zaberg. . .“
Alrik unterbrach seinen Angriff, leckte sich Blut von den Lippen und orientierte sich.
„Selbst wenn es so wäre . . . Das waren Rohal und Borbarad auch!“
Ein Klingenhagel zwang Francesco zum Rückzug. Er prallte gegen die Kuh, ging dahinter in Deckung.
Das Tier stampfte wehklagend zur Seite. Alrik schlug Francesco die Schwertpommel gegen die Stirn. Die schwarzen Sonnenstrahlen rissen die Haut auf. Benommen fiel der Streuner in einen Strohhaufen. Er kam gerade noch rechtzeitig zu sich, um zu sehen, wie ein silbergrauer Blitz auf ihn niederfiel. Er rollte sich zur Seite und der Hieb ging ins Stroh. Hastig versuchte der Streuner wieder auf die Beine zu gelangen.
Das muss die Scheune sein, dachte er, als ihn ein erneuter Schlag gegen seine Klinge durch eine Bretterwand krachen ließ. Heu wirbelte hoch, Federn und Staub. Hühner flatterten aufgeregt gackernd in alle Richtungen davon. Auch die Schwalben flüchteten zeternd.
Francesco wälzte sich unter dem in der Scheunenmitte abgestellten Fuhrwerk hindurch und versuchte, wieder zum Ausgang zu gelangen. Aber dort stand nun Alrik – ein dunkler Schatten gegenüber der Sonne. Er sah aus wie ein Rachedämon.
„Bei meiner Treu, das Schwert ist wirklich gut!“ knurrte er und lies es ums Handgelenk kreisen.
Erneut griff er an, zerteilte aber nur eine Spinnwebe neben Alriks Kopf.
Beide Kämpfer pendelten um eine schaukelnde Stallaterne herum, bevor Francesco sie ihm mit voller Kraft gegen den Kopf stieß. Alrik torkelte wieder einmal verdutzt zurück.
Vor Anstrengung und Schmerzen stöhnend kletterte der Streuner auf den Heuboden. Wie er es erhofft hatte, folgte Alrik ihm auf dem Fuße. Francesco trat die Leiter um und spürte, wie sich Alriks Linke in seine Hose krallte. Schreiend stürzten beide nach unten, ins Heu.
Alrik war als erster wieder über ihm, griff nach dem Schwert. Sein Bruder schlug ihm die zu einer einzigen Faust gefalteten Hände gegen die Stirn. Stöhnend rutschte der Krieger zurück.
Francesco sprang wieder auf.
Verdammt, wo war seine eigene Klinge?
Er trippelte aus dem Heuhaufen heraus nach unten, wo er die Waffe auf dem gestampften Lehmboden erspäht hatte. Dann war Alrik auch schon über ihm. Francesco duckte sich, sah das Schwert und dann Späne von einem Stützbalken wegfliegen.
Irgendwie bekam er ein altes Kummet und eine Heugabel in die Hand. Mit der Forke in der Rechten und dem Geschirr in der Linken ging er auf Alrik los wie ein Al´Anfanischer Netzkämpfer. Der erste Hieb zerteilte die Sparre in zwei Teile. Wutschreiend schleuderte er seinem Bruder erst den Prügel und dann das Kummet entgegen.
Dem Heimlichen sei Dank, hing noch eine rostige Kette in Griffweide. Mit der schlug er auf Alrik ein, als wäre er ein Hesthot. Sein Bruder schrie wie am Spieß, während das Metall auf ihn herabzischte. Schließlich wickelten sich die Kettenglieder um den Stahl. Francesco versuchte, seinem Gegner das Schwert aus der Hand zu reißen, aber stattdessen war er es, der die jämmerlich improvisierte Waffe loslassen musste. Alrik schüttelte die Kette ab und schlug erneut zu. Blut sprudelte über Francescos linke Augenbraue. Einen Herzschlag lang war er geblendet. Zum Glück hatte das Schwert ihn nur gestreift.
Er unterlief den nächsten Angriff und umklammerte Alriks hoch erhobene Handgelenke. Brüllend stieß er ihn gegen den Stützbalken, einmal, zweimal, mit dem Rücken, mit dem Hinterkopf. Aber der Golgarit war stärker, und schleuderte ihn herum wie eine kampferfahrene Dogge ein junges Hündchen. Als der Streuner ächzend von seinem Bruder ab ließ, rauschte von der Seite her ein beidhändig geführter Hieb auf ihn herab. Er hechtete zur Seite, und sah aus den Augenwinkeln, wie das Schwert in dem Balken stecken blieb. Ein gerader Fausthieb und Alrik war entwaffnet.
Phex, führe mich zu meinem Rapier. Dort drüben lag es, halb unter Heu versteckt. Francesco griff danach, da traf ihn auch schon ein wütender Tritt seines Bruders gegen den Brustkorb, raubte ihm die Luft.
Ächzend prallte er gegen den Wagen.
Er sah verschwommen und zwischen Sternchen, wie Alrik nach der Klinge fingerte. Der Mondschatten beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. Er sprang mit Orkgebrüll auf seinen Gegner, umklammerte ihn und wuchtete ihn erneut gegen den Balken. Erst ächzend, dann knarzend und krachend sank der in sich zusammen. Unmengen Heu und Bretter regneten auf die Kämpfenden herab.
Um sich schlagend, versuchte der Phexjünger sich zu befreien. Spuckend und fluchend wischte sich Francesco Blut wie Heu aus dem Gesicht und räumte sperrige Trümmer von seinem Körper.
Dann bemerkte er das Schwert, das Alrik an seine Kehle hielt.
Sein Bruder atmete schwer, die Augen traten weißlich im verschrammten Gesicht hervor. Blut lief ihm aus dem Mundwinkel. Er spuckte aus.
Francesco winkelte die Beine an, um sich aus seiner misslichen Lage herauswinden, aber Alrik drückte das spitze Metall nur noch tiefer gegen seinen Avesapfel. Der Brabaker wagte nicht einmal mehr zu schlucken, sondern hechelte kurzatmig nach Luft.
Das also war das Ende – von seinem eigenen Bruder abgestochen. Nein, bloß nicht sterben, nicht auf diese Art. Nicht so jämmerlich, verdammt! Einen Augenblick lang empfand er nur noch tierhafte Angst und blinde, grauenhafte Verzweiflung. Zu allem Überfluss spürte er einen Druck zwischen den Beinen. Es fehlte nicht viel, und er hätte sich selbst benässt. Sein Herz schlug rasend - wie eine Trommel, unmittelbar bevor das Beil des Henkers auf den Hals seines Opfers herabsaust. Francescos Augen bettelten um Gnade.
„Tu´s nicht!“ wimmerte er und fand sich selbst erbärmlich. Draußen, auf seinem Baum, zeterte der Eichelhäher noch immer. Das entnervende Gerufe des „Büttels des Waldes“ würde also das Geräusch sein, mit dem er Dere ein für alle mal verlies.
Alrik grinste überlegen und wischte sich mit dem Handrücken Blut, Schweiß und einige Halme aus dem Gesicht. Fast hätte man meinen können, das alles wäre wirklich nur eine Prügelei unter Brüdern gewesen, bei der der Sieger nun seinen Triumph genoss. „Spürst du jetzt, was es heißt, dem Tod ins Angesicht zu sehen?“
„Das wird dir gleich selbst passieren, wenn du das Schwert nicht fallen lässt!“ ertönte hinter ihm eine kernige, raue Stimme.
„Korporal Malzan, schießt den Hurensohn über den Haufen, falls er nicht gehorcht. Rovenna, Ludolf, ihr passt auf, dass der andere keine Dummheiten macht. Wisshard und Nottger, nachsehen, ob sich auf dem Hof noch mehr Gesindel versteckt. Weibel, schaut nach, ob Ihr hier irgendwo einen festen Strick findet.“
Sporenklirrend trat hinter Alrik ein Mann im vergoldeten Plattenharnisch näher, einen Bullenschläger in den ebenfalls gepanzerten Händen wiegend.
„Lässt du nun deine Klinge fallen, oder muss ich dir dazu die Hand abhacken, Bürschchen?“
Alrik seufzte und warf dann die Klinge neben sich ins Heu. „Hast wieder mal mehr Glück als Verstand!“ murmelte er in Richtung seines Bruders.
Zwei einfältige Bauerngesichter zwischen Lederkurbul und Tellerhelm rahmten den Krieger ein und drehten ihm die Hände auf den Rücken. Francesco wollte aufstehen, aber eine auf seinen Brustkorb gerichtete Glefe hielt ihn zurück.
Eine harte Kopfnuss ließ Alrik zusammenzucken: „Ich gebe dir, von wegen zuwenig Verstand!“ schnarrte der offenkundige Anführer der Neuankömmlinge. Der Baronssohn wollte auf ihn losgehen. Die an seine Kehle gehaltene Ochsenzunge riet ihm davon ab. Eine weitere Hand grub sich in seine Haare.
„Bindet sie, alle beide!“ Der Soldat mit dem Bullenschläger trug einen Kopfverband. Die schwarzen Schwingen auf dem Helm darüber wiesen den Mann als Leutnant der Goldenen Raben aus: ein Mitglied der Fürstlichen Leibgarde. Francesco wusste nicht, ob das wirklich eine gute Nachricht war. Auch die übrigen Eindringlinge waren größtenteils verwundet, sie wirkten müde und abgekämpft.
„Was seid ihr, Räuber, Dämonenknechte oder Fahnenflüchtige? Und vor allem, wer von euch Göttergleichen ist was?“
Alrik hielt es nicht für nötig, zu reden, also verpasste ihm der Leutnant einen Hieb in die Magengrube.
„Ich hab´ euch was gefragt!“ belferte er.
„Ich bin Baron Alrik Tsalind von Friedwang“, meldete sich Francesco zu Wort. „Und das ist . . . ist, äh, eine längere Geschichte.“
Der Leutnant sah ihn abschätzig an und gluckste dann freudlos: „Jeder weiß, dass der Friedwanger ein gichtiger, fetter Kriegskrüppel mit nur einem Auge ist. Ich hab´ ihn mal in Rommilys gesehen. Du bist nie im Leben Baron Alrik.“
„Ich nehm das mal als Kompliment!“
Ein Tritt ließ Francesco zusammenzucken.
„Hört, hört, da haben wir ja einen echten Schelm gefunden. Hast wohl ein besonders sonniges Gemüt, wie?“
Der Offizier griff nach dem Medaillon, das um Francescos Hals hing, und ließ es aufspringen.
„Wie Baronin Serwa sieht die Kleine auch nicht gerade aus.“
„Vielleicht ist es ja seine Rahjastute Ismena “, witzelte es aus den Reihen ihrer Bewacher.
Wutschnaubend wollte sich Francesco auf den Spötter werfen, aber ein derber Stoß mit dem Glefenschaft ließ ihn zurückttaumeln. Das Medaillon riss ab und fiel zu Boden. Achtlos trat der Goldrabe darauf, während er den Streuner am Kragen packte.
„Mach´s Maul auf, wie heißt du?“
„Verhurt, ich bin wirklich Alrik. Das ich jetzt geheilt bin, liegt an einem Krug mit heiligen Taluedwasser, den ich . . .“
„Was für Taludwasser?“
„ Taluedwasser. Magisches Heilwasser aus Maraskan....“
„Heilige Mutter Travia! Ein götterverfluchter Schwarzmaraskaner . . .?!“
„Ich ....nein, das ist eine längere Geschichte 3 . . . Ich bin ganz bestimmt kein Maraskaner.. . .!“
Der Goldrabe stieß ihn - scheinbar angewidert - ins Heu.
„Na schön, das wird sich noch klären. Und du, wie ist dein Name?“ fragte der Leibgardist in Richtung des echten Alrik.
„Nennt mich Bishdarielon“, sagte der mit schmerzverzerrter Stimme, aber stolz.
„Blischdaron ? Hört sich ja schon an wie ein Dämonenname, die unsterblichen Zwölfe mögen uns gegen das Gezücht beistehen! Also: Wer seid ihr und warum prügelt Ihr hier aufeinander ein?“
„Das war doch nur ein Übungskampf...“
„Übungskampf?“ Ungläubig sah der Leutnant erst auf Alriks, dann auf Francescos blutig geschlagenen Körper.
„Na ja. Eine kleine Meinungsverschiedenheit war schon auch dabei.“
„Kommt ihr aus Rommilys?“
„Ja. Wir wurden Heer vom getrennt, als die Fürstin geflohen . . .“
Erneut traf Francesco die Stiefelspitze schwungvoll in die Seite: „Die Fürstin ist nicht geflohen, du Vogelscheuche. Ihre Durchlaucht haben geruht, die Front einstweilen in einem planvollen Rückzug gen Efferd zurück zu nehmen.“
„Und jetzt preisen die Rommilyser die Fürstin für ihre Weisheit“, entschlüpfte es Francesco, während er sich den Schmerz verbiss.
Einen Augenblick lang sah ihn der Goldene Rabe ausdruckslos an. Zum Glück schien er die Ironie in diesen Worten nicht zu verstehen.
„Hoch mit dir, Alrik. Du behauptest also, ein Kämpfer des freien Darpatien zu sein. Was ist dann der andere? Ein Schwarzer Reiter?“
„Nein. Ein Golgarit .... glaube ich.“
„Ein Baron und ein Ordenskrieger ?! Sieh an, da ist unser Spähtrupp ja in feine Gesellschaft geraten.“
„Ich kenne den Mann!“ sagte der Weibel, ein dicker, schwitzender Mann mit verbundenem Unterarm und deutete mit der Hand, die zugleich einen Strick hielt, auf Francesco. Plötzliches Erkennen funkelte in seinen Schweinsäuglein.
„Ja, ja, das ist er doch. Der Strauchdieb lügt! Er hat mich vor einigen Tagen überfallen und mir den Elenviner gestohlen.... Auf der Straße nach Zwerch war das.“
Francesco verdrehte die Augen. Diese Geschichte . . . Wie es aussah, flatterte sein berühmtes Glück gerade eben zum Stall hinaus.
„Ihr habt gesagt, ich soll Euch mal probeweise mit dem Knüppel angreifen! Und dass ich das Zeug zum Soldaten hätte. Woher sollte ich wissen, dass Ihr Euch so schlecht wehrt? Außerdem hatte ich es eilig, war knapp bei Kasse und brauchte dringend Euer Pferd. Überhaupt, das alles ist ja wohl der Beweis, das ich keiner von den Dreckigen sein kann.“
„Wo ist mein Falbe jetzt, du Lump?“
„Welches Teil davon meint Ihr?“
„Verfluchter Pferdedieb!“ schnaufte der Feldwebel. „Aufhängen sollte man dich. Am besten gleich dort an den Balken.“
„Jawoll, häng´n wir dem Burschen den Halsbandorden um!“ gluckste ein schlaksiger, rothaariger Landwehrmann. „Wenns schon zum Greifenstern nicht langt!“
„Er redet nur, wenn er gefragt wird. Verstanden, Gemeiner Ludolf?“ donnerte der Offizier. „Und Weibel Corelian, Ihr haltet Euch besser auch zurück.“
„Wieso? Das Beste wär´s doch – aufknüpfen! Nach all dem, was in Rommilys passiert ist. “ Der Weibel ballte wütend die Faust.
Aus der Runde ertönte zustimmendes Gemurmel. Die Soldaten wirkten gefährlich überreizt. Francesco konnte sie sogar verstehen. Sie hatten eine fürchterliche Niederlage erlitten und suchten nun nach irgendeinem Schuldigen.
„Der Mann ist ein Deserteur!“ knurrte der Weibel. „Ein Fahnenflüchtiger und Pferdedieb!“
„Hat er sein Kreuz schon gemacht? Ich meine, auf der Musterrolle?“
„Wie? Nein, das nicht. . .“
„Dann ist er auch nicht fahnenflüchtig. Überhaupt, hier wird niemand ohne Gerichtsurteil aufgehängt. Dafür sind Stricke viel zu wertvoll. Hoch mit ihm!“
Grob zerrten die Landwehrmänner den Streuner auf die Beine und fesselten ihm die Hände auf den Rücken.
Aus den Augenwinkeln sah Francesco das Irrhalken-Schwert mit dem Griff voran aus dem Heu ragen, als sei es tatsächlich verflucht und wolle sie nun auf diese Weise verderben. Wenn die Soldaten das unheilige Galottawappen zu Gesicht bekamen, würde es schwierig werden, sich herauszureden.
„Was ist mit dem da? Wollt ihr ihm die Kehle durchschneiden?“
Francesco wies mit dem Kopf auf Alrik, dem noch immer ein Dolch an den Hals gehalten wurde.
Der Gardist sah in dessen Richtung. „Lasst ihn los! Aber bindet ihn gut!“
Das Ablenkungsmanöver funktionierte. Der Mondschatten schob mit dem Fuß etwas Heu über das schwarze Schwert. Niemand außer ihm hatte etwas von der Bewegung gemerkt.
„Und jetzt raus mit den beiden!“
Man stieß sie auf den Hof. Eine Landwehrfrau stand draußen Wache, wobei sie eine klobige Armbrust in Händen hielt.
Am Rand des Brunnens sass eine junge Frau in weißer Leinenrobe und hatte einen kunstvoll gedrechselten Stab sowie einen Rucksack neben sich ans Mauerwerk gelehnt. Auf ihrem dunkelbraun gelockten Kopf sass ein schwarzer Spitzhut mit runder Krempe und Hutband, dessen Schnalle als Pentagramm gestaltet war. Die hellrote Straußenfeder darüber hatte eindeutig schon bessere Tage gesehen. Ihre über Kreuz geschlagenen Beine zierte eine Pluderhose aus ebenfalls schwarzem Samt. An einem Gürtel baumelte ein zierliches, aber weitgehend schmuckloses Magierflorett.
Den hellbraunen Bauschmantel, dessen Innenseite rot gefüttert und mit arkanen Symbolen bestickt war, hatte sie leicht über ihrer Schulter zurückgeworfen, um besser in ein kleines Buch blicken zu können. Das, ein in dunkles Leder eingebundenes Oktavbändchen, hielt sie sich mit der Rechten vor das spitze, blasse und ziemlich hoch getragene Näschen, als blicke sie in einen Handspiegel.
Nach einigen Schritten vermochte Alrik auch den Buchtitel - in Goldprägung - zu lesen: „Hilfreycher Leytfaden für den wandernden Adepten“. Die Magierin schien tatsächlich ziemlich jung zu sein, vermutlich hatte sie ihr Gildensiegel erst in diesem Götterlauf erhalten.
„Wir haben zwei Gefangene gemacht, wie Ihr seht.“ Der Leutnant wandte sich in respektvollem, aber auch leicht ungehaltenem Ton an die Zauberin, die nicht im Geringsten durch das Geschehen um sie herum beeindruckt zu sein schien. Fast hätte man meinen können, sie sässe in besseren Zeiten auf einer Parkbank in Rommilys.
„Sind ziemlich verstockt, die Burschen. Ich dachte, nun . . . könntet Ihr ihnen nicht vielleicht einmal auf den Zahn fühlen, Frau Adepta?“ Der Gardist räusperte sich. „Magisch, meine ich.“
Die Zauberin blätterte geräuschvoll eine Pergamentseite um und blickte dann über den gedruckten Schmuckrand hinweg den Gardisten an, als hätte sie ihn erst jetzt bemerkt. Die Augengläser, die sie trotz ihrer Jugend schon trug, ließen sie dabei entfernt wie eine Eule aussehen.
„Haltet Ihr mich für eine Tochter Rohals?“ fragte sie mit einer wohltönenden Stimme, die so spitz war wie ihre Nase. „Ich habe meine Kraft nicht gestohlen, als dass ich es mir erlauben dürfte, sie an an allen Ecken und Enden sinnlos zu verschwenden.“
„Es könnten immerhin Spione des Feindes sein!“
Die Adepta nahm die Fremden buchstäblich unter die Lupe, in dem sie die Gläser ihres Okulars übereinander bog. Dann ließ sie die Brille kopfschüttelnd in einer Tasche verschwinden.
„Papperlapapp. Das sind Deserteure, Herumtreiber. Das übliche Treibgut des Krieges. Gütige Herrin Hesinde, spart Euch Eure Kräfte für die wirklich gefährlichen Gegner auf.“
„Ist das Euer letztes Wort, Adepta Fortunata?“
„Glaubt mir, ich würde Euch gerne helfen, wenn ich es guten Gewissens könnte. Aber wir haben noch einen Auftrag auszuführen. Einen nicht ganz einfachen Auftrag, scheint mir.“
„Ihr irrt Euch. Ich habe einen Auftrag auszuführen und Ihr wurdet mir dafür unterstellt, Adepta Fortunata von Perricum, Fortunata Scherbenbrinck oder wie immer Ihr Euch zu nennen geruht.“
„Aber nicht von meiner Akademie in Perricum, Herr Weibel. Nein, verzeiht, Herr Leutnant. Ihr seid ja befördert worden, nachdem Euer Vorgänger unlängst einem Gehörnten zum Opfer gefallen ist.“ Die Magierin namens Fortunata lächelte süßlich in Answins Richtung. „Sehr bedauerlich. Offenbar war diesem tapferen Gardeoffizier kein Magiekundiger unterstellt. “ Die junge Frau betonte scheinbar erheitert das letzte Wort. Dann setzte sich die Adepta wieder das Okular auf und wandte sich ihrem Büchlein zu, in dem sie eine interessante Stelle entdeckt hatte. Zumindest tat sie so. Tatsächlich wirkte sie blass und erschöpft, fast schon ausgebrannt. Vermutlich ist das der eigentliche Grund für ihre Arroganz, dachte Francesco. Sie will verbergen, dass sie sich schon jetzt fast am Ende ihrer Kräfte befindet.
Der Leutnant sah grollend, aber auch etwas ratlos zu seinem Weibel. Der zuckte mit den Schultern.
Zwei weitere Darpaten kamen aus dem Haupthaus. Der eine hielt Alriks Rabenschnabel in Händen.
„Sonst ist keiner mehr da. Hier, das lag auf dem Hof herum.“
„Gut.“ Der Gardist nahm die Streithacke an sich und musterte sie.
Dann fiel sein Blick auf die Lache. Der Goldene Rabe stieß den umgestossenen Eimer an, so dass dieser ruckelnd davon rollte.
„Ihr mögt wohl keine Milch, wie?“
Francesco schwieg, ebenso Alrik.
„Na schön, Zeit für eine kleine Mittagsrast. Die Gefangenen dahinter ins Eck. Lasst sie mir bloß nicht aus den Augen. “
Die Darpaten ließen sich im Halbkreis vor der Scheune nieder und kramten ihre Brotbeutel sowie Wasserschläuche hervor. Nur die Magierin hielt sich abseits.
„Ludolf, du sprichst das Gebet. Helm ab!“
Das halbe Dutzend Männer und Frauen tat, wie ihnen geheißen wurde. Francesco verkniff sich ein Grinsen. Mochte die Welt draußen auch untergehen, die Darpaten speisten noch immer brav zur Mittagstunde und beteten zuvor zu Travia, als wäre nichts geschehen. Und dennoch bewunderte er diese jungen Burschen und Frauen irgendwie: Ihre harten, lauernden Blicke zeigten, dass sie bereits wussten, was Kämpfen und Töten bedeutete – und die Leere in ihren Augen, dass sie damit eine Grenze überschritten hatten, hinter der es kein Zurück mehr gab.
„Nimm, Frau Travia, uns´ren Dank“, begann der Rothaarige mit leicht leiernder, aber kräftiger Stimme zu beten, „für Heim, Familie, Speis und Trank. Halt schützend deine Segenshand über Fürstin, Stadt und Land. Lass uns zu deinem Lobpreis laben. Gib denen Brot, die keines haben.“
Zustimmendes Gemurmel ertönte, dann machte sich der Trupp über die Mittagsration her.
Wie zum Hohn meldete sich Francescos Magen mit einem Knurren zurück. „Gutes Stichwort! Könnten wir vielleicht auch was zu essen kriegen? Wir haben nämlich seit . . .“
„Du wagst es auch noch?“ raunzte der Weibel. „Totschlagen sollte man euch Gesindel! Und nicht auch noch mit unserem knappen Proviant durchfüttern ...“
„Ich bitte Euch, Corelian!“ Der Goldene Rabe erhob sich. „Wir sind doch keine Unmenschen wie unsere götterlosen Feinde. Du da, gib ihnen was von deinem Proviant.“
„Sollen wir etwa so essen?“ Francesco bäumte sich mit hinter dem Rücken zusammengeschnürten Händen auf. „Wie das Vieh?“
„Friss doch das hier!“ Corelian warf einen Apfelbutzen in seine Richtung, verfehlte ihn aber knapp.
„Weibel, lasst den Unfug. Ich sag´s nicht noch einmal. Also gut, bindet den beiden die Hände vorne zusammen!“ Der Leutnant nahm einen Brotkanten und zwei Birnen aus einem Beutel. Damit ging er auf die Gefangenen zu, mit einem anbiedernden Gesichtsausdruck, als wären es Geschenke für kleine Kinder.
„Aber zuvor musst ihr mir sagen, was ihr hier zu suchen habt.“
„Was wollt ihr denn hören?“ seufzte Francesco, während seine Fesseln gelöst wurden.
„Was ich hören will? Die Wahrheit natürlich!“
Erst jetzt fiel Francesco auf, wie jung sein Gegenüber war, höchstens Anfang zwanzig. Einen Moment lang wirkte er fast schon zerbrechlich, nicht wie eine der gnadenlosen Kampfmaschinen, um die es sich bei den Goldenen Raben angeblich handeln sollte.
„Dein wahrer Name wäre schon einmal ein Anfang. Ich bin Wei . .. Leutnant Answin Steiner. Wollt ihr rauchen?“
Alrik schwieg noch immer, aber Francesco nickte. Nach der Anspannung machten sie jetzt wieder die Schmerzen in seiner Seite bemerkbar. Was für ein Irrsinn: Sich erst von Elfen heilen zu lassen und dann wieder gegenseitig blutig zu schlagen.
Der Leutnant kramte nach einem Tabaksbeutel und zog seine eigene sowie eine tönerne Ersatzpfeife hervor.
Francesco nahm ihm letztere dankbar aus der Hand.
„Ich werde sie selber stopfen...!“
„Ist aber kein besonders gutes Kraut . . .“
„Die Zeiten sind nun mal lausig.“
„Da könntest du sogar Recht haben.“
Answin entzündete mit Feuerstein und einem Stahlring ein Stück Zunder und hielt es an den Pfeifenkopf. Francesco paffte und nickte dann dankbar.
„Also, wer seid ihr wirklich?“
„Na ja . . . Wie ich schon sagte: Ich heiße Alrik und komme aus Friedwang. Und da ich dem Baron von Friedwang so ähnlich sehe, nennen die Leute mich halt Alrik von Friedwang . . .“
Sein Nebenmann lachte halb höhnisch, halb gequält auf und schüttelte den Kopf.
Leicht irritiert sah Answin Steiner erst in Alriks, dann wieder in Francescos Richtung.
„Der da? Wie ist sein Name?“
„Er hat ihn ja gesagt. Bishdarielon.“
„Bishdarielon . . . Und, hast du Corelians Pferd gestohlen, Ja oder Nein ?“
„Tja nun, ich hatte es halt eilig, nach Rommilys zu kommen. Wegen einer, äh, wichtigen Botschaft. Aber ich schwöre bei allen Zwölfen, dass ich in der Schlacht auf eurer Seite gekämpft habe.“
„Wo genau?“
„Linke Flanke.“
„Bei den Edelleuten? Vergiss es . . .“
„Wenn ich´s doch sage. Warst du gestern in der Schlacht...?“
„Wir alle waren dort. Vorgestern. Im Gegensatz zu dir können wir uns sogar noch gut daran erinnern.“
Verhaltenes Gelächter aus der Runde.
„Ihr verschwendet Eure Zeit mit den Burschen!“ sagte die Adepta tadelnd, ohne von ihrem Buch aufzublicken. Francesco hustete und spuckte aus.
„Gestern, vorgestern, das ist doch völlig gleich. Jedenfalls haben uns die Dreckigen abgeschlachtet wie die Bauern Schweine im Boronmond. Du hast recht, das Zeug schmeckt abscheulich.“
„Woher besseres nehmen, wenn nicht stehlen?“
Der Leutnant nahm ihm die Pfeife aus der Hand, nahm einen tiefen Zug und reichte sie dann an den Weibel weiter. Anschließend machte die Pfeife unter den Soldaten die Runde.
„Du behauptest also, mit dem Pferd des Weibels in die Schlacht geritten zu sein, um Rommilys gegen die Schwarzen Horden zu verteidigen? Das war sehr edelmütig von dir.“
„Ja doch. Manche würden mich einen Herumtreiber nennen, aber in einer solchen verzweifelten Lage müssen doch alle gutherzigen, wohlmeinenden Menschen zusammenstehen, nicht wahr?“
„Wenn du meinst . . . Was war das für eine Botschaft?“
„Nachrichten aus der Schwarzen Sichel.“
„Was gibt es denn da für Neuigkeiten?“
„Friedwang ist umkämpft, aber einige Sichelbarone wehren sich noch gegen die Schwarzen Horden: Adran von Oppstein, Serwa von Friedwang und die übrigen Mitglieder des Schwarzsichler Trutzbundes. Baron Alrik, der echte, ist verschwunden.“
„Gut, vom Trutzbund habe ich schon mal gehört. Sollen allesamt Verräter am Fürstenhaus sein, zumindest unzuverlässig. Was ist mit dem anderen?“
„Der? Ein Golgarit, glaube ich. Wir hatten einen kleinen Disput, weil ich auf dem Schlachtfeld den Besitz einiger Erschlagener, äh, sichergestellt habe. Deswegen wollte er sich bei erstbester Gelegenheit mit mir duellieren . . . Ein verrückter Hund.“
„Ist das wahr?“ fragte der Leutnant in Alriks Richtung.
„Er redet nicht mehr, als unbedingt nötig“, sagte Francesco hastig. „Hat wohl ne Art Schweigegelübde abgelegt.“
Besser, ich behalte einstweilen das Vorrecht zu reden, dachte der Phexgeweihte. Bevor mein liebes Brüderchen zu viel quatscht.
„Aber vorhin hat er doch auch gesprochen.“
„Vielleicht darf er ja eine bestimmte Anzahl Worte am Tag reden, was weiß ich ...“
„Naja, diese Golgariten haben wirklich merkwürdige Sitten.“ Dem Fürstengardisten fröstelte leicht, während er sich den zerschlissenen Mantel fester über die Schulter zog. „Auch wenn sie im Zeichen des Raben kämpfen wie wir. Travia steh uns bei!“
Dann blaffte er in die Runde: „Verdammt, habe ich nicht Befehl gegeben, seine Hände zu fesseln?“ Jede Freundlichkeit war nun wieder aus seinem Gesicht verschwunden.
„Ich finde, die beiden sehen sich ziemlich ähnlich“, sagte der Gemeine Ludolf, während er Francescos Hände vorne wieder zusammenband.
„Wie? Unsinn . . . Wenn ich sie mir genauer ansehe, sieht der wirklich aus wie ein Ritter, und er da wie ein gemeiner Strauchdieb. Überhaupt, wer hat ihn nach seiner Meinung gefragt?“
„Der Gemeine Ochskötten hat schon Recht. Könnten glatt Brüder sein, die Burschen“, meinte der Weibel mit Misstrauen in der Stimme. „Sind diese Maraskaner nicht allesamt Zwillinge?“
„Nur ihre traviaverfluchten Götzen!“ Der Goldene Rabe spuckte aus.
„Der Mann dort ist wirklich ein Golgarit“, mischte sich wieder die Adepta Fortunata von Perricum ein. „Seht ihr nicht die Form seiner Gürtelschnalle? Das ist eindeutig ein gebrochenes Rad. Und der Rabenschnabel sieht auch boronisch aus, mit diesen silbernen Ziernägeln und dem filigran gestalteten Kopf. Ausserdem ist das Schwarz der transysilischen Rüstungen anders, irgendwie finsterer, rauher und mit einem leichten Rotstich. Nicht matt und ohne jeden Glanz wie bei den Ordenskriegern.“
„Was soll das jetzt werden, Fräulein Scherbenbrinck? Ein Kunstseminar? Gerade eben habt Ihr noch gesagt, der Mann wäre irgendsoein Herumtreiber.“
„Frau Scherbenbrinck, nicht Fräulein“, antwortete die Magierin mit leichter Melancholie in der Stimme. „Es braucht eben seine Zeit, um die richtige Conclusio zu treffen. Bei der Erzheiligen Canyzeth, glaubt mir einfach. Ich habe schon genügend Schwarze Reiter gesehen, um sie von Boronsdienern unterscheiden zu können.“
„Wo? In einem Eurer Bücher?“
„Nein, in der Schlacht.“
„Tatsächlich?“
„Ja. Sogar aus der Nähe . . .“
Der Leutnant überlegte kurz. Dann bellte er den Soldaten an, der sich mit einem Strick in der Hand Alrik zuwandte.
„Ludolf, lass das. Du hast gehört, was Fortunata gesagt hat, Fesseln braucht es bei ihm nicht mehr. “
Der Leutnant reichte Alrik die Waffe, der sie äußerlich gleichmütig am Gürtel verstaute.
„Verzeiht, Herr Ritter, die raue Gastung, aber die Zeiten sind nun einmal, wie sie sind. Rovenna, kümmere dich um seine Wunde.“
„I...ich, Herr Leutnant?“
„Sagtest du nicht, du würdest dich ein bißchen mit Heilkunde auskennen?“
„Jawoll.“ Die bäuerliche wirkende Frau nickte. „Aber nur bei Tieren . . .“
„Das muss genügen. Und du, Alrik, wo warst du die letzten beiden Tage?“
„Versprengt.“
„In der Nähe von Rommilys?“
„Auch.“
„Wie ist die Lage dort?“
„Wie soll sie schon sein? Beschissen. Die ganze Stadt ist in der Hand des Feindes und zum Plündern, Morden und Brandschatzen freigegeben. Es ist zum Heulen. Nur um die Friedensstadt wird offenbar noch gekämpft.“
„Das wissen wir schon. Ein paar Flüchtlinge sind noch vor dem letzten Angriff rausgekommen. Solange das Heilige Herdfeuer nicht erloschen ist, besteht Hoffnung!“ Der Rabe blickte in die Runde. „Mag sein, dass die Lage derzeit, äh, etwas chaotisch ist. Aber wir werden Rommilys zurück erobern, hört ihr? Vielleicht nicht heute oder morgen. Aber schon sehr bald wird die Fürstin wieder in ihre . . . unsere Hauptstadt einziehen. Daran kann es gar keinen Zweifel geben.“
Zustimmendes Nicken und trotzige Mienen über kauenden Mündern antworteten ihm. Gierig begannen auch Alrik und Francesco zu essen und zu trinken. Die Stimmung auf dem Hof entspannte sich etwas.
„Was machen wir jetzt mit den beiden?“ wollte der Weibel wissen.
„Hm ja, wir könnten Verstärkung gebrauchen.“ Answin blickte in Richtung des Boronskriegers. „Vor allem solche geistlicher Art....“
Die Soldaten erbleichten und hielten mit dem Essen inne. Auch der Feldwebel griff verstohlen zu dem Gänseamulett, das er um seinen Hals trug.
„Haltet Ihr das für eine gute Idee?“
„Wieso nicht? Stört Ihr Euch an der Gesellschaft von Golgariten?“
„Travia bewahre, nein.“ Der düstere, unruhige Blick des Weibels strafte sein Worte Lügen. „Aber der Mann ist verwundet und muss in ein Spital.“
„So schwer scheinen seine Wunden nicht zu sein.“
„Schwer genug, um uns vielleicht auf dem Weg nach Rommilys aufzuhalten.“
„Was machen wir, wenn ... etwas Überderisches auftaucht?“
„Wir haben immer noch die Adepta. Und mein Schwert ist geweiht.“
„Wisst Ihr das genau?“
„Hat mal ´n Bannstrahler gesegnet. Und die meisten von uns haben ein heiliges Amulett oder so was. Man muss eben auf die Götter vertrauen.“
Answin musterte die fahlen Gesichter seiner Soldaten, die nur verhalten weiter zu essen begannen.
„Also gut. Schicken wir ihn mit dem anderen nach Hohenstein. Sollen die dort entscheiden, was sie mit unserem Galgenvogel machen.“
Der Leutnant biss ein Stück Brot ab und kaute darauf herum.
„Ja, soll sich der Profoß um den Burschen kümmern“, sagte der Weibel übellaunig.
„Ihr habt wohl die Hoffnung noch nicht aufgegeben, den Burschen hängen zu sehen, wie?“ Der Leutnant lachte roh und schlug seine Zähne in ein Stück Pökelfleisch. „Man könnte Euch glatt für rachsüchtig halten.“
„Wie meint Ihr das, Herr Leutnant? Gesetz ist Gesetz.“ Corelian klang eingeschnappt. „Gerade in Zeiten wie diesen. Oder soll etwa jede Disziplin zusammen brechen?“
„Schon gut, Weibel. Ihr habt Recht. Pferdediebstahl ist keine geringe Sache.“
Der Leutnant sah zu Alrik: „Was sagt Ihr dazu, Erlaucht . . . Bishdarielon??“
Alrik nickte knapp und erhob sich.
„Gar nichts? Auch gut. Nehmt die Kuh und eines der Pferde mit, sie können sie in Hohenstein sicher gebrauchen. Im Stall hängt ein Sattel, Herr Bishdarielon. An den könnt Ihr den Dieb festbinden. Und ihr, macht euch fertig zum Aufbruch. Füllt eure Wasserflaschen am Brunnen, dann geht’s weiter.“
Halb bedauernd, halb verachtend musterte der Gardist Francesco. Dann schlug er ihn aufmunternd auf die Schulter und steckte ihm die Tonpfeife und etwas Tabak zu. „Im Grunde sind wir hier wirklich alle dem Raben geweiht“, murmelte er leise.
„Ein Bericht, natürlich, jemand muss noch einen Bericht schreiben. Adepta, könntet Ihr eine Seite aus Eurem Tagebuch entbehren? Natürlich nur, wenn Euch dies Euer Stand gestattet . . .“
„Nachdem Euch Eurem Stand nach das Lesen und Schreiben nicht möglich ist, sehr gerne...“
Die Magierin lächelte übertrieben freundlich und zog aus ihrem Rucksack ein Notizbüchlein, ein Tintenfass und einen Federkiel hervor.
„Schreibt, dass wir hier einen Pferdedieb .... der Fall ist etwas. . . Ach, schreibt selbst. Wir haben hier einen Pferdedieb, der behauptet, Baron Alrik Tsalind von Friedwang zu sein . . . und einen Golgariten...“
„ . . . ein Mitglied des Golgaritenordens und einen Mann, der des tätlichen Angriffs auf einen Weibel der Fürstlichen Armee sowie des Diebstahls dessen Pferds accusiert wird. Kläger und Zeuge in diesem Casus ist besagter Weibel Corelian . . . Eichhorn, nicht wahr? Von welchem Banner? Ach egal, es gibt ja eh´ keine mehr. Der sich unter meinem...gemeint ist natürlich Eurem ...Befehl befindet“. Der Federkiel huschte kratzend über das Papier. „Der Gefangene behauptet .... der verschollene Baron Alrik Tsalind von Friedwang .... zu sein . .. was von Herrn Leutnant Answin Steiner als nicht glaubwürdig .... iudiciert wird. Friedwang hieß doch die Baronie, oder? Wollt Ihr selbst Euer Zeichen machen, oder soll ich das für Euch signieren?“
„Danke, ich kann durchaus selbst schreiben. Zumindest meinen Namen!“
„Hier. Es wäre sinnvoll, wenn auch Weibel Eichhorn als . . .“
„Ja, ja, für den könnt Ihr ruhig drei Kreuzchen machen. Schreibt aber drüber, dass es der Weibel war, der unterfertigt hat.“
„Nein, wenn schon, dann richtig.“ Die Adepta tauchte den Federkiel ins Glas und drückte ihm den Unteroffizier in die Hand, der ihn mit der Faust umschloss.
„ Ihr seid doch Wehrheimer, oder, Herr Weibel?“
„Travia sei´s geklagt, ja!“ sagte der Mann finster und kleckste ein Kreuz aufs Papier.
„Mein Gemahl stammt von dort“, sagte die Magierin tonlos. „In Wehrheim muss immer Ordnung herrschen“, fügte sie ohne jeden Spott hinzu. „Selbst wenn es Wehrheim nicht mehr gibt.“
Die Adepta streute etwas feinen Sand über die Tinte und blies ihn dann sacht davon. Dann riss sie die Seite heraus.
„Verhurt, Alrik, jetzt reichts mir aber! Bind mich los!“
Francesco stemmte sich gegen den Strick, der am Sattelknauf des Warunkers festgezurrt war. Unbeeindruckt ritt der Golgarit weiter und gab der Kuh, die vor ihm den Pfad entlang trottete, einen Klaps mit dem Rabenschnabel.
„Du hattest deinen Spaß. Hör zu, wir können über alles reden. Ich kleb´ wirklich nicht auf dem Baronsthron. Gib mir Ismena und den Junkertitel von Gießenborn, und ich bin zufrieden.“
Der Baronieerbe zügelte das Pferd. Halb erheitert, halb ungläubig drehte sich um.
„Denkst du eigentlich immer nur an dich?“
„Wenn es so wäre: Hätte ich dich dann vom Schlachtfeld gerettet?“
„Ja, um bei erstbester Gelegenheit auf mich loszugehen.“
„Du hast doch erst mit dem Schwertkampf ernst gemacht.“
„Ich wollte dir eine Lektion erteilen. Wie schon damals, auf Burg Friedstein . . .
„Eine Lektion erteilen? Erschlagen wolltest du mich, wie einen Hund.“
„Und du warst es, der mich vergiftet und diesen Mücken zum Fraß vorgeworfen hat.“
„Du hast mir gar keine andere Wahl gelassen! Ich hätte dich umbringen können – und habe es nicht getan. Vielleicht war das ein Fehler.“
„Meine Geduld mit dir ist erschöpft, Francesco. Du wirst deiner gerechten Strafe nicht entkommen.“
„Wir sind Brüder, Alrik!“
„Bei meiner Treu: Das sind wir nicht. Auch wenn wir uns durch eine Laune von Mutter Tsa ziemlich ähnlich sehen. Leider ....“
„Wenn ich es doch sage: Wir wurden in Brabak gleich nach der Geburt getrennt und . . .“
„O, ihr guten Götter. Die Geschichte mit den Zwillingen, oder waren es Drillinge, hat er also auch irgendwo aufgeschnappt. Wunderbar, da kann man gleich eine neue Lügengeschichte draus stricken, nicht wahr?“
Alrik schüttelte den Kopf. „Weißt du, was dein Problem ist, Francesco: Du hast es nie verstanden, ein eigenes Leben zu führen. Immer schmarotzt du am Leben von anderen – ein Halunke aus der Brabaker Gosse. “
Der Ritter drehte sich wieder um und gab dem Pferd Schenkelddruck.
Der Mondschatten verzog das Gesicht, als der Strick beim Anziehen schmerzhaft in seine Handgelenke schnitt. Auch die Wunde an seiner Seite brannte niederhöllisch. Erneut zerrte er an der Fesselung und stolperte weiter. Der Knoten war gut, das musste man den Soldaten lassen. Wenn er wenigstens noch irgendein Messerchen versteckt bei sich getragen hätte. Er fühlte sich hilflos.
„Ja, und gerade hänge ich mich an dich ran, oder was? Mach mal ein bisschen langsam.“
Zum hundersten Mal stolperte Francesco über eine Wurzel, während ihm ein Zweig ins Gesicht schlug. Das hier war der reinste Spießrutenlauf, und vermutlich genau als solcher gedacht.
„Ich schwöre bei den Göttern, wir sind Zwillingsbrüder. Dafür gibt es Beweise. Außerdem waren es damals vier Kinder. Du lebendig, ich scheinbar tot, unsere Geschwister sind unmittelbar nach der Geburt gestorben. Ich bin dann in Brabak bei Pflegeeltern aufgewachsen und . . .“
„Lügen, nichts als Lügen. Kein Mitglied des Hauses Friedwang würde sich in einen ehrlosen Dieb verwandeln, und wäre er sich seiner Abstammung auch nicht mehr bewusst. Etwas derart Gemeines und Niedriges ist unserem Blut einfach nicht möglich.“
„Oh verzeiht, Euer Hochgeboren. Meine Erziehung war leider nicht ganz so erstklassig wie die meines vortrefflichen Herrn Bruders. Meine Knappschaft habe ich leider zwischen Ratten, streunenden Hunden und Abfallhaufen verbringen müssen. Aber wie du siehst, hat sich bei mir das edle Blut am Ende doch noch durchgesetzt.“ Francesco grinste frech. „Ist dir damals eigentlich nie aufgefallen, dass mir ein Stück meines rechten Ohrs fehlt – wie dir? Hast du dir gar nichts dabei gedacht?“
„Doch. Dem Sklaven ein Stück Ohr abzuschneiden ist in Al´Anfa die übliche Bestrafung für einen Fluchtversuch. Wenn der Entlaufene nicht sehr weit gekommen ist . . .“
„Sieh genau hin: Ist das etwa eine Verstümmelung?“
„Du hast dir damals auch nichts dabei gedacht, dass mir ein Stück Ohr fehlt . . .“
Der Golgarit wich einem weit herunterhängenden Ast aus. „Man könnte meinen, du glaubst diese Fabel vom verschollenen Zwillingsbruder wirklich. Fast scheint es, als würde dir dein Doppelspiel langsam aber sicher den Verstand rauben. Verständlicherweise. Es ist sicher nicht einfach, auf Dauer in die Rolle eines Fremden zu schlüpfen. Natürlich, das ist die Lösung: Du bist völlig verrückt!“
„Hör zu . . . “
„Nein, ich habe dir schon viel zu lange zugehört, du Hund. Das Maul sollte ich dir stopfen, wie du es damals mit mir getan hast. Ich werde dich nach Hohenstein bringen, mag dort die Fürstin über dich richten.“
„Das ist nicht . . ..“
„Sei endlich still!“
„Wie soll ich dich sonst davon abhalten, eine Dummheit ....“
Alriks Hände krampften sich um den Zügel und rissen dem Pferd am Maul, so dass dieses ungehalten aufschnaubte. Dann gab er ihm die Sporen. Der Warunker preschte den schmalen Waldweg entlang. Francesco wurde umgerissen und auf dem Rücken mitgeschleift. Fluchend und schreiend versuchte er sich mit den Beinen zu schützen, während er gegen die Baumstämme schlug und ihm abgebrochene Äste oder Farnzweige ins Gesicht peitschten.
Erschrocken war auch die Kuh losgetrampelt. Brüllend versuchte sie ihrem Verfolger zu entkommen. Mit einem Satz sprang sie ins Gebüsch.
Zu Alriks Bedauern war der Pfad zu schmal und uneben, als dass sein unerfahrenes Pferd den Galopp lange hätte durchhalten können. Also ließ er es wieder in Trab fallen, bevor er kurz anhielt. Stöhnend rappelte sich der Gefangene auf, das Gesicht schmutzig und zerschrammt.
„Verfluchter Saukerl!“
Der Mondschatten wollte auf Alrik losstürzen, knickte aber ein und hatte Mühe sich wieder aufzurappeln. Humpelnd setzte Francesco seinen Weg fort, einige Schmutzkrümel ausspuckend.
Mit steifem Rücken und zufriedenem Gesichtsausdruck saß der Baronssohn im Sattel. Sein Schatten wanderte in der Nachmittagssonne über die Bäume und das Unterholz – besser gesagt eine Art Flimmern, mehr Rauch oder Nebel als die Silhouette eines Menschen.
„Also gut, wenn du nicht über mich sprechen willst, reden wir eben über dich!“ versuchte es der Streuner von neuem. „Ist dir eigentlich schon einmal aufgefallen, dass du keinen Schatten mehr wirfst? Jedenfalls keinen besonders praiosgefälligen, will mir scheinen.“
Lauernd zog der Streuner die Augenbrauen zusammen. „Du hast deine Seele damals im Dschungel von Al´Anfa verloren, nicht wahr? Benimmst du dich deswegen wie ein Arschloch?“
Alrik lachte freudlos auf: „Kümmere dich gefälligst um dein eigenes Seelenheil, Pferdedieb!“
„Was glaubst du eigentlich, warum ich dem Weibel das Pferd ge...äh, abgenommen habe? Ganz bestimmt nicht, um es an den Meistbietenden zu verscherbeln. Sondern um ein Amulett des Namenlosen in Sicherheit zu bringen, das ich von einem seiner Geweihten erbeutet habe. Ach ja, diese Ratte Merwan herrscht übrigens gerade über deine Baronie. Jetzt ist der phexverfluchte Blutsauger nicht mehr ganz so mächtig wie noch vor ein paar Wochen. Willst du mich etwa dafür hängen sehen?“
„Ich möchte wetten, dass du dir auch diese Geschichte gerade eben ausgedacht hast. Gut, dann wird mir auf dem Ritt wenigstens nicht langweilig. Wie, sagtest du, heißt der Geweihte?“
„Merwan. Merwan von Schratenwald . . .“
„Der Purpurne Baron ? Der ist mausetot und das schon seit vielen Jahrhunderten. Langsam glaube ich wirklich, dass du ein Fall für die Noioniten bist. Dieser Kinderschreck als Herrscher über Friedwang? Das kannst du deiner Großmutter erzählen ... Oh Verzeihung: unserer Großmutter!“
Alrik lachte über seinen Scherz und blickte selbstzufrieden in die Nachmittagssonne.
„Deine Igoranz und Hochmut kennen keine Grenzen, oder? Statt dass wir zusammenhalten und beraten, wie es weitergehen soll, zerrst du mich hier durch den Wald wie einen Schwerverbrecher. Hör endlich auf mit deinen Baronsallüren und bind´ mich los!“
„Damit du wieder versuchst, mich zu hintergehen? Nein danke! Auf dem Hof war ich beinahe geneigt, dir zu vergeben. Aber selbst der tsalinde Alrik lernt dazu. Wenn nicht gleich, dann doch ganz gewiss beim zweiten Mal.“
„Ich habe einen Fehler begangen, das ist wahr. Vielleicht mehr als einen. Wir beide haben . . .“
Das Leder des Sattels knarrte, als Alrik seinen Körper abrupt herum ruckte. „Selbst wenn du einmal mein Bruder gewesen sein solltest - es würde nichts ändern, verstehst du? Im Gegenteil. Ein Baronssohn, der das Leben eines ehrlosen Verbrechers führt, ist schlimmer als jeder Hochstapler.“
„Wir sind Brüder. Sogar Zwillinge. Zählt das in deinen Augen denn gar nichts?“
„Auch Rohal und Borbarad waren Zwillinge. Ebenso Rohaja und Yppolita, die Verbannte. Selbst die Zwölfgötter und der Namenlose sind von gleichem Blut. Haben sie ihn deswegen geschont, als er Verrat an Alveran verging? Nein, sie haben den Abtrünnigen in die Sternenbresche gekettet, wo er nun entsetzliche Strafen erleidet. Sieh dich doch an: Du bist ein Rebell gegen die göttergefällige Ordnung, ein Angehöriger des Pöbels, der nach der Macht strebt. Wenn du wirklich mein Bruder sein solltest, was ich nicht glaube: Dann wäre es wahrlich besser gewesen, du wärst gleich nach der Geburt gestorben!“
„Du verdammtes, selbstgefälliges Arschloch . . .!“
Mit gefesselten Händen stürzte sich Francesco auf Alrik, um ihn aus dem Sattel zu reißen. Das Pferd wich schnaubend zur Seite aus, wobei es den Angreifer in die Kniee riss. Der Golgarit hob den Rabenschnabel und hieb zu. Instinktiv drehte sich Francesco zur Seite. Schmerzhaft drang das Metall zwischen seine Schulterblätter. Auch wenn Alrik nur mit der Seitenfläche zugeschlagen hatte, blieb dem Streuner für einige Augenblicke die Luft weg. Keuchend und japsend sank er in den Schlamm. Ein derber Tritt ließ ihn vornüber sinken.
Dann wurde er wieder hochgerissen. Dumpf stampften die Hufe über den Waldboden, als der Warunker zur Seite tänzelte. Der Geruch nach warmem Pferdefell drang an seine Nase.
Sternchen tanzten vor den Augen des Brabakers. Hoch über ihm schwebte das blasse Gesicht des Adeligen, herrisch und eitel. Alrik sammelte Spucke in seinem Mund, dann schluckte er sie wieder hinunter. Offensichtlich war er zu dem Entschluss gekommen, dass es unritterlich wäre, ihn zu bespeien. Diese Zuschaustellung einer besseren Erziehung traf Francesco beinahe härter als der Rabenschnabel. Er fühlte sich schmutzig, verschlagen und gemein. Vermutlich hatte Alrik mit seiner Verachtung ihm gegenüber sogar Recht.
„Steh jetzt auf, Fran. Bis nach Hohenstein ist es noch ein weiter Weg.“
Müde und zerschlagen wankte Francesco seinem Bewacher hinterher. Er wusste gar nicht, auf welches Gefühl er zuerst achten sollte: Den noch immer gleißenden Schmerz in seinem Rücken, auf den klaffenden, sengenden Schnitt in seiner Seite oder seinen knurrenden Magen. Früher, ja, früher, da hatte er sich oft so gefühlt, wie ein getretener Straßenköter. Die Jahre in Friedwang hatten ihn halt doch verwöhnt. Das Ganze hier war eine Reise in die Vergangenheit - in eine Zeit voller Schmerz, Entbehrung und Düsternis.
Welcher Gehörnte hatte ihn aber auch geritten, diesen Gaul zu stehlen? Natürlich hatte er mit der verfluchten Schwarzen Sonne im Gepäck so schnell wie möglich nach Rommilys, in den dortigen Phextempel gelangen wollen. Aber das Ganze war ihm wider besseres Wissen auch wie ein einziger großer Spaß vorgekommen. Das Chaos und die Anarchie im Reich waren erschütternd, aber zumindest ein ehemaliger Gassenstrolch wie er wusste die Vorteile darin zu sehen. Man hatte eben gewisse Freiheiten, oder schien sie zu haben . . .
Dennoch, er war leichtsinnig geworden. Hatte sich vom scheinbaren Untergang jeder Ordnung verführen lassen. Dass er nun wie ein Kettensträfling seinem aristokratischen Bruder hinterher taumeln musste, zeigte schon, dass die Grundfesten von Dere und Alveran vielleicht angeschlagen sein mochten, aber immer noch standen. Als Baron des Mittelreich, der er ja trotz allem irgendwie – gewesen? – war, hatte dieser Gedanke fast schon wieder etwas Beruhigendes an sich. Francesco grinste in sich hinein. Wenn Burschen wie ich in so einer Lage noch zum Galgen geschleppt werden können, wird es wohl nicht so schlimm aussehen mit der Miseria Darpatia.
Alrik zügelte abrupt sein Pferd und hob die Hand. „Schscht.“
„Ich habe doch gar nichts . . .“
„Sei still!“
Alrik lauschte. Tatsächlich war aus der Ferne eine Abfolge schriller Rufe zu hören – aus der ungefähren Richtung, die auch die darpatische Patrouille nach ihrem Aufbruch vom Hof eingeschlagen hatte. Oder spielten ihm seine überreizten Sinne einen Streich? Die Geräusche im Wald klangen nicht wie Kampflärm, eher nach Schmerzensschreien – oder nackter, panischer Todesangst.
Der Baronssohn erschauerte.
„Hörst du nicht?“
„Ich ... nein.“
Der Lärm ebbte ebenso plötzlich ab, wie er aufgebrandet war.
„Da war doch eben was.“
„Ja, irgendwelche Vögel vielleicht.“
„Wir sollten machen, dass wir weiterkommen.“ Alrik ließ die Zügel wieder hängen, und schnalzte mit der Zunge. Das Pferd zockelte weiter.
Die jähe Erinnerung an die Gefahren dieser Reise machte den Baronierben schweigsam. Fast schon wirkte er eingeschüchtert. Francesco, der dies merkte, bekam wieder Mut.
„Du willst doch nicht wirklich nach Hohenstein?“ fragte er in die entstandene Stille hinein. „Wie heißt es so schön? Gehe nicht zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst!“
Alrik antwortete nicht, also fuhr er fort: „Streng doch mal deinen Verstand an. Offiziell bin ich – bist du, ist Baron Alrik Tsalind von Friedwang – in der Schlacht verschollen. Ich bin der böse Pferdedieb und werde gehängt. Der Gerechtigkeit ist damit Genüge getan. Schön. Bliebe nur noch ein merkwürdiger Fremder ohne Schatten, der nicht mal beweisen kann, dass er zum Orden des Heiligen Golgari gehört. Wenn der in dem ganzen Wirrwarr auch noch verschwände, ohne Zeugen, ohne Spuren und Geschrei, was glaubst du wohl, aus welcher Familie der nächste Baron von Friedwang stammen wird?“
Francesco stolperte über eine Wurzel und rappelte sich wieder auf. „He, mach mal ein bisschen langsamer, ich habe schon Seitenstechen. Hast du nicht selbst gesagt, dass Irmegunde nur zu gerne die Baronie in den Klauen eines Rabenmunds sehen möchte? Wann wäre die Gelegenheit dazu günstiger als jetzt?“
Alrik schnaubte entrüstet auf (oder war es das Pferd?).
„Dass du Ihrer Fürstlichen Durchlaucht ein solches Schurkenstück zutraust, zeigt nur deine eigene niedere Denkart.“
„Die Fürstin braucht davon ja nichts mitbekommen. Solch hohe Herrschaften schätzen es sogar, wenn sie sich für ihren Erfolg nicht selbst die Hände schmutzig machen müssen.“
Francesco vertrieb mit den gefesselten Händen eine Bremse, die ein blutiger Kratzer in seinem Gesicht angelockt hatte und patschte in eine schlammige Pfütze.
„Ob du das Recht auf deiner Seite hast oder nicht, was spielt das noch für eine Rolle? Das Rad der Zeit hat sich weiter gedreht, Bruderherz. Es gibt keinen Kaiser, keine Rohaja und auch keinen Grafen von Wehrheim mehr – niemanden, bei dem du dich beschweren könntest. Die alte Ordnung ist den Darpat hinuntergeschwommen wie so mancher der Erschlagenen von Rommilys.“
Als für einige Herzschläge die Sonne durch die Bäume schien, hob Alrik schützend die Hand vor das vornehm blasse Gesicht.
„Was schwatzt du da?“
„Ganz einfach. Alles beginnt sich aufzulösen. Das Reich verbrennt wie in einem gewaltigen Feuer. Was zählt da noch ein einzelner Baron? Wenn es so weiter geht, dürfte bald überall das blanke Faustrecht herrschen.“
„In Friedwang herrscht schon lange das Gesetz des Pöbels . . . und zwar genau seitdem du dich dort als Baron aufspielst.“
Alrik ruckte am Strick, so dass Francesco nach vorne stolperte.
Plötzliche Wut glimmte in dem Gefangenen auf. Er war es Leid, sich widerstandslos herumstoßen, schlagen und beleidigen zu lassen.
Er war nicht irgendjemand.
Sondern ein Phexgeweihter. Außerdem wie Alrik ein geborener Friedwang. Schon der Jähzorn, der in seinem Kopf zu toben begann, bewies es.
Francesco fasste das Seil kürzer. Als sein Bruder unwirsch daran zerrrte, kam es zwischen ihnen zu einer Art Tauziehen.
„Du verdammter sturer friedwanger Steinbockschädel! Bleib stehen, oder . . .!“
Schließlich wurde es auch Alrik zu bunt. Er trieb sein Pferd erneut an, und verfiel erst in schnellen Trab, dann in Galopp.
Francesco wurde umgerissen. Er hätte später nicht sagen können, dass das, was nun geschah, einem Plan entsprang.
Die Schlinge im Strick, die sich in Francescos gefesselten Händen gebildet hatte, verhakte sich in einem abgebrochenen Fichtenstamm, der seitlich in den Weg hinein ragte. Dieser verkeilte sich rumpelnd zwischen anderen Baumstämmen.
Der Warunker wurde aus vollem Galopp zurückgerissen und stieg in die Höhe. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde er mitsamt Reiter, zumindest aber dieser selbst zu Boden stürzen. Mit Müh und Not gelang es Alrik, sich noch im Sattel zu halten. Wäre Francesco nicht selbst unsanft im Dickicht gelandet, er hätte ihn für diese reiterische Meisterleistung bewundert.
Dann riss der mürbe Sattelgurt unter der Belastung.
Alrik stürzte ins Bodenlose.
Er blinzelte. Eine einzelne, vertrocknete Fichtennadel rutschte ihm von der rechten Wimper ins Auge. Verschwommen ragten Baumwipfel über ihm auf, rauschten, überlagerten sich, wichen wieder auseinander.
War er bewusstlos gewesen? Wenn ja, dann für nicht sehr lange.
Irgendwo trommelten Pferdehufe, die sich rasch entfernten.
Vermutlich war es das Pferd, das gerade durchging.
Seit den Tagen seiner Kindheit hatte es immer etwas Demütigendes an sich, zu fallen: Das dumpfe Dröhnen im Kopf, die aufgescheuerten, brennenden Hände, der mit Übelkeit verbundene Schreck und die schmerzende Erschütterung in den Knochen – all das verkündete hämisch eine Niederlage. Seine Niederlage.
Er drehte sich ächzend auf die Seite. Das Kettenhemd klirrte. Irgendwo bohrte sich ein zerhacktes Kettenglied unangenehm in sein Fleisch. Gegen das Gewicht der Rüstung ankämpfend, das ihn wieder nach unten ziehen wollte, brachte er seinen Oberkörper in eine aufrechte Position. Ächzend und mit ruckenden Bewegungen lehnte er sich gegen einen moosbedeckten, schwammüberwucherten Baumstumpf, den sein Kopf nur knapp verfehlt hatte.
Unscharf wie das Bild einer Laterna Magica stand Francesco vor ihm, der sich gerade einen aufgescheuerten Strick vom Handgelenk streifte und ein paar Fasern Hanf ausspuckte. Alrik tastete nach der Beule an seinem Hinterkopf. Er musste genau auf die Stelle gefallen sein, wo in der Schlacht schon einmal etwas seinen Helm getroffen hatte. Den Göttern sei Dank, diesmal war nichts gebrochen. Auch seine notdürftig verbundene Armwunde blutete nur schwach durch.
Erst jetzt sah er den Rabenschnabel in Francescos Händen und erstarrte. Der Golgarit wusste zu gut, wie ein Mann aussah, der kurz davor stand, mit tödlicher Wucht zu zu schlagen. Der Streuner schien ernsthaft mit dem Gedanken an Vergeltung zu spielen.
Bevor Alrik entschieden hatte, was er unternehmen würde, wirbelte Francesco locker die Waffe um das Handgelenk und reichte sie Alrik, mit dem Schaftende voran.
„Sei froh, dass wir beide die gleiche Mutter hatten. Hier! Ich würde damit doch nur wieder unschuldige Reisende auf der Reichsstraße überfallen und ihnen die Pferde stehlen.“
Mit dem verständnislosen Blick eines Zuschauers, den ein Scharlatan für irgendeinen schwer durchschaubaren Trick auf die Bühne geholt hatte, schloss der Golgarit die Faust um die Waffe. Der Hochstapler hätte ihn leicht töten können, aber er hatte es nicht getan.
„Was willst du eigentlich? Mir die Rolle des Bösewichts zuschieben?“
Alrik spürte neuen Zorn in sich hochkochen. Gnade und Milde zu gewähren waren ein Vorrecht des Adels, sie durch einen niederträchtigen Gemeinen zu erhalten, hatte etwas Schimpfliches an sich. Francesco trieb mit ihm seinen Spott, anders konnte er sich sein Verhalten nicht erklären.
So musste es sein. Dieser verrückte Streuner nahm ihn nicht mehr ernst – nicht einmal bewaffnet. Stattdessen genoss der Schurke es, einen Höherrangigen vor sich im Kot der Straße liegen zu sehen. Es fehlte nicht viel, und die erste Träne der Wut wäre ihm über das verschmutzte Gesicht gelaufen. Konnte man als Baronssohn überhaupt noch tiefer sinken als er, Alrik Tsalind Halreto von Friedwang-Glimmerdieck?
Er tastete nach seiner Feldflasche, nahm einen Schluck und goss sich einen Schwall Wasser über den Kopf. Ein Bett, ein Königreich für ein Bett, mit einer weichen Matraze, einem sauberen Kissen und einer weichen Daunendecke. Schlafen, er wollte nur noch schlafen.
Einerseits. Andererseits wusste er, dass er so schnell keinen Tiefschlaf finden würde. Stattdessen verspürte er in sich eine merkwürdige Unrast. Am liebsten wäre er in mehrere Richtungen zugleich aufgebrochen, nach Hohenstein, gen Friedwang, zu den Überresten des Golgaritenordens, die er irgendwo bei Wehrheim vermutete und der trotz allem sein Orden war.
Francesco liess sich auf auf der anderen Seite des Weges nieder. Der Streuner massierte sich die wunden Gelenke. Sah so aus, als würde gerade eine Rast gewünscht . . . Er schob sich den herumliegenden Sattel als Lehne in den Rücken und kramte die tönerne Pfeife hervor. Glücklicherweise war sie nicht zerbrochen, nur ein Stück vom Kopf abgesplittert. Er klopfte die Asche heraus und stopfte die Pfeife mit einigen Krümeln Tabak.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen musterte er Alrik, der auf der anderen Seite unruhig herum zappelte, als plage ihn bereits das Fieber. Ernsthaft verwundet schien er nicht zu sein. War sein fahriges Benehmen am Ende auf den Einfluss des rastlosen Erzfeindes der Göttin Travia zurück zu führen – ebenso sein fehlendes Gefühl für Freundschaft und Blutsbande? Als Phexgeweihter fühlte er sich einigermaßen vor dämonischen Einflüsterungen und Verlockungen gefeit, obwohl oder gerade weil er deren Macht schon erlebt hatte.
„Dein Pferd ist leider auf und davon . . . Hast du zufällig Feuerstein, Stahl und Zunder dabei?“
Beide starrten sich an, er an den Sattel gelehnt, sein Gegenüber im Schatten einer Tanne.
„Was soll das werden? Eine Friedenspfeife wie bei den Mohas? Vergiss es . . .“
Francesco hörte, wie sein Magen knurrte. Das karge Frühstück war wieder mal für den Ork gewesen.
„Ein Versöhnungsmahl würde mir für den Anfang genügen“, meinte er und schob sich die kalte Pfeife in den Mund.
Alrik zog ein paar Nüsse hervor, knackte sie mit dem Rabenschnabel. Dann begann er sie demonstrativ und sorgfältig kauend der Reihe nach zu verspeisen. Nachdem er sein karges Mahl beendet hatte, malte er mit der Spitze der Streithacke auf dem Boden herum und starrte brütend auf seine Stiefelspitzen, die mit Schlamm bespritzt waren.
So ähnlich war es auch, als wir uns damals zum ersten Mal begegnet sind, dachte Francesco. In den Sklavenbarracken des Don Timotheo in Al´Anfa. Damals waren wir auch blass, verschwitzt, fiebrig und von Moskitos zerstochen gewesen. Mit Schmutz und getrocknetem Blut bedeckt, die Haare wirr und zottelig, die Augen blutunterlaufen und von Schlafmangel glasig – zumindest Alrik sah nicht weniger schlimm aus als damals. Bei ihm selbst war es vermutlich nicht viel besser. Aber noch etwas anderes wühlte in Alrik – eine Anfälligkeit gegenüber Schlimmerem als nur Fieber.
Geh nicht zu streng mit ihm ins Gericht, ermahnte Francesco sich. Du selbst hast seiner Unrast und Rachsucht erst Tür und Tor geöffnet, wenn auch ungewollt. Als Mondschatten, der den Göttern eben doch näher ist als dein ungeweihter, vor allem uneingeweihter Bruder, solltest du dich langsam mal um sein Seelenheil kümmern. Vielleicht war jetzt der richtige Augenblick für eine kleine Besinnungspredigt . . .
„Selbst wenn wir allen Grund hätten, uns gegenseitig an die Gurgel zu gehen, derzeit haben wir wirklich andere Sorgen“, sagte Francesco mit Nachdruck in der Stimme. „Auf die Stadt des Lichts und den Kaiserpalast von Gareth ist ein Fliegender Berg gestürzt, Wehrheim wurde durch unheilige Magie von der Landkarte getilgt, Perricum soll durch eine riesige Flutwelle hinweggespült worden sein. Viele Tausend Menschen sind in den letzen Wochen einen schrecklichen Tod gestorben. Ich meine, gibt es denn nichts Schlimmers auf der Welt als das, was dir widerfahren ist?“
„Bis jetzt sind das alles nur wilde Gerüchte. Ich glaube nur, was ich mit eigenen Augen sehe.“
„Und die rauchenden Trümmer von Rommilys da hinter dem Wald – sind die auch nur wilde Gerüchte?“
Alrik knackte eine weitere Nuss mit den Zähnen.
„All diese Dinge geschehen, weil es Leute gibt, die beständig an den Grundsäulen von Dere, Feste und Alveran hämmern – Leute wie du!“
Der Baronssohn spuckte einige Nusschalen aus.
„Wer die Hand an Alrik von Friedwang zu legen wagt, ist mindestens so schlimm wie ein Schwarzer Drache oder Caius Cordovan Galotta, nicht wahr? Möge der Rübenschädel in den Niederhöllen schmoren...“
„Willst du mir jetzt auch noch Selbstsucht vorwerfen? Glaubst du, ich weiss nicht, dass ich in Friedwang mein Gesicht verloren habe, nach diesem Scharlachkappentanz, zu dem du mich gezwungen hast – mein Gesicht und meine Ehre? Zum lallenden Dorfdeppen hast du mich gemacht. In meiner eigenen Baronie!“
Alrik fuhr sich nervös mit der Hand übers Gesicht, das noch immer von Schmutzschlieren bedeckt war.
„Nun sollen wir uns also zusammenraufen, ja? So tun, als wäre eigentlich gar nichts gewesen. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, wie? Ein paar Mückenstiche und etwas Todesangst im Grab, was ist schon dabei? Natürlich, für dich und deinesgleichen herrscht in der Welt allein der Nutzen. Derartige Katastrophen haben für Händler oder Diebe ja auch ihre Vorzüge: Die Preise steigen und man kann ungestraft andere Menschen bestehlen. Bei meiner Treu, für mich zählen allein Recht, Ehre, Ordnung und Gerechtigkeit. So bin ich erzogen worden, Francesco. Gerechtigkeit muss geschehen, sollte auch die Welt darüber zugrunde gehen.“
„Wer hat das gesagt? Fran-Horas? Oder Hela? Nein, lass mich raten: Borbarad.“
Francesco lachte auf und hielt sich die schmerzende Seite: „Geht es dir wirklich um Gerechtigkeit? Oder nicht vielmehr um Rache? Langsam kann ich verstehen, dass dich die Soldaten für einen Schwarzen Reiter gehalten haben. Man könnte dich wirklich leicht mit einem der halbverrückten Schergen Galottas verwechseln. Von wegen Scharlachkappentanz . . . Bis jetzt hast du mir nur erzählst, was du glaubst, was andere Leute von dir erwarten: dein Stand, deine Familie, deine Ahnen. Warum tust du zur Abwechslung nicht einfach einmal das, was du möchtest – was du wirklich möchtest?“
Alriks sauertöpfischer Gesichtsausdruck und sein verbohrtes Schweigen bewiesen Francesco, dass er mit seiner Frage dem Kern des Problems ziemlich nahe gekommen war.
Er wollte bereits nachsetzen, als ihn ein jäher Schmerz innehalten und leise aufstöhnen ließ.
Erst jetzt sah er, dass seine Wunde wieder durchnässte. Vermutlich war der „Kratzer“ doch schlimmer, als er gedacht hatte. . .
„Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum du in der Rüstung eines Golgariten herumläufst. Eigentlich hast du mir überhaupt noch nicht erzählt, was mit dir seit . . . seit unserer letzten Begegnung geschehen ist.“
„Wo ich war? Ich habe das letzte halbe Jahr in Boronia verbracht“.
„An der Trollpforte?“
„Nein, das andere Boronia. Ein Kloster in den Bergen von Rammholz, gar nicht weit von der Friedwanger Grenze entfernt. Aber ziemlich abgelegen . . .“
„Und dort hast du dann die niederen Weihen empfangen?“
„Sozusagen. Das ist eine längere Geschichte.“
„So so, in diesem Rabennest hast du dich also verkrochen. Wer hätte das gedacht? Nun ja, der Weg aus einem Grab führt einem immer zu Boron ...“
Francesco spürte ein Frösteln sowie plötzlichen Schwindel. Die Erschöpfung, der Hunger und der Blutverlust machten sich langsam bemerkbar. Er fühlte sich matt und sterbenselend. Fast hatte er das Gefühl, als würde schon allein die Nennnung von Borons Namen den Gott des Todes an seine Seite rufen.
Hastig verwedelte er mit der Hand die Worte vor dem Mund, bevor sie nach Alveran aufsteigen konnten.
Jetzt wurde ihm wirklich schlecht.
„Könnte ich vielleicht etwas Wasser haben?“
Alrik zögerte.
„Bitte . . .! Oder stört das deinen Rachefeldzug?“
„Es geht mir hier nicht um Rache!“ sagte Alrik, während er die Feldflasche hinüberreichte. „Sondern allein um Praios Gerechtigkeit.“
Francesco lachte lautlos, bevor er gierig trank.
„Wenn ich hier am Straßenrand, was sage ich, in der Wildnis verrrecke, ist dann Praios Gerechtigkeit auch Genüge getan?“
„Gib her. Das reicht. Und hör auf, ständig den Zwölfen zu lästern!“
Alrik riss ihm die Wasserflasche aus der Hand und wischte mit dem Handrücken über die Öffnung.
„Ich meine es ernst. Dein Schwert ging ganz schön tief. Wenn du mich unbedingt hängen sehen willst, musst du mich schon bis Hohenstein am Leben erhalten . . .“
Alrik nahm die Hirtentasche von der Schulter, zog eine Rolle Leinen hervor und warf sie Francesco zu.
„Es ist die letzte, also sei sparsam damit. Danach ist Schluß mit dem Gejammer, ich kann winselnde Schurken nicht ausstehen.“
Der Phexgeweihte riss den Schlitz in seinem Gambeson weiter ein. Blut suppte über seine Hände. Die Wunde musste aufgebrochen sein, als ihn sein Bruder durch den Wald geschleift hatte.
Er riss mit den Zähnen ein Stück Stoff ab, legte es zusammen und presste es auf den klaffenden Schnitt. Der Ballen lief voll wie ein Stück Schwamm. Mit dem Rest umwickelte er seinen Unterleib. Es reichte gerade so, um sich einzuschnüren, was ziemlich schmerzhaft war. Immerhin würde es helfen, die Blutung zum Stillstand zu bringen.
„Trotzdem herzlichen Dank!“
Francesco verknotete die Enden.
„Hast du auch noch was vom Branntwein?“
„Branntwein ist alle . . .“
„Schade . . . Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja. Deine fehlenden Erinnerungen, was ist mit denen?“
Das Wasser gluckerte in der Feldflasche, als Alrik einen tiefen Schluck nahm.
„Eigentlich solltest du dich an nichts mehr erinnern können“, hakte der Phexgeweihte nach.
„Das würde dir so passen. Dein Plan war gar nicht so dumm, hatte aber einen Haken: Ein paar Dutzend Borbaradmoskitos reichen nicht aus, um einen erwachsenen Mann um den Verstand zu bringen. Außerdem waren die meisten Moskitos in der Grube schon verhungert. Hast deine Haustierchen schlecht gefüttert, Francesco.“
„Aber ich sehe dich noch vor mir, krabbelnd, lallend und sich selbst benässend . . . `tschuldigung, so war es doch, oder?“
„Schön, dass zur Abwechslung einmal ich es geschafft habe, dich zu foppen. Vor die Wahl gestellt, gemeuchelt zu werden oder den Narren zu spielen – was blieb mir da schon anderes übrig?“
„Erzähl mir nicht, dass das alles nur gespielt war?!“
„Sagen wir, Merle hat mir dabei geholfen...“
„Merle?“
„Halt die Menschen nicht für dümmer, als sie sind. Ja, ich habe Serwas Amme alles erzählt . . . Sie hat mir ein paar getrocknete Beeren gegeben. Hat mir gesagt, es würde mir dabei helfen, dich zu täuschen.“
„Was denn für Beeren?“
„So blaugraue, verschrumpelte Beerchen. Was weiß ich. Kräuterzeugs halt.“
„Geht´s genauer? Wie sah das `Kräuterzeugs´ aus?“.
„Beeren. Jeweils zwei an einem Stiel, der am Ende aufgegabelt war. Sahen aus wie kleine Kirschen.“
„Ach du liebe Güte.“ Francesco grinste schief. „Das wird dann wohl Ogerschelle gewesen sein, in Friedwang auch als Narrenkirsche bekannt. Wie heißt es so schön: Eine macht nur dumm, zweie hauen dich um. Das meiste Gift steckt angeblich in den Kernen. Früher haben die Sokramorier es Leuten verabreicht, die sie in aller Öffentlichkeit bloßstellen wollten. Heute werfen die jungen Leute eine Beere ein und tanzen dann die ganze Nacht wild zuckend ums Lagerfeuer. Oder huldigen mit verdrehten Augen dem Widdergehörnten . . .“
Der Streuner stöhnte und hielt sich die Seite. Nach einigen Augenblicken schien der Schmerz wieder erträglich zu sein.
„Aber selbst diese Narren spucken die Kerne vorher aus. Wie viel hast du davon gegessen?“
„Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern. Nur dass sie sehr fleischig waren und süß schmeckten – fast schon unangenehm süß, aber auch ein wenig bitter und ranzig. Viele habe davon ich nicht heruntergebracht.“
„Wie viele?“
„Weiß nicht. Eine Handvoll vielleicht.“
„Ei ...eine Handvoll gleich??? Mannomann, dieses unschuldige Kuhgesicht von Zofe hat es aber faustdick hinter den Ohren. Da hätte sie dich dann aber auch gleich Borbaradmoskitos vorwerfen können. Erstaunlich, dass du so wenig Folgeschäden davongetragen hast . . .“
„Leute . . . blossgestellt . . . . Sokramorier?“ sagte Alrik geistesabwesend. „Das könnte hinkommen. Ja, ich glaube, genau deswegen hat mir diese miese kleine Hexe das Zeug verabreicht. Sie wollte mich als Baron unmöglich machen - damit ihr Pflegekind, dein Bastard mit Ismena, der nächste Herr von Friedwang wird. Das Zeug war schlimmer als Bingelbeeren. Bei meiner Treu, die Narrenkirschen haben mir das Innerste nach außen gekehrt, unten, oben, vorne und hinten. Alles hat das Weibstück nachher im Dorf ausgetratscht, jede Einzelheit meiner Schmach!“
Erneut nahm der Baronssohn einen Schluck und lachte freudlos in sich hinein. „Tja, einen Edelmann, der sich selbst benässt und in die Hosen scheißt, wer nimmt den noch ernst? Der sich von seiner eigenen Burg in den Traviatempel abschieben lässt wie ein Landstreicher oder Dorfdepp? Ich glaube, dass die meisten sehr wohl wussten, was gespielt wird - der Schwarzsichler Adel, das Gesinde, die Leute im Dorf, selbst Parinor Rukus von Oppstein. Sie alle haben mich verraten. Durch ihr Schweigen haben sich mich verraten. Es war wie eine einzige große Verschwörung. Sie müssen von Anfang an geahnt haben, dass mit dir nicht der richtige Alrik auf dem Thron sitzt. Und sie haben es gebilligt – nicht mit Worten oder Taten, sondern durch ihr Nichtstun und Schweigen. So lässt sich auch an den Grundfesten von Dere und Alveran hämmern.“
Mit stierem Blick schlug Alrik die Breitseite des Rabenschnabels gegen seine Stiefelspitze, immer und immer wieder.
„Ich hätte jede Behandlung verstanden, ein Dahinvegetieren im untersten Kerker der Burg, Gift im Becher oder einen heimtückischen Dolch in den Rücken. Aber nicht dieses . . . Ausgesperrtsein! Dieses Dasein als Geächteter - in der Heimat, auf eigenem Grund und Boden. Ein Leben als Bettler, der auf die Mildtätigkeit der Traviageweihten angewiesen ist. Nicht einmal fliehen konnte ich – wie auch, ohne einen einzigen Heller in der Tasche?“
Der Baronssohn starrte immer tiefer ins Leere. „Wenn die Wilden des Regenwaldes einen der Ihren aus dem Stamm verstossen, wird diese Person von diesem Tag an einfach nicht mehr wahrgenommen. Es ist, als sei er Luft, als hätte es ihn nie gegeben. In Vinsalt würde man `gesellschaftlich erledigt´ dazu sagen. Gütige Travia, als ich begriff, dass mir in Friedwang, meinem Friedwang, das Gleiche widerfahren war, muss ich wirklich für eine Weile den Verstand verloren haben. Sei´s drum, schon meine Mutter war für sie alle ja die irre Tsalinde.“
Alrik unterbrach seinen Redeschwall und ballte in jähem Zorn die Faust. Seine Augen begannen feucht zu glänzen. Dann rollte ihm eine einzelne Träne über das Gesicht und zog dort eine weiße Furche in den Schmutz.
„Ich hasse Friedwang, hörst du? Ja, ich hasse euch alle miteinander – dich und diese schamlose Baronie, die erst feige vor dem Schurken Gernot gekrochen ist und dann mit einem dahergelaufenen Betrüger paktiert hat. Am liebsten würde ich euch alle an den Galgen bringen . . . Ich hoffe nur, dass sie jetzt leiden, unter deinem Merwan oder wem auch immer. O gütiger Herr Praios, sie haben ein Strafgericht verdient . . .“
Das Gesicht des Baronssohns begann zu zucken, dann besann er sich, wo er war. Langsam ging sein Atem wieder ruhiger.
„Aber was ändert das schon? Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Für dich“, Alrik wies unbestimmt um sich „mag deine Welt erst jetzt untergegangen sein. Meine gibt es schon lange nicht mehr. So, und nun lach über mich, oder nenn mich einen selbstmitleidigen Jammerlappen, es ist mir gleich.“
„Könnte ich vielleicht ein paar von deinen Nüssen haben?“ ächzte Francesco. Was hätte er für das bloße Gefühl gegeben, seinen nagenden Hunger stillen zu können.
Alrik sah ihn merkwürdig an. Dann warf er ihm mit verächtlichem Schnauben ein paar Nüsse zu, als wolle er ein Äffchen füttern. Einen Augenblick lang kämpfte Francescos Stolz mit dem jämmerlich flauen Gefühl in seinem Magen.
Es hilft alles nichts. In Brabak hast du dich schon um erbärmlichere Nahrung gebalgt.
Seufzend klaubte Francesco seine Beute aus dem Schlamm und versuchte den Schmutz abzuwischen.
Du bist jetzt kein Baron mehr. Nimm, was du noch kriegen kannst.
„Das hast du doch nicht wirklich vor, das mit Hohenstein, meine ich? Lass uns die Sache mit Anstand zu Ende bringen. Irgendwie werden wir uns schon einig werden, od ...“
Eine plötzliche Bewegung ließ ihn nach oben blicken. Mit irrsinniger Geschwindigkeit raste eine gepanzerte Faust auf sein Gesicht und den dazugehörigen Unterkiefer zu – schmerzhaft und sehr, sehr hart. Francescos Kopf flog ruckartig zurück.
„Das sind die einzigen Nüsse, die du von mir bekommst“, brüllte Alrik jähzornig, fast jedes Wort von einem weiteren Hieb begleitet. Francescos Kopf taumelte umher, schließlich fiel sein ganzer Körper wie ein nasser Sack auf den Boden.
Der Friedwang trat dem Reglosen in die Seite, massierte die schmerzenden Handknöchel und hob das Seil auf.
„Hast du es immer noch nicht verstanden, Fran?“ Alrik band dem Ohnmächtigen die Hände auf den Rücken, wobei er den Strick möglichst eng zuschnürte. „Ich bin Erbe der Baronie Friedwang, du ein Niemand. Das ist alles eine Frage des Prinzips.“
Als Francesco wieder erwachte, lag sein dröhnender Kopf auf dem Hals des Warunkers. Mühsam richtete er sich auf, blinzelte mit den Augen. Das Schwanken verriet, dass er ohne Sattel auf dem Pferd sass. Seine Hände waren auf den Rücken gefesselt, der Strick verlief von dort weiter zu den Füssen, die unter dem Pferdebauch zusammengebunden waren.
Vor ihm ging sein Bruder, der das Pferd am Zügel führte und dabei leicht hinkte. Von der Kuh fehlte weit und breit jede Spur.
Sie wird es mit uns Verrückten einfach nicht länger ausgehalten haben.
Mit der Zunge spürte Francesco, dass ihm einer seiner Backenzähne fehlte. Einer der hinteren, zum Glück. Blut tropfte ihm aus dem Mundwinkel und vereinigte sich am Kinn mit dem warmen, klebrigen Saft, der aus seiner Nase rann. Das Jochbein schmerzte, als wäre es gebrochen. Sein linkes Auge war offenbar zugeschwollen.
Alrik musste ihn brutal zusammengeschlagen haben. Fast schon empfand er so etwas wie Bewunderung für den arroganten Aristokraten, der endlich einmal seinen Gefühlen freien Lauf ließ. Leider auf seine Kosten . . .
„Du hin´erhäl´i´e Go´lin!“ stöhnte er mit schmerzendem Kiefer.
„Du bist wieder wach?“ Alrik drehte sich nicht einmal um. Der Pfad wand sich durch dichten Wald. Der Himmel war wieder bewölkt und düster. „Möchtest du etwas sagen? Ja?“
Francesco stieß seine Nase vorsichtig in die struppige Mähne des Pferdes, wo er sich das Blut abwischte. Phex sei Dank, das Nasenbein schien noch einigermaßen ganz zu sein. Dennoch fühlte er sich gerade wie nach einer üblen Kneipenschlägerei, bei der er eindeutig den Kürzeren gezogen hatte. Alrik war tatsächlich um einiges kräftiger als er.
Vielleicht hättest du ihm wirklich mit dem Rabenschnabel den Schädel einschlagen sollen, als noch Zeit dafür war.
„Musschte dasch sein?“ nuschelte er lahm.
„Halt die Klappe, oder ich verpasse dir noch eine Abreibung . . .“ Alrik lachte leise auf. Die Macht, die er nun wieder ausübte, schien ihm zu gefallen. „Was hast du eigentlich? Ich lasse dich sogar reiten.“
Blinzelnd sah der Streuner hoch. Der Himmel war schon dunkel, und der Abend nicht mehr fern. In der Ferne grummelte Donner. Auch der Wind wurde heftiger. Ein Gewitter kündigte sich an.
Der Pfad war nur noch ein besserer Wildwechsel, der offenbar nicht zum Hohenstein, sondern geradewegs gen Firun führte. Das Pferd stolperte über Wurzelwerk, Steine und sonstige Unebenheiten im Boden, Zweige und Schratmoos strichen über Francescos Gesicht. Einzelne Dunstfetzen schwebten wie Geister durch den Wald. Praios sandte noch einige blutrote Strahlen durch die Baumreihen, dann wurde es finster. Alriks keuchender Atem, seine tastenden Handbewegungen verrieten, dass er Mühe hatte, auf dem Weg zu bleiben. Schließlich brachen sie nur noch durch Gebüsch. Dorniges Geäst verhakte sich in ihren Gewändern, Kletten verteilten sich in den Haaren.
„Scheint ganz, als hättest du dich verlaufen, Alrik . . .“
„Sei still!“ schnaubte sein Bruder und zog sich die Kapuze über das Gesicht.
Als sie wenig später wieder auf die Reichsstraße kamen, fielen die ersten Regentropfen herab. Nach kurzer Zeit prasselte ein kalter Frühlingsregen auf ihre Köpfe.
Francesco war es recht: Das Wasser kühlte seine Wunden etwas und wusch das Gesicht sauber.
Mit der Zunge gelang es ihm sogar noch einige Tropfen des kostbaren Nass aufzufangen.
Schmeckt irgendwie schweflig und faulig. Hoffentlich ist es nicht giftig.
Auf der Straße schleppten sich noch immer Dutzende Gestalten von Rommilys her nach Westen: Hinkende Soldaten, abgerissene Flüchtlinge, verstört dahintrottendes Vieh. Am Horizont brannten die Höfe in einem flackernden Rot, wie gewaltige Scheiterhaufen. Dort, wo die Fürstenstadt lag, stand Dunst oder der Rauch der ausgebrannten Häuser im Zwielicht.
Es war die ganze Mark Rommilys, die hier unterging.
Alrik schloss sich dem Flüchtlingstrom an, der nicht einmal aufmerkte, als die beiden merkwürdigen Gestalten aus dem Wald brachen. Francesco konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Elendszug wirklich aus Richtung Rommilys kam, eher waren es Versprengte, die sich tags über im Wald versteckt hatten und sich nun dem fragwürdigen Schutz der Dunkelheit anvertrauten.
Francesco blinzelte, als ein greller Lichtblitz über den Nachthimmel huschte. In Erwartung des Donners zuckte er zusammen. Wie kollernder Steinschlag folgte dessen Grollen.
Der Streuner sah um sich. Viele der Soldaten trugen nicht einmal mehr Schuhe, geschweige denn Harnische oder Klingen. Zerschundene, schmutzige Füße, hie und da noch mit Fußlappen umwickelt, schleppten sich über das unebene, nasse Pflaster. Hier war der Kopf einer Landwehrfrau dick bandagiert, dort hinkte ein greiser Bauer an der Krücke einem ungewissen Schicksal entgegen. Ein blasses Mädchen schleifte eine rot-goldene Trommel neben sich her, die längst zerschlagen war, mit einer Ausdauer, als hinge dennoch ihr Fortbestand und der des Fürstentums davon ab. Vielleicht war es auch so.
Irgendwo in der gesichtslosen Menge weinte ein Säugling. In einem Leiterwägelchen wurde kümmerliche Habe in Sicherheit gebracht. Ein barfüßiger Junge, mit grauem, hartem Erwachsenengesicht, huschte mal hierhin, mal dorthin, bettelte um ein Stück Brot oder wenigstens Schuhwerk, was er beides nicht erhielt. Die Gesichter der Menschen waren aschfahl und leer, aber in manchen Augen flackerten auch Wahnsinn und Furcht. Immer wieder gingen ängstliche Blicke nach oben oder nach hinten, wo man den Feind vermutete. Es war der Anblick eines geschlagenen Volkes im achten Kriegsjahr.
Ein ganzes Geäst von Blitzen durchzuckte den Nachthimmel. Wieder Donnergrollen. Dann eine Abfolge grellen Lichtscheins und erneutes Poltern.
Krakrarkrarak . . . WUMBUMM!!!
Unvermittelt tauchte ein Soldat neben Francesco auf, gestützt von einem erschöpften Kameraden. Das Gesicht, das unter Stoffetzen noch zu erahnen war, schien völlig verbrannt zu sein.
„Wir werden Rommilys zurückerobern, nicht wahr?“ fragte er in Richtung des Phexgeweihten. Dass dieser gefesselt war, schien er unter seinem Verband nicht zu bemerken.
„Schon gut, Ugdalf“ sagte sein Gefährte, der selbst eine offene Wunde am Unterarm hatte. „Für dich ist der Krieg erst mal vorbei.“
Die Nacht brach nun schnell herein. Der Regen wurde stärker. Am Wegesrand stand ein brennender Karren, womöglich von dem Geschoss eines Karakilreiters getroffen, vielleicht auf dem Rückzug in Brand gesteckt – oder hatte hier der Blitz eingeschlagen? Zischend fielen die Regentropfen in die Flammen und löschten sie nach und nach aus.
Auf der Straße geriet der Marsch ins Stocken. Schließlich sah Alrik den Grund: Eine Leiche lag in ihrer Mitte. Achtlos schritten die Menschen über den Körper des Toten hinweg, dem ein Armbrustbolzen im Rücken steckte, oder gingen um ihn herum.
Plötzlich lief eine Gestalt in schwarzer Robe herbei und beugte sich über den Gefallenen, wobei sie das Zeichen des gebrochenen Rades schlug und Worte auf Bosparano murmelte. Sie versuchte den Körper anzuheben, aber dessen Gewicht und das eines zerbeulten Plattenharnischs vereitelten ihr Bemühen.
Ein blasses Frauengesicht unter der Kapuze sah sich verzweifelt nach allen Richtungen um. Schließlich entdeckte sie Alrik. Als sie seine schwarze Golgaritenrüstung sah, huschte so etwas wie ein erleichtertes Lächeln über ihr Gesicht.
„Würdest du mir helfen, Bruder, im Namen Borons?“
Alrik nickte schweigend. Gemeinsam mit der Geweihten hievte er den Mann auf einen Eselskarren, wo starr und steif schon zwei weitere Tote lagen.
Die Flüchtlinge begannen ob des neuerlichen Weghindernisses zu murren, zu drängeln und sich gegenseitig zu stoßen.
„He, ksst, könntest du mich vielleicht losbinden?“ fragte Francesco leise in Richtung eines Landwehrmanns, der, den Arm in einer Schlinge steckend, an ihm vorübertaumelte. Der Verwundete beachtete ihn nicht einmal.
Schließlich kehrte Alrik wieder zu ihm zurück, in Gesellschaft der Frau, die den Esel mitsamt Karren hinter sich her führte. Die Applikation eines Raben auf ihrer durchnässten Robe und deren schwingenähnliche Ärmel wies sie eindeutig als Borongeweihte aus.
Francesco erschauerte, was nicht nur an einem erneuten, rauschenden Regenguss lag.
Diese Boronsdiener verfolgen dich langsam wie die Aaskrähen. Nichts als Unglück haben sie dir gebracht.
„Wie ist dein Name?“ wollte Alrik von seiner Begleiterin wissen.
„Golgariella. Und deiner?“
„A...Bishdarielon.“
„Golgarit?“
„Ja.“ Alrik griff wieder nach dem Zügel.
„Warum ist der Mann gefesselt?“
Die Priesterin sah zu Francesco. Dunkelblondes, wallendes Haar umrahmte ein aristokratisch geschnittenes, elfenbeinfarbenes Gesicht oder klebte feucht auf der hohen Stirn.
Diese Golgariella ist hübsch. Sie sieht eigentlich gar nicht aus wie eine Borongeweihte. Eher wie eine Halbelfe. Mögen die Götter wissen, warum sich so eine Frau entschließt, dem Herrn des Todes zu dienen.
„Ein Pferdedieb“, sagte Alrik. „Ich bringe ihn zur Aburteilung nach Hohenstein.“
„Verstehe.“ Golgariella wirkte einen Augenblick irritiert, dass jemandem so etwas noch wichtig sein konnte.
Aber sie alle waren zu erschöpft, um das Gespräch länger fortzusetzen.
Mittlerweile befanden sie sich am Ende der Flüchtlingsgruppe.
Der Phexgeweihte spähte ängstlich in die selemische Finsternis hinter ihm. Sie waren wieder verdammt nah an Rommilys herangeraten, nur die Nacht und das Wüten des Gewitters schützte sie vor ihren Verfolgern.
Eine Kuh trottete mit traurigen Augen herbei, kleinere Ästchen, Blätter und Kletten im Fell.
War das ihre Kuh? Sah fast so aus. Francesco zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Eine warme Dampfwolke ausschnauffend blickte die Braune in seine Richtung.
Sie bringt dir vielleicht Glück, versuchte er sich einzureden. Immerhin ein Wesen, das ihn in all dem Chaos hier nicht zu hassen schien.
Der Regen wurde stärker. Das monotone, traurige Prasseln übertönte bald jedes Geräusch.
Francesco prüfte seine Fußfesseln, die nicht ganz so fest zu sein schienen wie der Strick um seine Handgelenke. Die nackten Füsse vieler Soldaten hatten ihn auf eine Idee gebracht. Wenn er es schaffte, einen der Stulpenstiefel auszuziehen, die jetzt nass und glitschig waren . . .
Nein, das wurde nichts. Leichte Panik befiel Francesco, als er spürte, wie sich der Strick in seine Handgelenke schnürte und ihm das Blut abdrückte. Er hasste es, gefesselt und wehrlos zu sein wie ein Tier, das man zum Markt führte – oder zur Schlachtbank. Mit strampfenden Bewegungen versuchte er die Fußfessel zu lockern. Immerhin, die gab wirklich nach. Das nasse Leder der Stiefel war glatt, wie eingefettet. Wenn nur das Geruckel des Gauls nicht gewesen wäre.
Dennoch, er kam mit seiner Arbeit voran. Eine der beiden Mehrfachschlingen um seine Füße befand sich schon nahe am Stiefelabsatz. Erleichtert spürte er, wie sein linker Stiefel aus der Fesselung rutschte. Vorsichtig trat er sich frei. Dann befreite er mit der Stiefelspitze auch den anderen Fuß aus der Verhedderung.
Jetzt musste er noch die Handfesselung loswerden und Alrik die Zügel zu entreißen - in die Nacht davonzugaloppieren würde dann das einfachste sein.
Wohin er fliehen würde, daran wollte er jetzt noch keinen Gedanken verschwenden.
Verflucht, seine Hände fühlten sich bereits taub an. Er wand sich steif hin und her, ohne den Strick im Geringsten zu bewegen. Nichts zu machen. Irgendwie kam er sich vor wie ein Gaukler, der auf dem Jahrmarkt einen grandiosen Entfesselungstrick vorführen wollte und dabei jämmerlich versagte.
Wenn wenigstens der verdammte Dauerregen nicht gewesen wäre. Das kühle Nass kroch durch den vollgesogenen Gambeson und die Hose, ließ deren glitschig-feuchten Stoff an seiner Haut festkleben, lief ihm bis in die Stiefel. Wasser troff ihn von den patschnassen Haaren, tropfte in seine halb zugekniffenen Augen, kitzelte die Nase und rann über die Lippen, als wäre er ein Gargyl.
Francesco zitterte vor Kälte und zuckte bei jedem bläulichweißem Blitz, bei jedem krachenden Donnerschlag zusammen. Gütiger Phex, sollte er sich hier die Keuche holen? Er hustete. Dass sein Bruder und diese Galgenkrähe Golgariella ebenfalls unter dem Regen litten, war nur ein schwacher Trost. Langsam aber sicher schwand mit seinen Kräften auch der Wunsch nach Freiheit. Beinahe bekam er Sehnsucht nach dem Hohenstein, einem lauschigen Kerker mit Stroh und irgendeinem Napf mit Essbarem.
Nur Blitze erleuchteten die Selemische Finsternis, die das Land bedeckte – ihr Lichtschein war fast schon schmerzhaft grell. „Gewitter im Ingerimm – feurig und schlimm“, murmelte Francesco, und wiederholte die Bauernregel immer wieder in Gedanken, wie eine Art Bannspruch. Die Bäume längs der Straße warfen ihre sturmgepeitschten Wipfel hin und her, als wären sie in Panik. Laub und kleinere Zweige wirbelten durch die Luft. Die rasenden, kalten Windböen, vermischt mit sprühenden Schauern ließen ihn sich im Sattel zusammenkrümmen.
Am Wegrand, an einer Kaiser-Reto-Pappel, stand oder besser gesagt hing eine leblose Gestalt, mit groben Stricken an den Baum gefesselt und bedeckt von purpurnen Flecken, die selbst der Regen kaum abzuwaschen vermochte. Es war eine tote Frau mit langen, dunklen, vom Wind hochgewehten Haaren, die schon länger in Leichenstarre übergegangen zu sein schien. Puppenhaft steif und hart wirkte sie wie eine Attraktion im Wachsfigurenkabinett von Havena. Um sie herum lagen Pflastersteine auf dem Boden, die offenkundig aus einer schadhaften Stelle der Reichstraße gegraben worden waren. Francesco hätte die verstümmelte Leiche kaum noch beachtet – eine mehr in all dem Elend -, wäre ihm nicht das Irrhalkenwappen auf dem besudelten Waffenrock aufgefallen. Dort stand eine gefangene Feindin, die nach der Schlacht offenbar noch eine Zeitlang mitgeschleppt worden war, bevor sie Flüchtlinge - oder Soldaten auf dem Rückzug - gesteinigt hatten.
Francesco schluckte. Die Gesteinigte schien ihn von unten zu mustern, mit ihrem einen Auge (das andere war durch einen Treffer ausgeschlagen worden) und den dunkelverkrusteten Dellen auf der Stirn wie im Gesicht. Der Kiefer schien ebenso wie die Nase gebrochen zu sein, zumindest stand der Mund blödig offen. Der Streuner sah weg. Auch Golgariella und sein Bruder ließen diese Überreste links liegen. Selbst die Krähen hatten den Leichnam gemieden, als hafte der Dämonenanbeterin etwas an, was schrecklicher war als Tod und Verwesung.
Eine Zeit lang schleppten sie sich weiter durch die Nässe und Dunkelheit. Die Luft roch noch immer leicht nach Schwefel. Über ihnen grollte, rollte und hämmerte der Donner.
Schließlich tauchte vor ihnen aus der Nacht ein rotes Laternenlicht auf - wenig später die Umrisse eines ganzen Gebäudes mit Anbau, vermutlich einem Stall.
Ein Gasthaus? Die Fliehenden, vielleicht zwei Dutzend an der Zahl, beschleunigten ihre hinkenden Schritte, erst zaghaft, dann immer entschlossener, wie Verdurstende in der Wüste, die eine Oase entdeckt zu haben glaubten (auch wenn der Vergleich im Dauerregen ebenfalls hinkte).
Einige taumelten bereits durch die weit geöffnete, im Wind schlagende Eingangstür hinein. Andere blieben davor stehen, als müssten sie sich erst vergewissern, wirklich keine Fata Morgana vor sich zu haben.
Alrik führte das Pferd und Francesco durch die Reihen der Flüchtlinge hindurch.
Tatsächlich, ein Wirtshausschild schaukelte quietschend im Licht der Laterne und glänzte regennass.
Ein mächtiger Blitz zuckte auf. Für einige Augenblicke war die Herberge fast taghell erleuchtet.
Das Schild zeigte einen Mann in scharlachrotem Mantel, das Gesicht von einer Kapuze verdeckt und mit einem Strick um den Hals. In der einen Hand hielt er ein Henkerbeil, das ziemlich benutzt aussah, in der anderen eine geköpfte Gans.
Zum Blutigen Henker, stand in knochenweißer Schrift darunter.
Gütige Travia, kein götterfürchtiges Wirtshaus in Darpatien hat einen solchen Namen, dachte Francesco, und schon gar nicht so ein Schild. Da erwachte das Haus auch schon zum unheiligen Leben.
Blutrotes Licht flackerte hinter den Fenstern aus Butzenglas auf, als würden Dutzende Kerzen und Fackeln gleichzeitig entzündet. Die Eingangstür schlug zu wie ein Sargdeckel. Eine wirre Melodie erklang. Schreiend und klopfend hämmerten von innen die Eingeschlossenen gegen die Tür. Einen Augenblick lang glaubte der Streuner bläulich schimmernde Gestalten hinter den Fenstern zu sehen.
„Runter von der Straße!“ brüllte Alrik und zerrte am Zügel des Warunkers, der ohnehin grell wiehernd zur Seite auswich.
Seine Warnung war nur zu berechtigt. Ein dumpfes Krachen, Ächzen und Knacken ertönte. Risse und Spalten tauchten aus dem Nichts in den Mauern und Fachwerk des Gasthauses auf, als würde es von der unsichtbaren Faust eines Giganten umschlossen und angeschoben.
Tatsächlich, das Haus begann sich vom angrenzenden Stall zu lösen und auf die Straße zu rutschen. Die Schreie im Inneren wurden greller, Möbel polterten wie bei einem Erdbeben umher. Ziegel rutschten vom Dach gleich Fallobst, Sumus Leib zitterte unter den Erschütterungen.
Als wäre es in eine Moräne geraten, wurde das Haus mit urtümlicher Gewalt auf die Flüchtlinge zugeschoben. Francesco hätte Stein und Bein schwören zu können, die beiden Fenster über der Eingangstür wie Dämonenaugen glühen zu sehen - während durch das Untergeschoss ein Riss wie ein weit aufgesperrtes Maul ging, dessen „Zähne“ aus aufgesprengtem Mauerwerk bestanden. Immer mehr Ziegel und der Schornstein fielen herab, zersplitterten auf dem Boden. Dachsparren dick wie Baumstämme brachen in Stücke, verschoben und verkeilten sich ineinander, stürzten ein. Das oberste Stockwerk sank ebenfalls donnernd in die Tiefe. Wind und Regen peitschte darüber, am Himmel glühte und krachte das Feuerwerk des Gewitters.
Das ist der Weltuntergang. Dere und Feste stürzen ein . . .
Francesco hatte dies kaum gedacht, als der Warunker in wilder Panik stieg.
Der Phexgeweihten kippte seitlich aus dem Sattel. Hart fiel er auf den Rücken, kollerte durch Gras und Schlamm hinunter in den Graben der Reichsstraße. Weicher Schlamm und Laub spritzten hoch. Als er sich aus dem Straßengraben wälzte, sah er nur noch, wie das rastlose Gasthaus krachend und stöhnend über das Pferd und die jetzt ebenfalls schreienden Flüchtlinge hinwegmalmte. Im letzten Herzschlag brachte sich Alrik mit einem Hechtsprung vor den Trümmermassen in Sicherheit.
Das Rumpel wurde stärker. Die Häuserwand rutschte wie eine sich hochtürmende Steinlawine auf Francesco und den Graben zu. Die allgegenwärtigen Geräusche des Krachens, Knisterns und Berstens betäubten Ohren wie Verstand gleichermaßen.
Das war es also. Aus. Ende. Unwiderruflich vorbei. War ja klar, dass du mal in einem Wirtshaus enden würdest.
Ein Alptraum, das hier ist ein Wirklichkeit gewordener Alptraum . . .
Francesco schloss schicksalsergeben die Augen – und öffnete sie sofort wieder, als sich die Geräusche veränderten. Hätte man das merkwürdige Verhalten des Bauwerks bislang noch auf eine jähe Erdbewegung zurückführen können, wechselte es nun – gegen jede Erfahrung und Logik - seine Richtung: Es glitt wankend, schwankend und sich immer weiter selbst zerstörend die Straße nach Rommily hinunter, wie ein gewaltiger Mühlstein über die Flüchtlinge hinweg, die darunter schreiend, zappelnd und wimmernd zerquetscht wurden. Als letztes Opfer verschlang das menschenfressende Ungetüm die Borongeweihte mitsamt ihrem Karren und den jämmerlich klagenden Esel. Schließlich brach das längst über jede Gebühr beanspruchte Bauwerk in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
Am Ende lag ein rauchender Schutthaufen auf der Straße, aus dem einzelne Balken, Mauerreste, Fachwerk, zerborstene Fensterscheiben, Möbel und widernatürlich verdrehte Gliedmassen ragten. Nur die Kuh stand scheinbar unbeeindruckt davor und muhte das Bild völliger Verwüstung an.
Schnell duckten sich die Staubwolken unter dem Regen, verklumpten zu feuchtem Schlamm. Alrik kam auf den Ellenbogen zu Francesco in den Graben gekrochen und blinzelte verstört. Es konnte einfach nicht sein, was er da sah. Das Haus hatte aus drei Stockwerken und noch zwei weiteren Dachgeschossen bestanden. Ein solches Gebäude setzte sich nicht einfach so in Bewegung. Selbst wenn es unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrach – es wurde nicht derart zerkleinert, ja, fast schon pulverisiert. . .
„Das wird uns daheim in Friedwang niemand glauben ...“, keuchte er, wobei er einen Augenblick vergass, mit wem er da sprach.
„Ich glaube es ja selbst nicht!“ ächzte der Streuner, während er seinen Körper aus dem Schlamm des Straßengrabens hievte. Immerhin hatte der ganze Schmutz ihn vor den schlimmsten Folgen des Sturzes bewahrt.
Nur auf der Wange und der Stirn spürte er klebrig heiße Schrammen – oder stammten die noch von Alrik? Auch seine Seitenwunde rief sich schmerzhaft in Erinnerung. Hört, hört, dachte er. Mein Bruderherz spricht schon wieder von uns und von Friedwang. Zumindest das war ein gutes Zeichen.
„Bind mich los!“ stöhnte er. Aber sein Bruder war schon aufgesprungen und begann in den Trümmern des Hauses nach Überlebenden zu wühlen.
„Komm her und helf mir!“ schrie er in Richtung eines Soldaten, der hinter einem Baum kauerte und das Geschehen mit schreckgeweiteten Augen verfolgte.
Das einzige, was ihm antwortete, war ein fröhlich-verzweifeltes Lachen, das halb wie das Glucksen eines Kindes klang, halb an das Keckern einer Khoramsbestie erinnerte.
„Das ist der Weltenbrand!“ stieß der Mann schließlich mit trübem Blick und unter irren Zuckungen hervor. „Jetzt geht´s auch in Rommilys los. Das Dämonenwerk beginnt alles zu verwüsten, hihi. Rette sich wer kann, haha...“
Mit seinen Armen wild herumrudernd, sprang der Soldat in die Dunkelheit davon. Mehrere Überlebende, die sich von der anderen Straßenseite her genähert hatten, taten es ihm gleich und nahmen die Beine in die Hand.
Ein ständiges Schleifen, Ächzen und dumpfes Poltern zerrte auch an Alriks Nerven. Die Trümmer schienen sich tatsächlich noch immer zu bewegen, wie ein unruhiges Meer aus Schutt, Balken, Glasscherben und Ziegelsteinen. Nein, er bildete sich das nicht ein. Vielstimmiges, ersticktes Heulen, Stöhnen und Brüllen zeigte, dass noch immer Verschüttete zerquetscht, erdrückt oder zermahlen wurden. Alrik hätte nicht sagen können, ob es Knochen oder Gebäudeteile waren, die da lautstark gebrochen wurden.
Dieses Wirtshaus war eindeutig verflucht!
Ein dumpfer Hilfeschrei weckte ihn aus seiner Erstarrung.
Das kam von genau vor ihm, aus dem Schutt.
Mit blossen Händen scharrte er einige Natursteine und mit Stroh vermischte Lehmbrocken beiseite.
In einem Hohlraum kam die schmutzbedeckte Robe der Boroni zu Vorschein. Über ihre Stirn floss Blut, ansonsten schien sie bis auf kleinere Kratzer unverletzt zu sein.
„Mein Bein, mein Bein ...
„Ist es gebrochen?“
„Ich glaube nicht. Das muss die Deichsel sein, von meinem Karren. Schnell, o Herr Boron, es bewegt sich noch immer. Es will mich. ... aaaaahhhhh....!“
Tatsächlich ging erneut ein starker Ruck durch den Schuttberg. Beinahe hätte man meinen können, er versuche sein Opfer einzusaugen . . .
Alrik hielt die schreiende Golgariella fest. Die Trümmer beruhigten sich für einen Moment. Hastig räumte er weiteren Schutt beiseite, bis die Hufe des Esels und das Holz der Deichsel zum Vorschein kam.
Er versuchte es hochzustemmen, aber es bewegte sich keinen Fingerbreit.
Erneut setzte sich das erbarmungslose Mahlwerk aus Holz und Stein in Bewegung. Wie gläserne Zähne fraßen sich von der Seite her Fenstersplitter in Golgariellas Arm.
Die Schwarzberobte schrie auf, was auch an einer verstümmelten Leiche lag, die sich neben ihr aus den wogenden, ruckenden Trümmern hob.
„Beeilt Euch, ...ich will nicht sterben . . . Nicht so, gütiger Herr Boron!“
Alriks Blick fiel auf einen Spaten, der auf dem Körper des Toten lag. Mit dem Werkzeug als Hebel stemmte er die Deichsel hoch. Golgariella wand sich heraus.
Keinen Augenblick zu früh. Die ganze Trümmerlast über dem Hohlraum sackte mit dumpfen Krachen in sich zusammen, wie die Axt eines Scharfrichters. Dann lag die Ruine still. Nur Donner grollte und Regen plätscherte.
„Seid Ihr verletzt . . .?“
„Nicht...schwer .... glaube ich ....“ Die Priesterin schob das Wirtshausschild beiseite, dass halb auf ihren Körper gefallen war und sie vor den Trümmern geschützt hatte. „Den Göttern sei Dank – und Euch!“
Alrik half der Frau auf die Beine und zog einen großen Glassplitter aus ihrem Oberarm. Blut suppte heraus.
„Das muss verbunden werden...“
„Gewiss, ja . . .“
„Was war das, in der Zwölfe Namen?“
Benommen sah sich die Geweihte um. Erst jetzt sah sie das volle Ausmaß der Zerstörung. Das ganze Gasthaus hatte sich fast zwanzig Schritt die Reichstraße entlang bewegt und dabei auch noch einen Haken geschlagen. Nur das Nebengebäude stand noch an seinem ursprünglichen Ort, als wäre nichts geschehen. Der Keller des Gebäudes war ebenfalls einigermaßen heil geblieben. Fast schien es, als seien es mit einem gewaltigen Messer von Sumus Leib geschnitten worden. Am Treppenaufgang lag der Unterleib eines Soldaten, der auf seiner Flucht nach unten fein säuberlich halbiert worden war.
Zwischen Balken, Steinen, Fachwerk und feuchtem Staub lagen auf der Straße weitere zerschundene Leichen. Unbeeindruckt plätscherte der Regen herab und spülte das Blut und den Dreck schankweise fort.
„Heiliger Herr Boron . . .!“
„Glaubt Ihr, es beginnt jetzt auch in Rommilys?“
Erschrocken schrie Alrik auf, als ein Stück Mauer auf dem Trümmerberg umfiel und nach unten rutschte. Er griff nach seinem Rabenschnabel, als könne er sich damit schützen, aber sonst geschah nichts.
„Wie? Wie, was?“ Golgariella taumelte orientierungslos umher.
„Das, was auch Wehrheim und . . . Perricum und Gareth...zerstört hat...ich meine, kaputt gemacht haben soll.“ Der Golgarit rauffte sich verstört die Haare.
Die Boroni sah sich unsicher um. „Ich glaube nicht. Obwohl es etwas damit zu tun haben könnte. . . Oder mit dieser Fliegenden Festung . . . Was immer es ist, es ist sicher dämonisch . . .Vielleicht war es auch ein Ghumai-Kal . ..“
„Ein wwwasss?“
„Ein Dämon in Form eines laufenden Hauses. Sie sind dem erzdämonischen Widersacher der Travia untertan. Habt Ihr Hühnerbeine gesehen?“
„Hü-hühnerbeine? Nnnein.“ Der Ritter schüttelte den Kopf, obwohl ihn das Gesagte entfernt an etwas erinnerte.
Er machte einen Schritt auf das groteske Massengrab auf der Reichsstraße zu, dann wippte etwas unter seinem Stiefel. Er blickte nach unten. Dort lag das das Wirtshausschild und glänzte im Regen.
Alrik blinzelte irritiert. Zu sehen war darauf jetzt ein orangerotes Feuer über mehreren Holzscheiten, darunter in unschuldigen Lettern der Name: Travias Herdfeuer.
„Das Schild da... es war vorhin irgendwie....merkwürdig. Ich könnte schwören, dass es einen roten Kapuzenmann mit Galgenstrick und Henkerbeil gezeigt hat....“
„Gnädige Marbo....“ Die Boroni ließ sich zitternd auf einen Balken sinken. „Das würde eher auf den Herrn der Rache verweisen.“
Irgendwie klingt ihre Stimme zu ruhig, zu überlegt und beherrscht, dachte Alrik. Die junge Frau schien unter Schock zu stehen, was auch verständlich war.
„Wir müssen nachsehen, ob es noch weitere Überlebende gibt . . .“ Mechanisch stand sie auf und ging auf die Ruine zu. Hie und da züngelten jetzt zwischen den Balken Flammen hervor, wurden aber rasch vom Regen gelöscht.
„Nein, nein, Ihr solltet nicht zu nahe ... da ran gehen. Eher weiter davon weg . . .“
„Euer Gefährte, was ist mit dem?“
„Mein was?“
„Ach nein, der Gefangene. Der . . . der Pferdedieb...“ Golgariella hielt sich abwechselnd die blutende Platzwunde an der Stirn und den zerschnittenen Oberarm.
„Der konnte sich auch retten.“ Es klang wie leider.
„Habt Ihr ihn so übel zugerichtet ?“
„Wie? Nein, das hat er sich selbst . . . Verdammt, der Mistkerl versucht zu türmen.“
Tatsächlich war Francesco aufgestanden und taumelte auf das Gebüsch am Rande der Reichsstraße zu. Alrik rannte keuchend hinterher. „Hier geblieben, Freundchen.“
Mit einem einzigen großen Satz warf er sich auf den Strick, den der Gefangene hinter seinen Handfesseln her zog. Dann riss er den vor Schmerzen und Wut aufschreienden Streuner zu Boden, schleifte ihn auf die Straße und verschnürte ihm auch noch Oberkörper und Beine, ohne auf seine wütenden Proteste zu achten.
Golgariella verband ihren Oberarm mit einem Fetzen Stoff, den sie sich aus ihrer dort ohnehin aufgeschlitzten Robe gerissen hatte.
Unter dem Schutt war ein leises Wimmern zu hören.
Alrik griff nach dem Spaten. Einen Augenblick lang kämpfte seine Angst vor dem dämonischen Unleben in diesen Trümmern mit seinem Wunsch, noch weitere Leben daraus zu retten.
Dann sprang er hinauf. Eine brennende Pechfackel lag zwischen Balken und Steinen, Regen fiel zischend auf ihre Flamme. Er klemmte sie unter dem Schutz eines schiefstehenden Mauerrests fest und horchte. Als er das Geräusch einigermaßen lokalisiert zu haben glaubte, grub er mit einem Stoßgebet zu den Zwölfen los.
Die nassen Trümmer waren immer noch unruhig, gaben nach wie Treibsand und drohten ihn mal in den Schutt, mal seitwärts nach unten rutschen zu lassen. Regen quoll über das ganze Wirrwarr, staute sich hier mit kleinen Blasen auf und floss dort in gewundenen Rinnsalen ab. Das dumpfe Gluckern aus dem Inneren der Ruine hatte an sich schon etwas Bedrohliches. Nun wurden ihre Opfer auch noch ertränkt. Hier und dort stieg Rauch aus den Ritzen auf.
Alrik kniete sich auf eine aus den Angeln gerissene Tür, von wo aus ihm die Arbeit leichter zur Hand ging. Nun lag ein großes Stück Fachwerk vor ihm, dass er schweratmend zur Seite warf – ebenso wie eine Kerze und einen verbogenen Kandelaber.
Eine bleiche, blutige Hand mit verstümmelten Fingern reckte sich ihm entgegen. Der zerschmetterte Schädel darunter gehörte ganz gewiss keinem Lebenden mehr.
Erneut ein Stöhnen, ein oder zwei Schritt davon entfernt.
Vorsichtig stemmte Alrik einen Balken beiseite, unter dem eindeutig ein Mensch röchelte. Er räumte weiteren Unrat fort – eine Truhe mit eingedrücktem Deckel, einen zerborstenen Krug, einen Bettpfosten, ein mit Blut und Staub bedecktes Laken . . .
Nach und nach kamen erst die kurzen Haare, dann der übrige Körper des Trommlermädchens zum Vorschein. Es atmete schwer. Golgariella eilte ihm zu Hilfe, behutsam zogen sie das Kind heraus.
Schreiend kam das schmutzige und blutig geschlagene Mädchen zu sich.
„Meine Trommel, wo ist meine Trommel . . .?“
„Du hast jetzt andere Sorgen, Mädchen . . .Vorsichtig! Legen wir sie dorthin. Auf die Tür.“
„Wohin mit ihr?“ fragte die Boroni.
„Am besten in den Stall. Erstmal aus dem Regen raus . . .!“
„Und was ist mit mir?“ schimpfte Francesco, während er versuchte, sich aus einer Pfütze zu winden. Niemand beachtete ihn.
Die Verwundete wimmerte in einem fort, wobei ihre Laute immer schwächer und röchelnder wurde. Blut floss ihr aus dem Mund. In ihrem Oberkörper steckte ein großer Holzsplitter. Alrik hatte in seinem Leben schon viele Verwundete gesehen, auch Sterbende. Das hier sah alles nicht sehr gut aus. Die Lungen schienen verletzt zu sein.
„Das überlebt sie doch nie . . .Bis Hohenstein schafft sie es niemals. . .!“ schrie Golgariella in das Grollen des Donners hinein. Der Regen ließ an Heftigkeit nach, fiel dafür aber gleichmäßig hernieder. Auch der Wind hatte sich etwas gelegt.
„Man kann auch mit einem Lungenflügel atmen ....“, knurrte Alrik.
Die glanzlosen, weit geöffneten Pupillen unter ihm strafften seine Worte Lügen. Regentropfen fielen auf das Gesicht des Mädchens und rannen darüber wie Tränen. Aber die Trommlerin weinte nicht und würde auch nie mehr weinen. Sie sieht aus wie Etiliane auf dem Schlachtfeld, dachte Alrik. Die Haare der Golgaritin waren ebenfalls kurzgeschoren gewesen.
Golgariella drückte der Toten die Augen zu, schlug das Zeichen des Boronsrades und sprach ein Gebet.
Verlegen sah Alrik um sich. Sein Blick fiel auf die zusammengestauchte Trommel. Das Musikinstrument war den Abhang aus Schutt hinuntergerollt und lag nun, mit aufgerissener Bespannung aus Kalbsfell, im Schmutz. Wie zum Hohn schlug der Regen im lustigen Takt auf das zerschlagene Holz: Plitsch-Platsch, Plack, Plack, Plitsch, Plitsch, Plack, Pak...
Die Boroni ging zu der Trommel, deren Seite das rot-goldene fürstliche Wappen zierte, und wollte sie zu dem Mädchen legen. Dann bemerkte sie das blutige, zerschlagene Fellbündel, das halb aus dem Trommelkörper heraus gerutscht war.
„Das hier wollte sie also retten!“ Golgariella schluckte. „Ein kleines Hündchen . . .“
Schwer atmend legte die Geweihte das reglose Tier auf den Leib der Toten, als wäre es eine Grabbeigabe. Die Augen des erst wenige Wochen alten Bornländers waren noch geöffnet.
„Man sagt, dass Lebewesen, die im Moment des Todes ihre Augen geöffnet haben, nicht sterben wollten“, hörte sich Alrik murmeln. Sofort schalt er sich närrisch. Golgariella antwortete ihm nicht. Vielleicht hatte sie seine unsinnigen, überflüssigen Worte auch gar nicht verstanden.
Eine Zeitlang standen die Lebenden schweigend, ohne auf die Nässe oder die Kälte zu achten, die ihre Körper durchdrang.
Sacht flatterten einige Krähen heran und ließen sich stumm in den Wipfeln der umliegenden Bäume nieder, wie Zaungäste bei einer Beerdigung. Zuerst dachte Alrik, ihr Gefieder wäre nur wegen des Regens so schmutzig und zerfleddert. Dann sah er in die Augen eines einzelnen Totenvogels, der plump über den Rand des Trümmerbergs hinweg auf ihn zuhüpfte.
Sie waren ob der beginnenden Verwesung bereits vergilbt. Hier und dort schimmerten Knochen durch ein verschlissenes Leichentuch aus stumpfgrauen Federn. Ein zartsüßlicher Geruch trat Alrik in die Nase – und ein weiterer Geruch, der nach nasser Erde. Nach frisch ausgehobenem Grab . . .
Zwischen den Bäumen waren jetzt weitere Bewegungen auszumachen.
Golgariella sah die schwankenden, bleichen Gestalten als erste. Steif und starr, und doch erschreckend zielstrebig, wankten die Körper auf die Straße zu. Auf den ersten Blick sahen sie harmlos aus - wie betrunkene Nachtschwärmer. Auf den zweiten Blick nicht mehr. Erdkrümel klebten an graubleicher, aufgedunsener Haut oder rieselten mit Regen und einer schwarzen, fauligen Flüssigkeit herunter. Runde, gebrochene Augen starrten unter einzelnen Haarbüscheln oder gespaltenen Schädeln ins Nichts.
Faseriges Gewebe, das einmal Stoff gewesen war, hing schlammdurchtränkt von den Leibern, die feist und zugleich löchrig einher schlurchten. Rostbraunes Metall oder Kettengeflecht ergänzte die armselige Tracht. Schlaffe Hände tasteten ungelenk durch die Nacht. In der einen Faust steckte ein rostiger Säbel, in der anderen ein schartiges Schwert. Gelbweiße Maden wimmelten auf faulem Fleisch oder blanken Knochen, bei jedem unsicheren Tritt fiel ein Klumpen von ihnen oder ein Stückchen Haut herab.
Es waren ihrer viele, ein Dutzend möglicherweise. Einen Augenblick hielten die schlurfenden Gestalten inne und schienen zu wittern. Nur die Faulgase in ihren Körpern verbreiteten ein Geräusch, das sich anhörte wie Furzen oder Stöhnen – aber vielleicht stöhnten sie zwischen ihren faulen Totenschädelzähnen ja wirklich. Ein modriger, süßlicher Geruch strömte in die Nasen und Gewänder der Lebenden.
„Untote!“ schrie Golgariella überflüssigerweise, voller Abscheu und Furcht.
Francesco begann in seinen Fesseln zu zappeln. „ Bindet mich los!“ flehte er mit sich überschlagener Stimme - und es klang nur nach Furcht.
Die Welt war ein grauer, stiller Ort. Die Wesen dort durften nicht sein, denn nach dem Willen der Dunklen Herrin gab es seit Anbeginn nur Tod, Dunkelheit und Chaos. Diese Zweibeiner waren widernatürlich. Sie mieden die süße Finsternis der Nacht und führten ein Dasein im grellen, peinigenden Licht des Tages. Die Nephazzim wisperten, das diesen Wesen sogar ein Funken Göttlichkeit innewohnte.
Hätten die Untoten noch etwas empfunden, sie hätten sich gefürchtet. Die letzten Nächte waren verwirrend genug gewesen, seitdem die Schwarze Wolke verschwunden war und sich der Endlose Heerwurm darunter aufgelöst hatte. Ihr vertrautes Untotendasein in den Katakomben von Warunk, eine Welt voller schläfriger Sicherheit und behaglicher Fäulnis gab es nicht mehr. Nun mussten sie sich bei jedem Tagesanbruch in die Erde wühlen, immer in der Furcht vor dem tödlichen Sonnenlicht – der einzigen Furcht, die ihnen noch geblieben war. Und der Weg zurück ins Reich des Schwarzen Drachen war weit . . . .
Immerhin, die Trümmer dort würden ihnen eine gute Zuflucht für den nächsten Tag bieten. Sie spürten, das bereits Tote darunter lagen. Wenn nur diese verdammten Lebenden nicht gewesen wären . . .
Sie waren ein stetiges Ärgernis für die Dunkle Herrin und ihre Geschöpfe. Vor allem waren sie unglaublich schnell, heimtückisch und gefährlich – und sie hassten alles Untote. Nur in deutlicher Überzahl hatte man überhaupt eine Chance, sich ihrer zu erwehren. Trotz allem verspürten die Untoten eine gewisse Ähnlichkeit, ja, verlockende Übereinstimmung mit diesen Kreaturen: Sie waren offenbar wie sie, bevor sie die Dunkle Herrin aus dem Grab erweckt hatte. Im Gegensatz zu ihnen führten die Lebenden aber ein Dasein voller peinigender Empfindungen und vergeblicher Bemühungen, voller Angst, Leid, Hoffnung, Lust, Trauer oder Liebe - was auch immer das sein mochte. Auch wenn sie sich selbst nicht mehr daran zu erinnern vermochten, so war den meisten von ihnen doch eine dumpfe Ahnung geblieben, was ihr letztes Gefühl in jener anderen Welt gewesen war: unerträglicher Schmerz.
Es gab nur eine Möglichkeit, ihre Gegner aus einem grauenvollen Dasein voller Licht und Leben zu erlösen. Man musste sie zu sich auf die andere Seite holen . . .
„Bindet mich los, um Alverans willen!“ flehte Francesco noch einmal, während er sich in seinen Fesseln wand. Diesmal blickte er zu der Boronsgeweihten, die aber nur ein Auge für die lebenden Leichen hatte. Zitternd malte sie vor ihnen ein gebrochenes Rad in die Luft. Auch Alrik beachtete ihn nicht, sondern griff nach der glosenden Fackel und trippelte damit von den Trümmern nach unten.
Die Verdammten schlurften und torkelten im Halbkreis näher. Sie versuchten sie zu umzingeln.
„Hier, Ihr könnt doch damit umgehen!“ Kaltschnäuziger, als ihm zumute war, warf Alrik der Boroni den Spaten zu, die ihn geschickt auffing. Er selbst nestelte den Rabenschnabel hervor und versuchte die Situation zu überblicken. Der Schutthaufen zur Linken war ein gutes Hindernis gegen die Untoten, eine einzige Stolperfalle. Auch der Graben zwischen der Straße und den Angreifern bot ihnen einen Vorteil. Dennoch, es waren verdammt viele Gegner. . . Nun, gütige Marbo, er war ein Knappe des Golgaritenordens gewesen, und hatte auf den Feldern vor Friedwang schon gegen ein ganzes Banner Madensäcke unter der verfluchten Aroqa-Rune gekämpft. Aber kein lebender Mensch konnte sich dem Grauen dieser graubleichen Körper entziehen, deren schieres Dasein Boron Hohn sprach. Auch er nicht. Alrik spürte, wie sein rechtes Knie zitterte. Selbst Golgariella schlotterte.
Sie mussten versuchen, sie schon am Graben abzufangen, der bereits bis zum Rand mit Wasser gefüllt war.
„Schützt meine rechte Seite, Euer Gna . . .“
Instinktiv riss Alrik den Rabenschnabel hoch, als ein skelettierter Flügel über sein Gesicht fuhr. Eine Klaue schrammte ihm über die Wange. Um sich schlagend vertrieb er die untote Krähe, da verfing sich schon eine weitere von hinten in seinem Haar. Verdammt, die Biester hatte er ganz vergessen. Vor Ekel und Schmerz brüllte Alrik auf und bekam eine schmierige Feder in den Mund. Würgend und spuckend schlug er um sich. Erst jetzt merkte er, wie kraftlos die Attacken eigentlich waren, als würden sie von Automaten ausgeführt.
Auch Golgariella erwehrte sich mehrerer der Angreiferinnen. Wie ein makabrer Schmuck hingen sie in ihrer Robe, zerrten an der Kapuze, an ihren Locken, am blutigen Verband und vor allem an dem aufgenähten Boronsraben, als gelte diesem Symbol ihr besonderer Haß. Mit dumpfen Klonk traf der Spaten, eher zufällig, eine Krähe, die halb zerteilt zu Boden stürzte. Auch Francesco wälzte sich schreiend umher, während die Vögel versuchten, ihm mit mechanischen Bewegungen die Augen auszukratzen oder zu zerhacken.
Mit der Fackel verschaffte sich Alrik Luft und stieß damit in die schwarzgelbe Wolke um den Oberkörper des Gefangenen, die lautlos auseinander stob. Ein Hieb mit dem Rabenschnabel, und eines der gefiederten Skelette stürzte wie ein Stein zu Boden. Eine weitere Krähe landete auf seiner Waffenhand und hackte hinein, aber der Panzerhandschuh hielt ihrem angesplitterten Schnabel stand. Die Fackel traf das tote Tier in der Körpermitte, angesengt taumelte die Krähe zu Boden. Schmutzige Federn wirbelten auf, es stank bestialisch nach verbranntem Horn.
Erst jetzt sah Alrik, dass ihre ohnehin kümmerliche Verteidigungslinie weit auseinander gerissen worden war. Golgariella warf eine Krähe mit bloßer Hand gegen den Schutthaufen und schlug mit dem Spaten auf eine weitere ein, die nach ihrem Fuß hackte. Franceso hatte sich instinktiv in den gegenüberliegenden Graben gerollt und versuchte dort sein Gesicht vor den Krähen zu schützen. Alrik selbst stand einige Schritt von der Ruine entfernt.
Die erste Leiche kroch schlammbedeckt aus dem Graben, stand umständlich auf und versuchte sich zwischen ihn und die Geweihte zu schieben. Ein weiterer Toter taumelte rechterhand mit kalkweißem Gesicht ins Wasser, die Streitaxt erhoben (er könnte auch ein verkleideter, geschminkter Mensch sein, dachte Alrik).
Alrik schlug eine aufdringliche Krähe beiseite und griff den Untoten auf der Straße an: Die Verwesung war bei ihm bereits weit fortgeschritten. Er sah eher aus wie eine Vogelscheuche denn wie ein menschenähnliches Wesen, was auch an den langgewachsenen, wirren Haaren und den klauenähnlichen Fingernägeln lag. Auf dem Kopf dieses Dings prunkte in marbider Pracht ein bläulichrosafarbener Schimmelpilz. Sehr hübsch. Die kaum noch zu erahnenden Fetzen eines Bauernkittels hingen von den Überresten seines Körpers, in denen abgebrochene Pfeile steckten. Der Friedwang parierte den matten Hieb eines Knüppels und sah von rechts den Axtschwinger auf sich zu hinken. Verdammt, die Kerle wankten schneller heran, als er erwartet hatte. Auch das offene Feuer schien sie nicht sonderlich zu beeindrucken.
Mit einem Stoßgebet zu Boron hieb Alrik nach der Vogelscheuche, gleichzeitig wich er einen Schritt zurück. Die Streitaxt klirrte matt gegen das Pflaster. Der dazugehörige Tote folgte ihm in die entstandene Lücke und hob erneut seine Waffe – eine Spur zu langsam. Im nächsten Augenblick brach der Bleichling mit dem Rabenschnabel in der Stirn zusammen.
Der Zottelhaarige grinste Alrik an, was daran lag, dass sein Unterkiefer bereits skelettiert war. Der Knüppel prallte erstaunlich kräftig gegen Alriks Streithacke. Mit einem Aufschrei hieb der ihm den Rabenschnabel in die Rippen, die krachend zersplitterten. Ein weiterer Hieb, und der Untote sackte zu Boden. Der rasche Sieg ließ die Furcht des Kriegers schwinden. Sein Knie zitterte nun nicht mehr.
Alrik blickte wieder nach vorne und sah in ein braungelbes, talgig glänzendes Gesicht, das zwar gräßlich verformt, aber noch erschreckend gut zu erkennen war. Der Waffenrock um die Schultern des Toten wirkte pergamentenartig-brüchig, der Wolf mit dem Doppelkopf darauf war nur noch ein Schemen. Ein tobrischer Soldat, oder besser gesagt dessen Wachsleiche . . . Der oder die Tote wirkte, als litte sie an Aussatz. Braunes Blut und Leichenflüssigkeit tropfte der Kreatur aus dem Mund.
In Boronia haben sie davon gesprochen, dass die Toten in den Massengräbern des Ostens kaum noch verwesen – als habe Sumu dort keine Kraft mehr, immer neue Leiber in sich aufzunehmen.
In den entstellten, teigigen Händen hielt der Untote einen Streithammer, den er nun langsam, fast schon bedächtig über den Kopf schwang. Reflexartig stieß ihm Alrik die Fackel in die Fratze. Der Gestank nach vebranntem Menschenfett trieb dem Golgariten schlagartig seinen Mageninhalt über die Lippen . . .
Während das schwarze Wachsgesicht noch qualmte, schlug der Tobrier völlig unbeeindruckt mit der Waffe zu. Schmerzhaft prallte der Hammer gegen Alriks linken Unterarm. Kettenglieder klirrten. Alrik stöhnte auf. Hätte sein Gegner mit der Kraft eines Lebenden zugeschlagen, wäre der Knochen nun zerschmettert gewesen.
Gleichzeitig spürte er, wie unter ihm die knöcherne Hand der Vogelscheuche nach seinem Stiefel tastete. Schreiend taumelte er zurück, sank in die Knie – und prallte in etwas Weiches, Lebloses. Er fuhr herum und sah in die geröteten, fein geäderten Glupschaugen eines weiteren Zombie. Wie ein Schlafwandler hob der einen rostigen Säbel. Durch das Loch in dessen Körpermitte, aus dem glitschige Eingeweide hingen, sah Alrik, dass sich dahinter weitere Untote näherten. Er hieb dem Durchlöcherten den Rabenschnabel gegen die Schulter. Der Zombie, ein stämmiger Bursche mit Bürstenhaarschnitt, blieb kurz stehen, als habe er einen Rempler erhalten oder sei gegen eine Mauer gelaufen, und stapfte wieder vor.
Verdammt, das werden ja immer mehr statt weniger. Einen Moment lang verlor Alrik die Übersicht.
Sie haben uns bereits umgangen, dachte er noch, dann spürte er einen fürchterlichen Hieb in seinen Rücken. Der Säbel von vorne schlitzte sein Kettenhemd auf. Die Welt verschwamm in einem schmerzhaften Rot.
Francesco spuckte etwas lehmiges Gras aus und spähte blinzelnd um sich. Die Attacken der Krähen hatten schlagartig aufgehört. Seine Augen waren beide noch einigermaßen heil – gut so, es wäre auch schade um das schöne Taluedwasser gewesen.
Dafür hatten die kalten Schwestern ihm einige schmerzende Löcher oder Schrammen in Gesicht und Kopfhaut gepickt und gekratzt: nicht sehr tief, aber für Wundfieber oder Gilbe reichte es allemal.
Verzweifelt versuchte er sich wieder aus dem Graben herauszuwinden, aber die Fesseln und der rutschige Schlamm machten ihm einen Strich durch die Rechnung. Stattdessen glitt er mit dem Kopf vorweg ins Brackwasser, sank in weichen Schlamm und Schmutz, bekam keine Luft mehr.
Hektisch wälzte er sich umher, um die Lippen wieder über Wasser zu bringen. O Phex, Du möchtest doch nicht, das dies mein Ende ist, dachte er in die aufkommende Panik und Schmutzbrühe hinein: In einem Abflussgraben der Reichstraße zwischen Rommilys und Gareth ersoffen. Den Nachruf auf das tragische Ende Baron Alriks von Friedwang möchte ich nicht schreiben müssen.
Die Atemnot und das in seine Luftröhre eindringende Wasser setzte eine ungeahnte Kraft in ihm frei. Mit den zusammengeschnürten Füßen stemmte er sich hoch. Keuchend, hustend und röchelnd wuchtete er sich bäuchlings wieder die Böschung hinauf. Nicht bewegen. Jetzt bloß keine allzu heftigen Bewegungen mehr, bevor du wieder abrutscht.
Erleichtert spürte er, wie sich jemand an seinem Rücken zu schaffen machte.
„Verdammt, Alrik, ich wusste, dass du zur Vernunft kommen würdest. . .“
Keine Anwort.
Stattdessen versuchte ihn etwas ins Bein zu beißen.
„Alrik?“
Gegen seine Absicht drehte sich Franceso um. In der Dunkelheit und aufgrund des Regens konnte er die Zombies, die sich über ihn beugten, kaum erkennen, und das war vermutlich auch besser so.
Steife, kalte, schwabbelige Hände tasteten über sein Gesicht, kratzen mit viel zu langen Nägeln in seine Haut und prallten einen Moment zurück. Schließlich hatten sie seinen Hals gefunden und drückten zu . . .
Das rostige Schwert prallte mit einem dumpfen Klonk gegen die Schaufel des Spatens. Golgariella wich vor den plumpen, aber ungemein hartnäckigen Attacken der beiden Untoten vor ihr zurück. Die Geweihte hatte schon genug Leichen in ihrem Leben gesehen, sie berührt, gewaschen und ausgesegnet. Schon als Novizin war sie bei einer Exhumierung, einmal sogar bei der Aushebung des Labors eines boronsverfluchten Anatoms anwesend gewesen. Die Toten, die sie kannte, waren von geradezu rührender Hilflosigkeit gewesen, wie verstört von ihrem plötzlichen Ableben, in dieser Welt schutzlos und ihrer menschlichen Würde beraubt – jedenfalls solange, bis Boron gnädig den Mantel der Bestattung über ihre Leiber gelegt hatte. Eigentlich waren Verstorbene für sie wie unmündige Säuglinge gewesen, die sich nicht selbst zu helfen vermochten und die man auch und gerade dann reinigen musste, wenn sie besonders schmutzig und abstoßend wirkten.
Aber das hier war etwas völlig anderes. Untote waren ihr bislang noch nicht begegnet - wie auch in Sancta Boronia, wo sie erst vor wenigen Götterläufen ihre Weihen erhalten hatte. Diese Leichname jagten ihr eine Furcht ein, die schlimmer war als die Angst um ihr Leben.
Immer mehr der lebenden Leichen quollen über den Graben - merkwürdig verrenkt, schlurfend und mit hängenden Schultern, mehr aufrecht gehenden Bären oder am Genick geführten Puppen als Menschen ähnlich. Einige von ihnen waren Frauen, was die Boroni aus irgendeinem Grund besonders schmerzte.
Die Meute wirkte auf Golgariella wie ein Lnychmob, besinnungslos, stumpfsinnig und von tödlichem Haß erfüllt – vor allem von Haß auf sie, die Boronsgeweihte, und das, was sie auf Dere vertrat. Nein, sie bildete sich das nicht nur ein: Mehr als die Hälfte der Angreifer taumelte in ihre Richtung. Das bedeutete ein Dutzend, denn mittlerweile waren sicher über zwanzig Untote aus dem Wald gequollen (Dafür hatte sie einen Blick: die Toten in den darpatischen Massengräbern zu zählen war bisher eine ihrer Hauptaufgaben gewesen). Aber sie haßten sie nicht nur, sie waren ihr und Boron gegenüber auch feige. Respektvoll hielten die plumpen Körper Abstand, die borkigen Hände schlenkerten herab. Gelbliche oder grüne Raubtieraugen über fleckigen, blaugrauen Gesichtern blickten in ihre Richtung, auf jeden Fehler oder auch nur eine hastige Bewegung wartend. Leises Knurren, Stöhnen und Gluckern war zu hören.
Golgariella war keine Kämpferin. Ihren Namen hatte sie gewählt, weil sie es als ihre besondere Pflicht ansah, Tote zu einem würdigen Grab zu geleiten wie Golgari deren Seelen über das Nirgendmeer. Aus gutem Grund: Seinerzeit war es ihr nicht vergönnt gewesen, sie zu begraben. Aber die Priesterin wollte nicht ausgerechnet jetzt an damals und jene Toten denken.
Boron hatte ihr in seiner unergründlichen Weisheit einen Kämpfer des Golgaritenordens zur Seite gestellt. Er würde ihr helfen, mit dieser Pest fertig zu werden. Wie hieß er noch gleich? Bishdarielon. Schon einmal in dieser Nacht hatte er ihr das Leben gerettet.
Eilig zog sie sich hinter den Schutthaufen zurück. Die quälend langsame Geschwindigkeit der Dinger gestattete diesen Rückzug. Erst, als sie sah (und mehr noch hörte), wie Bishdarielon von mehreren Hieben getroffen wurde, schwand ihre Siegeszuversicht. Nun begann sich die Lage zu zu spitzen. Die Untoten überschwemmten vor ihr die Straße, trennten sie von dem Krieger und versuchten auch sie einzukreisen.
Wenn sie noch fliehen wollte, müsste sie es jetzt tun . . . . Der bloße Instinkt riet ihr dazu. Panik, aber auch der kalte Verstand überwältigten sie. Gegen eine derartige Übermacht konnte nicht einmal eine Dienerin des Boron bestehen.
Sie wollte sich bereits umdrehen und loslaufen, als sie das Grauen erneut in den Bann zog. Es bestand aus einer langhaarigen, nackten, schmutzigen Frau, deren einstige Schönheit trotz ihrer Leibesfülle, Verwesung und fehlenden Augen noch gut zu erahnen war. Die Leiche hinkte geradewegs auf sie zu. Aus ihrem aufgeschlitzten Bauch baumelte ein unförmiges Etwas, das Golgariella im ersten Moment für Eingeweide hielt. Erst im Schein eines Blitzes erkannte sie, dass es die Überreste eines Säuglings waren, die der Toten mitsamt Gedärm aus dem Leib hingen.
Gnädige Marbo, lass nicht zu, dass es wahr ist. Ein ungeborenes Kind!
Es sah fast genauso aus wie der braunweiße, in Alkohol eingelegte Embryo, damals im Labor des Anatomen, nur verwester. Der kleine Körper, der zum Zeitpunkt des Todes vielleicht sieben oder acht Monate alt gewesen war, zuckte und wand sich, kopfüber, ein hässlicher, halbzertretener Wurm. Erst als die Tote mit den ausgepickten, blutverkrusteten Augen nur noch einen Schritt vor Golgariella stand, begriff die junge Frau, wonach der Embryo und seine Mutter mit wütendem Zischen grapschten. Nach ihr . . .
„Nein! Nein! Neeeeiheeeein!“ Stöhnend hackte Golgariella mit dem Spaten zu, in besinnungsloser Wut trieb sie die scharfe Kante immer und immer wieder in den Leib dieses zweileibigen, unförmigen Es, das erstaunlich rasch vor ihr niedersank. Immer noch stieß und hieb die Boroni zu, achtete nicht auf das Krachen der Knochen, nicht auf die eklen Geräusche platzender Haut, sondern ließ erst ab, als von den Leibern nur noch zerstückeltes, kaltes Fleisch übrig geblieben war.
Erregt lachend schritt die Schwarzberobte über die verstümmelten Körper hinweg, ihre Waffe gegen die nachdrängenden Dinger erhoben. Verwesungsgestank empfing sie wie Gifthauch, dunkle Sekrete sickerten in Pfützen. Sie versuchte Mund und Nase zu schützen, in dem sie ein Stück der klatschnassen Robe darüber zog. Gut, dass der Regen den infernalischen Geruch abmilderte, sonst wäre sie längst speiend und würgend zusammen gebrochen. Blitze spiegelten sich in zerstörten, grindigen Gesichtern, die sie stumpf und zornig zugleich anstarrten.
Du musst diesen dämonischen Frevel rächen – bei Boron und seiner göttlichen Schwester Tsa! Oder du wirst selbst irrsinnig!
Mit stoßweisen Schreien, die dumpf unter ihrem Mundschutz hervordrangen, stürzte sich die Boroni auf die Meute.
Denk einfach, es ist irgendein Strolch in einer Brabaker Kaschemme, dachte Francesco, bevor er seinem Gegner eine harte Kopfnuss verpasste. Der Griff um seinen Hals lockerte sich kurz, und der Streuner rammte dem Kadaver seine angewinkelten Knie in den Unterleib. Der glitschige Schlamm tat sein übrigens, um den kalten Alrik ein Stück zur Seite rutschen zu lassen.
Keuchend wand sich der Mondschatten unter dem Zombie hervor. Viel hübscher sahen deine Gegner damals auch nicht aus. Wie ein aufdringlicher Liebhaber kroch der Untote schon wieder heran. Von oben hangelten sich weitere der Leichen nach unten, fielen hin wie die Automaten, schlitterten ins Wasser und standen ungelenk wieder auf. Wären seine Gegner lebendiger und weniger stark bewaffnet gewesen, Francesco hätte lauthals aufgelacht. Tumb und doch hartnäckig wirkten sie tatsächlich wie Bettler oder Hausierer, die sich einfach nicht abwimmeln lassen wollten. Vor allem stanken sie, dass ein Tlaluc das Kotzen gekriegt hätte.
Gut, dass wir heute kaum gefrühstückt haben!
Mit den Stiefeln stieß Francesco den Würger zurück.
„Zu Hiiiilfffffe!“ brüllte er dann nach oben. „So helft mir doch!“
Hilflos wand er sich im Dreck, als wäre er ein Lurch. Langsam wurde es hier unten wirklich ungemütlich. Zwei, drei Untoten hielten ihn mit Knochenhänden oder angeschwollenen Pratzen fest. Dann baute sich ein bleicher Krieger vor ihm auf, einen Morgenstern mit abgerosteten Stacheln in der Linken (die Rechte war nur noch ein aus vermoderndem Fleisch ragender Unterarmknochen, von dem wiederum ein Überrest des Speichenknochens herab baumelte). Die Waffe sauste auf den schreienden Streuner nieder, traf aber nur einen Skelettkopf, der ungeschickt vorgeruckt war. Mit einem Klock prallte der Morgenstern auf den kahlen Schädel. Ein glupschiges Zombieauge fiel in Francescos Gesicht. Hastig grapschte der Untote danach und fügte es wieder in die Augenhöhle, als wäre es ein Monokel.
Der Totenschädel seines Gefährten grinste, aber das tat er vermutlich immer. Erneut hob er den Morgenstern zum tödlichen Hieb.
Francesco bäumte sich in der mitleidlosen Umklammerung durch die Zombies wie den Strick auf - vergebens.
Ein greller Blitz fuhr über den Nachthimmel. Mit infernalischem Kreischen prallte der tote Krieger vor dem Licht zurück, schwarze Blutfäden in seiner Fratze auseinanderziehend.
In den rollenden Donner hinein traf ihn der Spaten der Borongeweihten. Sein Brustkorb platzte auf, ekles Madengezücht fiel heraus.
„Im Namen Golgaris, hebt euch hinfort!“ brüllte Golgariella, während sie mit dem Spaten einen Rundumschlag ausführte. Dem Zombie mit Skelettschädel wurde der Kopf fein säuberlich abgehackt, der in den Graben davonkollerte. Diesmal hob der Knochenmann ihn nicht mehr auf, stattdessen kippte auch der Rest zu Boden. Ein weiterer Hieb erledigte einen unbewaffneten Untoten, der sich schon wieder an Francescos Hals zu schaffen machen wollte. Der letzte verbliebene Gegner torkelte orientierungslos in die Dunkelheit davon.
„Ihr kommt ziemlich spät – oder etwas zu früh, je nachdem Euer Gnaden!“ Francesco atmete tief durch. „Vielen Dank, dass Ihr mich hier freigeschaufelt habt. Jetzt wäre ich Euch zutiefst verbunden, wenn Ihr mir auch noch die Fesseln lösen könntet.“ Angeekelt blies der Geweihte eine Made von seiner Schulter.
Verzweifelt zerrte die Boroni an den Knoten, bekam aber nur die Fußfesseln auf.
„Meinen Dolch habe ich leider im Gasthaus verloren.“
Golgariella sah um sich. Die herumliegenden Waffen der Untoten waren entweder stumpf, rostig oder beides.
„Versucht, Eure Fesseln an der Schneide aufzuschaben!“ sagte sie und schob ihm dem Spaten unter den Rücken.
„Keine Zeit . . .Wo ist Alrik?“
Die Frage beantwortete sich, als in einigen Schritt Entfernung eine Gestalt über den Graben sprang. Mit einer Fackel in der Linken hielt der Krieger die nachsetzenden Untoten auf Abstand und hastete auf sie zu.
„Wir müssen uns im Stall verschanzen, schnell!“ keuchte Alrik. Selbst in der Dunkelheit waren eine blutglänzende Wunde am Oberkörper und das schmerzverzerrte, erschöpfte Gesicht gut zu erkennen.
Die Hände immer noch auf den Rücken gefesselt, taumelte Francesco auf die Straße – beinahe in ein bräunliches Skelett hinein, das ihn mit einer Sturmsense empfing. Der Streuner wich zur Seite aus, und der Hieb ging ins Leere. Mit wippenden, drehenden Schritten unter breiten Beckenknochen stakste der Knochenmann näher. Die großen, leeren Augenhöhlen starrten hohl auf eine Welt, der ihr Besitzer schon lange nicht mehr angehörte, ein breiter, lückenhaft mit Zähnen besetzter Kiefer war zu einem freudlosen Dauergrinsen erstarrt. Irgendwie erinnerte Francesco der „Gesichtsausdruck“ des Schädels an diese Adepta Fortunata. Langsam und geduckt wich er zurück. Wie eine Marionette in einem makabren Theater schwang das Gerippe die rostgesprenkelte Klinge, ruckelte und wackelte ihm hinterher.
Der nächste Schlag wurde von Alrik pariert, der die Sense abprallen ließ und dann mit einem einzigen wuchtigen Hieb den Schädel seines Gegners zertrümmerte: Der Schnabel des Raben drang knackend in die bleichgelbe Stirnplatte, als wäre es ein Ei. Klappernd und klackernd löste sich der Sensenmann in seine Einzelteile auf. Hastig stieß der Boronssoldat den Gefesselten über einige Trümmer hinweg auf den Stall zu, der scheinbar völlig unbeschadet am Straßenrand stand.
Dann stellte er sich einem feisten Zombie, der im buntschillernden Gewand der Verwesung und mit einem Dreschflegel auf ihn eindrang. Alrik stieß seinem Gegner die Fackel in den faulgasgefüllten Leib. Sofort begann die Leiche zu brennen, zischend und puffend verschlang sie das Feuer. Mit einem grellen Kreischen sank der Körper in sich zusammen.
Die Boroni hieb einer Angreiferin, die in ihre Robe gegrapscht hatte, mit dem Spaten die Hand ab. Nach und nach wurde sie von einer Gruppe Untoter umzingelt, die stöhnend und glucksend nach ihr schlugen, stachen und griffen. Alrik sprang in ihre Mitte und trieb sie mit dem Rabenschnabel und dem Feuer auseinander. Mit gesenkten Köpfen schlurften sie im Halbkreis herum, hoben blödig ihre Pranken vor die entstellten Gesichter, wann immer ihnen die glosenden Flammen zu nahe kamen oder prallten gefühllos vor einem Treffer zurück.
Schließlich schlug ein kecker Zombie-Gardist, auf dessen Morion noch eine gerupfte, grätenartige Feder steckte, mit einem zerfressenen Rapier zu. Der Golgarit parierte keuchend mit der Fackel, die ihm aber ob der Wundschmerzen aus der Hand fiel, in eine Pfütze rollte und verlosch.
Aus den Augenwinkeln sah Alrik, wie weitere Untote über den Schuttberg hinkten, um ihm den Weg zu den Stallungen abzuschneiden.
Dieser Gestank. Dieser widerliche süßliche Geruch, nach Leiche, Blut, Kot, Schlamm und Grab.
Alrik spürte, wie seine Nerven und der geschundene Geruchssinn nachgaben.
Er fasste Golgariella am Arm und zog sie mit sich, in Richtung des kleinen, strohgedeckten Fachwerkgebäudes. Die Tür stand offen. Alrik wartete, bis auch Francesco hereingetaumelt war, dann schlug er die Tür zu und schob den Riegel vor. Keinen Herzschlag zu früh, denn die ersten Untoten rumpelten bereits von außen dagegen.
Ein böses, geduldiges Scharren und Hämmern begann. Zerfledderte Köpfe glotzten durch offenstehende Fenster, Knöchelchen, Säbel und Finger wurden durch Ritzen gesteckt. Alrik warf den ersten Fensterladen zu, erschlug eine untote Krähe, die bereits hereingeflattert kam und schubste eine blasse Kinderleiche zurück, die durch ein weiteres Fensterloch klettern wollte. Auf der anderen Wandseite des Stalls stieß die Boroni mit einer zweigabeligen Forke in die Reihen der Verfolger.
Dumpf stöhnend und röhrend reckten diese ihre Hände durch das Fenster, als wollten sie betteln. In ihrem eifernden Zorn wirkte die untote Meute fast schon wieder menschlich. Ein halbes Dutzend Fäuste schlossen sich um die hölzerne Gabel, zogen und zerrten daran. Golgariella schrie auf, als kalte Haut und Knochen über ihr Gesicht tasteten. Sie ließ die Forke los, die nach draußen verschwand und bückte sich nach dem Spaten. Ein kopfloser Leichnam versuchte sie durch das Fenster hindurch mit den Überresten eines Schwerts zu durchbohren, aber sie wich aus.
Alrik warf an seinem Fenster die Läden zu, verriegelte sie. Mehrer Hiebe mit dem Rabenschnabel vertrieben die glotzenden Untotenfratzen vom Nachbarfenster. Der Friedwang verrammelte auch dieses. Ohne auf das Rumpeln und dumpfe, debile Klopfen in seinem Rücken zu achten, wandte er sich Golgariella zu. Die Borongeweihte hatte dem Zombie-Torso die Waffe aus der Hand geschlagen und ihn nach draußen zurückgedrängt. Auch bei ihrem Fenster versuchte sie die Läden zu schließen. Eine graue Leichenhand drängte sich in den Spalt dazwischen, krallte sich ins Holz. Golgariella hackte ihr mit dem Spaten einen Finger ab, und dann, als der Zombie unbeeindruckt blieb, auch die übrigen. Alrik zerschlug die verbliebene Hand mit dem Rabenschnabel, schloss das Fenster und schob den Riegel vor.
Keuchend atmeten sie erstmal aus, musterten sich mit bleichen Gesichtern, die sich nur noch wenig von denen lebender Leichname unterschieden. Sie zitterten am ganzen Körper, was nicht nur an der Anstrengung und der feuchten Kälte lag, die der Regenwind unentwegt gegen den Stall blies. Muffiger Heugeruch umgab sie.
„Licht, wir brauchen Licht!“ ächzte Francesco. „Und bindet mich vor allem erst mal los.“
„Da drüben hängt, glaube ich, eine Laterne“, sagte Alrik. „Habt Ihr Feuerstein, Stahl und Zunder?“
„Ja, in meiner Umhängetasche. Die liegt leider mit dem Karren unter den Trümmern.“
„Mit dem Lampenöl könnten wir die. . . die Dinger vielleicht verbrennen . . .“ schlug der Phexgeweihte vor.
„Jaja, erst mal Feuer haben . . .“
Tatsächlich waren es nur die Blitze, die ab und an die Scheune erleuchteten. Durch Ritzen im Fachwerk und den Fenstern ließen sich die Leiber der Untoten immer noch erahnen, die sich um das Haus drängten, stöhnten und mit den Füßen scharrten.
„Euer Gnaden, bindet Ihr mich los.“
Erleichtert nahm Francesco zur Kenntnis, wie Golgariella sich seinen Handfesseln zuwandte.
„Was soll das?“ grollte Bishdarielon in einen knisternden Donnerschlag hinein. „Der Mann ist ein Schwer-verbrecher.“
„Davonlaufen wird er heute nacht wohl kaum“, sagte die Boroni und es klang fast spöttisch „. . . und wir können jede Hand zur Verteidigung gebrauchen.“
„Ich bin auch kein Schwerverbrecher“, beeilte sich Francesco zu sagen. „Das Ganze ist nur....sagen wir ....eher ein Missverständnis.“
„Missverständnis?“ Alrik lachte auf. „Wenn das da draußen keine Untoten wären, würdest du schon längst mit ihnen gemeinsame Sache machen . . .“
„Leider sind es nun mal kalte Alriks. Wenn du Glück hast, bringen sie mich noch vor dir um – das wird dann sicherlich ein Grund zur Freude für dich sein.“
„Der Mann hat recht!“ sagte Golgariella und nestelte an dem Knoten. „Was auch immer er in Euren Augen verbrochen haben mag, kein Mensch verdient es, gefesselt und wehrlos auf ein solches Ende warten zu müssen.“
„Endlich mal jemand mit Verstand.“ Francesco stöhnte auf, als das Blut wieder in seine Hände zurückkehrte und rieb sich die Gelenke. „Aber mit dem da könnt Ihr ohnehin nicht reden. Der Herr ist gerade auf einem persönlichen Rachefeldzug, wie dieser rübenschädelige Irre aus Yol-Ghurmak.“
Golgariellas hohe Stirn zog eine Falte. „Schweig. Immerhin ist Bishdarielon ein Ritter des Boron und dich kenne ich nicht. Aber wir haben nun erst einmal andere Sorgen, denke ich.“
„Fürwahr, fürwahr. Trotzdem vielen Dank . . .“ Francesco sah sich um. „Jetzt brauche ich nur noch was, um mein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.“
„Gebt ihm bloß keine Waffe“, fauchte sein Bruder, während er die Fensterläden zusätzlich mit Balken und Brettern verrammelte.
„Der Herr fürchtet wohl, dass ich ihm mit einer Mistgabel in seinen hochgeborenen Rücken pieke?“
„Ihr beiden müsst völlig verrückt geworden sein.“ Golgariella spähte mit flackerndem Blick durch ein Lichtloch im Fensterladen. Draußen hatte der Boden zu dampfen begonnen, in der diesigen Luft waren die Geschöpfe der Dunklen Herrin nur noch als Schemen auszumachen. „Streitet euch hier, während . . . Was haben sie vor? . . . Wanken sinnlos umher... Scheinen zu warten, bis wir wieder herauskommen. Oder haben uns schon vergessen, wer weiß . . .“
Francesco griff nach einer Heugabel, aber Alrik nahm sie ihm aus der Hand und zerbrach sie über dem Oberschenkel. Dann reichte er ihm das untere Ende des Schafts.
„Damit kannst du um dich schlagen, falls sie doch noch hier eindringen sollten.“
„Vielen Dank, Bruderherz. Deine Sorge um mich ist wirklich rührend.“ Francesco blinzelte nach oben, von wo Flattern zu hören war. Die Krähen . . . Dieses Kroppzeug gab es ja auch noch.
Irgendwie erinnerte ihn das alles an die Ratten im Schratenwald. Da war er ähnlich in der Falle gesessen: Er und seine Gefährten in der Jagdhütte, die Geschöpfe des Namenlosen draußen, vor den Wänden, auf dem Dach. Zum Glück gab es hier keinen Kamin, aber das Dach wirkte alles andere als stabil. Das Schlagen der mürben Schwingen, das Rascheln steifer Krallen im Stroh zerrte an seinen Nerven. Flogen die Krähen um den Stall oder befanden sie sich schon auf dem Heuboden?
Im nächsten Augenblick drang ein aufgeregtes Muhen und Stampfen an ihre Ohren, dann ein panisches Brüllen. Das kam von draußen.
„Sieht so aus, als hätten sie die Kuh entdeckt“, sagte Alrik tonlos.
Die grauenhafte Schmerzensschreie des Tieres erfüllten die Nacht. Nach einer halben Ewigkeit herrschte Stille – und schließlich waren eklig nasse Geräusche sowie Schmatzen zu hören.
Das Hufgetrappel näherte sich von Westen her. Schwere Hufe wühlten den Schlamm neben der Reichsstraße auf, während die Reiter mit erhobenen Waffen durch die Reihen der Untoten fegten. Schwerter und Säbel hieben in untotes Fleisch oder zerbrachen morsche Knochen. Einige der Untoten krischen wie in Todesangst, andere hackten nach den Pferden. Ungelenk, als wären sie in dicke Rüstungen statt in zerfetzte Lumpen oder rostigen Stahl gehüllt, torkelten die Gestalten umher und empfingen Schlag auf Schlag. Einige wenige taumelten in Richtung Wald davon. Nach kurzem Gestampfe, Pferdeschnauben und Waffengeklirr war alles vorbei.
Die Tür zum Stall wurde aufgebrochen, und ein Mann in Plattenharnisch, das Gesicht unter einem Schaller verborgen, stapfte mit wehendem Mantel herein, das besudelte Schwert erhoben. Flackernd wanderte das Licht einer Fackel umher. Der Krieger röchelte metallisch, und die Haut, die unter dem Visier und den kalten Augen zu sehen war, wies Narbenspuren auf. Hinter ihm stapfte eine ähnlich schwer gerüstete Frau herein.
„Verdammtes Untotengeschwaddel!“ knurrte sie und wischte ihren Streitkolben am Stroh sauber, das neben der Tür vom Heuboden herabhing. „Verbreiten nichts als Krätze und Gilbe. Wenn sie einmal aus dem Bann entwischen, sind sie nur noch als Wurfgeschosse zu gebrauchen - kleingehackt für die Katapulte.“
„Ich frage mich, was Rhazzazors Brut hier gesucht hat“, röchelte der Gepanzerte.
„Was werden sie hier schon gesucht haben – die Kuh vermutlich.“
„Untote fressen kein Fleisch.“
„Wer weiß das schon und wer will das so genau wissen? Du hast doch selbst gesehen, wie sie die Zähne in die Eingeweide geschlagen haben.“
„Nein. So haben sie sie getötet, beim Rastlosen!“ Der Schwarze Reiter lachte - es klang unter seiner stählernen Maske kalt und mitleidlos wie das Fauchen eines Frostwurms. „Ich spüre, dass sich hier noch irgendwo Emerknechte verkrochen haben.“ Beiläufig stieß er mit der Klinge in einen Heuhaufen. „Dieser verrückte Soldat hat ja so was angedeutet. . .“
„Der Schwachkopf, der in einem fort vom Weltuntergang gefaselt hat? Der wollte nur seine eigene Haut retten.“
Die Frau spuckte aus. „Was bei allen Niederhöllen hat das Haus da draußen so zugerichtet? Ein Arjunoor? “
„Hättest du dem Narren nicht den Scheitel glattgezogen, hätte er vielleicht noch gequatscht.“
„Ghulscheiße, wir können doch nicht jeden Versprengten da draußen ausquetschen. Jemanden sollte diesen Landstreichern mal beibringen, dass jetzt wir die Straße beherrschen.“
„Wir bringen es ihnen bei, auf unsere Weise.“ Wieder ein frostiges Lachen. „Hol´s der Geier. Zünden wir die Scheune einfach an.“
„Bei diesem Pisswetter gibt das ein lausiges Feuerchen.“
„Ich möchte es aber genau wissen. Spielen wir Azzitai.“ Der Schallerträger stieß den Brand ins Stroh und warf die Fackel anschließend auf den Heuboden.
Dann trat er hinaus, wo ein Dutzend Reiter im Halbkreis um die Scheune Aufstellung genommen hatten. Hinter ihnen lagen die Überreste der Untoten im Schmutz, in der Mitte die Kuh mit leblosen Augen, die weit aufgerissen waren wie ihr Bauch.
„Falls noch einer von den Zwölfgötteranbetern herauskriechen sollte, erschlagt ihn. Nein, noch besser, treibt ihn zurück ins Feuer.“
Francesco spähte vorsichtig über den Rand des Mauerwerks. Hätte er seine Hand weit ausgestreckt, er hätte mitten in den lichterloh brennenden Stall gelangt.
Es war seine Idee gewesen, während des Gefechts der Schwarzen Reiter gegen die Kalten Alriks aus einem Fenster zu klettern und sich in den Keller des Gasthauses zu flüchten, der offen dalag wie ein ausgehobener Ameisenbau. Hätte es nicht geschüttet wie aus Kannen, die Hitze, die von dem brennenden Gebäude ausging, wäre nicht zu ertragen gewesen. Die Robe der Borongeweihten dampfte, als stünde sie bereits in Flammen. So aber waren sie – zwischen einem umgestürzten Regal mit Weinflaschen und einem Bierfaß - leidlich geschützt.
Stampfend und schnaubend setzte sich das Pferd, das ihnen am nächsten stand, in Bewegung. „Da drin lebt keine Ratt´ mehr!“ lachte die Reiterin.
„Wartet noch!“ befahl der Anführer. Unter seinem Helm klang es wie ein abgehacktes Zischen.
Langsam wurde es in diesem Loch wirklich heiß. Die Dreckigen mussten sich nur über den Rand beugen und hineinsehen, dann wären sie entdeckt. Was Francesco ebenfalls beunruhigte war, dass die Schwarzen Reiter eindeutig aus Richtung Westen gekommen waren – vom Hohenstein her. War die Festung am Ende bereits gefallen?
Einen Augenblick lang peinigte ihn die Schreckvision, wie langsam, aber sicher eine Zufluchtstätte nach der anderen von der Dunkelheit verschlungen werden würde. So ähnlich musste sich ein Bergmann oder Matrose fühlen, der, nach einer Katastrophe in ein Luftloch eingesperrt, spürte, wie ihm die schwarze Flut zu den Lippen stieg - und irgendwann darüber hinweg.
Eine halbverweste Krähe flatterte mit struppigem Gefieder herab, als wolle sie die Aufmerksamkeit der Reiter auf ihr Versteck lenken. Im nächsten Augenblick schloss sich Alriks gepanzerte Rechte um den Hals des untoten Tieres. Der Golgarit hämmerte die Kreatur solange gegen das Mauerwerk, bis es nicht einmal mehr zuckte.
Langsam drehte sich der Mann mit dem Schaller in Richtung des Verstecks.
In diesem Augenblick stürzte rumpelnd und krachend der Stall in sich zusammen. Feuriger Gluthauch fegte über die drei Göttergläubigen hinweg. Golgariella schrie auf, aber der Lärm übertönte ihre Stimme ebenso wie das Stöhnen ihrer Begleiter.
Ein knapper Befehl erklang, dann setzte sich die Kavalkade wieder in Bewegung.
Immer noch prasselte der Regen herab. Es war finster, nass und kalt. Nur das glosende Feuer neben der Ruine bildete eine makabre Parodie auf Travias Herdfeuer, nach dem das Gasthaus unlängst geheißen hatte. Die drei Flüchtlinge drückten sich in die Ecke des Kellers, wo ein Rest der Decke kümmerlichen Schutz bot.
Francesco wühlte in den zerborstenen Flaschen, die um die Trümmer des Regals herum verstreut lagen. Irgendwie sahen die Zerstörungen aus, als seien sie schon früher durch den Thorwalismus von Plünderern und nicht erst durch den, nun ja, Einsturz des Hauses entstanden. In einer Pfütze entdeckte er eine Tonflasche, die noch heil war. Mit den Zähnen zog er den Korken heraus. Der Geruch nach Quittendestillat und starker Schnapsdunst schlugen ihm entgegen. Allein davon wurde ihm auf nüchternen Magen schwindlig.
„Na also, wenigstens der Heilige Valpo lässt seine Jünger nicht im Stich.“ Vorsichtig nahm er einen kleinen Schluck – und hätte ihn beinahe wieder ausgepieen. „Oho, ist der stark.“ Scharfsauer stieß ihm der Alkohol auf. Er blinzelte mit tränenden Augen und verzog seinen Mund.
„Ist das Fusel?“ fragte die Borongeweihte.
„Scheißt der Bote des Lichts in den Wald? Nein, das ist Valposella, und zwar vom Feinsten.“ Francesco grinste, schon jetzt leicht angetrunken. „Eigentlich soll man ihn nicht in der Nähe von offenem Feuer trinken, hihi . . .“
„Den schickt uns Marbo, um unsere Wunden zu reinigen ...“
„Juha. Vor allem unsere inneren Verletzungen, hihi . . . Auf unsere werten Gegner, die noch einen langen Ritt bei Nacht und Regen vor sich haben.“ Francesco nahm einen weiteren Schluck.
Alrik riss ihm den Valposella aus der Hand.
„Ein Säufer bist du also auch noch geworden“, sagte er mit tiefer Verachtung in der Stimme.
„Auch n´ Schluck?“
„Nein!“
„Gebt mal her.“ Golgariella nahm die Flasche an sich und goss sich etwas Schnaps über die Hände.
„Was macht Ihr da? Verschüttet den guten Brand . . .“
Ohne Francesco zu antworten, ging die Boroni zum Feuer und hielt ihre nassglänzenden Finger dagegen. Sofort züngelten bläuliche Flammen empor – es sah aus wie ein Gauklertrick.
Nach einigen Herzschlägen verloschen die Flammen wieder. Golgariella wiederholte die Prozedur mit einem Fetzen aus ihrer Robe.
Danach goss sie den Branntwein über die Wunden in Francescos Gesicht und wischte mit dem Stück Stoff darüber. Vor Schmerzen zischend schloss der Streuner die Augen. Auch wenn der Regen das meiste sofort wieder abspülte, fühlte er sich, als hätte er einen säuretriefenden Sordul geküsst.
Vermutlich haben diese Hände auch schon Leichen gewaschen, dachte Francesco schaudernd.
Auch Golgariella probierte ein Schlückchen.
„Aber nu´. . . nur gegen den . . . den Pesthauch . . . der Untoten. . .“ beeilte sie sich zu sagen.
Erneut machte sie sich an Francescos Stirnwunde zu schaffen, die der Schnabel einer untoten Krähe hinterlassen hatte.
„Ihr macht Euch sehr viel Sorgen um das Wohlergehen eines Verbrechers“, knurrte Alrik.
„Was ist mit Euch?“
„Nur ein paar blaue Flecken. Der Säbelhieb hier ist nur ein Kratzer. Muss aber auch gesäubert werden. Naja, reicht den Schnaps mal her.“ Wie ein Svellttaler Viehhirte goss Alrik sich den Branntwein über seine Verletzungen – ohne dabei eine Miene zu verziehen.
Dann trank auch er ein Flux Schnaps. Diesmal krümmten sich seine Gesichtszüge zusammen. „Verfluchtes Mistzeug. Brennt wie das Feuer der Niederhöllen. Was soll das sein?“
„Valposella, wie isch....ich schon sagte. Her damit. . . Drei Schnaps sind auch ein Schnitzel . . .“ Francesco nahm einen weiteren Schluck. Mit dem Knüppel hatte er ohnehin keine Chance, falls die Schwarzen Reiter es sich anders überlegen würden und zurückkämen. So würde er wenigstens schmerzfrei und beschwingt sterben.
Die blasse junge Frau mit den blutunterlaufenen Augen – Golgariella? Eine Untote? – sah ihn traurig und irgendwie verständnisvoll an. Blut rann ihr über die mürben, bläulich verfärbten Lippen, auch das linke Auge war angeschwollen. Die Haare hingen wirr auf die Schultern, das Wams war ungeordnet und am Kragen weit aufgerissen. Sie wirkte verschlagen, aber auch auch verstört und schutzlos. Sacht drückte sie ihm einen Kuß auf die Stirn, kühl und unstofflich, als habe ihn nur ein Lufthauch gestreift.
Die Szene wechselte. Ein halbes Dutzend schwerbewaffneter Männer und Frauen in dunklen Rüstungen saßen an einem Tisch, lachten, zechten und gröhlten. Blutige Bündel lagen reglos in der Stube, große und kleine. Vor Entsetzen und ohnmächtiger Todesangst weit aufgerissene und dann für immer erstarrte Augen. Aufgeschlitzte Kehlen, Schwertstiche in den Unterleib, Armbrustbolzen, die aus nächster Nähe abgeschossen worden waren . . . Neben den Leichen hatten grobe Hände eine Wiege umgestossen. Der Dielenboden war blutgetränkt. An einem der Deckenbalken baumelte mit herabhängenden Schultern und Haaren ein Toter, die Hände auf den Rücken geschnürt. Der Mann sah aus wie der Wirt des Gasthauses.
Einer der Soldaten stand auf und hielt der jungen Frau mit den zerrissenen Gewändern seinen Degen an die Kehle. Der Mann, ein Allerweltsgesicht mit pervalischen Augen, stieß sie in die Küche, wo über der Feuerstelle ein Kessel hing. Der Söldling ließ sein Opfer nicht aus den Augen, begrapschte es, wickelte ihre Locken um seine gepanzerte Faust, zog sie heran, leckte ihr über die halbentblösste Brust. Dann zerrte er das weinende Mädchen – sie schien kaum älter zu sein als 16 oder 17 Götterläufe -, zu dem dampfenden Kessel, versuchte das Gesicht in den kochendheißen Inhalt hinein zudrücken. Irgendetwas im Nachbarzimmer lenkte ihn ab. Mit erhobenem Schwert sagte der Kerl etwas zu der Frau, dann ging er derb lachend hinaus. Schluchzend rührte die Magd den Eintopf um und brach dabei endgültig in Tränen aus. Tränen, vermischt mit Rotz tropften in die Suppe. Die vernichtende Erkenntnis, dass sie bald alles einschließlich des eigenen Lebens verloren haben würde, schüttelte das Bauernmädchen wie ein Fieber. Dann fasste sie sich wieder, schniefte und sah verstohlen in Richtung der Stube. Kurzentschlossen, mit jähem Hass in den Augen, griff sie in ein Regal, in dem ein Tontiegel stand und schüttete daraus ein schwarzes, metallisch glänzendes Pulver in den Topf.
Mit einer Schöpfkelle teilte sie die Suppe aus. Die Söldlinge wollten sich gierig darauf stürzen, aber der Mann mit dem Degen hielt sie zurück und drückte die junge Frau auf einen Stuhl. Mit vorgehaltener Klinge zwang er die Magd, vorzukosten. Nach kurzem Zögern schlang das Mädchen einige Löffel des Eintopfs herunter und starrte danach mit stumpfem, teilnahmslosem Blick ins Leere. Nichts geschah. Beruhigt machten sich die Soldaten über ihre Mahlzeit her, soffen Schnaps und fluchten. Die Stimmung wurde ausgelassen. Einer schlug eine Trommel, seine Gefährtin zupfte auf einer Mandoline. Ein Spitzbart wischte beiläufig seine Finger an den Haaren der Magd sauber – und schrie. Das Mädchen saß totenbleich, mit herausquellenden Augen und blutigem Schaum vor den Mund, auf ihrem Stuhl und zuckte nur noch schwach. Ihr Nebenmann sprang auf, langte sich an den Hals und brach sogleich röchelnd zusammen. Ebenso erging es nach und nach der übrigen Runde. Bald wandten sich alle in entsetzlichen Krämpfen am Boden, hielten sich den Unterleib, schrien in namenloser Qual, während ihnen Schaum, vermischt mit Blut, aus den Mündern quoll . . . Schließlich war der Boden bedeckt mit Leichen .
Es war unangenehm kühl, fast schon kalt. Sie sahen ihn an, die ganze Familie mit den Kindern – ein Junge und ein Mädchen -, sowie die Magd und ein grauhaariger Knecht. Der Hals unter dem fahlen, leicht durchscheinenden Gesicht des Wirts zeigte Spuren von Würgemalen. Die Gesichter seiner Gemahlin und des Jungen waren ebenso blutüberströmt wie ausdrucklos. In den Armen hielt die Frau einen Säugling. Nur das Mädchen mit den blondgelockten Haaren wirkte arglos und fröhlich, während die Gesichter der Eltern eine unendliche, matte Traurigkeit zeigten. In ihren zarten, weißen Fingerchen hielt sie einen Schlüssel, in dessen Raute ein kleiner Backenzahn eingelassen war.
„Wie ist es denn so bei den Göttern?“ hörte sich Francesco in die Stille hinein fragen.
Die Wirtsleute schwiegen bedrückt, ebenso das Gesinde. Das blonde Mädchen lächelte. „Die Götter sind das Gute“, sagte sie und löste sich ebenso wie die anderen in Luft auf.
Mühsam öffnete Francesco die Augen. Der Regen prasselte herab, als wolle er das Land von allem Bösen reinwaschen. Er fröstelte. Fahl und krank dämmerte das Zwielicht des Morgens heran. Sein Kopf ruhte auf der Schulter seines Bruders, der matt neben ihm schnarchte. Pikiert wechselte er die Seite. Im nächsten Augenblick spürte er weich und warm die Brüste der Borongeweihten unter sich. Sie zitterte. Golgariella öffnete die Augen und sah ihn mehr erstaunt als ungehalten an.
Verschlafen ruckte Francesco hoch. „Verzeiht . . .“
Schnaps, es roch nach Schnaps. Natürlich, sie hatten getrunken, Valposella, du liebe Güte. Irgendwann mussten sie eingeschlafen sein. Er hatte einen wirren Traum gehabt, konnte sich aber im Moment nicht mehr daran erinnern.
„Schon in Ordnung . . .“
Die Boroni rieb sich über das Gesicht. „Es ist so kalt. Lasst uns einen Augenblick am Feuer wärmen.“
Tatsächlich, der Stall war zwar ziemlich herunter gebrannt, aber noch immer loderten einzelne Flammen zwischen den verkohlten Balken empor. Darunter verströmte tiefrote Glut noch etwas Hitze.
Beide stiegen aus dem Keller, wobei sie darauf achteten, nicht auf die Überreste des Soldaten zu treten, die auf der Treppe lagen. Dann standen sie zusammen am Feuer, und versuchten ihre klammen Glieder zu wärmen.
Schließlich zog Golgariella ohne jede Vorwarnung die klatschnasse, zerrissene Robe, anschließend ihr Hemd aus. Es folgten Lendenschurz und Stiefel. Wenig später stand sie nackt in der heißen, feuchten Asche neben dem glühenden Holzstücken.
Nach kurzem Zögern tat es ihr Francesco nach. Es war ein merkwürdiges Gefühl, die trockene Hitze von unten und der eisige Regen, der auf ihre Leiber herabströmte. Der allgegenwärtige Rauch roch dampfig, nicht einmal unangenehm. In der Kehle schmeckte er noch immer den scharfen Schnaps.
Ein kalter Wind von Rommilys her peinigte ihre Körper. Unwilkürlich schmiegten sie sich aneinander, versuchten sich Wärme zu geben. Nur kurz zuckte Francesco zusammen, als Golgariella seinen Wundverband berührte.
Wie lange war er schon nicht mehr bei einer Frau gelegen? Seit er vor einigen Wochen Ismena verlassen hatte.
Francesco legte seine Hände um Golgariellas Taille. Beide sahen sie eher zerzaust und erschöpft als rahjagefällig aus, aber die Berührung tat ihm gut. Ihr auch, wie ein zartes Aufseufzen verriet.
„Wem habt Ihr das Pferd gestohlen?“ fragte Golgariella beiläufig, während sie über sein nasses Haar strich. „Bishdarielon . . .?“
„Ich habe gar kein Pferd gestohlen“, log Francesco. Er küsste Golgariella auf ihre weichen, sanften Lippen. Einen Herzschlag lang schauerte sie zurück, dann presste sie ihren regennassen Körper an den seinen. Sie stöhnte. Ihre Hände tasteten über seinen Körper.
Wieviele Leichen hat sie damit wohl schon berührt? Wieviele Tote und Leichenteile lagen h i e r herum – sicherlich fast ein ganzes Banner. Wie abgestumpft – nein, abartig- musste man sein, um es an einem solchen Ort miteinander zu treiben? Tatsächlich, die Allgegenwart des Todes schien die Borondienerin auf marbide Weise zu erregen. Sie war krank !?
Erneut begann er zu zittern. Nun hab dich mal nicht so, ermahnte sich Francesco. Immerhin war die erste Frau, die du in deinem Leben gesehen hast, eine alte, hässliche Totengräberin aus Brabak. Mit Golgariella hast du es noch gut erwischt. Ihre Brüste waren wirklich wohlgeformt, ebenso ihr Hintern.
Du wärst sicher eine schöne Leiche, hahaha.
Nein, die Kleine hätte in einem anderen Leben durchaus auch Rahjageweihte werden können. Auch er selbst, schmutzig, stoppelbärtig und gemein, wie er vor ihr stand, schien ihr zu gefallen.
Dabei weiß sie nicht einmal, dass ich bis vor kurzem noch Baron von Friedwang war.
„Der Tod ist immer noch das beste Rahjaicum“, flüsterte die Boroni, als hätte sie seine Gedanken erraten und grub ihre Finger in sein Haar. Sie schien wirklich erregt zu sein. Seufzend presste sie ihre Schenkel gegen die seinigen. Francesco fühlte etwas Feuchtes, Weiches und Pelziges an seinem Gemächt. Wenn es nur nicht so niederhöllisch kalt gewesen wäre. . .
Francesco versuchte das Liebespiel zu erwidern und küsste seine Gegenüber zwischen die halb aufgerichteten Brüste.
Der Tod vielleicht – aber nicht der Untod.
Trotz des Wetters drang süßlicher Geruch an seine Nase. Aus den Augenwinkeln sah er den zerfledderten Leib eines Untoten, der am Rand des Feuerscheins im Dreck lag. Der schlaffe, reglose Körper erinnerte ihn wieder daran, was hier vor kurzem vorgefallen war – und an noch etwas anderes.
Es ging nicht. Nichts regte sich zwischen seinen Beinen, so sehr er sich auch anstrengte. Er versuchte, sich Ismena anstelle der Boroni vorzustellen, aber es half nicht.
„Ich kriege ihn nicht hoch“, stöhnte er nach einigen quälend langen Momenten. Golgariella mühte sich noch ein wenig ab, dann ließ sie ihn seufzend los – jäh und abrupt. Es wirkte fast, als wolle sie ihn wegstoßen.
„Schon gut“ sagte sie leise. Ihre Stimme klang mit einem mal kühl. „Ich . . . ich bin eine Geweihte. Hätte einfach vernünftiger sein müssen . . . Am besten, wir vergessen, was gerade eben . . . geschehen ist . . .“ Verwirrt schüttelte die Boroni den Kopf, als erwache sie aus einem seltsamen Traum. „Morgen früh müssen wir weiter.“
Hastig kleidete sie sich wieder an und huschte in Richtung Keller.
Mit rotem Galottahaupt und verlegen blieb Francesco im Regen stehen. Fluchend griff er nach der Hose. Nun waren er und seine Gewänder erst recht nass und schmutzig. Vor allem fühlte er sich selbst so: dreckig.
Fliegen. Myriaden schwarzer Fliegen. Sie schwirrten brummend um ihn, setzten sich auf ihn, stachen ihn, saugten ihn aus . . .
Er erwachte. Der Regen hatte aufgehört, die Sonne stand hell am Morgenhimmel. Alles wirkte wie ein Spottbild auf einen herrlichen Frühlingstag. Einen Augenblick lang hätte man sich einbilden können, dass das Summen und Brummen von Käfern oder Bienen stammte – und nicht von fetten Schmeißfliegen, die der Leichengeruch anzog. Außerdem roch es beißend und süßlich nach verkohltem Holz.
Ächzend kroch Francesco aus der Nische, in die er sich zurückgezogen hatte, in irgendeinen nassen Sack gehüllt. Er fühlte sich, als hätte er Dumpfschädel – oder bereits Wundfieber? Ein flaues Gefühl in seinem Magen erinnerte ihn daran, wie lange er schon nicht mehr richtig gegessen hatte. Auf Burg Friedstein war das Frühstück immer üppiger ausgefallen.
Er spähte über die Mauerreste. Die Reichsstraße, der Wald, die Hügel – alles wirkte beinahe freundlich und harmlos. Selbst der regennasse Schutt sah eher unspektakulär aus. Der Phexgeweihte hatte eine weitere Walstatt voller Leichen erwartet, aber außer einigen schwarzen Flecken neben Pfützen war von den Zombies nichts mehr zu sehen. Natürlich, die Untoten waren ja beim ersten Praioslicht zu Staub zerfallen. Nur einige armselige, verrostete Waffen lagen hie und da umher, wie zum Hohn auf die Furcht, die ihre Träger ihnen gestern nacht eingejagt hatten. Und natürlich die Toten, die das verrückt gewordene Gasthaus auf der Reichsstraße hinterlassen hatte.
Er kletterte aus dem Keller. Golgariella kauerte geduckt neben der qualmenden Scheune und briet etwas an einem Lagerfeuer. Alrik lief geduckt zwischen den Baumreihen umher, möglicherweise auf der Suche nach Feuerholz.
Verschwommene Bilder flackerten im Gedächtnis des Streuners auf: Ruinen, Sumpf, windschiefe Hütten, abgerissene, herumhuschende Gestalten, der Gestank nach Aas – die Elendsquartiere von Brabak. Einen Augenblick lang kämpfte er mit widerstreitenden Gefühlen: Alles war wieder so wie früher, in seiner rauen, freien, vielleicht sogar glücklichen Jugend. Andererseits fühlte er sich matt und zerschlagen wie ein Landstreicher – und sehr wahrscheinlich sah er auch aus wie ein schmutziger Bettler.
Die Borongeweihte. Einen Augenblick lang zog er in Erwähnung, dass das, was in der Nacht vorgefallen zu sein schien, auch nur wirre Traumbilder gewesen sein konnten. Aber schon seine ungeordnete Kleidung zeigte ihm, dass er das alles nicht nur geträumt hatte – leider. Auch Golgariella sah mit zerrissener Robe und regennass eher wie eine gerupfte Saatkrähe aus denn eine Dienerin des Boron.
Am liebsten wäre er der Priesterin ausgewichen, aber wohin? Ausserdem hatte er Hunger. Über einem angespitzten Stab – nein, einem abgebrochenen Pfeil – hielt die Schwarzberobte einige Kanten Brot über ein armseliges Feuerchen, um sie zu rösten. Francesco wollte gar nicht wissen, aus der Tasche welcher Leiche sie diesen Proviant gezogen hatte. Eigentlich hätte es ihn nicht einmal gewundert, wenn die Boroni hier untotes Fleisch gebraten hätte.
Golgariella sah ihn bleich und übernächtigt aus dem Schatten ihrer Kapuze heraus an.
„Frühstück?“ krächzte Alrik verlegen, um überhaupt irgendetwas zu sagen. Ein herzhaftes Guten Morgen wäre wohl wirklich unangebracht gewesen . . .
„Eher ein Leichenschmaus“, erwiderte die Geweihte todernst.
Der Streuner grinste. Wenn er es fertigbrachte, unter blutsaufenden Borbaradianern mit den Wölfen zu heulen, warum nicht auch gegenüber einer Frau, bei der er sich letzte Nacht blamiert hatte? Jetzt war keine Zeit für Scham oder Ehre.
Francesco nahm sich ein Stück Röstbrot, das ihm Golgariella reichte.
„Ah, heiß. Wir sollten machen, das wir hier verschwinden.“
Er kratzte etwas von der schwarzverbrannten Kruste ab und schob sich den Klumpen zwischen die Zähne. Das Brot schmeckte nass und verbrannt, aber immerhin, besser als nichts . . .
„Das Feuer fällt neben den Trümmern nicht auf, und Bishdarielon warnt uns, falls sich jemand nähert.“
Sie reichte ihm einen Schlauch mit Wasser.
„Für eine Boroni bist du ziemlich geschw. . . gesprächig“, sagte Francesco in die entstandene Stille hinein.
Und hast deine Gefühle verdammt schlecht im Griff.
„Findest du?“
Verlegen sah sie ihn an.
„Glaub mir, normalerweise nehme ich die Gebote meiner Kirche sehr ernst. Oft kommt mir tagelang keine Silbe über die Lippen. Oder sogar wochenlang.“
Auch die Borongeweihte ass etwas von dem Röstbrot.
„Aber immer, wenn etwas sehr Schreckliches geschieht, dann kann ich halt nicht anderes. Dann werde ich eine richtige Quasselstrippe. Wie damals auf dem Hof, als ich von der Leiter gefallen bin . . . Selbst schuld, meine Eltern hatten mich ja gewarnt. . . “
Golgariella kicherte.
„Meine Eltern. Die hätten es wohl nie für möglich gehalten, dass ausgerechnet ihre geschwätzige kleine . . . dass ausgerechnet ich einmal eine Dienerin Borons werden würde. Und dann auch noch wegen ihnen.“
Ihr Lächeln wurde bitter. Sie schlug die Hände vors Gesicht und kicherte überdreht, fast wie ein kleines Mädchen.
„Vielleicht sollte ich einfach nur verrückt werden . . .“
„Besser nicht ....“ sagte Francesco kauend, ohne sie aus den Augen zu lassen.
Golgariella beruhigte sich wieder. Sie schien nun weit zurück in die Vergangenheit zu blicken.
„Wahnsinn ist etwas Schreckliches. Da war dieser Bauer. Ein Hüne von einem Mann, kräftig wie ein Troll. Wollte mit der Axt auf uns los, weil er uns für Dämonen hielt oder so etwas. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich auf ihn eingeredet habe. Schließlich hat er sich wieder beruhigt. Hat geheult wie ein Kind und mir erzählt, was ihm widerfahren ist drüben in Altzoll. Marbodian hat gesagt, wenn der Tod kommt, müsse man schweigen, aber gegen den nahenden Irrsinn anreden. Daran habe ich mich gehalten . . .“
Francesco nickte vielsagend. Innerlich fühlte er eine leichte Unruhe aufkeimen.
Kein Zweifel, diese Frau hatte sich selbst nicht mehr im Griff. Vermutlich stand sie noch immer unter Schock. Nach allem, was geschehen war, sogar verständlich. Geweihte, die sich nicht mehr an die Gebote ihrer Kirche hielten, waren ihm dennoch zuwider. Es hatte immer etwas mit dem Zusammenbruch der göttergefälligen Ordnung zu tun, wenn sich die Diener der Zwölfe wie normalsterbliche Menschen benahmen.
Wie hatte Golgariella gesagt: Gegen den Irrsinn musste man anreden. Als er ihren prüfenden Blick spürte, war ihm klar, dass sie damit nicht nur sich sich selbst meinte. Vermutlich sah er aus, als wäre er gestern aus einem Noionitenspital ausgebrochen. Ausgerechnet jetzt zuckte irgendein Nerv in seinem Gesicht.
„Wie auch immer, wir müssen weiter“, sagte Francesco schnell, nicht ohne nach einem weiteren Stück Brot zu greifen.
Ein Kettenklirren kündigte Alrik an, der durch den Schlamm heranstapfte, einige Zweige in den behandschuhten Händen. Hastig warf er sie ins qualmende Feuer.
„Man könnte meinen, wir sind die einzigen Überlebenden auf der Welt“, sagte er leise. „Alles ist so still. . .“
„Dafür redet Golgariella für zwei“, murmelte Francesco. „Auch etwas Röstbrot?“
Tadelnd sah ihn der schwarze Ritter an. „Ich habe bereits gegessen. Wir sollten nun Richtung Hohenstein aufbrechen. Eure Gnaden, wo ist der Strick?“
Langsam stand Francesco auf. „Was denn für ein Strick?“
„Wir sollten den Burschen jetzt besser wieder binden“, sagte Alrik zu der Geweihten, als sei der Streuner nur noch körperlich vorhanden.
„Ich weiß nicht“, antwortete Golgariella verlegen. „Vermutlich war er in der Scheune. . . Ich meine, ist ein Pferdediebstahl denn wirklich eine derart schwer wiegende Sache – im Anbetracht der Umstände?“
„Es geht um mehr als nur einen Pferdediebstahl“, grollte Bishdarielon. „Außerdem ist er noch ein hundsgemeiner Hochstapler und Betrüger, bei Praios.“
„Wen hat er denn betrogen?“
„Unter anderem mich . . .“
„Nun gut.“ Golgariella schien einen Entschluss gefasst zu haben. „Dann werden wir seine Läuterung damit beginnen, dass er ein Grab aushebt.“
„Mein Grab?“ Francesco versuchte möglichst sarkastisch zu klingen.
„Unsinn.“ Golgariella wies um sich. „Für die Toten.“
Erst jetzt sah der Streuner, dass die herumliegenden Körper notdürftig mit Mänteln oder Säcken abgedeckt waren.
„Ich nehme zurück, was ich gestern Nacht gesagt habe, Eure Gnaden. Ihr seid auch nicht unbedingt vernünftiger als der weltfremde Sturkopf da.“
Francesco kratzte sich am Kopf. „Wir sind völlig erschöpft und ausgehungert, außerdem kann hier jeden Moment Phexweißwas auftauchen – und da sollen wir auch noch Löcher neben der Straße buddeln?“
„Hüte deine Zunge, Dieb“, sagte die Geweihte spitz. „Keine `Löcher´, sondern ein einigermaßen würdiges, dem Herrn Boron gefälliges Grab. Zum Beispiel für diese Trommlerin, die ihr Fürstentum so tapfer verteidigt hat. Der Spaten, wo ist der Spaten?“ Mit forschendem Blick ging sie zu dem Keller hinüber.
„Hallo? Könnte der edle Baron von Friedwang hier vielleicht einmal ein Machtwort sprechen? Oder sollen wir uns gleich mit ins Grab legen?“
„Du wirst tun, was Ihre Gnaden von dir verlangt“, sagte Alrik knapp, zog seine Handschuhe aus und kauerte sich mit vorgehaltenen Händen ans Lagerfeuer.
„Nein, werde ich nicht. Unser schwarzes Vögelchen ist doch nicht mehr ganz bei Kasse. Wir sind hier zufällig nicht auf dem Lietzelfeld oder dem Boronanger von Punin, sondern in einem einzigen riesigen, finsteren Orkarsch.“
„Es ist das heilige Gebot des Herrn Boron, Tote nicht unbestattet zurück zu lassen. Ich hätte Etiliane und Corvinian . . .“
„Ach ja? Heißt es nicht auch, dass Borongeweihte möglichst ihren Schnabel zu halten haben? Die Kleine quatscht in einem fort, und noch dazu ziemlichen Unsinn. Wenn sie die kalten Alriks unbedingt verbuddeln will, bitte. Wir beide sollten machen, dass wir schleunigst Land gewinnen.“
Alrik verzog sein Gesicht, was nicht nur an dem beißenden Qualm des Lagerfeuers lag, und schob darin einige glimmende Ästchen zurecht.
In diesem Augenblick kam Golgariella zurück, den Spaten in der Hand. Als wolle sie den Streuner damit auszeichnen, drückte sie ihm den Spaten in die Hand. „Da drüben zwischen den Bäumen ist eine gute Stelle.“
„Den Namenlosen werde ich tun . . .“ Angeekelt blickte Francesco auf die Fleischfetzen und die dunklen Flecken, die noch immer am Spaten klebten. Unwilkürlich hob der Streuner das Werkzeug etwas.
Sofort griff Alrik nach dem Rabenschnabel. „Oh doch, du wirst gehorchen.“
„Ich werde nach dem toten Mädchen sehen und es für die Beerdigung herrichten“, sagte Golgariella leise. „Passt Ihr in der Zwischenzeit auf unseren Sträfling auf.“
„Den Sträfling!“ Francesco schnaubte empört auf, während ihn Alrik in Richtung Bäume stieß.
Fluchend begann er eine Mulde auszuheben. Nach wenigen Spatenstichen spürte er, wie ihm schlecht wurde. Sternchen tanzten ihm vor Augen. Auch seine Wunde schmerzte zum Peraineerbarmen. Das bedeutete hoffentlich, dass das Fleisch drumherum noch nicht abgestorben war.
„Ich kann nicht mehr.“
„Du hast noch gar nicht richtig angefangen.“
„Hier sind lauter Wurzeln und Steine.“
„Du wirst jetzt graben. Bis Mittag möchte auch ich hier weg sein.“
„Ich . . .“
Alrik zog den Rabenschnabel aus dem Gürtel hervor.
„Grab!“
Keuchend und schwitzend schaufelte der Streuner Erde beiseite, wobei er immer wieder zum Himmel und zur Straße blickte. Schließlich hielt er inne, um auszuspucken. Immerhin, die Arbeit tat ihm sogar gut, außerdem brachte sie etwas Wärme in seinen ausgelaugten Körper zurück.
Plötzlich erinnerte er sich wieder an den Traum von vergangener Nacht. Die Magd mit dem Gift, die grausam ermordeten Wirtsleute und Kinder, das Söldnerpack – war es das, was in Travias Herdfeuer vorgefallen war? Oder war es wirklich nur ein wirres Traumgespinst gewesen? Etwas irritierte ihn besonders. Dieser fein gearbeitete Schlüssel mit dem Backenzahn in der Raute. . . Ein Milchzahn des Mädchens oder irgendeine Reliquie? Francesco hatte noch nie von einem derartig merkwürdigen Brauch gehört. Am liebsten hätte er in dem Schutt nach dem Ding gesucht.
Wenn es mehr als ein bloßer Traum gewesen war: Hatten am Ende die Geister der Transysilier – er nahm doch an, dass die vergifteten Söldlinge Galottaknechte gewesen waren - all das Chaos um ihn herum angerichtet? Poltergeister sollten mitunter fürchterliche Kräfte entfalten . . . Oder hatte der Herr der Rache selbst Besitz von dem Gasthaus ergriffen, im wahrsten Sinne des Wortes? Plötzlich wurde ihm wieder kalt. Er schauderte.
Womöglich hatte sich das Geschehen auch gar nicht in der Gegenwart ereignet. Im Erbfolgekrieg, während der Kaiserlosen Zeit, mussten sich oft ähnlich grausame Szenen zugetragen haben - und mancher Fluch wirkte über viele Jahre, wenn nicht Jahrhunderte hinweg fort. Seine Familie war hierfür ja das beste Beispiel.
Kaiserlose Zeit . . . Kaiserlose Zeit. . . Verdammt, wir haben doch selbst schon lange keinen Kaiser mehr.
„Geht´s nicht ein bisschen schneller?“
„Es stimmt schon, was man sagt: Ehemalige Sklaven sind die schlimmsten Sklaventreiber“, murmelte Francesco.
„Wolltest du etwas sagen?“ Der Ritter wog den Rabenschnabel in der Hand.
Francesco antwortete nicht.
„Wenn, dann sollten wir auch die Toten begraben, die unter den Trümmern verschüttet liegen“, sagte er schließlich, wobei er bei fast jedem Wort in die feuchte Erde stach und einige Klumpen beiseite warf.
„Ach, jetzt plötzlich. Dafür haben wir nun wirklich keine Zeit.“
„Alle oder keinen. Warum soll es sinnvoller sein, die einen zu verscharren und die anderen nicht?“
„Ganz einfach. Weil wir nicht soviel Zeit haben.“
„Dann können wir es auch gleich sein lassen.“
Alrik lachte kurz auf. „Golgariella wird schon wissen, was sie tut.“
Er ballte die Faust.
„Glaubst du, ich habe nicht mitbekommen, was gestern nacht geschehen ist?“ sagte er leise und unvermittelt. „Du setzt wohl wirklich alle Hebel in Bewegung, um deinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, wie?“
„Alle Hebel vielleicht nicht.“ Francesco grinste, aber leider – oder glücklicherweise – hatte Alrik den Scherz auf seine eigenen Kosten nicht verstanden.
„Hast du eigentlich überhaupt kein Schamgefühl?“
„Oh, sind wir jetzt unter die Traviageweihten gegangen, ja?“
Alrik grinste geringschätzig.
„Travia? Was ich gesehen habe, war bereits eine Schande vor Rahja, bei meiner Seel. Sei´s drum, der Galgen wird deinem kleinen Problem vielleicht Abhilfe schaffen.“
Der Streuner sah Alrik verständnislos an.
Dieser legte ein gehässiges Soldatengrinsen auf. „Hast du schon einmal einem Gehängten zwischen die Beine geschaut?“
Ohne jede Vorwarnung schlug Francesco seinem Bruder die Schaufel über den Kopf. Ächzend sank der Golgarit zu Boden.
Ein wenig erschrocken hielt der Streuner inne –so fest hatte er gar nicht zulangen wollen -, dann warf er das Werkzeug weg und rannte los.
Francescos Sorge war unbegründet. Stöhnend und schwankend rappelte sich sein Bruder schon wieder auf und tastete nach dem Rabenschnabel.
„Diesmal bringe ich dich um!“ brüllte er.
Francesco schlug einen Haken und lief den bewaldeten Hügel hinauf. Immer wieder rutschte er auf Schlamm, Moos, Laub und Zweigen aus und fiel auf die Knie. Ein nasser Farn strich ihm über das Gesicht. Wie zum Hohn rief ganz in der Nähe ein Kuckuck.
Er strauchelte, fing sich mit beiden Händen ab. Keuchend blieb er stehen und hielt sich die Seite. Erneut wurde ihm schlecht, wenn ihn das Gefühl der Übelkeit in der letzten Zeit überhaupt richtig verlassen hatte. Schmerzen schauerten durch seinen Körper.
Prasseln und Knacken verriet, dass ihn Alrik verfolgte. Zäher Bursche – einen Augenblick lang hatte er es sogar für möglich gehalten, ihn erschlagen zu haben. Das wäre dann Brudermord gewesen. In diesem Fall war er mal ausnahmsweise für den Steinbockschädel der Friedwangs dankbar.
Sich von Baumstamm zu Baumstamm hangelnd, versuchte er die Steigung zu bewältigen. Nun gut, für Alrik in seinem Kettenhemd war es vermutlich noch schwieriger. Gerne hätte er sich irgendwo im Wald verkrochen, aber die Bäume wurden nun rasch lichter.
Plötzlich stand er auf einer kleinen Lichtung, knapp unterhalb der Hügelspitze. Ein Dutzend Pferde mit gefesselten Vorderhufen wieherte und schnaubte.
Vor ihm sass ein Bursche auf einem umgestürzten Baumstamm, in schwarzem Harnisch, Scheibendolch und Säbel umgeschnallt. In den Händen hielt er ein großes belegtes Butterbrot, das er gerade aus seiner Umhängetasche gezogen haben musste.
Francesco fluchte in sich hinein. Er war hier geradewegs auf die Pferdeweide der Transysilier gerannt, die gestern Nacht die Scheune niedergebrannt hatten.
Der Bursche glotzte ihn ebenso entsetzt wie überrascht an. Der Streuner stieß ihn geistesgegenwärtig über den Stamm und zog ihm noch im Fallen die Klinge aus der Scheide. Kaum war sein Gegner scheppernd auf den Rücken gefallen, hatte er bereits die Säbelspitze an der Kehle.
„Keinen Mucks, Blödmann, wenn du das Mittagessen noch erleben möchtest.“
Weiß Phex, warum ich ihn nicht umbringe. Eigentlich sieht er nicht besonders bösartig aus, eher nassforsch und unerfahren.
Tatsächlich, von hier oben hatte man fast die gesamte Umgebung im Auge, ohne selbst gesehen zu werden. Auch wenn einige Baumreihen die Sicht auf die Trümmer des Gasthofes erschwerten, musste ein Wachtposten schon ziemlich unaufmerksam sein, wenn ihm das morgendliche Geschehen dort unten entgangen war. Francesco sollte es recht sein. Er setzte dem Jungen das Knie auf die gepanzerte Brust und nahm mit der Linken das Brot auf, das ins Gras gefallen war. Herzhaft biss er hinein. Wer sagte es denn: Bester Rommilyser Schinken. . .
„Hat dir wohl die Mama eingepackt, wie? Na, is’ schon gut, mach dir nicht gleich in den Harnisch.“
Die Augen des Feindes waren reine Panik. Vermutlich verstand er nicht einmal den Sinn der Worte. Unscheinbarer Bursche, das dunkle Haar bis auf einen Streifen in der Mitte zurückgestutzt, ein sorgfältig gezüchtetes Jünglingsbärtchen. Irgendetwas stimmte mit der Nase nicht, vermutlich war sie irgendwann einmal gebrochen. Mehr nahm er auf die Schnelle von dem fremden Gesicht nicht wahr.
Verdammt. Ich hätte ihn gleich abstechen sollen. Nun bringe ich es nicht mehr übers Herz. Mit vollem Mund tötet man keine Menschen.
Die Pferde wurden immer unruhiger und tänzelten, die ersten versuchten zu steigen. Einer der Gründe dafür war Alrik, der mit hochrotem Kopf und verzweifelt nach Luft ringend den Hügel herauf kam.
„Ch´azuul, Jannik, was haben die verdammsteren Gäule?“ ertönte eine kräftige, maraskanisch klingende Frauenstimme von oben. Eine schmale Rauchfahne deutete ein Lagerfeuer auf der anderen Seite des Hügels an. Zwischen den Bäumen war eine einzelne Bewegung auszumachen. Unwahrscheinlich, dass die Söldnerin durch dieses Wirrwarr aus Büschen und Stämmen besonders viel sehen konnte. Der Lagerplatz der Streifschar war von der Straße her nicht zu entdecken gewesen (obwohl sie von unten den Rauch hätten bemerken müssen, wie sich Francesco schamvoll eingestand). Der Nachteil bestand für die Dreckigen darin, dass sie auf die Sinnesschärfe ihres vorgeschobenen Wachtpostens angewiesen waren. Und der hatte nun wirklich versagt.
Der junge Soldat beging den Fehler, seinen Mund zu öffnen. Ein kurzer, derber Hieb mit dem Säbelknauf auf seine Stirn schnitt ihm das Wort ab.
Francesco stopfte sich den Mund mit dem restlichen Brot voll. Anschließend zog er den Brotbeutel heran, der neben dem gesplitterten Baumstumpf im Gras lag, und hängte ihn sich um.
„Allesch in Ord´nung, esch schin´ nur die Fliegen!“ nuschelte er lautstark zurück, während er sich die Krümel vom Waffenrock wischte. Kauend zog er den Dolch aus dem Gürtel des Ohnmächtigen und lief zu einem unscheinbaren Braunen mit weißer Blesse, der von allen Pferden noch am ruhigsten dastand. Hastig durchschnitt er die ledernen Fesseln über den Vorderhufen. Phex sei Dank hatten diese faulen Transysilier darauf verzichtet, ihre Reittiere über Nacht abzusatteln oder ihnen das Zaumzeug abzunehmen.
Begriffsstutzig sah ihn Alrik an, der sich leicht vornüber gebeugt die Seite hielt (nur gut, dass sein großer Bruder auch mal ab und zu schlapp machte). Er schien gerade vergessen zu haben, weswegen er ihm eigentlich nachgerannt war.
In diesem Augenblick gellte vom Lager her ein Alarmruf.
Entsetzt starrte Alrik den Hügel hinauf, von wo aus ihnen eine Reihe Feinde entgegen stürmte. Aufgeregte Rufe. Pfeile wurden in Bogensehnen eingelegt, Armbrüste hochgerissen.
Ein Bolzen schwirrte zischend über ihre geduckten Köpfe hinweg und zerschlug auf dem Weg in den Hangwald ein paar Äste. Plötzlich waren die dunkelgefiederten Geschosse überall, über und neben ihnen, um sie herum, wie ein Schwarm wütender Hornissen.
Der Baronieerbe warf sich hinter dem Windbruch in den Dreck. Francesco ging halb hinter einer Buche in Deckung, den Zügel des Braunen in der Linken. Tschok! Der Streuner schrie auf, als eine Pfeilspitze vor seinem Gesicht den borkigen Rand des Baums durchschlug. Rindenstückchen flogen umher. Pleng! Ein Zufallstreffer riss ihm hart den Säbel aus der Hand, der hangabwärts im Unterholz verschwand. Nein, das war eine Wurfaxt gewesen, und sogar verflucht gut gezielt.
Fluchend massierte Francesco sein schmerzendes Handgelenk. Einige der schwarzen Schemen hatten bereits blank gezogen und huschten im Schutz der Pfeile über die Lichtung heran. Dem Respekt nach, mit dem ihre Gegner vorgingen, erwarteten sie einen Großangriff, nicht zwei armselige Verrückte, die im Wald Fangen gespielt hatten. Dennoch war es höchste Zeit zu türmen.
Sein Bruder zuckte zusammen, als genau vor seiner Nase ein Pfeil in den Baumstamm schlug, wo er schnarrend und zitternd stecken blieb. Irgendwie sah Alrik hilflos und überfordert aus, wie damals im Sklavenkotter. Trotz allem tat er Francesco leid. Immerhin war er sein Bruder. Francesco lief geduckt los. Rasch schnitt der Mondschatten auch noch dem Nachbarpferd „seines“ Braunen die Stricke durch.
„Bei meiner Treu, was machst du da, Francesco?“ stotterte Alrik.
„Was ich hier mache?“ Francesco schob den linken Fuß in den Steigbügel, verstaute den Dolch im Gürtel und schwang sich in den knarrenden Sattel. „Ich stehle ein Pferd, wenn du nichts dagegen hast.“
Etwa zur gleichen Zeit, Rittergut Hauckes Zuflucht, 15 Meilen südöstlich Hohenstein, Garetien
„Mein Bein, nein, bitte nicht mein Bein!“
Die blutverschmierte Hand des Soldaten klammerte sich um die Schulter des Feldschers, der ihm ungerührt eine Aderpresse anlegte.
„Ich ... ich will kein Krüppel werden“, wimmerte der Junge. „Mein Vater ist ...er hat einen Bauernhof . . . daheim in Devensberg... Wenn ich . . .“
Bei dem Gedanken an das „Wenn“ ging seine Stimme in ein schrilles, heiseres Kreischen über. Tränen des Schmerzens und der Verzweiflung rannen ihm über das Gesicht.
„Euer Gnaden, noch etwas Branntwein, wenn ich bitten darf!“ raunzte Olruk, seines Zeichens Feldschergehilfe und nun zum leitenden Medicus des Notlazaretts an der Reichsstraße aufgestiegen. „Und dann gebt ihm endlich sein Hölzchen, zum Draufbeißen. Wo ist die Säge. . .?“
„Sie ist noch nicht heiß genug.“
Der weißhaarige Mann in der regenbogenfarbigen Robe schluckte und wischte sich einen Blutspritzer von der Stirn. Der silberne Mantel um seine Schultern, der von einer zerkratzten Eidechsenbrosche zusammengehalten wurde, wirkte schmutzig und zerschlissen. Einige größere Löcher waren nur notdürftig geflickt worden.
„Devensberg gibt´s eh´ nicht mehr.“ Der bullenschädelige Mann drehte die Presse knapp über der Wunde zu. „So, festhalten jetzt . . .“ Der Befehl galt den beiden Soldaten, die totenblass ihr Opfer auf den blutglitschigen Operationstisch zurück zu drücken versuchten.
„Ich sag´s Euch noch mal. Das Bein ist nicht brandig.“ Lacertinus versuchte so ruhig wie möglich zu klingen. „Man könnte es noch retten. Und der Schnaps ist schon seit heute morgen alle...“
„Tschuldigung, Euer Gnaden, aber wenn´s um Schlachten geht, kenne ich mich halt doch ein bisschen besser aus als so eine Heb... ein Tsageweihter wie Ihr. Orksch, kann denn hier keiner `mal den Eimer raustragen?“
Nervös wischte sich Olruk über die Lederschürze, was seine bluttriefenden Hände nur noch schmutziger machte.
„Natürlich kennt Ihr Euch mit Schlachten besser aus“, sagte Lacertinus süffisant. „Man sagt, Ihr hättet früher als Metzger gearbeitet . . .?!“
„Und wenn schon. Wäre nicht die schlechteste Vorbereitung auf das hier . . .“ Der Feldscher griff nach der Säge. Der Verwundete begann wieder zu zappeln und versuchte durch das Holz in seinem Mund hindurch zu schreien.
„Das Bein muss auf jeden Fall ab. Eigentlich lamentier ich nicht lange, aber weil Ihr ein Kutten ... Geweihter seid, werde ich´s noch mal erklären. Seht Ihr nicht – hier, an den Rändern? Da fängt schon der Wundbrand an. Alles schwarz. Das Bein hätte schon spätestens gestern abgenommen gehört. Hättet Ihr mir mal besser nicht ins Handwerk gepfuscht. Wenn der Junge krepiert, ist das allein Eure Schuld.“
„Das ist kein Wundbrand. Das war echtes Feuer. Der Junge wurde offenbar von einem Flammenschwert oder etwas ähnlichem getroffen. Selbst seine Hose ist angesengt . . .“
„Glaubt mir, Euer Gnaden, ich weiß, wie eine Wunde aussieht, die ein Arbach hinterlässt. Seit Orkenwall weiß ich es. Und ein Rondrakamm wird das hier ja wohl kaum gewesen sein . . .“
„Ich sagte, Flammenschwert – nicht geflammtes Schwert. Der Junge hat unglaubliches Glück gehabt, dass sein Bein noch dran ist. Ihr solltet den Willen der Götter respektieren.“
„Und Ihr solltet den meinigen als Feldscher dieses Lazaretts respektieren.“ Olruk setzte die Säge an. Der Soldat begann jämmerlich zu quieken. Es hört sich an wie ein Schwein, das geschlachtet wird, dachte Lacertinus und schloss die Augen.
„Genug jetzt.“ Eine scharfe, schneidende Frauenstimme erfüllte den Raum.
Olruks Kopf ging zur Tür, die von der Gestalt der Rittmeisterin Haglind Trollsäckel ausgefüllt wurde. Mit ihrem rindsledernen Kurbul und dem Degen an der Seite war sie wahrlich eine ehrfurchtgebietende Gestalt. Ihre Füsse steckten in hochschaftigen Reitstiefeln, die dunkelblonden Haare wurden notdürftig durch einen Pferdeschwanz gebändigt, zwei blaugraue Augen blitzten wütend in den abgedunkelten Raum.
„Wieviele Männer und Frauen habt Ihr heute schon zu Krüppeln gemacht, Olruk?“
Die Offizierin der FDEA nahm ihren Federhut ab und hielt sich ein parfümiertes Schnupftuch an die Nase.
„Wenn die Endschlacht um den Hohenstein beginnt, brauchen wir jeden Soldaten. Ihr habt gehört, was der Geweihte gesagt hat. Lasst dem Jungen sein Bein.“
Olruk schnaufte und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Auf Eure Verantwortung, Rittmeisterin.“
„Selbstverständlich auf meine Verantwortung, Feldscher. Bringt den Verwundeten wieder ins Spital. Ihr habt auch so genug zu tun. Es ist wieder ein Karren aus Hohenstein angekommen.“
„Wie viele?“
„Ein halbes Dutzend. Sordulsäpfel, Kampfzauber, Hylailer Feuer, Dämonenklauen und der übliche Schwertkram. Keiner mehr kampffähig. Unnütze Esser, sozusagen. Peraine sei Dank aber keine Seuchenverdächtigen.“
Haglind setzte den Hut wieder auf und überprüfte an einem Stück Spiegel den Sitz. „Trotzdem nennen sie uns schon das Sterbezimmer von Hohenstein.“
„Wenigstens halten sie uns jetzt nicht mehr für ein Noionitenspital“, grunzte Orluk und nahm die Presse ab.
Der Verwundete vor ihm war kaum noch bei Sinnen. Die beiden Gehilfen legten den schwach stöhnenden Mann auf eine Tragbahre und schafften ihn hinaus.
„Ach, Herr Lacertinus, ich muss mit Euch sprechen“, sagte die Rittmeisterin unvermittelt.
„Mit mir?“
„Ja, oder ist hier sonst noch jemand dieses Namens anwesend?´
Sie sah den Geweihten durchdringend an. Lacertinus erschauerte.
Konnte die Rittmeisterin wissen, dass er . . . Nein, das war unmöglich. Schon gar nicht in diesem allgegenwärtigen Chaos.
Beide gingen hinaus auf den Hof. Tatsächlich stand dort ein Ochsenkarren, von dem nun graue, abgerissene Gestalten gehoben wurden, bluttriefend oder in schlecht sitzende Verbände gehüllt. Jämmerliches Stöhnen erfüllte die Luft. Die Szene stand in fast schon verstörendem Kontrast zum Haupthaus – ein schmucker, efeuumrankter Fachwerkbau, mit großen Butzenglasfenstern, einer Freitreppe, die zu einem Laubengang führte, sowie zahlreichen nicht minder herausgeputzten Nebengebäuden. Das Gesindehaus diente nun als Spital, die Wäscherei zur „Wundbehandlung“, wie Olruk sein Metzgerhandwerk nannte – aufgrund der Abflussrinne im Boden . . .
„Das dürften die letzten gewesen sein, die noch aus der Festung rausgekommen sind. Arme Schweine. Einige sind noch nicht mal ordentlich verbunden worden. Dabei ist die Schlacht schon zwei Tage her.“
Haglind stolzierte zum Tor, vorbei an einer Feuerstelle, an der eine einsame Magd in einem großen dampfenden Kessel mit Verbandsstoff rührte, als wäre es Suppe. Nicht weit davon entfernt befand sich ein kleiner Haufen zerschnittener, blutiger Stiefel, umschwirrt von Fliegen, jeweils nur einer aus einem Paar. Lacertinus wusste nur zu gut, was das bedeutete.
Die Rittmeisterin tätschelte in einem Anfall von Herzlichkeit eine Wehrheimer Dogge, die sichtlich verstört, mit eingekniffenem Schwanz über den Hof strich. „Sie vermisst ihr Herrchen. Is´ völlig durch den Wind. Scheint zu spüren, was im Reich passiert ist. Oder vielleicht auch, was noch alles passieren wird. . . Seltsam, dass es oft Narren und Tiere sind, die das Unheil als erste erahnen, nicht die Klugen, Weisen und ach so Erfahrenen. Nicht wahr, mein Gutste?!“ Mit treuen Hundeaugen blickte das Weibchen die Rittmeisterin an, hechelte, winselte und leckte sich über die Schnauze.
„Hmja.“ Lacertinus wusste nicht recht, was er sagen sollte. „Schon gut, dass wir einen Wachhund haben.“
„Das nicht gerade. Das arme Tier ist leider völlig taub. Taub und stumm. Da fällt mir ein. Wir sprechen oben in der Mühle. Zuviele Ohren hier. . .“
„Wie Ihr meint.“
Die Hündin trollte sich. Sie gingen durch die von verschnörkelten Gittern gebildeten Torflügel hindurch auf den Kiesweg, der zur Reichsstraße führte.
„Was ist eigentlich aus dem Herrn des Ritterguts geworden?“ wollte der Tsageweihte wissen.
„Haucke der Jüngere? Seine Edelgeboren ist von Gareth aus nach Wehrheim gezogen, um gegen den Schwarzen Drachen zu kämpfen. Seither hat man von ihm nichts mehr gehört. Das Gesinde hat das Goblinpanier ergriffen - und davor den Hof nur wenig geplündert. Erstaunlicherweise. Ritter Haucke war ein Teilnehmer des Großen Turniers – so wie ich, auch wenn ich nur als, sagen wir, Zaungast anwesend war. Ich glaube, mein Bericht an die Abteilung war einigermaßen brilliant. Leider ist er durch die jüngsten Ereignisse überholt worden.“
„Ihr ward in Gareth?“
Lacertinus begann zu schwitzen, obwohl der Vormittag eigentlich kühl war.
Die Rittmeisterin erwiderte salopp den Gruss eines Postens, der am Straßenrand stand.
„Ja. Ich war überzeugt, dass meine Vorgesetzten in Rommilys begeistert sein würden. Nun komme ich zurück und muss erfahren, dass ich keine Vorgesetzten mehr habe. Genau genommen gibt es die Fürstlich-Darpatische Expeditionsabteilung nicht mehr. Jetzt bin ich die FDEA.“ Haglind lachte und runzelte sofort die Stirn, als habe sie ihren Scherz selbst noch nicht ganz verstanden.
„Rittmeisterin?“
Eine Soldatin kam vom Gutshof herbeigelaufen.
„Was ist denn?“
Die Frau stand stramm und grüßte (ziemlich nachlässig, wie Lacertinus fand).
„Wo hat sie das Salutieren gelernt?“ blaffte die Offizierin prompt. „In Galottas Ogerarmee?“
Die Soldatin knallte die Hacken zusammen, reckte das Kinn vor und schlug erneut die Faust gegen die rechte Schulter.
„Schon besser. Vielleicht klappt das ja noch vor dem endgültigen Untergang. Also, was gibt´s?“
„Der Fuhrknecht sagt, er hätte neue Befehle für Euch aus Hohenstein.“
„Dringend? Ich bin beschäftigt.“
„Nun, er soll bis Sonnenuntergang wieder zurück auf der Feste sein.“
Haglind lachte auf, aber ihre funkelnden Augen verrieten den Zorn: „Was für ein Unsinn! Da schicken sie einen Karren mit Schwerwundeten bei Nacht und Dauerregen von der Festung hierher – aus lauter Schiss vor fliegenden Schlangen und glühenden Greifen. Gleichzeitig haben sie Angst, dass der Fuhrknecht auf dem Rückweg in die Dunkelheit gerät?! Na schön.“ Die Rittmeisterin sah zu Lacertinus. „Ich könnte wetten, dass meine neuen Orders das genaue Gegenteil besagen wie die Geistesblitze von gestern. Aber gut, heutzutage muss man Rondra auf Knien danken, wenn sich überhaupt noch ein Vorgesetzter um einen kümmert. Geht schon einmal voraus, Lacertinus, ich komme gleich nach.“
„Soll ich nicht besser bei den Verwundeten . . .“
„Nein, Euer Gnaden. Die gehören jetzt Olruk. Erholt Euch etwas, Ihr seht erschöpft aus.“
„Wie Ihr meint.“ Lacertinus drehte sich um. Ein kleiner Spaziergang an der frischen Luft würde ihn tatsächlich gut tun nach all dem Mief und Blutdunst des Spitals.
In Gareth ist sie gewesen, so so. Na dann war alles klar. Lacertinus fröstelte. Einmal in den Fängen des Greifen – oder, wie hier, auf den Hörnern des Darpatbullen – und es gab einfach kein Entkommen mehr.
Vielleicht war es sogar besser so. Er hatte immer damit rechnen müssen, dass sein Geheimnis entdeckt werden würde. Ein Geheimnis, das sich einmal Purpurmohn genannt hatte. Die Blüten, deren Duft einem den Verstand nicht nach Alveran, sondern geradwegs in die Sternenbresche schickte. Merwan, dieses Scheusal.
Aber vor die Wahl gestellt, zu Ihr gesperrt zu werden – ein hungriges, zischendes, verstörtes Raubtier, das im Dunkeln auf Beute lauerte – vor allem, zu werden wie sie, oder aber den tsaverfluchten Purpurmohn einzunehmen, hatte er sich für das vermeintlich kleinere Übel entschieden. Vielleicht war seine Entscheidung ein Fehler gewesen. Aber zumindest war er noch am Leben.
Immerhin, sieben Jahre lang hatte er dieses finstere Spiel mitgespielt. Merwans Spiel. Er hatte das Standbild seiner Göttin bespieen, Eidechsen zerstückelt, Blumen zertrampelt, am Ende gar ein neugeborenes Lämmchen geschlachtet und das Fleisch halbroh verschlungen - alles um der purpurnen, goldgeränderten Blüten wegen. Ihr betörender Duft war sein Glück, seine Wollust, das nackte Überleben gewesen. Wie schnell sie verwelkten, zu grauem Staub zerfielen . . . Ohne sie hatte er sich reizbar, ausgelaugt, leer gefühlt wie in einem Grab, hatte den Novizen Answin und seine Zaberger Bauern angebrüllt und herumgestoßen, war ihnen allen wohl ein schlimmerer Tyrann gewesen als es ein sewerischer Bronnjar hätte sein können. Und dann wieder dieses unendliche Glücksgefühl, die zitternde Lust, wenn er eine der getrockneten Kapseln aufbrach wie eine köstliche Frucht, wenn sich dann, anscheinend von Merwan präpariert, die bläulichrote Blüte mit einer Pracht öffnete, als wäre der erste der Namenlosen Tage - wenn er den schier unvergleichlichen Duft aus ihrem Kelch schnuppern durfte! Diese überderische Musik, dieser überalveranische Farbenrausch, dazu ein Gefühl himmelsstürmender Leichtigkeit, wie es wohl nur Götter empfanden, . . . Vielleicht hätte er für einen derart kostbaren Schatz irgendwann auch gemordet. Tsa sei Dank war es soweit nicht gekommen.
Selbst in einem abgelegenen Kaff wie Zaberg, am Rande der Schwarzen Sichel, konnte man nicht jahrelang nächtlichen Besuch von einem Fürsten der Niederhöllen bekommen, ohne dass es nicht irgendwann jemandem auffiel. Vermutlich war sogar Answin, sein treuer Answin, der Denunziant gewesen. Vor einigen Wochen waren sie dann vor seiner Tür gestanden: die Häscher des Reichsgroßgeheimrats. Die Prozedur hatte sich seit Retos Zeiten wenig verändert. Im Wagen mit verhüllten Fenstern hatte man ihn nach Gareth gebracht – zu seiner Überaschung nicht in die Verliese der Heiligen Inquisition, sondern in ein Nebengebäude der Halle der Ekstase. Hätte er geahnt, welch oronische Qualen ihn der wochenlange Entzug bereiten würde, er hätte jede hochnotpeinliche Befragung vorgezogen. Dabei hatte sich die nicht mehr ganz junge, aber immer noch bildhübsche Akoluthin der Göttlichen Stute wirklich alle Mühe gegeben, seine Qualen zu lindern. Am Anfang hatte er von ihr sogar noch ein mildes Substitut anstelle des unheiligen Rauschkrauts erhalten.
Roselîn – was mochte aus ihr in der Schreckensnacht geworden sein? Lacertinus schüttelte noch immer den Kopf bei dem Gedanken, dass dem „Röslein“ nur wegen eines winzigen Schönheitsfehlers - einer Lücke zwischen den Schneidezähnen - die Weihen zur Priesterin versagt worden war.
Nun gut, mit seinen über 70 Götterläufen hätte er ihr Vater sein können, aber ihr Körper war wie aus Alabaster gemeiselt gewesen. Seitdem sie miteinander geschlafen hatten, wusste er, dass er nie wieder zu Purpurmohn greifen würde.
Aber an jeder Rose wuchsen auch Dornen. Kurz nach Sonnenaufgang hatten ihn die beiden Sonnenlegionäre, die ihn die ganze Zeit über bewachten, in die Stadt des Lichts gebracht.
Lacertinus hatte alles gestanden, und auf ein mildes Urteil gehofft. Immerhin hatte er seine Verbrechen unter dem Einfluss eines unheiligen Rauschkrauts begangen – selbst Golo, den Merwan mit Rattenpilzen vergiftet hatte, war nur zu einer Bußwallfahrt nach Balträa verurteilt worden. Dieser Inquisitionsrat Selbfried war tatsächlich weder ein Unmensch noch ein Fanatiker gewesen. Aber er hatte ihn rasch spüren lassen, dass er Diener der Tsa nicht sonderlich mochte.
„Es war ein abgelegener Tempel der Jungen Göttin wie der Eure, in dem die Weidener Wüstenei entstanden ist“, hatte er ihm schon beim ersten Verhöre mit kühl blitzenden Augen entgegengeschleudert und dabei seinen schwarzen, von ersten grauen Strähnen durchzogenen Schnurbart gezwirbelt. „Ja, ich war dort, an jener Stelle, von der aus der Dämonenmeister in die Welt zurückgekehrt ist. Aufgrund des - soll ich sagen, frevlerischen Leichtsinns oder leichtsinnigen Frevels? – einer Eurer Glaubensschwestern. In Dragenfeld wächst kein einziger Baum mehr, kein Strauch und keine Blume, die Häuser des Dorfes sind entweder Ruinen oder vollends in den Staub gesunken. Das ist das Ergebnis all dieser bilderstürmerischen Predigten von `schöpferischem´ Chaos, Umsturz und Neuanfang, die ihr Tsageweihten landauf, landab so gerne verbreitet. “
Die Fürsprache von Schwester Iliana vom Tempel des stetigen Wandels in Rosskuppel hatte den pedantischen Hochgeweihten nur noch mehr gereizt.
Rasch hatte sich die Schlinge um Lacertinus Hals zusammengezogen. Er hatte – so sah es zumindest Selbfried – noch bei klarem Bewusstsein die Wahl zwischen der Verführung zum Unglauben und einem Dasein als Untoter getroffen. Bereits in diesem Augenblick habe er sich von den Göttern abgewandt. Was die vollkommene Verhöhnung von Leben und Tod für einen Diener der TSA bedeutete, davon hatten die Praiospfaffen allerdings keine Ahnung. Er wäre als Vampir gleich beim nächsten Tagesanbruch ins reinigende Licht der Sonne gegangen, hatte Selbfried geblafft, und lieber auf der Stelle zu Asche zerfallen, als für immer eine Kreatur des Namenlosen zu werden. Durchaus glaubwürdig. Aber der Glauben an die Göttin des Lebens, wie er, Lacertinus ihn verstand, verbot nun einmal den Selbstmord – zumindest den Freitod aus Angst vor dem Dasein. Und einem Selbstmord wäre bereits seine Erhebung zum Untoten gleich gekommen, sogar in einer besonders abscheulichen Form. Irgendwie hatte er geglaubt, dass ein Gärtner wie er mit dem verführerischen Duft einer Blume noch am ehesten fertig werden würde.
Den Einwand, dass er gehofft habe, der Macht des Purpurmohns später irgendwie zu entkommen, wischte Meister Selbfried sofort beiseite. Alle mildernden Umstände wogen in den Augen des Tribunals gering ob des Umstandes, dass er seine unheilige Sucht verheimlicht hatte, statt die Kirche um Hilfe zu bitten. Meister Selbfried tat sich offenbar schwer mit der Vorstellung, dass Rauschkraut nicht nur den Leib, sondern auch die Seele eines Menschen vergiften konnte. Aber was wollte man von einem Praioten erwarten, dem Kräuterkunde an sich schon als hexisch verdächtig galt? Desweiteren gab es Zeugenaussagen, wonach Lacertinus sogar (wenn auch vergeblich) versucht hatte, eigenhändig den goldenen Samen des Purpurmohns anzupflanzen – im Garten der Herrin Tsa höchstselbst. Und irgendwie spürte das Tribunal, dass sich der Geweihte selbst schuldig fühlte – auch wenn sie trotz ihres Praios gegebenen Scharfsinns keine Ahnung hatten, welche Frevel er wirklich begangen hatte. Jedenfalls keine, für die ein Mensch eine gerechte Strafe hätte finden können. Nein, d a f ü r würde ihn allein TSA richten.
„Warum sollten wir einen Geweihten der Zwölfe schonen, der so oft und gar aus freien Stücken von den verbotenen Früchten des Nicht zu Nennenden gespeist hat? “ hatte der Inqusitor gefragt. „Verflucht war bereits der Boden, auf dem solch verderbte Saat derart üppig aufzugehen vermochte. Ich sage euch, Milde wäre in diesem Casus nicht gerecht, sondern eine Ungerechtigkeit. Wir verbrennen jede unwissende Dirne, die aus Schwachheit des Fleisches mit einem Dämon buhlt – so ist es Praios Wille und Gesetz. Umso weniger dürfen wir das Blut eines Geweihten schonen, der wider bessere Einsicht, allein aus Schwachheit der Seele dem Erzfeind Alverans verfallen ist. Ein wahrer Diener im Blumengarten der Herrin Tsa hätte lieber jedes Martyrium auf sich genommen, statt das ewige Leben in ihrem Paradiese gegen einige armselige Jahre in unheiligen Rauschträumen zu tauschen. Reißen wir diese Pflanze aus, und überantworten sie dem reinigenden Feuer, wie ein Bauer das wuchernde Unkraut auf seinem Acker vertilgt.“
Als sich am 16. ERAIne der Todeswall geöffnet und unter der Schwarzen Wolke ein Heer aus Untoten ausgespien hatte, war Lacertinus Schicksal endgültig besiegelt gewesen. Einen Frevler wie ihn am Leben zu lassen hätte in dieser Situation wohl nur bedeutet, weiteren Zorn der Götter zu erregen.
Am Tag der Schlacht auf dem Mythraelsfeld wurde Lacertinus wegen Besitz und Verbreitung von Purpurmohn sowie Abfalls vom Wahren Glauben zum Tod auf den Scheiterhaufen verurteilt. Aufgrund früherer Verdienste als Spion Kaisers Retos sollte er zuvor strafmildernd erdrosselt werden.
Lacertinus selbst hatte für ein, zwei Tage mit seinem Leben abgeschlossen.
Schlimmer als der Gedanke an den nahenden Tod war allerdings das Gefühl gewesen, dass das Urteil ungerecht war.
Ungerecht, selbstgefällig und engstirnig.
Von einem horasischen Winkeladvokaten, hinterwäldlerischen Mob oder einem verblendeten Bannstrahler wie Walerian mochte man kein anderes Rechtsverständnis erwarten. Aber nicht von einem Meister Selbfried Rabensang, seines Zeichens Ordentlicher Inquisitionsrat der Gemeinschaft des Lichts. Am allerwenigsten an einem Ort der Gerechtigkeit wie diesen, der Stadt des Lichts, dem obersten Heiligtum des Praios in Aventurien .
Als besonders ungerecht empfand Lacertinus es, dass sich die Inquisition fast überhaupt nicht mit der Vorgeschichte seines angeblichen Abfalls vom Glauben befasst hatte.
Wie lange war das her . . .? Wann hatte sein Weg in die Dunkelheit begonnen? Vor sehr langer Zeit, soviel stand fest.
Irgendwie hat all das Unheil schon mit dem Tod von Luitprand angefangen, dachte Lacertinus. Dem zweitältesten Sohn Baronin Tsalindes von Friedwang.
Im Ingerimm 21 Hal fand man ihn in seinem Privatgemach in Schloss Friedstein, auf dem Boden liegend und ein zusammen geballtes seidenes Tuch zwischen den Zähnen, als wolle er darauf kauen. Kaum jemand zweifelte daran, dass der von Geburt an schwächliche Baronssohn der Schüttelsieche zum Opfer gefallen war, die ihn immer wieder mit entsetzlichen Krämpfen gepeinigt hatte.
Nur Tsalinde sprach sofort von heimtückischem Mord. Die Frage war tatsächlich, wer ihm den Stoffballen zwischen die Zähne geschoben hatte - wie es die Diener immer taten, um zu verhindern, dass er sich bei seinen Anfällen die Zunge abbiss. Wie es hieß, war noch kurz vor seinem Tod eine fremde Frau bei ihm gewesen - angeblich eine Kräuterfrau aus Gallys. Später behaupteten Gerüchte, sie habe ihm eine Botschaft von seiner Schwester in Zippelsteen überbracht. Dann sollte es sich bei ihr um eine „Wissende“ handeln, eine Anbeterin der Schlafenden Sokramor. Schließlich ging die Mär, sie sei vielleicht wirklich seine Mörderin, aber keine Gallyserin gewesen. Oder eine spitzohrige Elfe. Möglicherweise beides. Andere wollten wissen, die geheimnisvolle Unbekannte hätte es nie gegeben.
Tatsache war nur, dass die Baronin einige Steinbock-Gardisten in die südliche Nachbarbaronie schickte, um dort die vermeintliche Attentäterin aufzuspüren. Seit dem Verschwinden Alrik Tsalinds hatte sie nie daran gezweifelt, dass die „Baernfarn-Brut“ ihre Familie auszulöschen trachtete, um am Ende Friedwang zwischen Oppstein und Gallys aufzuteilen. Schon vor Luitprands tragischem Tod hatte dieser Verdacht regelrecht Züge von Verfolgungswahn angenommen: Mal argwöhnte sie, schon ihr Mann Alrik, der in der Ogerschlacht gefallen war, sei in Wahrheit von einem der Gallyser Soldaten erschlagen worden, die in unmittelbarer Nachbarschaft der friedwanger Landwehr gekämpft hatten. Dann wollte sie in Erfahrung gebracht haben, dass ihre Tochter Gunelde, die vor ihren Adelspflichten mit einem Bauernburschen davongelaufen war, Opfer eines Liebestranks geworden sei - der natürlich nur auf der Lindwurmburg zusammengebraut worden sein konnte. Schließlich hatte sie sogar behauptet, das „Gallyser Magier-Gezücht“ wolle sie mit finsterster Magie langsam aber sicher in den Wahnsinn treiben.
Das einzige greifbare Ergebnis der Suchaktion in Gallys blieb ein wildes Handgemenge zwischen Tsalindes Bütteln und mehreren Artemareitern in der Firunsstadt. Am Ende wurde blank gezogen, ein Zweimühlener Soldat auf Urlaub, der schlichten wollte, erhielt einen Stich in die Schulter. Zu anderen Zeiten wäre das Geplänkel kaum der Rede wert gewesen, aber in den Nachwehen der Answinkrise bedeutete so etwas einen handfesten Skandal.
Die Landgräfin von Zweimühlen-Zwerch, die sich sonst wenig bis überhaupt nicht um Gallyser Belange kümmerte, legte in Wehrheim formalen Protest ein. Wenige Wochen später zitierte Graf Helme die Friedwangerin nach Burg Karmaleth, nahe Wehrheim. Eigentlich war Seine Hochwohlgeboren der einzige, der den Vorfall wirklich ernst nahm. Haffax hatte die „verkappte Answinistin“ Tsalinde nie sonderlich leiden mögen und erhielt nun Gelegenheit, sie loszuwerden.
Die Friedwangerin hatte beim Mittagsmahl kaum den ersten Becher mit ihrem Lehensherrn geleert, als sowohl ihre Blicke als auch Worte zunehmend wirr geworden waren.
„Wie wunderbar die Ochsenwasserfälle heute rauschen, nicht wahr?“, „Ein herrliches Abendrot, es will gar nicht enden“ und „Der Gong des Praiostempels von Rommilys, ich kann ihn bis hierher hören“ – diese Sätze waren auf der Grafenburg mit einiger Sicherheit gefallen. Fest stand auch, dass die Baronin am Ende kichernd in einer Ecke des Saals gekauert und nach Schmetterlingen gehascht hatte, die es gar nicht gab. Seine Hochwohlgeboren hatte seine Vasallin pikiert durch zwei Eisengardisten fortschaffen lassen. Wenig später traf dann die berüchtige Botschaft in Friedwang ein, wonach Tsalinde bis zur völligen Wiederherstellung ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit ab- und Gernot in das Amt ihres Vormunds sowie Baronieverwalters eingesetzt war. Baronie-Tutor, so hatte sich ihr Neffe damals hochtrabend genannt.
Junker Gernot von Gießenborn . Lacertinus hatte den windigen Intriganten mit dem schwarzen Knebelbart nie sonderlich leiden können, geschweige denn ihm vertraut. Tsalinde aber hatte in ihrem Neffen nach Alriks Verschwinden, allem Streit zwischen dem Friedsteiner und Gießenborner Zweig der Familie zum Trotz, einen Freund sehen wollen. Es war immerhin der Junker gewesen, der sechs Jahre zuvor die gefahrvolle Aufgabe auf sich genommen hatte, das Lösegeld zu den Entführern des Baronieerben zu bringen. Erst sehr viel später kam ans Tageslicht, dass in Wahrheit Gernot sowohl für das Verschwinden der Dukaten als auch des Baronssohns gesorgt hatte.
Nach Answins Sturz hatte der Junker zudem ein „gutes Wort“ beim Grafen für die einstige Anhängerin des Thronräubers eingelegt, wofür Tsalinde ihrem Neffen unendlich dankbar war. Sie ahnte nicht, dass Gernots „Fürsprache“ vor allem aus Anspielungen über ihren angeblich schon damals zerrütteten Geisteszustand bestanden hatte, etwa in der Art: „Als sie auf Befehl der Verräterin Hildelind in Gallys einmarschiert ist, war halt Hesinde nicht mehr ganz bei ihr. Wie so oft, seitdem ihr dieser Oger an der Trollpforte auf den Kopf geschlagen hat. Ach, mein armes Tantchen, wie übel wurde ihr vom Leben mitgespielt . . .“
Nun, Lacertinus kannte Tsalinde als deren Medicus und enger Vetrauter besser. Natürlich, die Baronin war immer launisch, sprunghaft, reizbar und auch ein wenig überspannt gewesen – wie so viele Mitglieder ihres Hauses und Standes (der Tsageweihte hegte den Verdacht, dass daran auch Travias Rache einen Anteil hatte, wie die Darpaten inzestöse Verbindungen unter den Adeligen nannten). Durch die vielen Schicksalschläge, die sie in ihrem Leben hatte hinnehmen müssen, war Tsalindes von jeher schwaches Nervenkostüm weiter zerschlissen worden. Aber ein Fall für die Noioniten - nein, das war sie bis zuletzt nie gewesen.
Schon bald hegte der Geweihte den Verdacht, dass Tsalindes seltsames Verhalten in Wehrheim eine andere Ursache haben mochte. Was wäre, wenn ihr irgendein Gift eingeflösst worden wäre, Rauschkraut zumal? Als ehemaliger Spion der Kaiserlich-Garethischen Informationsagentur, Abteilung Maraskan, kannte er sich auf diesem Gebiet aus. Es war schon verdächtig genug, dass Gernot überhaupt auf Burg Karmaleth mit anwesend gewesen war – offenbar hatte er den Grafen ausgiebig „vorgewarnt“, was Tsalindes Geisteszustand betraf.
Zwar konnte Lacertinus seinen wagen Verdacht nicht beweisen, und die Baronin war erst einmal kaltgestellt. Die nächsten Götterläufe wurde Tsalinde auf Burg Friedstein wie eine Gefangene gehalten, während sich ihr „Tutor“ immer schamloser als Herr der Baronie aufspielte.
Nach und nach sickerten allerdings Gerüchte durch: von Gernots Kontakten zu einem zwielichtigen Al´Anfaner namens Timotheus Lirus, der sich selbst Don oder Dom Timotheo nannte. Der ehemalige Handlanger der Sklavenhändlers Pokallos war mittlerweile zum Emissario Extraordinario für Nutzviehimporte in Rommilys aufgestiegen und ließ wenig Zweifel daran, dass „Nutzvieh“ für ihn nicht nur aus Darpatbullen, sondern auch und vor allem aus Zweibeinern bestand. Vor allem handelte er mit Rauschkraut, insbesondere reinem Traumpulver, das er über Strohmänner in Pillenform verkaufte. Traumpulver – ein anderer Name für das Dämonenzeugs war Regenbogenstaub, was an sich schon eine Lästerung der Jungen Göttin darstellte. Dazu kamen, in Form von Gießenborner Silber, diskrete Zahlungen Gernots an den Kaufmann. All das deutete auf eine groß angelegte Verschwörung hin, mit dem Ziel, Gernot auf den friedwanger Steinbockthron zu bringen. Die Frage war nur, mit welchem Geheimwissen es dieser Don Timotheo vermochte, den Gießenborner Junker zu erpressen.
Lacertinus wandte sich in dieser Frage an seinen alten Freund aus KGIA-Tagen, den Puniner Magier Gordianus Al´Runahand, der mittlerweile den (Ehren-)Titel eines Obristen der Kaiserlich-Garetischen Informationsagentur führte. Bei ihrem nächsten Treffen konnte Gordianus mit Nachrichten aufwarten, die den Tsageweihten trafen, als hätte ihn ein Zitterrochen berührt.
Don Timotheo nahm die Dienste eines Schwarzmagiers namens „Doktor Visarion Silberberger“ in Anspruch, der als ehemaliger Günstling der Kaiserin Alara für die Agentur kein Unbekannter war. Sein besonderes Steckenpferd sollte die Erschaffung von Doppelgängern und die Seelenwanderung sein: Gewisse Kreise flüsterten, die Paligan habe gehofft, sich auf diese sinistre Weise einmal vor den Folgen der Alterns zu retten. Ursprünglich hatten die Reichsschützer das als eines der vielen Gerüchte aus dem Umfeld der „Schwarzen Witwe“ abgetan - zumal ihr „Dottore“ seine Forschungen 21 Hal in den diesbezüglich toleranteren aventurischen Süden verlagert hatte. Aber als wenige Jahre später der Bethanier sein monströses Haupt im Osten erhob, interessierte man sich plötzlich wieder für solche Geschichten.
Die Agentur spürte den ominösen Doktor Visarion schließlich im Dschungel von Al´Anfa auf: unter dem Decknamen Illkor Brasgar alias „Brabakbengel“ hatte er Zuflucht auf Don Timotheos Rauschkrautplantage unweit der Schwarzen Perle gefunden. Dort pflegte der Schwarzmagier unter anderem Kontakt zu einer kompetenten Verwandlungsmagierin namens Magistra Esteforia Mirhamdez. Deren Vetter Mercurio wiederum stand als berüchtiger Kaperfahrer der „Blutigen See“ ganz offiziell in Diensten des Dämonenmeisters . . . Was die Agentur ebenfalls beunruhigte war, dass auf der Plantage ein darpatischer Baronssohn gefangen gehalten werden sollte. Vielleicht, so mutmasste man in Gareth, plane der Bethanier das Reich nun auch mit Hilfe nichtdämonischer Doppelgänger zu unterwandern?
Leider hielt der Patriarch seine schützenden Schwingen über Don Timotheo, so dass der Agentur in diesem Fall die Hände gebunden waren. Andere Probleme besaßen zudem Vorrang. Aber Lacertinus hatte von Oberst Gordianus genug gehört. Im Jahr 26 Hal befreite er die „irre Tsalinde“ auf dem Weg ins Noionitenkloster von Perricum, wohin Gernot seine Tante verschleppen wollte. Gemeinsam brachen sie nach Al´Anfa auf, um sich dort auf die Suche nach Alrik Tsalind zu begeben – denn dass es sich bei dem Sklaven um den entführten friedwanger Baronieerben handelte, daran zweifelte Lacertinus nicht mehr.
Sich auf der Plantage des Don Timotheo einzuschleichen, war für ihn als ehemaligen KGIA-Spion ein leichtes: Nach einem Leben voller Wein, Weib und Rauschkraut konnte der feist und kränklich gewordene Sklavenhändler durchaus die Hilfe eines erfahrenen Heilers gebrauchen. Bei einem Tsageweihten aus dem hohen Norden war er sich noch am sichersten, nicht Opfer eines heimtückischen Mordanschlags zu werden (oder, was auf das gleiche hinauslief, Fragen zu seinen angeblichen visaristischen Neigungen gestellt zu bekommen). Das Empfehlungsschreiben von Jaccino Ulfhart, Hochgeweihter des Al´Anfaner Tempels der Ewigen, hatte Lacertinus endgültig Tür und Tor geöffnet.
Nur diesen ominösen Doktor Silberberger – den hatte er sträflich unterschätzt. Aus irgendeinem Grund schien der Magier derjenige zu sein, der bei dieser Scharade die Fäden zog. Auf Visarions Betreiben hin hatte der fette Don nicht nur Alrik, sondern auch noch einen zur lebenslangen Sklaverei verurteilten Brabaker Dieb namens Francesco di Palazzo gekauft und zusammen gesperrt. Die Ähnlichkeit der beiden fiel dem Tsageweihten zwar schon im ersten Moment auf, allerdings war er da noch ähnlich begriffstutzig wie bei seiner ersten Begegnung mit „Visarion Silberberger“.
Mit Schaudern erinnerte sich Lacertinus an den bleichen, schwarzbärtigen Magier, der schon damals einen intensiven Duft nach Lavendel verströmt hatte. Illkor Brasgar, so nannte er sich nun, Abgänger der Dunklen Halle der Geister zu Brabak. Schon die drückende Schwüle verhieß nichts Gutes. Es stand irgendein Festtag an – vermutlich nicht einmal einer der Zwölfgötter, denn die Moha-Sklaven schlugen die ganze Nacht die Trommel und opferten schwarze Hähne, während sich drinnen im Herrenhaus eine illustre, aber auch äußerst obskure Gesellschaft versammelte. Darunter auch er und - in eine finsterschwarze Robe gehüllt- der Magier. Beide spürten irgendwie sofort, dass der eine das dem jeweils anderen genau entgegen gesetzte Prinzip vertrat - und gerade deswegen empfanden sie füreinander nicht nur Antipathie, sondern auch eine düstere Faszination. Zumindest bei ihm, Lacertino de Zamonte, wie er sich vorgestellt hatte, verhielt es sich so. Lacertinus ertappte sich dabei, in den zahlreichen Spiegeln und im Licht der Kristall-Lüster nach dem Spiegelbild sowie dem Schatten seines Gegenübers Ausschau zu halten. Beides war zu seiner (oberflächlichen) Beruhigung durchaus vorhanden.
Auf seine unverblümte Frage nach Visarions Forschungen antwortete der Schwarzmagier ebenso offen: Er versuche vollkommene Doppelgänger seiner selbst zu erschaffen, die mit ihm nicht nur den gleichen Körper, sondern auch gemeinsame Erinnerung teilen sollten. Da er oft unterwegs und viel beschäftigt sei, könne er solche Kopien gut gebrauchen, außerdem wäre es ja das Zeichen wahrer Göttlichkeit, sich an mehreren Orten gleichzeitig aufhalten zu können. Leider sei die Entwicklung dieser „Replikanten“ noch nicht sehr weit gediehen. Wahrscheinlich werde er am Ende also doch wieder auf dämonische Gestaltwandler zurückgreifen müssen. Ganz offenkundig wollte der Schwarzmagier ihn, den Geweihten, durch diese unverblümten Lästerungen, einschließlich der Schmähung von Tsas heiligstem Geschenk, verhöhnen und herausfordern.
Lacertinus versuchte sich äußerlich nichts anmerken zu lassen. Stattdessen kam er sofort auf das Geheimnis zu sprechen, das den darpatischen Baronssohn Alrik und den Brabaker Streuner miteinander verband. Auch hier antwortete „Dr. Visarion“ ohne Umschweife.
Es seien zwei Brüder, die der mittelreichischen Baronsfamilie derer von Friedwang entstammten. Beide wüssten nichts von der Existenz des jeweils anderen, da Francesco kurz nach der Geburt von seinem Bruder getrennt worden und in Brabak aufgewachsen sei. Er benötige die beiden Zwillinge für seine Experimente, erwiderte der Magier mit sinistrem, raubtierhaftem Lächeln auf Lacertinus letzte Frage.
Der Tsageweihte wusste nicht zu sagen, was ihn außer Visarions Offenheit mehr erschütterte: Die plötzliche Erkenntnis, dass ein weiterer von Tsalindes Vierlingen noch am Leben war – und durch seine Nachlässigkeit ein Leben fern seiner wahren Heimat und Bestimmung führen musste. Oder der Umstand, dass, als der Magier sich mit einer Floskel von ihm verabschiedete, das Spiegelbild ebenso wie der Schatten noch einige Herzschläge lang stehen blieben, bevor sie sich auflösten. Ein kleiner Fehler in der astralen Matrix . . .
War es Zufall, das ihn Meisterin Samira, die Aufseherin, ausgerechnet in diesem Moment zu den Sklavenbarracken rief, wo es zu einem Streit zwischen betrunkenen Mohas sowie einigen Nordländern gekommen war (irgendein idiotischer Aufseher hatte nichts besseres zu tun gehabt, als einigen der „Wudus“ zur Feier des Tages Schnaps auszugeben)? Bei den beiden Verletzten handelte es sich jedenfalls um Francesco und Alrik . . .
Er gab den Wachen Anweisung, die Sklaven in seine Hütte am Rande der Plantage zu bringen. Sein Plan stand fest: Noch in dieser Nacht wollte er mit Alrik, der ihn vermutlich sofort erkennen würde, und seinen Bruder fliehen, die Geschwister zu ihrer Mutter nach Al´Anfa bringen und dann die Pestbeule so schnell wie möglich verlassen. Am Ende brachte er es gerade noch fertig, die Hintertür der Hütte, die aus dem ummauerten Gelände hinaus führte, zu öffnen, und seinen geweihten Dolch auf den Tisch zu legen, dann stand dieser bleiche Magier auch schon ein weiteres Mal vor ihm. Seine glasigen Raubtieraugen bohrten sich in die seinigen, von da an war alles seltsam . . . Zu seinem eigenen Erstaunen kam Lacertinus in einer abgelegenen, unterirdischen Zelle des Sklaventrakts wieder zur Besinnung. Als er sich panisch über den Hals tastete, war dort keine Bisswunde zu erspüren.
„Seid unbesorgt, Euer Gnaden, mir schmeckt geweihtes Blut nicht besonders“, sagte Merwan, als er völlig lautlos in die Kammer trat. „Ein Tsageweihter als Spion – ich muss zugeben, den Jüngern der Eidechse fällt immer etwas Neues ein. Es wird euch sicher freuen zu hören, das die beiden Sklaven trotz Eures bedauerlichen Mißgeschicks entkommen sind: Ihr seid sozusagen der zurückgebliebene Schwanz, der dem übrigen Eidechslein die Flucht ermöglicht hat.“ Bei diesen Worten kicherte Merwan irrsinnig und selbstgefällig - ein Geräusch, das Lacertinus später so oft hören und gleichermaßen hassen wie fürchten lernen sollte.
„Nur schade, dass die törichten Jungen in der grünen Hölle des Dschungels nicht weit kommen werden. Ihr habt sie in ihren sicheren Tod geschickt – tss, tss, gehört sich das für einen Diener der Ewigen Tsa? Apropos ewig . . . Ich werde Euch nun die Unsterblichkeit zeigen, die i c h den Menschen verleihe. Noch etwas: Der Kredit des Herrn Lacertino de Zamonte ist ab sofort ausgereizt. Leistet Euch nicht noch mehr Dummheiten an diesem Abend, Euer Gnaden. Nachher müssen die armen Sklaven nur wieder saubermachen.“
Gehorsam folgte er dem Magier und zwei finster blickenden Söldnern, die aussahen, als schreckte sie weder der Tod noch der Namenlose, auf den Gang – was hätte er auch sonst tun sollen? Mit pervalischen Grinsen öffnete das Kind der Finsternis das Sichtfenster der Nachbarzelle. Ein klägliches, aber auch bedrohliches Zischen war zu hören. Auf Merwans Befehl blickte Lacertinus in den völlig abgedunkelten Raum. Bleich, verstört und mit vor dem Gesicht erhobenen Händen kauerte dort eine vornehm gekleidete, weißhaarige Frau in der Ecke. Selbst das spärliche Licht der Fackeln schien ihr noch Angst einzujagen.
Dann spürte das Geschöpf die Anwesenheit von etwas anderem: lebenden Wesen. Mit einem tierhaften Knurren sprang Tsalinde an die Tür.
Lacertinus schrie bei der bloßen Erinnerung auf. Noch heute, nach all den Jahren, vermochte er nicht zu sagen, was er damals als grauenhafter empfunden hatte: Das totenblasse Gesicht seiner geliebten Baronin, Tsalinde Kalmanderia von Friedwang, ihre gebrochenen und doch von unsterblicher Gier erfüllten Augen, die beiden Wundmale an ihrem zarten Hals, ihre sich klauenhaft in die Gitterstäbe des Fensters krallenden Hände oder die beiden an eine wütende Schlange erinnernden Vampirzähne, die sie ihm mit infernalischem Fauchen entgegengebleckt hatte. Ein fast noch grausamerer Anblick war die Pein und eine Art von plötzlicher Scham in ihrem Antlitz gewesen, als sie Lacertinus erkannt hatte. Wie ein mit der Peitsche geschlagenes Raubtier war Tsalinde in die Dunkelheit zurückgewichen.
„Ganz recht, Eure Auftraggeberin“, verkündete Merwan ungerührt und schloss die Klappe wieder.
„Sie ist sehr hungrig. Verständlich. Immerhin ist es schon fast eine Woche her, seitdem ich sie mit meinem Besuch beehrt habe.“
Die Wachen packten ihn, während sich von innen die unglückliche Vampirin, die den Namen „irre Tsalinde“ nun wirklich zu Recht trug, heulend und kratzend gegen die Tür warf.
„Immer nur Mäuse und Ratten, das ist auf die Dauer keine angemessene Nahrung für eine Baronin. Wie sieht es mit Euch aus, Euer Gnaden? Ihr scheint mir für Eure Herrin mehr als nur die übliche Loyalität zu empfinden. Immerhin habt Ihr Euch für sie hierher gewagt: in die Höhle des schwarzen Löwen. So etwas tut man nicht auf Befehl oder Spesenrechnung, nicht wahr? Sondern nur aus Liebe. Nun, Lacertinus, was ist? Möchtet Ihr mit der Baronin heute Nacht zusammen sein – ganz allein? In inniger Umarmung . . .“
Einen Augenblick lang kämpfte Lacertinus mit den Tränen und der Last der Erinnerung. Merkwürdig, dass ausgerechnet dieser von den Zwölfgöttern verfluchte Erzschurke derjenige war, der zum ersten und einzigen Mal offen aussgesprochen hatte, was er für Tsalinde empfand – empfunden hatte.
Er brach hilflos zusammen, flehte um Gnade, schluchzte, weinte. Merwan lachte ihn nur aus.
„Na, na, was sollen Ihre Hochgeboren denken, wenn sie Euch so sieht? Ihr solltet ein paar Blümlein für sie pflücken. Wäre Purpurmohn recht? Und verstehe ich Euch richtig, wenn Ihr ein derart erlesenes Bukett selbst einer Liebesnacht mit der irren Tsalinde vorziehen würdet?“
Lacertinus nickte nur schwach, ohne den Sinn der Worte wirklich zu verstehen. Als Merwan den Riegel zur Tür beiseite schob, wurde er beinahe ohnmächtig vor Angst. Aber statt ihn packte der Magier einen der beiden Questadores und warf den - mehr verblüfft als entsetzt aufschreienden - Mann wie ein Stück Fleisch in die Klauen der heranstürmenden Vampirin.
Die nächste klare Erinnerung, die Lacertinus wieder hatte, war dann auch schon die an eine goldgeränderte, purpurne Blüte, die ihn der Vampir an die Nase hielt, als wäre sie ein Flakon mit Parfüm. Und das war ihr Duft auch – ein Wohlgeruch voller blühender Farben, ein rauschhaftes Glücksgefühl, wie er es nie zuvor, aber auch später nicht mehr empfunden hatte. Sie ließ ihn selbst den Schmerz um den Tod der Baronin vergessen – nach einiger Zeit erschien dieser ihm kaum mehr als ein angemessener Preis für die mal abgründige, mal in höchste Höhen führende Lust, die ihm die Droge bereitete. So kam es, wie es kommen musste: Schon nach dem dritten oder vierten Genuß wurde er von dem unheiligen Rauschkraut süchtig. Damit wurde er zu Merwans wehrlosem „Faktotum“, wie ihn das Kind der Finsternis spöttisch nannte.
An Bord eines nostrianischen Handelsschiffes waren sie hernach von Al´Anfa über Brabak nach Havena gefahren. Der bleiche, übelgelaunte Tsageweihte und sein noch bleicherer, schwarzgewandteter Begleiter waren sicherlich die merkwürdigsten Passagiere gewesen, die die Karavelle jemals transportiert hatte. Schon der Umstand, dass einige Besatzungsmitglieder auf der Fahrt spurlos verschwanden, hatte sicherlich dafür gesorgt, dass diese Fahrt allen Beteiligten noch lange im Gedächtnis haften bleiben würde. In der Stadt an der Mündung des Großen Flusses hatte ihn Merwan schließlich mit einem Vorrat an Purpurmohn freigelassen - mit der Ankündigung (oder Drohung), sich mit ihm schon bald in Zaberg wieder zu treffen. Erst nach und nach hatte Lacertinus begriffen, worauf das Verhalten des Vampirmagiers abzielte.
Nicht etwa, ihn zum Unglauben an den Gesichtslosen zu bekehren, auch wenn dies in seinem Zustand vielleicht sogar möglich gewesen wäre. Die verdorbene Seele eines Geweihten selbst war die Frucht, die das Kind der Finsternis pflücken wollte. Eine Frucht, die erst in vielen Jahren voller Schmerz, Gier, Einsamkeit und Verzweiflung heranreifen würde. Eine Frucht der Finsternis. Das also war das Verbrechen gewesen, wofür ihn die Heilige Inquisition, sieben Jahre später, in Gareth zum Tode verurteilt hatte.
Aber womöglich war dieses Fehlurteil - dass es ein Fehlurteil war, daran zweifelte Lacertinus nicht mehr - gar nicht auf die Nachlassigkeit eines einzelnen Praioten zurück zu führen. Etwas Böses lag in diesem Frühling 35 Hal in der Luft, eine Düsternis, die sich wie giftiger Rauch oder Bleidampf über diesen Ort legte.
Lacertinus hatte auf den Gängen die Gespräche der Wachen belauscht, in denen es um das Verschwinden der Greifen in der Schwarzen Sichel und eine undeutliche Vision ging. Letztere hatte den Inquistionsrat Selbfried vor den Umtrieben zweier Frevler gewarnt: Ein Magier mit toten Augen, der schon „lange über der Zeit“ auf Dere weilen würde und ein gefallener Diener des Kaisers, der durch Farbe als Frevler gezeichnet sei und eine „finstere Saat“ nach Gareth tragen werde. Selbfried hatte diese göttliche Eingebung offenbar auf den Vampirmagier Merwan und ihn, den ehemaligen Spion des Reiches im buntschillernden Gewand des Tsageweihten, bezogen. Nun, ein Säckchen mit Purpurmohnsamen war durch die KGIA tatsächlich bis in die Stadt des Lichts gelangt. Aber Lacertinus hatte selbst nicht glauben mögen, dass er in den Augen der Götter bereits als ein Erzfrevler galt.
Die Warnung bezog sich ganz offenkundig auf Galotta, den rübenschädeligen, selbst ernannten Dämonenkaiser von Yol-Ghurmak. „Magier mit toten Augen“ meinte schlussendlich nicht Merwan den Vampir, sondern Balphemor von Punin, einen angeblich unsterblichen Agrimoth-Paktierer, von dessen Treiben Lacertinus später in Rommilys erfahren sollte.
Wie auch immer, eine Zeitlang hatte er, der Tsageweihte, mit dem Leben abgeschlossen. Erst als dieser wunderschöne, buntschillernde Schmetterling begann, vor dem Gitterfenster auf und ab zu flattern, schöpfte der zum Tode Verurteilte wieder etwas Hoffnung. Die prachtvollen Flügel schillerten in allen Farben des Regenbogens, die roten Augen darauf schienen in sein Innerstes zu blicken und zu erkennen, dass er einen schmählichen Tod auf dem Scheiterhaufen einfach nicht verdient hatte. Alles würde wieder gut werden, dessen war sich Lacertinus sicher. Die Göttin würde ihn nicht im Stich lassen. Oder?
Etwa zur gleichen Zeit trat eine merkwürdige Veränderung im Verhalten seiner Bewacher ein. Irgendetwas völlig Unvorhergesehenes musste am Ende des Perainemonats geschehen sein – etwas ungemein Schreckliches. Leider waren die Sonnenlegionäre der Ansicht, dass ein Ketzer wie er über solche Dinge ja wohl am besten bescheid wusste und schwiegen sich in seiner Gegenwart darüber aus. Aus ihren Gesprächen untereinander glaubte er zu entnehmen, dass sich eine Art dämonischer Sturm oder alles verschluckende Finsternis Wehrheim genähert und die Stadt ausgelöscht hatte. Von Untoten und Dämonen war auch die Rede.
Lacertinus ertappte sich insgeheim dabei, dass er sich einen Sieg der Schwarzen Horden wünschte – zumindest ein Chaos, das ihn aus diesem trostlosen Loch befreien würde. War im Leben - das Leben nicht das Wichtigste? Sofort schämte er sich bitter für seine Schwäche. Das hieße, dass Tausende unschuldiger Menschen würden sterben müssen, nur damit er, Lacertinus von Zaberg, Vertrauter der Eidechse, noch einige Jahre in Freiheit weiterleben konnte. Hatte am Ende nicht Tsa, sondern ihre erzdämonische Widersacherin den Schmetterling gesandt, um ihn in Versuchung zu führen?
Schließlich öffnete sich die Tür zu seiner Zelle und er wurde zusammen mit einigen anderen Delinquenten in schweren Fußketten aus der Stadt des Lichts gebracht: „Um bei der Verteidigung von Gareth zu helfen“, wie es einsilbig hieß. Immerhin, das Ganze hörte sich nach einer Möglichkeit zur Bewährung an – oder zur Flucht.
Auf den Straßen der Kaiserstadt rannte alles wild durcheinander. Niemand schien recht zu wissen, ob er vor dem Feind, wer auch immer das sein mochte, fliehen oder gegen ihn kämpfen sollte. Die sonst so abgebrühten Garether liefen umher, als sei in ihrer Mitte ein unsichtbarer Vulkan ausgebrochen. Lacertinus wusste kaum zu unterscheiden, wo Flüchtlinge rasch ein paar ihrer Habseligkeiten zusammen rafften oder bereits Plünderer leerstehende Häuser ausräumten. Bürger hamsterten in Bäckereien. An Zeughäusern wurden Waffen und Löscheimer ausgegeben, Soldaten nahmen jeden „Freiwilligen“ mit, dessen sie habhaft werden konnten. Rasch wurde klar, dass man sich gegen eine Bedrohung aus der Luft wappnete. Die Worte „Galotta“ und „Fliegende Festung“ schwirrten umher. Ein alter Mann in der Menge versicherte Lacertinus, dass es sich bei letzterem lediglich um ein gigantisches Trugbild „wie damals bei den Schreckensfratzen“ handeln würde, dann wurde der Gefangene auch schon weitergerissen.
Das Schlurfen mit steinschweren Eisenketten und scharfkantigen Schellen an den Füßen war wirklich unangenehm gewesen. Lacertinus empfand Dankbarkeit gegenüber der Offizierin der Stadtgarde, die den Sonnenlegionär mit einem knappen „Wir sind hier in Gareth – nicht in Yol-Ghurmak“ aufgefordert hatte, ihm die Fußfesseln abzunehmen. Nach kurzem Protest hatte der Kirchensoldat, der es offenbar eilig hatte, in die bedrohte Stadt des Lichts zurück zu kehren, gehorcht.
Die Vorstellung, dass man ihn, den zum Tode verurteilten Frevler, so gut wie unbeaufsichtigt in all diesem Chaos zurücklies, ließ ihn innerlich aufjubeln. Aber der Gedanke hatte auch etwas Beunruhigendes an sich. Was auch immer sich da von Wehrheim her der Stadt näherte, es begann schon jetzt die bestehende Ordnung in ihren Grundfesten zu erschüttern. Nach einem bloßen Trugbild hörte sich das jedenfalls nicht an. Das fliegende Ding aus Yol-Ghurmak war echt, und es vernichtete ganze Städte und Armeen, wie ihm ein Korporal leichenblass versicherte. Nach und nach begann Lacertinus zu ahnen, dass ihm in Gareth vielleicht sogar noch ein weitaus schrecklicheres Schicksal erwarten könnte als der Tod auf dem Scheiterhaufen.
Die Zeit bis zum Abend verbrachte er dann auf der Mauer von Alt-Gareth, in der Nähe des Wehrheimer Tors. Zwar schien den Gardisten und Spießbürgern der Gedanke, das ihnen ausgerechnet ein Tsajünger – und dann auch noch ein Ketzer – zur „Verstärkung“ geschickt worden war, wenig zu gefallen. Andererseits waren Heilkundige durchaus rar und entsprechend gefragt.
„Hier, dort hinauf geht es zur Windmühle.“ Haglinds Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Mit wehendem Mantel kam die Rittmeisterin herbeigeeilt. „Ward Ihr schon einmal oben?“
„Nein, was soll dort Besonderes sein?“
„Eigentlich gar nichts. Außer dass man bei klarem Wetter bis nach Hohenstein sieht. Heute also schon mal nicht. Ich habe Befehl, die Flügel in einem bestimmten Winkel anzustellen, falls Entsatz aus Perricum naht. Wie bei so einem neumodischen Liebfelder Klapperturm . . .“
„Fantastisch! Wir erwarten Entsatz aus Perricum?“
„Hmm. Eigentlich nicht. Bislang ist ja nicht mal sicher, ob die Stadt nicht ebenfalls untergegangen ist – die Zwölfe mögen es verhindert haben. Aber wenn es noch Aussicht auf Hilfe für Darpatien gibt, dann von dort. Immerhin befindet sich dort unten die Löwenburg. Das Schwert der Schwerter wird uns nicht in Stich lassen.“
„Hoffen wir´s.“
„Tja, streng genommen sind wir nur hier, um auf die Verwundeten aufzupasssen. Das mit der Mühle – na ja, dass soll wohl mehr die Kampfmoral der Zurückgebliebenen stärken. So nach dem Motto, wenn sich Garetien und Darpatien noch Zeichen geben können, wird das Reich ja wohl noch nicht ganz untergegangen sein. “
Haglind spuckte aus. „Pustekuchen. Dass wir hier als Darpaten auf garetischem Gebiet herumlaufen und keinen einzigen Garetier mehr antreffen, sagt doch eigentlich alles. Naja, da können die sich auch nicht beschweren, wenn wir ihre verlassenen Höfe plündern.“
„Machen wir das denn?“
„Aber ja doch. Die Gans zahlt es dem Fuchs jetzt heim. Die verdammten Garether haben sich lange genug an unseren Steuerdukaten gemästet. Und irgendwoher muss der Proviant für uns und den Hohenstein ja kommen.“
Beide folgten einen ausgefahrenen Karrenweg den Hügel hinauf. Bereits auf halber Höhe hatte man eine gute Aussicht auf das Darpattal und die Reichsstraße im Osten, den schneebedeckten Raschtulswall im Süden, sowie die dunklen Wälder jenseits der Natter. Dort, gen Firun, stiegen einzelne Rauchsäulen auf – vielleicht aus Richtung Rommilys, vielleicht waren es auch einzelne Höfe, die brannten. Dass sie sich bereits auf garetischem Gebiet, auf der anderen Seite des Flusses, befanden, vermittelte ein trügerisches Gefühl der Sicherheit. Ebenso das Mäuerchen, das das Rittergut neben der Reichsstraße umgab.
Vor ihnen ragte nun die hölzerne Windmühle auf, daneben eine kleine Scheune. Die Flügel drehten sich flirrend im Wind und schickten unruhige Schatten über das hügelige Grasland.
Lacertinus erschauerte, was nicht nur an dem frischen Wind lag. Die Schatten erinnerten ihn an die Fliegende Festung, wie sie langsam, fast schon gemächlich auf Gareth zugeglitten war.
Einen Augenblick lang hätte er damals am liebsten aufgelacht, aber schnell war ihm klar geworden, dass dieses Ding – das ihn der Form nach an einen Spielzeugkreisel aus seiner Kindheit erinnerte – ernst gemeint war. Todernst.
Schon der Größe nach stellte es buchstäblich alles in den Schatten, was er je zuvor gesehen hatte. Die Felder, Wälder und Dörfer nördlich der Stadt verschwanden darunter nacheinander in Dunkelheit, wie bei einer plötzlichen Sonnenfinsternis. Mit quälender Langsamkeit glitt das Ungetüm heran, so dass den Verteidigern genug Zeit blieb, seine Ausmaße und Formen zu studieren.
Die siebenfach gezackte Unterseite des Konstrukts -, eine wie ein Blatt geäderte, gigantische Schale oder eine Art Muschel, wo zuckende Wurzeln herabhingen und rotgelbe Blitze sich entluden - war bedeckt mit Schreckaugen in der Größe von Segelschiffen, die das Häusermeer Gareths mitleidlos musterten. Über der „Muschelschale“ türmte sich eine hässlich-imposante Phantasiestadt auf, deren Mittelpunkt ein Turm bildete - ein wahrlich himmelstürmendes Bauwerk, an dessen Spitze wiederum ein glosender Mahlstrom rotierte. Allein die Luft und Aura des Unnatürlichen, die das dämonische Luftgefährt gleich einer Bugwelle vor sich her schob, drückten die Verteidiger auf der Stadtmauer zu Boden. Umschwirrt wurde die aberwitzige Konstruktion von einem Schwarm kleinerer, aber kaum weniger bizarrer Luftgefährte und Flugdämonen: Ausgeburten eines ebenso genialen wie kranken, im Größenwahn fiebernden Geistes.
Dann brachen die Niederhöllen über Gareth herein: Brandgeschosse, Gargylen, skelettierte Riesenalken, Irrhalken- und Karakilreiter. Lacertinus rettete einen verwundeten Pikenier vor den Klingen der Landungstruppen, verband Wunden, schiente Brüche, stoppte Blutungen und schleppte Eimer voll Wasser zu den Bränden, die an allen Ecken und Enden auffloderten. Eines der geflügelten Steinungeheuer, das fauchend und mit rissigen Klauen nach ihm gegrapscht hatte, brachte er eigenhändig oder besser gesagt –füßig zur Strecke: Vermutlich der einzige Gargyl, der in dieser Nacht das Opfer mohischer Kampfkunst wurde.
Rasch wurde es dunkel, stockfinstere Nacht. Langsam, aber unaufhaltsam schob sich die Fliegende Festung über die Mitte von Gareth. Dann, ohne Vorwarnung, begann heulend und tosend der Orkan. Lacertinus wurde sofort Dutzende Schritt durch die Luft gewirbelt und landete höchst unsanft in einer Bretterbude.
Am Ende krabbelte, rannte, kroch er zusammen mit Hunderten, wenn nicht Tausenden Anderen nur noch um sein Leben – vor dem Feuer, dem Sturm, den peitschenden Dornenranken, die wie rötlichbraune Tentakel aus den gepflasterten Straßen gewuchert waren, der Fliegenden Festung über ihm und zugleich der Heiligen Inquisition hinter ihm. Gareth wurde in dieser Nacht nicht angegriffen oder erobert, es wurde kolonisiert, nein, vernichtet und ausgelöscht: So ähnlich mussten sich die friedlichen, halbnackten Menschen der Waldinseln fühlen, wenn plötzlich riesige Segelschiffe an ihren Küsten landeten und scheinbar unbezwingbare Gegner mit Eisenharnischen, Stahlschwertern und Armbrüsten ausspieen. Oder eine ängstlich blökende Viehherde am Schlachttag. Vielleicht empfanden quakende Frösche ähnlich, deren Teich trockengelegt wurde. Wahrscheinlich waren die Garether in den Augen ihrer Gegner aber kaum mehr als über den Boden wimmelnde Insekten, die sie beiläufig zertraten.
Lacertinus unterdrückte ein Schluchzen. Nein, in der größten Stadt Aventuriens waren keine Käfer, Schafe oder Frösche gestorben, sondern unzählige Männer, Frauen, Alte, Kinder. Es musste Zehntausende Opfer gegeben haben, in einer einzigen Nacht. Wie bei der mörderischen Flutwelle, die damals das alte Havena unter sich begraben hatte. Vermutlich war diese Katastrophe sogar noch schlimmer.
Der Schrecken kehrte wieder: Das helle Sirren in der Luft. Gekochte Leiber, die im steinernen Becken eines Zierbrunnens Zuflucht vor den Flammen gesucht hatten. Würgendes, wildwucherndes Dornicht, in denen ganze Familien erstickten oder verbluteten, wenn sie das dämonische Feuer nicht schon vorher erreichte. Eine klaffende Spalte, in der eine flüchtende Abteilung Bürgerwehr schreiend verschwand, als sich der Riß in der Erde wieder schloß. Schwarzverkohlte Gestalten, denen die Haut in Fetzen vom verbrannten Fleisch hing. Berstende Mauern von mehreren Schritt Dicke. Der beißende Gestank nach Schwefel, Vitriol, ausgeglühtem Metall oder fauliger Erde.
Diese Nacht war ein einziger Alptraum gewesen. Am meisten hatte er sich später über den Gedanken gewundert, der ihm in all dem Grauen gekommen war. Typisch Gareth: Selbst im Untergang noch extravagant.
Über allem schwebte dieses monströse Etwas, wie ein gigantischer Abgott aus unheiligem Stahl und Gestein, finsterer noch als die rotglühende Nacht, die es umgab. Die irrsinnige Zerstörung senkte sich von dort über die Stadt wie ein viele Rechtmeilen durchmessendes Leichentuch. Und doch war das Ende des Kolosses beinahe schlimmer als das Unheil, das er bis in den letzten Winkel Gareths verbreitete.
Denn schließlich, auf dem Höhepunkt all des Chaos, stürzte der Fliegende Berg einfach ab, mit überderisch knirschenden, ächzenden, röhrenden, kreischenden Lauten, die mal nach überlastetem Metall, mal nach splitterndem Holz oder aufplatzendem Fleisch, dann wieder nach berstendem Fels klangen. Vitriolwolken und Trümmermassen regneten auf Menschen wie Gebäude herab. Der ganze Himmel einschließlich der darüber liegenden Sphären schien auf Sumus gepeinigten Leib zu donnern.
Das Erdbeben in Folge von Galottas Sturz brachte ihn am Ende beinahe doch noch um. Zu Lacertinus´ Linken wie Rechten brachen mehrstöckige, solide Häuser in sich zusammen, als wären sie aus Boltankarten errichtet worden. Im letzten Moment wühlte er sich aus dem Schutt und den Holzbalken frei, bevor die lodernden Flammen darüber hinweg walzten. An alles weitere fehlte ihm die klare Erinnerung. Erst am südlichen Stadtrand kam er wieder einigermaßen zur Besinnung. Stunden mussten seit der ersten Sichtung der Fliegenden Festung vergangen sein. Ascheregen rieselte herab. Gesichtslose Menschen irrten umher, weinend, schreiend oder stumm, einige lachten oder sangen im Wahnsinn. Überall die blutigen Leiber von Toten, wimmernde Verletzte, verzweifelte Überlebende, die Angehörige und Freunde suchten oder einfach nur aus der zertrümmerten Kaiserstadt ins Ungewisse flohen.
Wie ein Ertrinkender brachte sich der Geweihte auf einem Hügel der verfluchten Dämonenbrache in Sicherheit. In dem Wald, der bis zu dieser Schreckensnacht als einer der gefährlichsten Orte Aventuriens gegolten hatte, fühlte Lacertinus sich erstmals wieder leidlich sicher. Die selbst verstört umher streifenden Söldner des Feindes entdeckten ihn nicht. Stattdessen ließ Tsa ihn Heilkräuter finden, mit denen er seine vielen kleinen und großen Wunden verarzten konnte. Als er bei Sonnenaufgang die gewaltigen Trümmer auf der Stadt liegen sah, die an vielen Stellen selbst noch rauchte, brannte und qualmte (die Überreste der Festung erinnerten ihn an Steine, die ein Kind in einen Ameisenhaufen geschleudert hatte), waren seine Gefühle durchaus zwiespältig. Einerseits war es grauenhaft, die Stadt des Lichts und die kaiserliche Residenz als Ruinen hinter sich zu lassen. Andererseits bedeutete das alles aber auch einen völligen Neuanfang – nicht zuletzt für ihn, der dank der Gnade der Jungen Göttin noch unter den Lebenden weilte.
Irgendwie hatte Lacertinus es geschafft, sich bis in die Gegend von Rommilys durchzuschlagen und der fürstlichen Armee anzuschließen: Natürlich nicht als Kämpfer, sondern als Heiler, der nach der katastrophalen Niederlage gegen Galottas Erben vor den Toren der Stadt mindestens ebenso dringend gebraucht wurde.
Angeblich hatte sich auch Baron Alrik Tsalind von Friedwang unter den geschlagenen Verteidigern des Fürstentums befunden. Mal hieß es, er sei in der Schlacht gegen die dämonischen Angreifer gefallen, dann wieder, verschollen oder schwer verletzt. Die meisten Befragten interessierten sich aber schon nicht mehr recht für den Verbleib eines einzelnen Barons. Das Leben selbst war wohlfeil geworden in Tagen, in denen selbst gekrönte Häupter und die höchsten Diener des Reiches starben wie die Fliegen. Der Geweihte spürte aber, das Alrik noch unter den Lebenden weilte, zumindeste hoffte er es inbrünstig. Auf dem Hohenstein hatte jede Spur von ihm gefehlt, also war Lacertinus gestern in dieses Hilfslazarett gekommen, um weitere Nachforschungen anzustellen, wenn auch vergeblich. Alrik Tsalind . . . Vielleicht war es wirklich die Sorge um Tsalindes Sohn, mit dessen Schicksal das seinige so untrennbar verbunden war, die ihn, einen körperlich alten Mann, in all dem Elend und Chaos noch am Leben erhielt.
Ganz uneigennützig verhielt sich Lacertinus allerdings nicht. Es bedurfte, wenn überhaupt, schon eines adeligen Fürsprechers, um ihn vor weiteren Nachstellungen der Inquisition zu beschützen. Noch hatte niemand die Frage nach seiner Herkunft gestellt oder ihn als flüchtigen Ketzer erkannt - bis jetzt.
Lacertinus seufzte. „Tsa möge mir meine Schwäche verzeihen“, murmelte er.
„Habt Ihr etwas gesagt?“ Haglind – die hätte er beinahe vergessen.
„Verzeiht, mein Geist war gerade in der Vergangenheit.“
Sie gingen weiter den sanft ansteigenden Hügel hinauf, der jetzt von felsigen Abbrüchen durchsetzt war. Schlehenhecken und anderes Dornicht gaben der Anhöhe etwas Unwirtliches. Von hier konnte man den Gutshof, zwischen einigen Bäumen gelegen, gut einsehen. Mehrere Fachwerkhäuser, um ein mit roten Ziegeln gedecktes Herrenhaus gruppiert. Dessen graue, imposante Steinmauern waren mit garetischem Fachwerk aufgestockt. Ein kiesbestreuter, von Kaiser-Reto-Pappeln flankierter Weg führte von der Reichsstraße zu einem schmiedeeisernen Tor in der Umfassungsmauer aus Natursteinen. Das Gehöft sah auf den ersten Blick wehrhaft aus, aber Lacertinus war lange genug Schwertträger gewesen, um zu ahnen, dass das Schlösschen einem ernsthaften Angriff nicht lange Widerstand leisten würde. Eine Räuberleiter genügte, um über das Mäuerchen zu gelangen. Auch das Gittertor ließ sich mit einer Ramme oder einem schweren Hammer in Windeseile aufbrechen.
Auf dem Hügelrücken angekommen, blieb Haglind stehen und genoss die Aussicht. „Ein strategisch wichtiger Punkt. Von der Mühle aus sehen wir sofort, falls die Dreckigen anrücken. Wollt Ihr bis ganz nach oben?“
„Danke, ich bin nicht ganz schwindelfrei. Habt Ihr mich nur hierher mitgenommen, um mir das zu zeigen?“
„Nein. Olruk sagt, er habe in Rommilys das Gerücht aufgeschnappt, wonach in der Schwarzen Sichel ein Tsageweihter verhaftet und in die Stadt des Lichts gebracht worden ist . . . Im Frühjahr soll die KGIA diese Blume gepflückt haben . . .“
Lacertinus zuckte zusammen, als hätte ihn erneut die strafende Geißel eines Bannstrahlers getroffen. Auch die Anspielung mit der Blume gefiel ihm nicht.
„Was hat das mit mir zu tun?“ fragte er scheinbar unbeteiligt.
„Wisst Ihr vielleicht etwas darüber? Immerhin seid Ihr ebenfalls ein Tsageweihter und scheint aus der gleichen Gegend zu stammen.“ Haglinds Blick war nicht einmal lauernd, was Lacertinus besonders heimtückisch fand.
„Ihr glaubt doch nicht etwa, dass ich . . .“
„Nun, dann würdet Ihr wohl kaum frei herumlaufen, nicht wahr?“ Die Rittfrau musterte über seine Schulter hinweg angestrengt einen imaginären Punkt am Horizont. „Auch wenn einige Gefangene die Verwüstung der Stadt des Lichts einschließlich der Hallen der Inquisition genutzt haben sollen, um zu fliehen.“
„Ja, es sind furchtbare Zeiten. Nichts ist mehr so, wie es war. Wir alle müssen uns mit den Dingen arrangieren, wie sie sind. . . .“
„Da ist etwas dran. Außerdem glaube ich kaum, dass ein Ketzer auf der Flucht vor der Inquisition beim erstbesten Feldlazarett Halt machen und sich um die Verwundeten kümmern würde. Ein wirklich gefährlicher Ketzer, meine ich. Und selbst wenn es so wäre. Ich kann ein Liedchen von dem Schaden singen, den Dexters Leute schon durch blinden Übereifer angerichtet haben. Schwärzen alle und jeden bei der Inquisition an und dann darf man sehen, wie man wieder heil aus der Sache rauskommt. Aber so ist die Agentur nun mal, arrogant und großkotzig.“ Haglind schüttelte in ehrlicher Empörung den Kopf. „Wenn ich allein an diese Hexenjagd nach der Sache mit Answin denke . . . Ich wünschte, sie hätten bei den wahren Feinden des Reiches ebenso viel Eifer an den Tag gelegt, dann würden Neu-Gareth und Wehrheim vielleicht noch stehen.“
Die Rittmeisterin nahm einen Grashalm in den Mundwinkel und kaute darauf herum.
„Versteht mich recht, ich bin keine verkappte Answinistin oder so was. Aber hätte er sich damals Reichsbehüter statt Kaiser genannt, sässe er jetzt vielleicht noch immer auf dem Greifenthron.“
Haglind schob den Halm von einem Mundwinkel in den anderen. Lacertinus antwortete nicht.
„Olruk sagte, Ihr wärt ein Prediger auf Wanderschaft. Seid Ihr auf Euren Reisen jemals in den Tiefen Süden gelangt?“
„Ich . . . ja, doch. Wie kommt Ihr darauf?“
„Das Armband.“ Die Rittmeisterin wies auf Lacertinus Handgelenk. „Sieht aus wie echtes Iryanleder.“
„Ihr habt ein scharfes Auge. Ja, das habe ich in Al´Anfa erworben. Einfach so. Hat mir eben gefallen.“
„Teuer?“
„Sagen wir, nicht ganz billig.“
„In der Pestbeule des Südens ward Ihr, so so. Dann wisst Ihr womöglich, was ein Bruder Bishdariels ist?“
„Bei Simias Glanz, für Rabenvögel sind andere zuständig.“ Lacertinus verhüllte das geschuppte Stück Leder mit seinem Mantel. „Hört sich nach Tod, Schlaf, Traum oder etwas in der Art an. Vielleicht sind auch der Seelenvogel Golgari oder Uthar mit seinem unwiderruflichen Pfeil gemeint. In jedem Fall vertreten Bishdariels Geschwister Dinge, die nicht mehr wandelbar sind. Endgültige Dinge. Nicht sehr Tsa gefällig, fürchte ich. Wo keine Möglichkeit mehr zum Wandel ist, blüht auch keine Hoffnung, keine neue Zukunft. Es ist wie eine Nacht ohne Morgen . . .“
„Anscheinend ward Ihr noch nie in einer Situation, in der Ihr einfach keine Wahl mehr hattet.“
Lacertinus schauderte und zog seinen Mantel enger: „Ich hatte schon die Wahl zwischen Duglumspest und Zorganpocken, wenn Ihr das meint.“
„Nein, das meine ich nicht. Ihr wissst offenbar nicht, was es bedeutet, wenn es für einen Menschen nur noch einen einzigen gangbaren Weg gibt, mag er auch noch so steinig, dornig und entbehrungsreich sein.“
„Auch der Weg kann sich noch wandeln. Das Leben ist das wichtigste. Seid froh, wenn es darin überhaupt einen erkennbaren Pfad gibt. Wer ist denn nun dieser . . . Bruder Bishdariels?“
„Ein Schläfer, wie die Al´Anfaner sagen. Jemand, der sich in zwei Welten zugleich aufhält. Der hinter der Maske des Freundes ein Doppelleben führt und bei erstbester Gelegenheit Verrat übt. Kurzum: ein Spion, Eindringling und Saboteur. “
„Tatsächlich? Nein so was. Die Al´Anfaner und ihr rabenschwarzer Humor.“
„Und, habt Ihr Euch schon entschieden?“
„Wie ich schon sagte, für derartiges Geflügel sind andere zuständig.“
„Ich meinte eigentlich Eure Wahl bezüglich Zorganpocken und Duglumspest.“
„Ach so ja. Da ich ein uneitler Mensch bin, selbstverständlich für die Pocken. Besser ein paar Narben denn ein ewiges Dasein als Dämon, möge die Allesgebärende uns gegen die Geschöpfe der Finsternis beistehen.“ Der Geweihte malte ein Schutzzeichen in die Luft, das aussah wie eine Eidechse.
„Narben? Ich vermag an Euch keine entdecken. Ihr wirkt sogar bemerkenswert frisch für Euer Alter, Euer Gnaden.Wenn ich das mal so sagen darf . . .“
„Danke für die Blumen. Ihr im Übrigen genauso, Rittmeisterin. Ich meinte das auch eher allegorisch: Narben auf der Seele, wie man so schön sagt . . .“
„Ja, die Seele eines jeden Menschen hat eine hässliche Seite - wie bei Bishdariel.“
„Ah, ich verstehe.“ Lacertinus lachte erheitert auf. „Ihr haltet mich für einen Spion?! Das ist doch absurd. Selbst wenn es so wäre: Was gäbe es auf Hauckes Zuflucht denn auszuforschen? Das Elend und die Niederlage Darpatiens? Viel sabotieren kann man in diesem Chaos auch nicht mehr. Und um das Tor dort unten aufzukriegen, braucht es keinen Verräter. Dazu reichen ein Huftritt oder ein Hieb mit dem Vorschlaghammer völlig aus. “
„Was Ihr sagt, hört sich beinahe vernünftig an, Euer Gnaden. Ihr scheint mir zudem ein Mensch mit Geschmack zu sein. Aber jeder Verrat beginnt mit Vernunftgründen – oder Geschmacksfragen.“
„Da muss ich Euch entschieden widersprechen. Jeder Verrat richtet sich zuerst gegen die Vernunft und den guten Geschmack.“
„Das eine schließt das andere nicht unbedingt aus. Alles ist eine Frage der Betrachtung. Sei es, wie es sei. Eines meiner Probleme besteht darin, dass ich mir übertriebenes Misstrauen ebenso wenig leisten kann wie zu viel Vetrauen.“
Die Rittmeisterin spuckte das Gras aus.
„Ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr das Gut bis auf weiteres nicht verlassen würdet.“
„Selbstverständlich werde ich die Verwundeten nicht im Stich lassen. Bevor dieser Metzger Olruk noch mehr von ihnen über das Nirgendmeer schickt.“
Lacertinus drehte sich zum Gehen.
„Ich bin noch nicht fertig“, bellte die Rittmeisterin.
Der Geweihte blieb stehen, hob die Handflächen leicht an, als müsse er seinen unsichtbaren Doppelgänger beruhigen und drehte sich möglichst gemessen um. Kein Zweifel, diese arrogante, herrische Offizierin misstraute ihm, dem Geweihten, sonst würde sie weitaus mehr Respekt in ihre Stimme legen.
„Ja?“
„Ich werde das Lazarett räumen lassen.“
Lacertinus runzelte die Stirn. „Das halte ich für eine nicht sehr gute Idee . . .“
„Befehl ist Befehl. Es tut mir selbst leid, dass sich die Anweisungen aus Hohenstein stündlich ändern. Leider werden sie zunehmend widersinniger statt klarer. Ihr sollt mit Olruk und den Verwundeten morgen gen Perricum aufbrechen.“
„Ohne jede Bedeckung? Was ist mit Euch und Euren Leuten?“
„Die Pflicht erfordert meine Anwesenheit auf der Feste. Dort wird jetzt jeder Mann und jede Frau zur Verteidigung gebraucht.“
„Warum wollt Ihr Hauckes Zuflucht verlassen? Einen besseren Platz für die Schwerverwundeten hättet Ihr kaum finden können . . . Wie der Name schon sagt . . .“
Eine dunkle Wolke zog vor die Sonne.
„Nicht ich habe mir das ausgedacht. Befehle, Befehle. Der Gutshof ist nicht länger zu halten, heißt es.“
„Woher wollen die auf der Festung das so genau wissen?“
„Im Grunde haben sie Recht. Die Mühle ist eine weithin sichtbare Landmarke, die Feinde geradezu anzieht. Glaubt mir, ich würde mich gerne zum Kampf stellen. Aber Hauckes Zuflucht ist nicht so wehrhaft, wie es den Anschein hat, Ihr habt es ja selbst gesagt - und ich verfüge nur über eine Handvoll schlechtbewaffneter, übel gelaunter Versprengter. Einer meiner Befehle lautet, weitere Verluste unter allen Umständen zu vermeiden.“
„Nun, ich bin der letzte, der euch Feigheit vorwerfen wird.“ Der Tsageweihte lächelte milde. „Aber ich werde unmöglich das ganze Lager nach Perricum mitnehmen können. Da unten befindet sich mittlerweile fast ein ganzes Banner Schwerverwundeter. Bestenfalls ein Viertel von ihnen ist überhaupt transportfähig – und wir haben kein einziges Fuhrwerk.“
„Irgendwie sind sie doch auch alle hierhergekommen“, sagte Haglind unwirsch.
„Das war, bevor Olruk ihnen die Arme und Beine abgeschnitten hat. Nein, wir werden mindestens eine Woche brauchen, bevor wir überhaupt an eine einigermaßen geordnete Evakuierung nach Hohenstein denken können.“
„Ausgeschlossen. Keiner der Soldaten ist mehr kampffähig. Wir haben bereits mehrere Verdachtsfälle von Schlachtfeldfieber. Außerdem, drei, vier Dutzend Menschen. Die Festung platzt schon jetzt aus allen Nähten. Die Verwundeten können unter keinen Umständen nach Hohenstein zurück. Ganz abgesehen davon, dass der Feind den Belagerungsring bald geschlossen haben wird. Ab dann müssen wir jederzeit mit Vorstößen über die Natter hinweg rechnen.“
„Wenn wir die Leute einfach hierlassen, werden sie früher oder später dem Feind in die Hände fallen.“
„Das weiß ich auch“. Haglind klang gereizt. „Man könnte ihnen Gift geben.“
Obwohl die Wolke vor der Sonne weitergezogen war, verdunkelte sich Lacertinus Gesicht erneut.
„Habt Ihr denn welches?“
„Ja. Sogar mehrere Phiolen. Sind uns bei einem Scharmützel mit den Dreckigen in die Hände gefallen.“
„Ich halte das, gelinde gesagt, für keine sehr gute Idee. Die meisten wären ohnehin zu schwach, um es einzunehmen.“
„Mit `geben´ meinte ich eigentlich, es ihnen einzuflössen – oder auf die Wunde zu träufeln. Ihr seid der Medicus und wisst sicherlich, wie man es anstellen muss, damit sie möglichst wenig leiden.“
Jäher Zorn trat in Lacertinus´ Augen: „Ich bin Tsageweihter, kein Massenmörder. Warum schlagt Ihr Eure Soldaten nicht gleich mit dem Beil tot wie sieches Vieh?“
Haglinds Gesicht war starr und ausdruckslos.
„Wisst Ihr, was die Blutkammern waren?““
„Nein. Hat das auch etwas mit Bishdariel zu tun?“
„Es geht hier nicht allein um das Schicksal der Verwundeten. Wir müssen verhindern, dass ihr Blut in Rommilys für neues Dämonenwerk missbraucht wird – schwarze Magie, die dann wieder andere Menschen verstümmeln oder töten wird. Es mag hart klingen, aber wir haben letztlich gar keine andere Wahl. Ihr müsst meine Lage verstehen, Euer Gnaden. Wir können da unten nicht alle retten. Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Es ist eine Notlage. Diejenigen, die durch dieses Opfer überleben, werden uns auf ewig dankbar sein.“
Lacertinus hielt sich einen Moment lang mit den Fäusten die Ohren zu und schüttelte den Kopf.
„Versucht nicht, einen solchen Frevel auch noch als vernünftig hin zu stellen. Man könnte meinen, ein Dämon spräche aus Euch.“
Lacertinus hatte eine harsche Erwiderung erwartet, aber die Rittfmeisterin blieb beunruhigend kühl: „Bedenkt doch: Die meisten erwartet ein Leben als Krüppel, als eine Last für ihre Familien. Falls die überhaupt noch leben. Habt Ihr denn überhaupt kein Mitleid? Ich dachte eigentlich, dass auch viele Diener der Eidechse ihrem Leben ein Ende setzen, wenn sie es als nicht mehr lebenswert erachten.“
Der Tsageweihte atmete tief durch.
„Nein, und abermals nein. Wagt es nicht, Euch bei dieser Ungeheuerlichkeit auch noch auf die Junge Göttin zu berufen. Wenn wir jetzt anfangen unsere eigenen Leute zu vergiften - unsere Schutzbefohlenen! – wo wäre dann noch der Unterschied zu diesen götterlosen Mördern da draußen?“
„Beruhigt Euch, Euer Gnaden. Es ist bislang nur ein Gedanke. Ein Vorschlag. Noch haben wir Zeit, über alles in Ruhe nachzudenken.“
„Ich werde über so etwas Entsetzliches nicht einmal nachdenken.“ Aufgeregt gestikulierend ging Lacertinus auf und ab. „Sind eigentlich alle verrückt geworden? Tsas Geschenk wirft man nicht einfach weg, wenn man es nicht mehr zu brauchen glaubt – so wie die überzähligen Schuhe der Amputierten.“
„Was könnte schrecklicher sein, als diesen Unmenschen in die Hände zu fallen – oder in die Klauen von Untoten?“
„Genug!“ Lacertinus Stimme überschlug sich fast. „Unser Gespräch dreht sich sinnlos im Kreis wie die Flügel dieser Mühle.“
„Nur eine Frage. Werdet Ihr morgen das Lazarett räumen?“
„Ausgeschlossen. Übermorgen sind die ersten transportfähig, wenn uns die Allesgebärende gnädig ist. Bis dahin haben wir vielleicht auch genügend Fuhrwerke für die anderen aufgetrieben.“
„Ich glaube nicht, dass es noch eine einzige Kutsche oder einen Wagen in einem Tagesmarsch Umkreis gibt. Wir sind hier gestrandet. Wie auf einer Insel im Chaos.“
„Dann müssen wir eben bleiben und im Vertrauen auf die Götter der Dinge harren, die da kommen werden.“
„Ja, und vielleicht alle sterben.“
„Besser gemeinsam sterben, als sich gegenseitig umzubringen. Die heiligen Zwölfe werden uns nicht im Stich lassen, solange wir sie und ihre Gebote achten.“
„Wenn es denn nur immer so einfach wäre, wie ihr Geweihten sagt. Ist das Euer letztes Wort?“
„Bis Ihr mir einen besseren und vor allem göttergefälligen Vorschlag macht, ja. Darf ich mich nun zurückziehen, Rittmeisterin? Ich würde nun gern nach den neu angekommenen Verwundeten sehen und muss noch einige Verbände wechseln.“
Haglind wies ihm den Weg nach unten. Wie eine wütende Eidechse stürmte Lacertinus den Hang hinunter.
Die Rittmeisterin sah ihm nach und strich sich versonnen über das Kinn.
Erst jetzt bemerkte sie den Soldaten, der aus der Mühle getreten war. Einer von der Rommilyser Wehr, ein Spießbürger durch und durch mit Birnhelm, Waffenrock, Säbel und Hellebarde. Den Posten hatte sie ganz vergessen.
„Warum bist du nicht oben und hältst Wache?“
„Verzeiht, Frau Rittmeisterin. Ich hörte laute Stimmen und da ich nicht wusste, dass Ihr . . .“
„Schon gut. Wie ist dein Name?“
„Traviabert.“
„Schön, Traviabert. Ab sofort wirst du Bruder Lacertinus nicht mehr aus den Augen lassen. Insbesondere wirst du dafür sorgen, dass er den Gutshof nicht ohne meine ausdrückliche Erlaubnis verlässt.“
„Aber, Frau Rittmeisterin, einen Geweihten besp....obachten ? Ich weiß nicht, ob ich so was fertig bringe . . .“
„Lacertinus steht im Verdacht, ein Ketzer zu sein, der aus dem Kerker der Heiligen Inquisition geflohen ist.“
Der Soldat stand erschrocken stramm. „Zu Befehl, Frau Rittmeisterin.“
„Schon gut. Geh mit ihm zurück zum Lazarett. Und schick eine Ablösung zur Mühle, ich werde hier solange Wache halten.“
Krachend zerbrach ein morscher Ast.
Der Warunker strauchelte keuchend darüber hinweg, versuchte sich mit schäumenden Maul gegen Francescos Griff um den Zügel aufzulehnen. Dieser zwang sein Reitpferd tiefer nach unten. Solange das Mistvieh selbst Mühe hatte, nicht zu stürzen, würde es auch nicht fertig bringen, ihn abzuwerfen. Und da hatte er gedacht, sich das ruhigste Pferd ausgesucht zu haben! Zeternd und quietschend flatterten einige starähnliche Vögel auf, von denen Francesco nur wusste, dass die Friedwanger sie Pestvögel nannten. Sie erschienen nur alle paar Götterläufe im Mittelreich – ihr Erscheinen sollte Unglück und Katastrophen ankündigen. Wie passend, dennoch hatte er dafür jetzt weder einen Blick noch viele Gedanken übrig.
Das Tier wieherte, als ihm ein krummer, knorriger Ast das Fell an der Brust aufriss. Noch ein Satz, und dann waren sie am Ende des Abhangs angekommen.
Fluchend versuchte der Streuner das bockende Tier in den Griff zu bekommen – und vor allem in Richtung Reichsstraße zu treiben. Sein Bruder hatte mehr Glück und Geschick. Er galoppierte geradewegs auf die Trümmer zu und hob die Borongeweihte zu sich auf den Sattel, als wolle er eine Prinzessin entführen. Golgariella hatte gerade ihren Rucksack ausgegraben und sich umgehängt.
Der Mondschatten sah sich hektisch um: Eigentlich hätten nun schon irgendwo die ersten Verfolger auftauchen müssen. Aber offenbar hatten sie den halsbrecherischen Ritt den Hügel hinunter in ihren schweren Rüstungen nicht gewagt.
Stattdessen kam eine Handvoll Galottaner ein ganzes Stück hinter ihm die Bergflanke hinunter, wohl um ihnen den Weg zurück nach Rommilys abzuschneiden. Der Hauptteil, sieben, acht Reiter preschte hörbar den bewaldeten Hügelrücken entlang, bevor sie knapp vor Alrik wieder auf die Straße kamen. Natürlich, auch zur Festung Hohenstein wollten die Reiter sie nicht durchlassen. Sein Bruder versuchte einfach stur durchzubrechen, aber heranschwirrende Armbrustbolzen ließen ihn dann doch Richtung Fluß ausweichen. Die Natter, die ihnen in der Gewitternacht kaum aufgefallen war, glänzte hinter einem lichten Wäldchen.
Auch wenn das alles verflucht nach einer Mausefalle aussah, beschloss Francesco, den Beispiel seines Bruders zu folgen. Wie bei einem Hindernisrennen lenkte er das Pferd durch die Reihen der Bäume, zwischen denen noch immer Reste des Morgennebels hingen. Morast spritzte hoch. Das wuchtige Stampfen der Verfolgerpferde klang erschreckend nahe an seinen Ohren. Stahl klirrte, abgehackte Rufe hallten durch den Wald. Die Schwarzen Reiter hatten sich an seine Fersen geheftet und trieben ihn vor sich her wie bei einer Parforcejagd. Einer war direkt hinter ihm, wie rasselnder Pferdeatem verriet.
Francesco riskierte einen Blick über die Schulter. Mit Kapuze über dem Kopf sah der Kerl aus wie ein berittener Hesthot. Lässig hob er eine Armbrust. Und ich habe nicht einmal eine richtige Waffe, um mich zu verteidigen.
Das dumpfe Krachen des Auslösemechanismus. Dann das gleiche Geräusch von der Seite. Erst jetzt sah er schemenhaft den zweiten Reiter, der in einigen Schritt Entfernung und beinahe gleichauf neben ihm galoppierte.
Ein Bolzen pflockte sich hart in den Pferdehals, der andere war wohl im Hinterlauf eingeschlagen. Der Warunker wieherte keuchend, als habe ihn das Beil des Rossschlachters getroffen. Der massige Leib aus Muskeln, Fell, Fleisch und Sehnen verwandelte sich von einem Augenblick zum nächsten in einen leblosen Kadaver, der sich in irrwitziger Geschwindigkeit überschlug.
Eine steile Böschung.
Baumstämme, Sträucher, Schilf.
Wasser.
Das Pferd klatschte Hals über Kopf in den Fluß.
Francesco hatte Glück – er wurde durch den Sturz regelrecht aus dem Sattel katapultiert und nicht von dem Pferdeleib unter Wasser gedrückt oder zermalmt.
Hochspritzendes Wasser. Kälte. Eklige, nasse Kälte.
Zu seinem eigenen Erstaunen tauchte er nicht vollständig unter. Allerdings merkte er, dass sein linker Fuß noch im Steigbügel steckte. In jäher Panik zu ertrinken, schlug er um sich, reckte seinen Hals in die Höhe und sperrte seinen Mund weit auf wie ein hungriges Küken.
Die wilden Ruderbewegungen retteten ihm vermutlich das Leben.
Die Reiter, die wie ein Rudel hungriger Wölfe oberhalb der Böschung entlang strichen, hielten ihn für einen Nichtschwimmer und daher für keinen weiteren Bolzen mehr wert.
Das nächste Geschoß traf stattdessen Alriks Pferd, das sich in einigen Schritt Entfernung durch den Fluß kämpfte.
Golgariella trieb mit aufgeplusterter Robe die Natter hinunter, mit dem Gewicht des Rucksacks auf dem Rücken und ihrem eigenen kämpfend, das sie nach unten zu ziehen versuchte. Dann war sie auch schon aus Francescos Blickwinkel verschwunden.
Er zog den Dolch aus dem Gürtel, hieb und schnitt damit den Riemen des Steigbügels entzwei. Sein Fuß kam frei. Aber er musste die Waffe fallen lassen, wenn er sich einigermaßen über dem blutrot gefärbten Wasser halten wollte. Die Strömung ergriff ihn und trieb ihn schnell auf den offenen Fluß hinaus. Natter – schon allein der Name erinnerte an eine heimtückische Schlange aus Wasser. Ihr Gift lähmte durch Kälte und ließ die Glieder schwer werden.
Zwei weitere Pfeile surrten heran. Sie trafen das schwimmende Pferd, hinter dem Alrik Deckung gesucht hatte wie ein Steppenelf im Kampf. Ein drittes Geschoß klatschte davor ins Wasser.
Schreiend gingen sowohl das Tier als auch Alrik mit seinem Kettenhemd unter.
Fluchend kraulte Francesco in die Richtung, wo der Golgarit wie ein Stein versank.
Schnell und stoßweise saugte er etwas Luft ein. Dann tauchte er unter. Kühle umfing ihn. Die Sicht unter Wasser war nun, kurz vor der Mittagszeit, verblüffend gut. Der Fluß schien an dieser Stelle nicht sehr tief zu sein, vielleicht zweieinhalb Schritt ging es hinab. Wasserpest und Neckerkraut wucherten am Grund. Alrik hing zwischen dem hochtreibenden, wogenden Grün und einigen abgerundeten Felsblöcken, während er mal hilflos versuchte, sich das Kettenhemd abzustreifen, mal, wieder aus eigener Kraft nach oben zu gelangen. Fast schien es, als wolle er ein Konzert von Neckern dirigieren. Einige Fischlein suchten ob der von diesem merkwürdig plumpen Wesen ausgehenden Blasen und Wirbeln das Weite. Alriks Bewegungen wurden schwächer und schwächer, bevor sie in wilde Zuckungen übergingen. Auch sein wildes Gurgeln hörte sich nicht gerade beruhigend an.
Mit einigen kräftigen Armstößen kam Francesco heran. Er griff von hinten nach Alriks Gürtel und versuchte sich gemeinsam mit ihm vom Grund abzustoßen, was nicht wirklich gelang. Sein Bruder hatte die Schnalle bereits geöffnet. Francesco löste den Gürtel endgültig, der mitsamt dem darin steckenden Rabenschnabel nach unten verschwand. Der Streuner packte das in der Mitte geschlitzte Kettenhemd und versuchte es Alrik über den Kopf zu streifen. Vergebens. Immerhin war der nun in seinen fahrigen Bewegungen eingeschränkt.
Langsam wurde auch ihm die Luft knapp. Francesco griff nach dem rechten Ärmel, der schon etwas über die Finger lappte, zog und zerrte mit beiden Händen daran. Nein, so ging das nicht. Er musste an beiden Ärmeln und am besten noch dem übrigen Kettenhemd ziehen. Aber dafür hatte er jetzt keine Zeit. Er packte Alrik am Genick und stieß sich erneut vom Grund ab. Diesmal hatte er mehr Glück. Als er mit seinem Kopf einen Augenblick lang durch die Wasserdecke stieß, sah er einen großen Ast, nein, einen ganzen Baumstamm vorbeitreiben. Patschend griff er danach, rutschte ab, erwischte ein kleines Seitenästchen. Er packte seinen Bruder wenig rücksichtsvoll am Haarschopf , zerrte ihn heran wie ein Netz voller Fische. Irgendwie gelang es ihm, den Ohnmächtigen über das Geäst des Baumstamms zu schieben, das tief einsank, und ihn dabei auch noch auf den Rücken zu drehen. Sein eigener Gambeson war längst vollgesogen und zog ihn nach unten.
Dann hörte er ein lautes Klatschen vom Ufer her. Einer der Söldner hatte sich den Harnisch vom Körper gerissen und sprang, wie ein Pirat ein Messer zwischen den Zähnen, ins Wasser. Die Burschen wollten es offenbar genau wissen. Seine Gefährten folgten dem die Natter hinunter treibenden Baum gemächlich zu Pferd und luden dabei ihre Bögen sowie Armbrüste nach.
Francesco tauchte in Sichtdeckung der Baumkrone wieder ab. Der Schwimmer näherte sich erst hörbar, schließlich gut sichtbar. Mit weit ausholenden Armstößen schlich sich der Streuner von unten an wie ein Krokodil oder Hai. Dann stieß er knapp hinter dem Gegner aus dem Wasser.
Aber er hatte ihn unterschätzt. Der Reiter – jetzt erkannte er ihn wieder, es war der junge Wächter auf dem Hügel, der offenbar seinen Fehler mit aller Gewalt wieder gut machen wollte – erwartete ihn bereits mit gezücktem Krummmesser und stieß zu. Francescos Finger schlossen sich um das Handgelenk, dass die Klinge führte. Die Spitze schwebte wie ein Verhängnis über seiner Kehle. Der „Pirat“ krallte sich mit der Linken in Francescos Hals, unentschlossen, ob er sich daran festhalten oder seinen Feind untertauchen und ertränken wollte.
Abgehackte Rufe hallten vom Ufer heran, die Francesco nicht verstand.
Überraschend ließ er sich zur Seite kippen, so dass der Transysilier über ihn hinweg rollte. Auch wenn er nun Wasser schluckte, war die Idee gut gewesen. Dumpf klatschte ein Pfeil in den Rücken des Jungen, dann ein weiterer.
Blutgeschmack drang in Francescos Mund. Der krampfartige Griff um seinen Hals löste sich, das Messer taumelte ins Bodenlose davon. Hustend und prustend schnappte der Streuner nach Luft.
„Mutter...!“ schrie der Bursche namens Jannik unsinnigerweise. „Hilfe!“
Schade, dass du deine Klinge fallen gelassen hast. Du hättest dir damit dein Ende ungemein erleichtert.
Francesco tauchte ihn mit beiden Händen unter Wasser, nicht einmal besonders grob, eher, als würde er einen Eimer hineindrücken und warten, bis sämtliche Luft herausgequollen war.
Schreiend und zappelnd ging der Jüngling unter, unfähig, gegen Francescos Griff und Efferds Element anzukämpfen, dass ihn erst über den Mund, die Nase, schließlich die vor Angst und Schmerz weit aufgerissenen Augen stieg. Erst, als er begriff, wie nahe er dem Tod war, bäumte er sich auf, versuchte sich freizuwinden. Diesmal drückte der Streuner fester zu, mit brachialer Gewalt, bis der Kopf seines Gegners vollständig im Dunklen verschwand. Hellbräunliches Wasser schwappte hoch, mit kühlem, teilnahmslosen Glucksen.
Francesco spürte das qualvolle Rucken und Zucken des Jungen unter sich, bevor die einströmende Natter dessen Lungen flutete wie einen Wasserschlauch. Nach kurzem, aber heftigen Todeskampf war alles vorbei. Dumpf gurgelnde Blasen, vermischt mit Blut, stiegen über einem Haarschopf an die Oberfläche. Der helle Körper glitt in etwa einem halben Spann Tiefe davon, stieg dann auf wie ein Kork, die zwei Pfeile im Rücken zuerst, und drehte sich sacht in einem Strömungswirbel. Bald würde eine weitere namenlose Leiche den Darpat hinunter Richtung Perlenmeer treiben.
Dem Geweihten wurde schlecht. Wie hatte der Bursche doch gleich noch geheißen? Jannik . . . Die hässliche, fast schon anstößige Intimität des Tötens verstörte ihn.
Ruft ausgerechnet so einer nach der Mutter . . .
Einen Augenblick lang war Francesco regelrecht geistesabwesend. Hart bohrten sich neben seinem Kopf weitere Pfeile oder Bolzen ins Wasser. Prustend und hustend schwamm er auf den Baumstamm zu, tauchte darunter hinweg, klammerte sich von der anderen Seite her daran fest, schob den Körper seines Bruders, der bereits ein Stück abgerutscht war, wieder über die Äste. Ein surrendes Geräusch. Zwei, drei Pfeile blieben im Holz stecken.
Mit der einen Hand den Körper des (hoffentlich nur) Ohnmächtigen festhaltend, mit der anderen den Stamm schleppend, arbeitete sich Francesco auf das rettende Ufer zu. Ihm war schlecht, seine Wunde und der ganze Körper schmerzten. Wenigstens war ihm nun nicht mehr so kalt.
Francesco griff nach dem herabhängenden Zweig einer Weide und hielt sich daran fest. Dann trieb der Baumstamm aufs Ufer.
Keuchend hievte Francesco seine menschliche Last ins Unterholz, ohne auf einen kraftlos herabstürzenden Pfeil oder die sich in seine Hände bohrenden, zerhackten Kettenringe zu achten. Immerhin, durch die Löcher in der Rüstung war es etwas einfacher, ihren Besitzer zu schleppen.
Er zerrte Alrik noch einige Schritt ins Trockene, dann brach er neben ihm zusammen. Irgendein kleines Tier, vermutlich eine Wasserratte, huschte auf schlammigen Wegen davon.
In der krampfartig geschlossenen Rechten hielt sein Bruder einen Zettel, der sich bereits voller Wasser gesogen hatte. Francesco zog ihn aus der Faust, wobei er einriss: der Rapport des Rabengardisten. Hatte Alrik ihn mit aller Gewalt retten oder in einer sinnlosen Geste von sich werfen wollen? Wie auch immer.
„Den brauchst du jetzt nicht mehr“, keuchte er und zerriss ihn in Fetzen (eine Arbeit, die ihn anstrengte, als würde er das Kettenhemd zerstückeln).
Noch immer keine Regung in Alriks Gesicht. Seine Lippen waren bereits blau angelaufen.
Verdammt, ich habe dich nicht aus dem Fluß gezogen, damit du mir nun einfach krepierst.
Er gab Alrik eine deftige Maulschelle, dann eine weitere. Nichts. Fluchend drehte er ihn auf die Seite.
Schlagartig kehrte das Leben in den Baronieerben zurück – in Form eines Schwalls Wasser, den er würgend von sich gab. Wie die Parodie einer Brunnenfigur spie er noch einige weitere Male aus, dann fiel sein Kopf in die Pfütze, die sich um ihn herum gebildet hatte.
„Schön, dass du noch lebst, du Drecksack.“
Stöhnend ließ sich Francesco neben seinen Bruder in den Schlamm sinken.
Ausruhen, er musste sich nur einige Momente ausruhen . . .
Das Mädchen lachte.
Ich habe sie nicht vergiftet.
Das war allein Serwa. Es ist der Irrsinn.
Wahnsinn entschuldigt alles.
Ein prasselndes Lagerfeuer. Serwa nackt neben einem gehörnten Mann. Auf einem Floß voller Leichen treiben sie eng umschlungen die Natter hinunter.
Nein, in diesem Spiel bist du der Gehörnte und sie die Natter.
Hämisches Harpyiengelächter. Einsamkeit in der Wüste. Ist der grüne Fleck vor dir eine Oase oder der Dschungel?
Der Dschungel wäre dein Tod.
Der Tod. . .
Er sieht aus wie ein gekrönter Rabe mit zwei Gesichtern.
Wo Al´Anfa schön ist, ist es unbeschreiblich schön. Andererseits. . .
Lüge, es ist alles Lüge. Die Festung. Galotta jagt dich mit einer Fliegenden Festung, zehntausend Meilen weit durch den Regenwald.
In seinem Gefolge die rotköpfigen Oger, die auf den Ruinen von Rommilys einen Scharlachkappentanz tanzen. Zünftige Burschen, das muss man ihnen lassen. Echte Andergaster Holzfällerbuam.
Wo kommst du schon wieder her? Das hier ist nichts für kleine Mädchen. Hör auf zu lachen.
Nimm den Schlüssel. Er führt dich in die verbotene Kammer.
Hörst du sie?
Das Geheimnis. Es duftet nach Lavendel, aber frage besser nicht danach. Niemand darf es erfahren, am wenigsten du selbst. Sonst würdest du alles verlieren. Alles. Nach so vielen Jahren. Das ist das schwierigste: ein Geheimnis vor sich selbst zu bewahren. Geh nicht durch die Tür. Du darfst nicht hindurchgehen. Die Masken dürfen nicht fallen.
Hörst du sie?
Sie schlüpfen schon.
Er schrie.
Ein verschwommenes Gesicht tauchte über ihm auf.
Ein Schwarzer Reiter. . .!!?
Nein, ein gütiges Gesicht. Und irgendwoher vertraut. . .
Langsam kehrte er ins Jetzt zurück.
Der Matsch, in dem er lag, war angenehm weich. Irgendwie hatte er es sogar geschafft, sich zu bedecken. Mit Moos? Oder war es bereits auf ihm gewachsen?
Jetzt wurde deutlicher. Er lag in einem Bett, das so weich war, dass es fast schon wieder schmerzte. Eine Daunendecke. Was für ein horrender Luxus.
Es roch angenehm muffig, nach Schlafzimmer, Leinen, Rasierwasser, Seife.
Der weißhaarige Mann war immer noch da. Langsam konnte er Einzelheiten seines Gesichts unterscheiden.
Er ähnelte Lacertinus von Zaberg, dem Tsageweihten und ewig jung gebliebenen Freund der Familie Friedwang. Seinen weißen Umhang und das bunte Gewand darunter hätte man wirklich leicht für die Robe eines Vertrauten der Eidechse halten können.
„Na, endlich augewacht?“, brummte eine bekannte Stimme.
Es war Lacertinus.
Die Verblüffung darüber schleuderte Francesco endgültig ins Hier und Jetzt zurück.
„Wo bin ich?“ fragte er matt.
„In Sicherheit. Fürs erste zumindest.“
„Auf . . .Hohenstein?“
„Nein, in einem Spital der Fürstlichen Armee. Allerdings auf garetischem Grund und Boden. Es sind wirre Zeiten.“
Lacertinus griff nach seiner Stirn. „Nur leichtes Fieber. Erstaunlich bei deinen verdreckten Wunden. Bist schon ein zäher Bursche.“
Erst jetzt merkte Francesco, dass man seine Seite fein säuberlich verbunden hatte. Er spürte das milde, warme Brennen von Heilkräutern unter dem Tuch.
„Wo....wo ist Alrik? Lacertinus, wo ist mein Bruder?“
„Oh, dem geht es auch schon wieder besser. Dank ihm weiß ich ungefähr, was euch widerfahren ist. Jetzt sitzt er unten im Rittersaal und palavert mit Haglind.“
„Was? Mit wem?“
„Die hat hier das Sagen. Zumindest tut sie so. Haglind Trollsäckel. Eine Rittmeisterin von der Fürstlich-Darpatischen Expeditionsabteilung.“
„Schön, schön. Und du . . . wie kommst du hierher? Solltest du nicht eigentlich zuhause in Zaberg sein?“
Francesco setzte sich auf.
Ich sollte eigentlich in Gareth in der Todeszelle hocken, dachte Lacertinus. Laut sagte er: „Wie gesagt, es sind wirre Zeiten. Ich wollte helfen und nicht einfach nur herumsitzen.“
„Ja...Das will ich auch nicht.“ Francesco schwang die Beine aus dem Bett. Er fühlte sich steif und schwindlig, als hätte er eine Woche so dagelegen.
„Wie lange habe ich geschlafen?“
„Seitdem wir euch gefunden haben? Einen halben Tag etwa. Schlafen ist geschmeichelt, halbtot herumliegen träfe es besser.“
„So kurz? Naja, im Krieg ist jede Stunde Pennen Luxus.“
Francesco rieb sich über die Augen.
„Und ....und diese quasselige Borontante? Ist die auch wieder aufgetaucht?“
„Ja, sogar hier in Hauckes Zuflucht. Golgariella hat uns überhaupt erst zu euch geführt.“
Lacertinus lächelte. „Bei Simias Sternenschein, nicht jeder kann behaupten, durch eine Boronsgeweihte das Leben gerettet zu bekommen. Du solltest ihr etwas mehr Respekt entgegenbringen.“
„Ja, Euer Gnaden. Eines hoffentlich nicht allzu baldigen Tages werde ich in Ehrfurcht vor ihrer Zunft erstarren. Jetzt habe ich erst mal Hunger.“
„Du hast Glück, wie immer. Das Abendessen wird gleich aufgetragen. Nicht für euch, diese Haglind liebt es, sich hier aufzuspielen, als wäre sie die Fürstin oder auch nur die Herrin des Hauses. Für dich wird sich aber sicherlich noch ein Gedeck finden.“
Francescos Blick ging zu einer Kommode, auf der ein Stück Spiegel, eine Schüssel, eine Kanne aus Schlunder Emaille sowie ein Tuch und Rasierzeug lagen. Erst jetzt merkte er, dass er bis auf eine Unterhose und die Verbände nackt war. In seinem Gesicht wucherte ein üppiges Gestrüpp.
„Ich sollte mich wohl erst mal frisch machen. Klamotten wären auch nicht schlecht.“
„Da drüben in der Truhe müssten welche in deiner Größe sein.“
„Ach, Lacertinus. Es tut gut, endlich mal wieder in ein vertrautes, freundliches Gesicht zu blicken.“
„Na, na, dein Bruder war doch die ganze Zeit bei dir.“
„Hör mir bloß mit dem auf.“ Francesco ging zur Kanne und nahm einige tiefe Schluck, als wäre sie ein Bierhumpen. „Der Narr will mich unbedingt am Galgen sehen, koste es, was es wolle.“
„Aus seiner Sicht ja wohl nicht ganz unverständlich. Weiß er, dass ihr Zwillingsbrüder seid?“
„Ich hab’s versucht, ihm schonend beizubringen.“
„Und?“
„Eher hätte ich Galotta dazu bekehren können, mit seinem schwebenden Zauberdings nach Yol-Ghurmak zurück zu fliegen, als das in Alriks Sturschädel rein zu kriegen.“
„Gib ihm etwas Zeit, um sich zu beruhigen. Nicht nur er ist überreizt. Es wird sich schon noch alles aufklären.“ Der Geweihte wandte sich zur Tür. „Ich hole dich nachher ab. Seh nur noch mal kurz nach den Verwundeten.“
Alrik sass, noch immer blass und angeschlagen, auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches. Er wirkte wie ein liebfelder Signore, der sich nach vielen Götterläufen Ehe endlich zur reichsrechtlichen Scheidung entschlossen hatte. Wenn er noch Gefühle empfand, dann hatte er sie tief in seinem Innersten verschlossen.
Er blickte nur kurz auf, als Lacertinus eintrat, unschlüssig, ob der silberhaarige Mann nun mehr der Advokat seiner oder der gegnerischen Sache sein würde. Francesco im Schlepptau beachtete er nicht. Zumindest versuchte er diesen Eindruck zu erwecken.
Ein wenig scheu betrachtete der Streuner die holzverträfelten Wände mit den Kerzenhaltern und Jagdtrophäen, die matt schimmernden Waffen und glänzenden Ölgemälde, von denen hochmütige Gesichter die Nachwelt musterten. Dieses Herrenhaus atmete Reichtum, Macht und Weltläufigkeit – alles, was seine Familie im hinterwäldlerischen Sokramorien bestenfalls hatte imitieren können. Ihm genau gegenüber prasselte in einem wuchtigen, mit Porzellan und einem protzigen Wappen geschmückten Kamin ein Feuer. Francesco nahm unaufgefordert auf einem der fein gedrechselten, samtgepolsterten Stühle Platz, die ihrerseits den Stil des Vinsalter Kaiserreichs nachzuahmen trachteten.
Noch bis vor wenigen Wochen hatte er ein zumindest vergleichbares Leben geführt. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es offenbar keinen Hausherren gab, zumindest konnte er weit und breit keinen entdecken. Offenbar hatten er und der Gutsbesitzer doch etwas gemeinsam: Ihre gewohnte Welt war Vergangenheit, Fremde hatten sich in ihr breitgemacht.
Die Rittfmeisterin sass am oberen Ende der Herrentafel, den Degen gegen die Tischkante gelehnt, und paffte eine Mohacca. Mit ihrer seidenen Bluse, den Reithosen und den übereinander geschlagenen hochschäftigen Stiefeln sah sie durchaus herrschaftlich aus. Die Rolle der Machthaberin schien ihr zu gefallen – ein weiblicher Merwan im Kleinen. Dennoch, die Pracht um sie herum wirkte museal und leer. Das Haus hatte seine Seele bereits verloren. Es war, als sei das Todesurteil schon gesprochen: Auf kurz oder lang würde das Gut endgültig verlassen, sodann von irgendjemanden ausgeplündert, angezündet und in eine Ruine verwandelt werden.
Immerhin, der Tisch war großzügig gedeckt – kristallene Gläser, Rotwein, eine Suppenterrine, Brot, Obst und ein gebratenes Hühnchen standen bereit. Eine wahre Henkersmahlzeit. Mit einer generösen Handbewegung lud Haglind ihn ein, zuzugreifen. Alrik hatte offenbar bereits gegessen, sein Geschirr wurde gerade durch einen Soldaten abgetragen. Die Nase des Baronieerben war verdächtig rot, er schniefte.
Gierig wie ein Steppenwolf stürzte sich Francesco auf das Essen und langte zwischendurch zum Wein: Es hatte auch seine Vorteile, nicht mehr als Edelmann zu gelten. Alrik sah mit hochgezogenen Augenbrauen zur Rittmeisterin: Habe ich Euch nicht gewarnt, schien sein Blick sagen zu wollen. Sein Benehmen verrät schon alles.
„Willkommen auf Hauckes Zuflucht.“ Die Rittmeisterin lebte nun tatsächlich in der Rolle der Hausherrin auf. „Wie geht es Euren Wunden?“
Francesco nickte, während er an einem Stück Hühnerfleisch kaute, die Suppenterrine herbeischob und einen Kanten Weißbrot hineintunkte. Abwechselnd schlang er das Essen hinein und schlürfte an einem Weinglas.
Alrik nahm eine Geige mitsamt Bogen von der Kommode. Hell quäkende Töne erklangen, als er über die Saiten strich.
„Verschon uns mit dem Katzenjammer“, nuschelte Francesco zwischen zwei Bissen. „Wenn`s recht ist.“
Alrik nahm mit entschuldigendem Gesichtsausdruck das Instrument ab. „Leider völlig verstimmt.“
„Nun tu bloß nicht so, als könntest du Geige spielen“, spottete der Streuner. „Höchstens Arschgeige . . .!“
„Bei meiner Treu! Die einzige Geige, die du kennst, ist eine Schandgeige um deinen Hals.“ Beifall heischend blickte der Baronieerbe in die Runde. Als der ausblieb, stellte er die Violine zurück auf die Kommode.
„Ihr behauptet also, Baron Alrik Tsalind von Friedwang zu sein?“
„Ja, dasch bin ich. . .“ Francesco hatte mehr reflexartig geantwortet und erst jetzt eine Platte mit kaltem Braten, Würsten und Schinken entdeckt. Hastig griff er herein und biss in ein Würstchen: „Lecker!“
Demonstrativ blickte die Rittmeisterin zu Alrik, der ebenfalls an einem Wein nippte: „Ja, der bin ich durchaus.“
„Und dieser Mann dort ist ein gemeiner Dieb und Hochstapler?“
„Er nennt sich Francesco di Palazzo. Wir haben uns durch wahrlich unglückliche Umstände in Al´Anfa kennen gelernt. Er war dort Sklave, wie ich. Später ist er geflohen und hat in Friedwang meinen Platz eingenommen.“
Alrik tastete nach seinem Gewand und suchte etwas. Der Ritter hatte das wattierte Untergewand zu einem Kettenhemd an, allerdings wohl nicht sein eigenes, denn dieses hier wirkte sauber und trocken. Francesco selbst trug eine Pluderhose mit Leinenhemd, das ihm deutlich zu groß war.
„Es gibt da einen Zettel, der belegt, dass dieses Subjekt einem Weibel der fürstlichen Armee ein Pferd gestohlen hat. . .“
„Meine Leute haben ein paar Fetzen bei euch gefunden, die allerdings völlig unleserlich waren.“
Haglind rutschte einige Fingerbreit vom Kamin weg, wo das Feuer nun erst richtig hochbrannte.
„Was sagt der Angeschuldigte dazu? Franjo, oder wie immer er heißt. . .“
„Lacertinus, erklär es ihm.“ Francesco rülpste herzhaft. „Tschuldigung.“
„Ihr kennt diesen Mann, Euer Gnaden?“
Lacertinus nickte und griff nach einer Schale mit Dörrobst. „Ja, ich kenne sie beide, Alrik und Francesco. Immerhin war ich vor vielen Jahren bei ihrer Geburt anwesend. Sie sind Brüder.“
„Das glaubst du doch selbst nicht!“ Alrik schüttelte verärgert den Kopf. „Dafür gibt es keine Beweise.“
„Willst du mich der Lüge zeihen?“ fragte Lacertinus gedehnt.
„Keineswegs. Aber woher willst du wissen, dass dieses Subjekt da wirklich mein Bruder ist? Du könntest dich irren oder selbst einer Lüge aufgesessen sein. Dieser Schuft würde doch jedes Märchen erzählen, um seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen.“
„Glaub mir, ich weiß es. Ihr seid Zwillingsbrüder und wurdet nach der Geburt in Brabak getrennt. Einer ist im Tiefen Süden aufgewachsen, der andere als Baronssohn in Friedwang.“
„Absurd.“ Alrik stieß das Wort hervor, als wolle er das soeben Gesagte wieder über den Tisch zurück blasen.
„Besonders glaubwürdig hört sich Eure Geschichte wirklich nicht an“, sagte Haglind und legte die Fingerspitzen gegeneinander.
„Unglaubwürdiger als die Geschichte von einer Festung, die durch die Luft von Ysilia nach Gareth zu fliegen vermag - und auf ihrem Weg Wehrheim und fast die gesamte Reichsarmee vernichtet ? In nicht einmal einer Stunde?“ Lacertinus lächelte düster.
„Dieser Spielstein geht an Euch, Euer Gnaden.“ Haglind nickte anerkennend. „Mit letzter Sicherheit kann man heutzutage wirklich nichts mehr ausschließen.“
Alrik wurde unruhig. „Francesco ist ein Pferdedieb und gemeiner Betrüger. Vor einigen Jahren hat er versucht, mich mit Hilfe von Borbaradmoskitos zu beseitigen. Bei meiner Treu, wie könnte ein derartig niederträchtiges Geschöpf der Bruder eines von Friedwang sein?“
„Wer, glaubst du eigentlich, hat dich gestern aus der Natter gezogen? Ich habe dir das Leben gerettet, falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte. Wo ist eigentlich Schwester Golgariella?“ Francesco sah sich suchend im Raum um.
„Sie schläft oder huldigt auf andere Weise ihrem Herrn Boron“, antwortete Lacertinus.
„Und? Was sagt sie zu dem Ganzen?“
„Sie schweigt, wie es einer Dienerin des Boron zukommt.“
„Ich sage, du irrst dich, Lacertinus. Diese Schlangenzunge hat auch dich hinters Licht geführt.“ Alrik lehnte sich mit dem Weinglas zurück. „Das ist keine Schande. Franceso versteht es nun einmal meisterhaft, Menschen einzulullen und zu täuschen. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.“
„Und woher kommt es dann, dass Ihr beide euch so ausgesprochen ähnlich seht? Man könnte auch sagen wie ein Eidechsenei dem anderen.“
„So ähnlich ist der Schurke mir auch wieder nicht. Das ist nimmermehr ein von Friedwang.“ Wenn Alrik erste Zweifel gekommen sein sollten, verbarg er sie gut.
„Nun, wenn wir ganz exakt sind, weiß ich von keinem von Euch dreien mit letzter Sicherheit, um wen es sich handelt.“ Haglind beugte sich vor. „Im übrigen und ganz besonders auch von Euch nicht, Euer Gnaden.“
„Soll das etwa heißen, meine Person steht hier ebenfalls zur Debatte?“
„Allerdings steht sie das. Ihr habt soeben zugegeben, dass Ihr aus Friedwang stammt. Der Tsageweihte, der in den Kerker der Heiligen Inquisition gebracht worden sein soll, ja, ich glaube, Olruk sagte mir, dass er in der südwestlichen Schwarzen Sichel verhaftet worden ist. Allzu viele Tsadiener wird es dort ja nicht geben.“
Lacertinus antwortete nicht, also ruckte Haglind ihren Kopf noch weiter vor: „Summa summarum ein durchaus merkwürdiges Zusammentreffen, nicht wahr? Ihr werdet mir nachsehen, dass ich da ein gewisses Misstrauen hege. Zumal mir Baron Alrik von Friedwang bislang immer als kriegsversehrter Veteran mit Augenklappe geschildert wurde. Bei keinem von diesen beiden angeblichen Baronen sehe ich auch nur ein Glasauge.“
„Ich wurde durch die Gnade der Herrin Tsa geheilt“, sagte Francesco ausweichend und wischte sich mit einer Serviette den Mund ab.
„Ach, ward Ihr das etwa, Lacertinus?“ Amüsiert griff Haglind zu einem Kristallglas mit Wein.
„Ihr scheint die Göttin des Lebens nicht sonderlich zu schätzen“, erwiderte Lacertinus dünnlippig.
„Durchaus. Sie hat mir nur gelehrt, dahergelaufenen Gestalten zu misstrauen, die vorgeben, jemand zu sein, der sie gar nicht sein können. Bleiben wir nur einmal bei Baron Alrik von Friedwang. Es heißt, dass er in der Schlacht von Rommilys heldenhaft gefallen ist. Wie kann er dann beinahe unversehrt auf diesem Rittergut auftauchen – und dann auch gleich noch in doppelter Ausführung? Ein Zeuge hat sogar gesehen, wie er im Kampf gegen einen Dämon vom Pferd gestürzt ist. “
„Ach, war das wieder Olruk?“ Lacertinus Stimme klang fast jungenhaft frech.
„Nein, das war in Hohenstein, als wir die Überlebenden gezählt haben.“
„Vom Pferd gestürzt heißt nicht getötet“, meinte Francesco. „Ich muss es am besten wissen, denn ich lebe schließlich noch“.
„Das sagt Ihr. Spione denken sich oft die merkwürdigsten Geschichten aus. Und selbst wenn Ihr nur ein Hochstapler wärt: Das Anmaßen von Adelsrechten ist kein Kavaliersdelikt.“ Die Rittmeisterin schien das Wortspiel gar nicht zu bemerken.
Haglind rief den Soldaten herbei, der gerade eine neue Flasche Wein bringen wollte.
„Traviabert, kannst du schreiben?“
„Das will ich meinen“, sagte der Soldat stolz. „Ich bin . . . war Buchhalter beim Kaufmann Ochstantor.“
„Also gut, dann wirst du nun Pergament, Tinte und Feder nehmen – beides findest du dort drüben in der Schublade – und dir Notizen machen, für meinen Bericht an die Fürstin. Lass die Flasche hier, ich werde sie selbst öffnen. Oh, ein 988er Yaquirtaler. Wirklich guter Jahrgang.“
„Was Ihr da macht, ist Plünderung“, meinte Francesco. „Auch kein Kavaliersdelikt.“
„Nennen wir es Requirieren. Ich werde einen Zettel hinterlassen, wonach sich der Besitzer oder seine Erben wegen Schadensersatz nach Rommilys wenden sollen.“ Haglind klang nicht einmal zynisch.
„Nun gut. Wenn ich Alriks verschollener Bruder bin, brauchen wir auch nicht mehr von Hochstapelei zu sprechen. Dann ist das ganze nur noch ein Streit innerhalb der Familie derer von Friedwang. Ich finde, die Fürstin hat derzeit andere Sorgen, als sich um derartige Petitessen zu kümmern.“
„Ganz gewiss, deswegen kümmere ich mich ja gerade darum.“
„Betrachten wir die Sache einmal nüchtern. Warum sollte es sich bei uns um Spione handeln - immerhin sind wir in Begleitung einer Borongeweihten angereist und selbst hier haben wir einen Diener der Zwölfgötter als Fürsprecher gefunden. Alles andere braucht Euch nicht zu interessieren. Im Gegenteil, Ihr habt nicht nur den Baron von Friedwang gerettet, sondern auch noch seinen Bruder gefunden. Nun könnt Ihr zwei fähige Klingen sowie zwei Geweihte nach Hohenstein schicken. Ich denke, damit könnte man es durchaus bewenden lassen.“
„Ach, mit einem mal willst du doch nach Hohenstein?“ Alrik gab noch nicht auf. „Wer hat mir denn die ganze Zeit die Ohren vollgejammert, Ihre Fürstliche Hoheit würde uns meucheln lassen, sobald wir die Festung auch nur betreten ?“
Indigniert runzelte Haglind die Augenbrauen, während sie den Korkenzieher in den Verschluss der Flasche trieb. „Was soll das jetzt wieder heißen?“
Francesco warf seinem Bruder giftige Blicke zu. Der Narr würde alles verderben.
„Oh, mein angeblicher Bruder behauptet, die Fürstin habe nichts Besseres zu tun, als Friedwang in die Hände eines Rabenmund zu bringen – mit aller Gewalt.“
Ein ploppendes Geräusch war zu hören, als Haglind den Korken aus dem Flaschenhals zog.
„Nun, ich habe gehört, dass schon ein Mitglied der Fürstenfamilie als Nachfolger dieses Verräters Gernot auserkoren war. Noch Wein?“
Alrik erbleichte, nickte dann aber schwach.
„Das Haus Friedwang war der Familie Rabenmund immer treu ergeben“, sagte er in rechtfertigendem, leicht klagendem Tonfall. „Zumindest die legitimen Mitglieder des Hauses.“
„Ich wäre dann soweit“, ließ sich Traviabert vom Nachbartisch her vernehmen.
„Gut so. Nun, die Loyalität des Hauses Friedwang steht hier nicht zur Disposition. Einstweilen würde mich interessieren, wo ihr beide Euch zum Zeitpunkt der Schlacht befunden und wie ihr dann hierher gelangt seid. Wer möchte berichten?“
Alrik richtete sich im Stuhl auf und reckte der Rittmeisterin sein Weinglas entgegen, die nachfüllte. „Nun, wie ich schon sagte. . .“
„Ich werde Euch alles erzählen“, unterbrach Francesco mit noch immer verärgertem Gesichtsausdruck. Alrik wollte protestieren, aber eine Geste des Tsageweihten hielt ihn zurück.
„Also gut, Ihr könnt Eure Sicht der Dinge ja noch nachtragen“, meinte Haglind. „Und Ihr fasst Euch kurz, ich habe auch noch andere Dinge zu erledigen.“
Francesco überlegte, was er erzählen sollte. Am liebsten hätte er irgendeine elegante Lügengeschichte aufgetischt. Aber ihm fiel gerade nichts Weltbewegendes ein und vermutlich hätte sein einfältiger Bruder ohnehin Einspruch dagegen erhoben. Außerdem gefiel ihm das Sonnenzeichen um den Hals der Rittmeisterin nicht. Mit Schaudern erinnerte er sich daran, wie er in Brabak einmal von einem Stadtgardisten verhört worden war, der verdeckt ein Wahrheitsamulett getragen hatte. Dessen üble Verbrennungen hatte der junge Straßenräuber hernach mit einer gehörigen Tracht Prügel bezahlen müssen.
Also berichtete er offen von seinen Erlebnissen seit dem überstürzten Aufbruch aus Friedwang – nur die Geschichte mit dem verfluchten Amulett, das er dem Vampirmagier Merwan in Friedwang gestohlen hatte, ließ er weg. Denn dann hätte er auch berichten müssen, wie es ihm gemeinsam mit dem Rommilyser Vogtvikar Valpo Phexlieb gelungen war, die Quelle von Merwans karmaler Macht – hoffentlich! – ein für alle mal zu vernichten.
Alles kam nun wieder hoch: das Grauen der Schlacht, seine Flucht erst über die Dächer von Rommilys, dann mit dieser Rommilyser Bürgerin durch die Kanalisation, schließlich das Leichenfloß, die Wiederbegegnung mit seinem Bruder auf dem Schlachtfeld und ihre anschließende Flucht über die Natter. Vor allem das Gesicht des Schreibers wurde ob der geschilderten Schrecken immer blasser, seine Augen weiteten sich, Schweiß trat ihm auf die Stirn und ein wenig begann er sogar zu zittern. Aber auch die Rittmeisterin schien beeindruckt zu sein.
„Ich glaube schon, dass es überaus ungerecht wäre, wenn ich nach all den Strapazen nun auch noch von den eigenen Leuten gehängt werden würde!“ schloss Francesco.
„Habt Ihr dazu etwas zu sagen?“ fragte Haglind in Alriks Richtung.
„Im wesentlichen haben sich die Dinge so zugetragen, ja. Aber das ändert nichts daran, dass dieser Francesco di Palazzo ein niederträchtiger Dieb und Betrüger ist“.
„Und vielleicht Euer Bruder ?! Nun, ich fürchte, wir haben keine Zeit für ein ordentliches Gerichtsverfahren, das diesen Fall klären könnte“, meinte Haglind. „Warum habt Ihr mir eigentlich nicht gesagt, dass Ihr ein Mitglied des Ordens des Heiligen Golgaris seid, Alrik – oder soll ich sagen: Bishdarielon?“
„Das ist eine längere Geschichte.“
„Sei´s drum, für heute abend langt mir diese eine Geschichte hier. Sie klingt durchaus glaubwürdig – oder aber so unglaubwürdig, dass sie fast schon wieder wahr sein könnte. Was ist los, Traviabert? Du hast das Tintenfass umgestossen.“
„Ver...Verzeihung, Frau Rittmeisterin.“ Mit einem sauberen Blatt Papier wischte der Buchhalter den Tisch und die Niederschrift sauber. „Aber ... was da in Rommilys geschehen ist. Es ist alles so schrecklich . . . Ich werde schnell nach nebenan gehen und es noch mal ins Reine schreiben.“
„Tu das. Und ich werde mich nun etwas hinlegen.“ Gähnend erhob sich die Rittmeisterin von ihrem Stuhl. „Ein Buchhalter, so so“, fügte sie süffisant hinzu, als Traviabert hinausgeeilt war.
„Entschuldigt mich, aber im Gegensatz zu euch habe ich nicht den ganzen Tag mit Schlafen verbracht. Eigentlich habe ich schon seit der Schlacht und der Nacht davor nicht mehr richtig durchgeschlafen. Weckt mich nur, wenn es unbedingt erforderlich ist.“
3. Kapitel: Erinnerung
„Was kümmerts euch, das die Zukunft ungewiss ist? Weitaus unsicherer erscheint Uns die Vergangenheit.“
Hal, Kaisersprüche
Zur gleichen Zeit, Burg Galottastein
„Komm näher! Komm näher zu mir heran, mein Hübscher!“
Die klauenartigen Hände winkten fordernd ins Halbdunkel des Thronsaals.
„Du brauchst keine Angst zu haben!“
Ein Schnauben und Scharren mit den Pfoten. Es kam näher, noch ein wenig scheu ob der ungewohnten Umgebung, aber bereits den Leckerbissen in der Hand des Meisters witternd. Vorsichtig nahm es den Happen auf, zerkleinerte ihn mit den Zähnen, schluckte ihn hinunter. Ein tiefes Schnurren – oder zumindest eine Abart davon – ertönte.
„Ich wusste, dass es dir schmecken würde!“
Merwan gluckste und leckte sich genießerisch über die Handfläche mitsamt den bleichen Fingern und vergilbten, krummen Krallen. Dann streichelte über den Kopf des Tieres - wenn man das Wesen so nennen durfte.
„Noch eines?“
Ein forderndes Grollen zeigte Zustimmung an.
„Nicht so gierig, mein Schöner, nicht so gierig. Erst musst du einen Gefallen für mich erledigen! “
Der Vampir goss einen Schwall Blut aus der silbernen Schale auf den Boden und reichte sie seinem Diener.
Zufrieden sah er, wie das Untier schnaubend über den Lebenssaft herfiel.
Merwan lehnte sich im Thron zurück, wobei er den Zauberstab wie ein Szepter in der Linken hielt. Seine langfingrige, bleiche Rechte tastete über einen der Steinbockköpfe, welche die Lehnen des wuchtigen, aber längst wurmstichigen Stuhls zierten.
Trotz – oder gerade wegen - des hohen Alters mochte er das Mobiliar aus Schratwaldener Steineiche. Immerhin hatte er darauf schon gethront, als er die letzten drei Male Herr dieses Landes gewesen war. Wenn man wie er mehr als sieben Jahrhunderte zählte, musste man über jeden vertrauten Anblick aus der Vergangenheit dankbar sein. Vor allem aber erinnerten ihn die geschwungenen Hörner der Gebirgsziegen, ihre Bocksgesichter und die geschlitzten Augen angenehm an Dämonen.
Dabei konnte er Galottatal oder Markt Friedwang, wie der Hauptort der Baronie früher einmal geheißen hatte, nicht sonderlich leiden. Dass der Marktplatz heute so ganz anders aussah als zu der Zeit des ersten Baron Merwan lag nicht zuletzt an seinem Wirken. Da hatten sich diese Narren doch wirklich eingebildet, ihn wie einen gewöhnlichen Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrennen zu können. Dank eines druidischen Elementarzaubers hatte am Ende das Dorf, nicht er, in Flammen gestanden, und der Gefangene der Praiospfaffen war im letzten Moment entkommen. Dennoch hatte es Jahrzehnte gedauert, bis sich die grässlichen Brandnarben verschwunden waren. Sie hatten nicht vom Feuer gestammt, sondern von dem gnadenlosen Licht des Praios, dass während der gesamten Hinrichtungszeremonie auf ihn geschienen hatte. Jahrhunderte und unzählige grausige Zeremonien im Dunklen mussten ins Land gehen, bevor er der Macht des Tagesgestirns zu trotzen vermochte, auch wenn er es noch immer fürchtete.
Wie es schien, würde Merwan sein Refugium bald verlassen müssen. Angeblich näherte sich Galottatal schon ein großes Aufgebot schwarzsichler Landwehr, Adran von Oppstein, die Hure Serwa und Corelian Falconor von Hochfels an der Spitze. Diese Namen zählten nicht mehr als die von störrischen Tieren. Wichtiger war nur, dass Burg Galottastein für die Sumuanbeter das darstellen würde, was es für die Warunker hatte sein sollen, als sie in Friedwang eingefallen waren: Einen Brocken Fleisch, den man dem bissigen Köter zur Ablenkung hinwarf. Er musste nur solange im Land im Schatten der Schwarzen Berge ausharren, bis er seinen mit Blut geschriebenen Kontrakt erfüllt hatte.
Die lichtlosen Gewölbe von Loskarnossa. Der Ort, an dem der Nicht zu Nennende ihn einst in das Kind der Finsternis verwandelt hatte, das er nun war. Eine Nacht des Schreckens. Nun denn, sein einstiges Jagdschloss (oh, die Menschlein ahnten gar nicht, wie zutreffend diese Bezeichnung gewesen war), würde auch die Stätte sein, wo er sich wieder von der Last des Untodes befreien würde. So hatte er es mit dem Herrscher der Herrscher ausgehandelt, und wahrlich, seine Wahl war klug gewesen. Die unergründlichen Tiefen des Waldensees, die das Gemäuer umgaben, boten ihm Schutz vor der Macht der Erdgöttin. Wie vorrauschauend er damals gehandelt hatte, auch das gegenüber liegende Ufer durch die Schwarzhexe Nasulea und ihre agrimothischen Hexenknöten verseuchen zu lassen.
Nasulea. Die Gorierin war damals seine beste Schülerin gewesen. Leider hatte er das undankbare Weib am Ende an den Schänder der Elemente verloren. Als ob die Schwarzsokramoierin es ohne sein jahrhundertealtes Wissen, ohne die Hilfe des Namenlosen fertiggebracht hätte, die Lebenskraft saugenden Knöten zu erschaffen! Er hatte gut daran getan, das anmaßende Hexlein zu beseitigen, auf die übliche Art und Weise. Wie rot ihre Haar selbst noch im Kerker von Loskarnossa geleuchtet hatten - fast so rot wie das ihr aus dem Hals in seinen Mund sprudelnde Blut . . .
Loskarnossa. So viele schöne Erinnerungen waren mit diesem Ort verbunden. Wenn er sich die Zeit nur besser in Gedächtnis hätte rufen können, als er, hundert Jahre nach seinem „Tod“ auf dem Scheiterhaufen, Ettel Honald, der gleichermaßen verhasste wie gefürchtete Priesterbaron von Schratenwald gewesen war. Dass viele Friedwangen dem selbsternannten Götterfürstlein bis heute misstrauten, ja, ihn regelrecht verabscheuten, lag nicht zuletzt an seinem „segensreichen“ Wirken als vermeintlicher Geweihter des Praios.
Loskarnossa. Was für ein Menschenschlachthof! Damals hatte er das Blut seiner Opfer in goldene Becher strömen lassen, die Schreie der Gefolterten waren wie Musik von den Wänden widergehallt. Dies alles im Namen von Praios göttlicher Gerechtigkeit. Wer von den Wachen nicht mitspielen wollte, nahm eben auf andere Weise am Festbankett teil. Welch besonders perfide Teufelei, die halbverrückten Vampire, die er selbst erschaffen hatte, hernach bei Nacht auf dem Marktplatz von Friedwang als „Besessene“ und „Dämonenbuhlen“ einäschern zu lassen. Blutjung, ja, das waren die meisten seiner Opfer gewesen, Jungfrauen und Knaben mit zartem, weißen Fleisch. Man hatte förmlich sehen, hören, schmecken und riechen können, wie die Lebenskraft hinter ihren bläulichen Halsvenen pulsierte. Ahhhh. Dagegen waren die heutigen Friedwangen allesamt degeneriertes, inzestgeschädigtes Pack. Schlechtes Blut. Nahrung für einen Greisen unter dem alterslosen Volk der Vampire.
Nein, es bereitete ihm keine rechte Freude, Gefangene in der „Seelenmühle“ am Jargel von der Säge zerstückeln zu lassen, um hernach die Einzelteile auszuschlürfen wie Muscheln. Im Vergleich zu seinem früheren Unleben ein geradezu burleskes Vergnügen.
Merwan kicherte hämisch.
Ritsch – ratsch, denn die Säge, die hat Zähne, hat sie nicht allein zur Zier. Ritsch-ratsch, sägt die Arme, sägt die Beene, ritsch-ratsch, liegen draußen vor der Tür. Denn die Säge, die hat Zähne, warte, warte, nur ein Weilchen, bis Merwans Messer kommt auch zu Dir.
So sangen sie schon landauf, landab im Land der Schwarzen Sichel. Das Kind der Finsternis wusste nicht recht, ob er sich nun freuen oder ärgern sollte, dass es vermutlich diese Moritat sein würde, die seine jetzige Herrschaft über Friedwang am längsten überdauern würde.
Er musterte die langen Klauenfinger. Die gehörten auch wieder einmal manikürt. Hier und da war der gelbliche Horn abgesplittert oder eingerissen. Langsam fühlte er sich wirklich alt, verbraucht und ausgebrannt. Soviele Jahrhunderte, so viele Schlachten. Was hatten sie ihm gebracht? Nun war er wieder dort angelangt, von wo er dereinst aufgebrochen war. In diesem kleinen, lausigen Bürglein am Rande der Schwarzen Sichel. Zur Zeit des ersten Merwan von Schratenwald war selbst diese Feste noch beeindruckender, wuchtiger, imposanter gewesen. Oder begann er bereits seine Vergangenheit zu verklären?
Verdrossen zerkrümelte der Baron die schwarze Rose auf seinem Schoss, ein Paraphernalium aus dem Ritualkreis. Die Blume war welk und schien bereits unter seiner bloßen Berührung zu Asche zu zerfallen.
Er wischte die Überreste von seiner finsterfarbenen, brokatbestickten Robe und starrte auf den Drachenkopf, der seinen Zauberstab zierte, als wäre es sein Spiegelbild. Ein närrisches Verlangen befiel ihn, wieder frischen Lebenshauch, den Strom warmen Blutes, irgendwelche echten Gefühle in seinem bleichen Leib zu spüren. Allein dieses vermuffte, dunkle Gemäuer hier war schlimmer als der Sarg, in dem er jeden Tag von Praios Aufgang bis Praios Untergang ruhte. Er war eben doch ein Kind des Waldes, der lebendigen Natur, auch wenn diese ihn schon lange ausgestossen hatte. Licht, Liebe, Leben – wie leichtfertig hatte er all ihre Gaben zurückgewiesen. Nun sehnte er sich danach, wohl wissend, dass er sich in deren Nähe nur verbrennen würde wie ein Nachtfalterchen, das verzückt in eine Öllampe flog.
Loskarnossa – die „Gebeine Loskaräns“, des „heiligen“ Hirschen. Ja, dort wäre er jetzt gerne gewesen. Dummerweise lag zwischen Galottatal und seiner geliebten Knochenburg aber der von Sumu beherrschte Schratenwald. Die Nacht auf der Lichtung mit dem Eibenbäumchen hatte ihn höchst unangenehm daran erinnert, wie verwundbar er auf blankem Humus war. Selbst auf magische Weise konnte Merwan nicht mehr zu seiner alten Residenz gelangen, seitdem sich das Limbustor von Loskarnossa geschlossen hatte. Also galt es die Macht der Irminsumûl zu brechen, die mit ihren Wurzeln urwüchsiges Sikaryan aus dem Erdreich sammelte und von ihrem himmelstürmenden Wipfel aus über den Wald verströmte. Leckere, köstliche Lebenskraft in reinster Form, aber für ihn so tödlich, wie es destilliertes Wasser für einen Sterblichen war. Nein, um die Tausendjährige Eiche und ihren gehörnten Wächter ein für alle mal zu vernichten, benötigte der Vampir den Beistand eines Mächtigeren.
Merwans Geist kehrte in die Gegenwart zurück, ohne dass ein Außenstehender irgendeinen Wandel in seinen gleichbleibend leblosen Augen entdeckt hätte. Er merkte, dass er wieder einmal auf seinem Thron erstarrt war wie eine Mumie oder echte Leiche. Das passierte ihn in den letzten Dämonenläufen öfters. Hatten all diese Sentimentalitäten nur wenige Blutstropfen in Anspruch genommen oder mehr von der geraubten Lebenskraft in seinem Körper verbraucht? Zeit, Zeit hat für unsereins einfach keine Bedeutung mehr . . .
Merwan musterte das „Tier“, das die großen Blutflecken auf dem Boden aufgeleckt hatte und nun ungeduldig mit den Pranken scharrte.
„Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, dein Auftrag. Dieser Alrik von Friedwang hat etwas sehr Wertvolles gestohlen, etwas, das mir gehört. Das Amulett der Schwarzen Sonne, das mir unser aller Herr vor vielen Dämonenläufen als Zeichen seiner besonderen Huld übereignet hat.“
Ein schnaubendes Fauchen antwortete ihm, das sowohl Respekt vor dem Artefakt als auch Zorn ob seiner Entwendung ausdrückte.
„Du weißt, das ich IHM die geforderten Seelen nur mit Hilfe dieses Amuletts opfern kann. Du wirst mir die Dreizehnstrahlige Sonne also wieder bringen und den Dieb angemessen bestrafen. Allerdings spüre ich, dass das heilige Gefäß SEINER Macht auf irgendeine Weise“, Merwan stockte kurz, während sich seine Hand um den Steinbockkopf krallte „. . . vernichtet worden sein könnte. In diesem Fall wirst du den dreisten Frevler ebenfalls angemessen bestrafen.“
Wieder war ein gurgelndes, rasselndes Schnauben zu hören, das sich anhörte wie ein gewaltiger Blasebalg neben der lodernden Esse - oder der Atem eines Drachen.
„Du fragst, wo du dieses anmaßende Menschlein finden wirst? Nun, suche es in der Nähe der Menschenstadt Rommilys, die an einem großen See im Süden gelegen ist. Du wirst sie leicht finden, folge nur der Spur von Rauch, Feuer und Verwüstung. Irgendwo dort hat Er sich vor unserer Rachsucht verkrochen. Dann musst du nur seinen zweiten Schatten aufspüren, den Schwarzen Rauch der Sternenleere. Finde ihn bis Sonnenaufgang und vernichte ihn vollständig!“ “
Merwan wies auf das Dunkle vor dem Thron, in dem bläulich schimmernd und durchscheinend das Gesicht des Barons von Friedwang erschien.
Wütend schnappte die Kreatur nach dem Bild, das sich zwischen den Zähnen im Nichts auflöste – zum Zeichen, dass sie gehorchen würde.
„Gut. Nun hast du dir eine Wegzehrung verdient.“
Gönnerhaft lächelnd griff Merwan nach der Schale, die ihm sein Diener frisch aufgefüllt reichte. Das verkrüppelte Faktotum, dem er seinen alten Namen Illkor vererbt hatte, stand krumm und schief da wie eh und je, griente und sabberte. Merwan empfand jedes mal ein leichtes Bedauern, wenn er ihn sah. Immerhin hatte er einmal der erste seiner nichtdämonischen Replikanten werden sollen. Wäre er damals nur nicht beim Imago Transmutabile gestört worden. Oh Ihr verfluchten Spontanmanifestationen von Yol-Ghurmak!
Es half kein Hadern – ohne die Schwarze Sonne war er im karmatischen Sinne ein Niemand. Ohne die gestohlenen Seelen würde er sich niemals freikaufen können und zum größten lebenden Magier aller Zeiten aufsteigen. Ach was, Magier - nach all den Jahrhunderten war es durchaus an der Zeit, an Vergöttlichung zu denken.
Nun gut, ganz soweit war er derzeit leider noch nicht: Aber er hatte für dieses ehrgeizige Endziel Zeit. Das Dasein als Kind der Finsternis wies auch unbestreitbare Vorteile auf. Zumal nur wenige Vampire derart unverwundbar waren wie er. Die Nachteile – nun, die lagen leider ebenfalls auf der Hand: Welche ungeheure astrale Macht in seinen Körper zurückkehren würde, sobald er nicht mehr allein auf Blutmagie angewiesen wäre. Wenn er eines Tages (!) ohne Qualen dem Praioslicht trotzen könnte und nicht mehr über Sumus Kadaver gleich wie über glühende Kohlen hinweg schreiten müsste!
Gewiss, derartige, geradezu menschlich anmutende Schwächen waren für einen künftigen Gott wie ihn etwas peinlich. Aber durch seinen alten Todfreund Sulman al´Venish hatte er erfahren, dass der Schwarze Drache ebenfalls plante, sich durch ein aufwendiges Ritual aus seinem Pakt zu befreien. Große Geister dachten eben ähnlich. Nur dass er, Merwan vom Schratenwald, mit sehr viel geringerem Aufwand weitaus mehr erreichen würde als dieser flügellahme, verfaulte Knochenhaufen aus der Warunkei! Zumal er seinen großen Plan schon bedeutend länger verfolgte.
„Bemerkenswert, wie schnell es mir gelungen ist, die Herzen meiner Untertanen zu gewinnen, nicht wahr, Illkor?“
Der taubstumme Krüppel kicherte und lallte, obwohl er nur die Lippenbewegungen seines Herrn wahrnahm – und in der selemischen Finsternis um ihn herum war selbst dies fraglich.
Merwan nahm gleichmütig das glitschige, tiefrote Organ an sich, um es der Kreatur zu reichen. Ob der schieren Aura des Dämons begann das Menschenherz einige Schläge lang wieder zu pochen und dunkles Blut aus den Arterien zu stoßen.
Das Untier schlug seine purpurnen Zähne in den Fleischbrocken, wobei er die Hand des Magiers nur um einen Fingerbreit verfehlte, und verschluckte ihn, als wäre es ein leckeres Bonbon.
Der Vampir fragte sich, ob - und wenn ja, wie - Illkor dieses Geschöpf aus den Niederhöllen wahrnahm: Ein übermannsgroßer, mit underischen Muskeln bepackter Löwe, schwärzer als jede Nacht, dessen gewaltiges Haupt wahrlich von einer Mähne aus wallender Finsternis umgeben war, wie es in den alten Büchern hieß. Durch die schauerlichen Hauer drangen Knurr- und Zischlaute, die in diesem Saal noch nie gehört worden waren und die eher an einen brodelnden, überkochenden Vulkan denn eine lebende Kreatur erinnerten. Ein einziger heißkalter Windhauch, nein, Wirbelsturm von den ledrigen Schwingen genügte, um den Diener mitsamt seiner schauerlichen Last zu Boden stürzen und mehrere Fackeln im Saal verlöschen zu lassen. Violette Krallen zerrissen und verbrannten zugleich das Holz des Dielenbodens. Je zwei wie Krummdolche gebogene, giftglänzende Hörner prankten an jedem der Drachenflügel, die sich nun entfalteten, bereit, einem ahnungslosen Opfer Tod und Vernichtung zu bringen. Feurigen Mahlströmen in den Irrsinn gleich richteten sich die Raubtieraugen des Viergehörnten auf die Mauer des Thronsaals - dorthin, wo Rommilys lag.
„Flieg, Grakvaloth, Bote der Niederhöllen, Ungesehenes Grauen“, kreischte Merwan und wies mit dem Zauberstab den Weg. „Finde Alrik Tsalind von Friedwang und schick ihn ein für allemal zum Namenlosen!“
Das Feuer brannte nun völlig ruhig und gleichmäßig. Zum ersten mal seit langem fühlte sich Francesco wieder einigermaßen sicher, ja, fast schon geborgen. Hauckes Zuflucht trug ihren Namen zurecht.
„Enttäuscht?“ fragte er in Alriks Richtung, während er ein einzelnes, glimmendes Stück Holz aufhob, das neben den Kamin gefallen war. Der Streuner entzündete den Tabak, den er in einer Dose aus Emaille gefunden hatte. Das Zeug schmeckte kratzig und ließ ihn husten, war aber wenigstens ehrlich. Ehrlicher zumindest als der sonstige, dem Verfall preisgegebene, von dahergelaufenen Fremden in Beschlag genommene Prunk im Rittersaal. Unruhige Schatten wanderten zwischen Rehgeweihen und Ölgemälden umher. In irgendeinem Nebengebäude stöhnten Verwundete und erinnerten daran, dass sie sich hier in einem Lazarett befanden – und mitten im Krieg.
„Hast wohl erwartet, mir schon heute den Hanfstrick um den Hals legen und persönlich den Schemel unter den Füßen wegtreten zu dürfen, wie?“ Francesco paffte ein einziges Rauchwölkchen hervor.
„Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.“ Alrik schien nicht recht zu wissen, was er von dem Gespräch gerade eben halten sollte. Er wirkte buchstäblich verschnupft, und begann zu nießen. Hastig presste er sich eine Serviette vor die Nase und schnäuzte hinein. Jetzt, wo die Rittmeisterin gegangen war, schien es auch mit seinen Manieren nicht mehr allzu weit her zu sein.
„Peraine segne dich!“
„Da...Ja.“
„Waffen haben wir auch keine!“
„Wie? Nein, die Zierwaffen sind an der Wand festgenagelt. Anders als damals auf Burg Friedstein!“ Der Baronssohn lachte kurz und stoßweise auf.
„Warst wirklich du es, der mich aus dem Fluß gezogen hat?“ fragte Alrik nach einer kleinen Kunstpause.
„Wer soll es denn sonst gewesen sein? Einer von den Schwarzen Reitern etwa...?“
„Ich dachte eigentlich, Golgariella. . .“
„Die Borongeweihte?“ Der Streuner lachte auf, wobei er wieder einige Rauchwölkchen hervorstieß. „Für Lebensrettung ist die ganz bestimmt nicht zuständig. Schien mir eher Nichtschwimmerin zu sein. . .“
„Golgariella? Die schwimmt wie eine Nixe. Könnte auch Liaiella heißen.“ Sein Bruder blickte schwärmerisch nach oben, wo er anscheinend das Zimmer mit der Geweihten vermutete. Fast wirkte er ein wenig verliebt. Dann besann er sich, wo er war.
„Warum tust du das?“ Alrik schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich verstehe dich nicht. Willst du mich nur foppen? Ist das für dich alles nur ein grausames Spiel, wie zwischen Katze und Maus? “
„Nein. Wie zwischen Zwerg und Elf.“ Der Phexgeweihte schob die Pfeife im Mundwinkel herum. „Schmurgelt ein bisschen . . . Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, ich bin in diesem Spiel natürlich der Elf. Gütiger Phex, hast du es immer noch nicht begriffen? Gefühle lassen sich nicht einfachen anzünden und auslöschen wie eine Kerze. Du bist mein Bruder, wir sind von einem Fleisch und Blut...“
„Brüder?“ Alrik lachte verächtlich auf. „Freunde kann man sich wenigstens aussuchen. Naja, wenigstens warst es diesmal nicht du, der mich in den Fluß gestossen hat.“
„Ich nehme das mal als Dankeschön. Dafür, dass ich dich unter Lebensgefahr rausgefischt habe.“
„Streitet Ihr Euch schon wieder?“ fragte Lacertinus. Der Tsageweihte trat in den Raum, der nun, da die meisten Kerzen niedergebrannt waren, wieder größtenteils im Dunklen lag. In seinen Händen hielt er eine dampfende Kanne und mehrere Becher, die auf einem Tablett wackelten.
„Hier, ist noch Tee da, mit ein paar tsagefälligen Kräutern drin. Der bringt euch wieder auf die Beine.“
Lacertinus schenkte ein.
„Die Nacht ist ganz schön kalt geworden. Und so was nennt sich Ingerimm. War gerade noch mal bei den Verwundeten . . . Arme Jungen und Mädel. Möge sich Tsa ihrer erbarmen. Seid froh, dass Ihr nicht da drüben liegt. Euch hätte es auch wahrlich schlimmer erwischen können. Naja, aber auch besser. Bei der Allesgebärenden, dafür habe ich Euch damals nicht zur Welt geholfen, damit Ihr Euch nun ständig in den Haaren liegt. Nun denn, was will man von Brüdern anderes erwarten . . .“
Der weißhaarige Mann (seltsam, dachte Francesco, auf ihn hatte der Geweihte immer jugendlich und frisch gewirkt, aber nun wirkte er doch alt und verbraucht) setzte sich in der Nähe des Kamins auf einen Stuhl und schob einen Becher auf Alrik zu.
„Hier, trink, Alrik. Setz dich ein bisschen näher ans Feuer, dein Bruder beißt nicht, oder?“
Alrik knüllte das Taschentuch zusammen und griff nach dem Tee, blieb aber, wo er war. Stattdessen sah er forschend in die Runde.
„Dere ist wirklich winzig, wie man so schon sagt. Aber Haglind hatte schon recht. Dass hier ist ein äußerst merkwürdiges Zusammentreffen.“
„Schon mal was von einem karmatischen Kausalknoten gehört? Was zusammen gehört, findet früher oder später auch zusammen. Gütige Tsa...“ Lacertinus blickte ins Feuer, in dessen Widerschein seine Augen glänzten.
„So habe ich mir unser Wiedersehen damals vorgestellt, in Al´Anfa. Sieben Jahre fast ist das nun her. Anscheinend gibt es doch eine ausgleichende Gerechtigkeit. Und dann Eure Geburt. Mehr als dreißig, nein, fast fünfundreißig Lenze zurück. Wo sind nur alle die Jahre geblieben? Oh, Tsa, du stellst deine Diener auf eine harte Probe. Aber gegenüber Satinavs Hörnern sind wohl selbst Götter schwach.“
Alrik runzelte die hohe, blasse Stirn. „Ich verstehe nicht ganz. Wie war das mit Al´Anfa?“
„Ich war dort, auf Don Timotheos Plantage, als Arzt getarnt. Wollte Euch rausholen, aber am Ende hat es nur dazu gereicht, Euch die Tür zur Freiheit zu öffnen. Erinnert Ihr Euch? Das Messer, dessen Griff wie eine Eidechse geformt war, kam von mir. Ich habe es auf dem Schemel liegen lassen.“
„Tatsächlich, da lag eine Klinge. Auf dem Tisch, wenn ich mich richtig entsinne“, murmelte Alrik. „Ich habe sie später im Kampf gegen. . . gegen diesen Hund verloren.“
„Nun, die Sklavenjäger haben es mir später wiedergebracht“. Lacertinus wies auf seinen Gürtel, an dem tatsächlich eine Klinge in einer Lederschneide steckte. Der Griff war geschwungen und wie eine kleine Echse gestaltet.
„Sie brachten Dom Timotheo außerdem noch deinen Kopf, Alrik.“
Der Baronssohn schluckte und langte sich an den Hals. Dann versuchte er ein Lächeln. „Meinen Kopf? Das wüsste ich . . .“
„Nun, der arme Kerl, vermutlich einer aus den Elendsquartieren, den sie zu diesem Zweck missbraucht haben, sah dir sogar ähnlich. Jedenfalls das, was man trotz fortschreitender Verwesung noch von ihm erkennen konnte. Allerdings hatte er bedeutend schlechtere Zähne und nicht einmal ein Stück des rechten Ohrs hat gefehlt.“
Lacertinus zog das Messer, das hell im Feuerschein glänzte.
„Merwan selbst wollte den Sklavenfängern ihren Lohn auszahlen, unten, in den Gewölben, hieß es. Niemand hat jemals wieder etwas von ihnen gehört.“ Der Tsageweihte hob die Klinge etwas und prüfte mit der Klinge die Schneide.
„Ja, es es ist eine gutes, scharfes Messer, in Silas der Jungen Göttin geweiht. Ich glaube, ich habe damit hunderte Stück Verbandsstoff und Dutzende Nabelschnüre durchtrennt. Findest du das komisch, dass ein Mann bei einer Geburt hilft?“
Letztere Worte galten Francesco, der mit leicht irritiertem Blick ein Holzscheit ins Feuer warf.
„Meine Base hat eine Frau geheiratet, warum sollte da ein Mann keine Kinder zur Welt bringen . . .“
„Nun, nördlich Rübenscholl finden sich in der Sichel kaum noch Perainediener, da bleibt eben alles am Tsageweihten hängen. Ihr ward übrigens zwei von den wenigen Menschenkinder, bei denen ich Hebamme spielen durfte. Der Rest waren Kälber, Lämmer und Ferkel.“
„Kälber, Ferkel und Lämmer, so so . . .Kein Wunder, dass das damals in Brabak in die Hose ging.“ Francesco schob mit dem Schürhaken den Holzscheit zurück, der von dem brennenden Stapel gefallen war.
„Tsalinde hat darauf bestanden, dass Ihre Kinder mit Hilfe eines Tsageweihten zur Welt gebracht werden. Bei der Ewigjungen, mit Vierlingen war ich völlig überfordert. Jeder andere Medicus wäre das in meiner Lage gewesen. Die Friedwangerin und ihr verdammter Eigensinn. Am liebsten hätte sie euch in einem Badezuber voller Kräuterabsud zur Welt gebracht, weil dass angeblich besonders schonend sein soll. Dann wärd Ihr wahrscheinlich alle ertrunken“.
Lacertinus schob das Messer wieder in die Scheide zurück. „Aber ich schweife ab. Eure Mutter war damals ebenfalls in Al´Anfa. Sie wollte euch vor Merwan retten . . .“
Alrik blies über den heißen Tee, nippte daran und zuckte wieder zurück. „Merwan? Was habt Ihr nur immer mit diesem Schreckgespenst. . .“
„Dieser untote Schwarzmagier ist kein Schreckgespenst, Tsa steh uns bei. Leider . . . Ich glaube, er führt schon seit vielen Jahrhunderten eine Art Rachefeldzug gegen das Haus Friedwang, und mehr als das. Merwan wusste schon damals, dass Ihr Brüder seid, und hat Euch in Al´Anfa zusammen gebracht.“
„Was war mit Mutter?“ Francesco blickte versonnen ins Feuer. „Sie ist in Al´Anfa am Fieber gestorben, nicht wahr?“
„Das war die offizielle Version.“ Einen Augenblick lang befiel Lacertinus wieder das Grauen der Erinnerung. Hastig verbarg er das Gesicht hinter seiner zitternden Hand. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte geweint.
Er griff nach dem Rotwein und trank schnell einige Schlucke.
„Und die inoffizielle? Lass mich raten: Es war Gift.“
„Nein, viel schlimmer. Sie wurde von Merwan in einen Vampir verwandelt“, antwortete Alrik anstelle des Tsageweihten. Dieser sah ihn erstaunt an.
Der Baronieerbe bekam große Augen. „Dann ist Illkor Brasgar also . . . Merwan?!“
„Stimmt. Woher weißt du das?“ fragte Lacertinus.
„Aber ... das ist ja furchtbar. . .“ Francesco ging aufgewühlt vor dem Kamin auf und ab. „Sag nicht, dass unsere arme Mutter.... dass sie noch immer...“ Ihm versagte die Stimme.
„Nein, die Häscher des Patriarchen haben ihren verfluchten Leib vernichtet, Boron sei Dank“, sagte Alrik tonlos. „Ich hoffe und bete zu den Zwölfen, dass ihre Seele gerettet ist.“
„Die Häscher des Patriarchen? Ja, etwas ähnliches hat auch Mer. . .“ Lacertinus brach ab. „Moment mal. Warst du in den letzten Jahrem noch einmal in Al´Anfa?“
„Das ist auch so eine Geschichte. Ich würde die halbe Nacht brauchen, um sie zu erzählen.“ Nun rückte der Baronieerbe doch ans Feuer heran. Nachdenklich musterte er Francesco. So etwas wie langsames Verstehen trat in sein Gesicht.
„Und wenn es bis zum Morgengrauen dauern sollte, ich muss erfahren, wie es dir ergangen ist, seit . . .“ Erneut führte Lacertinus den Satz nicht zu Ende. „Ihr Zwillinge seid doch alles, was mich noch an dieses Leben bindet.“
„So sind wir also wirklich Brüder?“ Alrik hatte noch immer große Augen und schüttelte langsam den Kopf. „Nach der Geburt in Brabak getrennt . . . Das glaubt uns doch niemand.“ Er nahm die Pfeife, die ihm Francesco reichte, und paffte geistesabwesend einige Rauchkringel.
„Ein seltsame Verwicklung, fürwahr!“ Der weißhaarige Tsageweihte nickte. „Eine Laune der Götter, möchte man meinen. Doch muss ich sagen, dass eure Mutter nicht ganz unschuldig an den Ereignissen war. Tsalinde war eine gläubige Anhängerin der Jungen Göttin, deren Namen sie in dem ihrigen trug. Man hätte sie aber auch als überaus exzentrisch, eigensinnig und abergläubisch bezeichnen können. Tsalinde hatte eine tiefe Abneigung gegen Boronanger und Begräbnisse und vermied es, den Namen des Schweigsamen auch nur auszusprechen. Ja, Baronin Tsalinde hasste alles, was mit dem Tod zu tun hatte, sogar mehr noch als ich selbst. Lieber ließ sie ihre toten Kinder verscharren wie Unrat, eingenäht in Segeltuch wie bei einem Seemannsgrab. Ich riet ihr, die Körper wenigstens durch einen Borongeweihten einsegnen zu lassen, aber sie fand nur bittere Worte gegenüber jenen Gott, der aus Eifersucht das wunderbare Geschenk Tsas zerstört habe. Am Ende begann sie Boron fast schon zu lästern. Lieber wolle sie ihre Kinder den Krokodilen im Mysob vorwerfen als mit ihnen den unersättlichen Schlund des Raben auf dem Boronanger stopfen, hat sie geschrien. Dennoch trifft auch mich ein gerüttelt Maß an Schuld. Ich hätte die vermeintlich leblosen Säuglinge genauer untersuchen und selbst bei der Beerdigung anwesend sein müssen. Aber ich bin kein Anatom, der gerne Leichen berührt und als Diener des Lebens fühlte ich mich bei einem solch düsteren Geschehen fehl am Platze. Gibt es für einen Tsagläubigen etwas Niederschmetternderes, als mit ansehen zu müssen, wie neugeborenes Leben bereits nach einem Tag wieder zu Grabe getragen wird?“
„Macht Euch deswegen mal keine Vorwürfe. Ich glaube, Lacertinus, das die, sagen wir einmal, eher schlichte Zeremonie mir sogar das Leben gerettet hat“, meinte Francesco, während er wieder an seiner Pfeife schmauchte. „In einem echten Sarg hätte ich sicher nicht überlebt.“
„Ich kann mich daran erinnern, dass Mutter auf einem Bankett einmal allen Ernstes von Answin gefordert hat, sein unglücksbringendes Wappen und den Familiennamen zu ändern“, lächelte Alrik. „Alles nur aus Abneigung gegen das heilige Tier Borons.“
„Und, was hat der Rabenmund dazu gesagt?“
„Nicht viel. Ob Tsalinde wolle, dass seine Familie fürderhin eine Eidechse, eine Blume oder einen Regenbogen als Blason führe und sich von Echsmund nenne ? Der ganze Saal amüsierte sich prächtig und eine Zeitlang war das Verhältnis zwischen den beiden überaus angespannt.“
„Am Ende ist sie dann für den Thronräuber in den Krieg gezogen“ , sinnierte Francesco. „Auch nicht gerade tsagefällig.“
„Eure Mutter war eine launenhafte, sprunghafte Frau mit vielen Gesichtern“, sagte Lacertinus. „Ich selbst, der ich mich wirklich als ihren Vertrauten bezeichnen durfte, hatte oft Schwierigkeiten mit ihr. Sie war flatterhaft wie ein Schmetterling, und genauso zerbrechlich. Aber was will man von einer Frau anderes erwarten, die von ihrem Vater nach den Schmetterlingen benannt worden ist, die er am Tage ihrer Geburt gefangen hat: Nach Tsalindfalter und Kalmanderiasauge, wie auch immer die aussehen mögen. Dass ein Ikanaria den Geist ihrer Mutter Sangive verwirrt hat, als sie mit der `irren Tsalinde´ schwanger war und sich das auf den Gemütszustand des Kindes ausgewirkt haben soll, ist jedenfalls üble Nachrede.“
Der weißhaarige Geweihte schüttelte ungehalten den Kopf.
„„Baron Alboran Sigismund von Friedwang. Heute nennen sie ihn `den Guten´, aber das Töten von Hunderten, wenn nicht Tausenden Schmetterlingen war wahrlich ein Frevel an der Jungen Göttin. Alborans Tochter taten die armen Geschöpfe leid. Ich glaube, die Schuld, die Tsalinde schon als Mädchen beim Anblick der Sammlung ihres Vaters empfand, war einer der Gründe für ihren tiefen Tsaglauben. Kurz nachdem sie selbst Baronin geworden ist, hat sie sämtliche Tiere im Schratenwald verbrennen lassen, damit sie in der Anderwelt wieder geboren werden können. “
Die beiden Baronssöhne blickten erstaunt.
„Nun, das ist ein alter, heute fast vergessener friedwanger A. . . Volksglaube. Tiere, aber auch Menschen, die im Schratenwald sterben und dort ohne den Segen Borons begraben werden, gelangen in die Feenwelt. Anstelle Golgaris schickt der Karnmann, manche sagen auch die gute Fee Solaline, ein Zaubertier, dass die Seele ins Land Jenseits führt - in eine Welt des ewigen Frühlings, ohne Kälte, Hunger oder Schmerz. Für viele Sokramorier eine geradezu paradiesische Vorstellung. Ich halte sie für gefährlich. Gewiss mag es in dem Land hinter dem Regenbogen tsagefällig zugehen. Aber die Gefilde dort stehen nun einmal nicht unter dem Schutz der unsterblichen Zwölfe. In der Feenwelt gelten eigene Gesetze, und die Niederhöllen oder der Kerker des Dreizehnten liegen genauso nahe wie Dere und Feste . Oft kehren diese boronfernen Seelen zurück und stiften im Diesseits Unheil. Ich frage mich, ob die Myriaden Schmetterlinge, die Tsalinde später gesehen haben will, wirklich nur ein Erzeugnis ihrer geistigen Verwirrung waren – oder ob sie als Geistertiere die Tochter ihres Mörders heimgesucht haben. Sozusagen . . .“
„Ist auch der Karnmann ein solches Geisterwesen?“, wollte Francesco wissen.
„Gut möglich. Es heißt, dass der Name der Baronie Friedwang auf Elfisch Firethawagan, Land im Schatten der Schwarzen Berge zurückgeht, aber auf Isidira ergibt das keinen Sinn. Ronderian Zabelstein von Berchweiler meint, das Wort könnte eine Verballhornung von Fliretevarion sein, dem elfischen Beiname des Karnmanns. Auf Garethi bedeutet das soviel wie Hüter oder Hirte der Flirete, oder auch: Fliretischer Hüter.“
„Fliwas?“
Lacertinus blickte geistesabwesend ins Feuer. „Flirete. In der elfischen Mythologie ein Mischwesen aus einem Elfen sowie dessen Seelentier, die nach dem Tod aus seinem . . . seinem Licht heraus geboren wurden. Alles in allem erinnert mich das an die Sage von den in die Feenwelt verirrten Menschenseelen.“
Der Tsageweihte blickte hoch. „Verzeiht einem alten Mann seine Schwatzhaftigkeit. Ich lebe nur noch in der Vergangenheit,und erzähle Geschichten, die nichts mehr mit dem heutigen Leben zu tun haben. Das gehört sich nicht für einen Vertrauten der Eidechse. Du wolltest uns etwas über deine Zeit in Al´Anfa berichten?!“ Lacertinus blickte zu Alrik.
„Was genau wollt ihr wissen?“
„Am besten die ganze Geschichte, von Anfang an“, sagte der Phexgeweihte. „Du hast mir zwar schon über dein Leben berichtet, damals im Sklavenkotter. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass du mir einige wesentliche Einzelheiten verschwiegen hast. Das kommt mir gerade so. Es fängt schon damit an, dass es immer hieß, du wärst mit 15 Götterläufen in die Sklaverei verschleppt worden. Als wir uns auf Don Timotheos Plantage das erste mal begegnet sind, waren wir beide . . . 27. Beim Listenreichen, warum fällt mir das jetzt erst auf? Damals hatte ich das Gefühl, du wärst frisch aus dem Mittelreich eingetroffen. Dabei musst du schon Jahre in der Pestbeule des Südens zugebracht haben.“
„Du hast recht. Zwölf lange Jahre, um genau zu sein. Alles habe ich dir damals wirklich nicht erzählt, Bruder.“ Alrik wunderte sich einen Moment lang, wie leicht ihm das Wort über die Lippen gekommen war. „Auch wenn ich das eine oder andere vergessen habe, woran deine Borbaradmoskitos nicht ganz unschuldig sind. Aber die Geschichte ist zu lang, um hier erzählt zu werden . . .““
„Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Francesco blickte versonnen in den Kamin, dessen Flammen einen rötlichen Widerschein in den steinernen Schlund des Mauerwerks zeichneten. „Ich glaube, es wird Zeit, dass endlich die ganze Wahrheit auf den Tisch kommt, Alrik.“
Der junge Friedwang sah ratlos zu dem Tsageweihten. Dieser nickte bestimmt.
„Also gut. Ich werde von Anfang bis Ende erzählen, was mit mir geschehen ist.“
Am besten fange ich wirklich am Anfang an. Meine Kindheit in Friedwang war im Grunde heiter, friedvoll und unbeschwert. Einerseits genossen wir – Luitprand, Gunelde und ich – alle Privilegien von Baronskindern, andererseits ging es in der Vorsichel nicht ganz so steif und förmlich zu wie am Hof eines Fürsten oder Grafen.
Letzteres hing auch damit zusammen, dass unser Vater, Alrik vom Ochenswasser, gar kein „richtiger Baron“ sein sollte, wie die Adeligen in der Nachbarschaft tuschelten. Auch wenn er ein Abgänger der Rommilyser Kriegerakademie war und seit Retos Maraskanfeldzug den Titel eines Edlen von Seeheim führte, blieb er für sie doch der Sohn eines armen, landlosen Ritters vom Westufer des Ochsenwassers. Als „Alrik den Bauern“ verspotteten ihn manche Edelleute hinter vorgehaltener Hand.
Ich erinnere mich noch, dass eines abends eine blinde alte Frau auf Burg Friedstein zu Gast war, die man Sumudane die Seherin nannte. Ihre Haare waren weiß wie frischgefallener Schnee, und auch wenn die Last hoher Jahre bereits ihren Körper beugte, wirkte sie dank eines wachen Geistes doch jugendlich frisch und unbekümmert. Die Träumerin, so nannten viele sie in der Baronie, und sprachen diesen Namen mit Ehrfurcht aus. Aber da war noch etwas anderes an Sumudane, etwas Gütiges und Mütterliches, Großmütterliches, gewiss, aber auch etwas, was nicht nur uns Kinder zutiefst beunruhigte, ohne dass wir den genauen Grund dafür hätten nennen können. Es war die zweifelhafte Gabe, in die Zukunft blicken zu können, der ihrem runzligen Gesicht einen Zug von Härte und Einsamkeit verlieh.
Wenn ich meine Augen schließe, vermag ich sie selbst noch vor mir zu sehen, vor einem prasselnden Kaminfeuer ähnlich wie diesem. Die Träumerin hatte ihre Lider fest geschlossen, als würde sie im Schlaf umhergehen. In ihrer Begleitung fand sich ein Mädchen, das ich damals als überaus hässlich und schmutzig empfand. Neun Götterläufe werde ich damals alt gewesen sein. Heute weiss ich, dass es sich bei der weißhaarigen Alten um eine Dienerin der Verborgenen Götter handelte, aber damals bereitete sie mir einfach nur Unbehagen, wenn nicht Angst. Eine Heidenangst, sozusagen. Mutter hat einige Worte mit ihr gewechselt, von denen ich kaum ein einziges verstand. Es ging die Rede über unseren Kaiser Hal und den Kronprinzen, die Tsalinde beide nicht sonderlich mochte.
„Hal ist nicht der Sohn Retos, und Brin nicht der Sohn Hals“, krächzte Sumudane, die manchmal wirklich einfach nur närrisch sprach. „Ich wusste, dass sie beide Bastarde sind“, nickte Mutter, mit jähem Hass in der Stimme. Mein Vater Alrik lachte, wenn auch ungehalten, über die Worte der Sokramorierin, teilte er doch die Ablehnung seiner Gemahlin gegen das Haus Gareth nicht, und schüttelte verständnislos den Kopf. Ich stimmte in sein Gelächter mit ein, wenn es auch eher das komisch aussehende Mädchen war, das mich zum Lachen reizte. Tsalinde lag mit Gänsepusteln im Bett, Luitprand war noch zu klein, so weilte ich als einziges Kind zu dieser späten Stunde noch im Festsaal. Unvermittelt öffnete Sumudane ihre Augen und blickte in meine Richtung. Es waren merkwürdige pupillenlose Augen, rauchblau, rötlich umrandet und blind, und doch auf beunruhigende Weise lebendig. Ich erschrak zutiefst und verstummte auf der Stelle, nahm ich doch an, mit meinem Gelächter hätte ich den Gast verärgert. Mutter wirkte tatsächlich erzürnt, aber Sumudane beschwichtigte sie, als sie erfuhr, dass ich der älteste Sohn und Baronierbe war.
Damit kam die Rede auf mich und meine Zukunft. Die Seherin legte mir ihre schwielige Hand auf den Kopf und bewegte dabei leise summend den ganzen Körper hin und her, als wolle sie sich selbst in den Schlaf wiegen. Beinahe hätte ich erneut aufgelacht, aber ich wagte nicht, noch einmal meine Mutter und die `Seherin´ zu reizen. Ich wusste zwar nicht recht, was letzteres sein sollte – nur, dass der Name für eine blinde Frau widersinnig klang – aber in dem Moment, als mich Sumudane berührte, jagte sie mir eine mehr als nur kindliche Furcht ein. „W i r s t e i n F u c h s, e i n k l e i n e s s c h w a r z e s F ü c h s l e i n n o ch“, sagte sie mit überraschend wohlklingender Stimme. „M u s s t f r ü h h i n a u s, k e h r s t s p ä t z u r ü c k, l a n g e w e i c h e n w i r d d e i n G l ü c k. Z w ie f a c h h ö r i c h R a b e n s c h w i n g e n r a u s c h e n, w o ll e n d i r d ie S e e -l e t a u s c h e n. D r u m , H u n d e a l r i k , g i b g u t a c h t, b a l d b e g in n e n w i r d d i e N a c h t.“
Ja, ich habe mich damals gefürchtet. Auch das Gesinde war ob der Prophezeiung entsetzt, die Unglück zu verheißen schien. Vater empörte sich und lachte zugleich über das wirre Geschwätz der alten Vettel, wie er sagte. Überhaupt nenne niemand seinen Sohn und Erben ungestraft einen Fuchs oder Hund, und sei er auch noch so verrückt.
Aber Mutter nahm die Seherin in Schutz, bot ihr Unterschlupf und Gastung. Sie deutete die Prophezeiung von den zwiefachen Rabenschwingen so, dass ich in Knappschaft Answins von Rabenmund gegeben werden sollte, wie es seit meiner frühesten Kindheit beschlossen war – und nicht an den Hof der Fürstin Hildelind, wie mein Vater es vorgezogen hätte. Der Fuchs bedeute , dass ich mich in letzterem Fall auf die Seite des Hauses Gareth schlagen würde, sagte meine Mutter mit Abscheu in der Stimme. Aus dem gebrochenen Versprechen gegenüber dem ehemaligen Grafen von Wehrheim würde mir dann womöglich ein Unglück erwachsen. „Aber Verrat werden wir natürlich nicht üben, nicht wahr, mein treuer Junker? Ein Wort, das man einmal gegeben hat, muss man einhalten.“
Ich kann mich auch deswegen noch so gut an diesen Abend auf Burg Friedstein erinnern, weil meine unbeschwerte Kindheit tatsächlich wenig später enden sollte. Im darauffolgenden Praios des Jahres 10 Hal starb Vater in der Tausend Oger-Schlacht. Auch Mutter, die eine schwere Kopfwunde davongetragen hatte, war danach nicht mehr die Gleiche wie früher. Selten sah man sie noch lachen, oft starrte sie von den Mauern der Burg ins Leere oder führte lange Selbstgespräche voller Melancholie. Ich glaube, einige begannen schon damals, sie hinter vorgehaltener Hand die „irre Tsalinde“ zu nennen.
Eine jähe Verdüsterung legte sich über alles. Auch ich wurde mit meinem Leben als Baronierbe, das früher eine schöne, süße Selbstverständlichkeit gewesen war, unzufrieden. Burg Friedstein erschien mir immer mehr wie ein einziges großes Gefängnis - wenn es für einen Junker gewiss auch ein vielleicht nicht goldener, so doch silberner Käfig war. Die Zukunft als Baron bereitete mir schon früh eine unbestimmbare Angst: Außer den langweiligen Alltagspflichten eines Landadeligen schien mir Fatas nur noch einen frühen Tod auf dem Schlachtfeld oder, wie bei meiner Mutter, ein Leben in Trauer bereithalten zu wollen. Erste Gerüchte, ich solle in ein paar Götterläufen mit einer jungen Rabenmund verheiratet werden, machten die Runde. Die Beteuerungen des Gesindes, ein Mitglied des mächtigen Fürstenhauses wäre wahrlich eine hervorragende Partie, verstärkten mein Misstrauen nur noch mehr. Wann immer ich mir meine zukünftige Angetraute vorzustellen versuchte, erschien das hässliche Gesicht des Mädchens vor meinen Augen, die damals die greise Sumudane auf die Burg geführt hatte. Hatte mit der Prophezeiung der Seherin mein ganzes Unglück nicht erst angefangen? War ich nicht vor Rabenschwingen gewarnt worden, die mir die Seele tauschen wollten?
Mit zwölf Götterläufen kam ich nach Burg Rabenmund in Knappschaft, die ja nicht allzu weit von Friedwang entfernt liegt – was Mutter seit dem Tod meines Vaters sehr wichtig war. Ich muss sagen, dass ich sofort von Answin beeindruckt war, was natürlich auch an meiner jugendlichen Einfalt lag. Waren nicht auch die tobrischen Herzogssöhne Answins Pagen gewesen? Ich hatte mir nach den Berichten meines Vaters einen intriganten Finsterling wie meinen Vetter, den Junker Gernot aus Gießenborn vorgestellt. Aber Answin Garbit Hildebald von Rabenmund war ein stattlicher Krieger mit vollendeten Manieren und hoher Stirn, der Inbegriff eines harten, durchsetzungsfähigen Befehlshabers. Vieles, was er sagte, klang für uns Jungen zwar im ersten Moment etwas skrupellos, aber schon wenig später völlig einleuchtend und vernünftig.
Ja, der „Graf“, wie ihn immer noch alle nannten, war zugleich Fuchs und Löwe – so wie es sein großer Vorfahr Randolph von Rabenmund für den vollkommenen Staatsmann und Feldherrn gefordet hatte. Wir ertappten uns dabei, wie es wohl wäre, wenn er vielleicht eines Tages doch noch auf dem Kaiserthron sitzen würde. Aber natürlich hätten wir Knappen uns ebenso wenig ein Urteil über den Zwist zwischen dem Haus Rabenmund und derer von Gareth erlaubt wie über einen Streit zwischen den göttlichen Geschwistern Praios und Rondra.
Nur wenn ich sah, wie sich mein Herr Farbe ins Haar streichen ließ oder in wahrhaft kaiserlichen Gewändern vor dem Porträtmaler posierte, kratzte das etwas an meiner Ehrfurcht. Erst im Nachhinein erkannte ich, wie sehr Eitelkeit, Scheinwissen und Selbstüberschätzung Answins Denken beherrschten. Damals hielt ich dieses Auftreten für geradezu nachahmenswert und mich selbst vor jedem wirklichen Rückschlag im Leben gefeit.
Auf der kreisrunden Turmburg, die von dem Siebenstreichträger Hlûthar selbst erbaut worden sein sollte, schien die Zeit still zu stehen. Alles war für einen Mann vons Answins Format und Ehrgeiz viel zu klein und atmete doch den Hauch der Geschichte - des Hauses Rabenmund wie des Reiches. Mein Herr reagierte auf die Enge, in dem er sich selbst noch in der kleinsten Kammer mit einem Odium der Unnahbarkeit umgab. Alles, was in diesem zugigen, düsteren und zugleich protzigen Gemäuer geschah, schien zwar auch uns zu betreffen, aber nie wirklich etwas anzugehen. Es herrschte zudem eine Stimmung wie in einem Taubenschlag, ständig gingen Höflinge aus Gareth oder Verbündete aus den Provinzen ein und aus.
Als Jüngling interessierte mich das alles nur mäßig. Der Grund dafür ist denkbar einfach: Ich wollte mich endlich verlieben. Im Fall einer jungen Frau, deren wirklichen Namen ich nicht mehr nennen möchte, die aber alle anderen meist nur die „Marderin“ nannten, gelang mir das auch. Es war eine kleine Flucht aus der bedrückenden, herzlosen Atmossphäre der Burg. Aber das Mädchen mit wässrigblauen Augen, die mir damals höchst geheimnisvoll erschienen, einem grausam-spöttischen Mund, der mir geradezu liebfeldische Sinnlichkeit und Erfahrung in Liebesdingen vorgaukelte, sowie Sommersprossen und schmutzigblonden Haaren, mit denen ich perainegefällige Natürlichkeit verband, führte mich ebenso wie mein Dienstherr in Versuchung und Gefahren, nur auf ganz andere Art und Weise.
Das Mädchen erweckte das erste mal als Treiberin auf einer Herbstjagd des Götterlaufs 15 Hal meine Aufmerksamkeit. Diese Hatz, irgendwo in den Wäldern zwischen Gernat und Schwarzer Sichel, sollte sich für mich auch in einem anderen Zusammenhang als bedeutsam erweisen. Es ging auf Rehe, Hirsche, Damwild und Wildschweine. Irgendwie war an diesem Tag ein streunender Goblin in das Treiben geraten. Ein kleines Kaninchen in seiner Hand verriet den Wilderer, einer der Jäger schoss ihn fast schon beiläufig mit der Armbrust nieder.
Die vornehme Gesellschaft – froh über jede Abwechslung - versammelte sich hoch zu Roß um dem Rotpelz, der waidwund am Boden lag. Es war das erste mal in meinem Leben, dass ich soviel Blut auf einmal sah. Ich gestehe, dass ich Mitleid mit der wimmernden Kreatur hatte. Answin, der sein Pferd neben das meinige gelenkt hatte, bemerkte dies und sah mich mit seinen spöttischen Augen an, als wäre ich ihm heute zum ersten mal darunter geraten. Er zog einen Rabenschnabel, der vor ihm am Sattelknauf hing und reichte mir die Waffe. „Erschlag das Untier,“ sagte er gleichmütig, „oder erlöse es von seinen Leiden, wenn dir das lieber ist“.
Es war höchst ungewöhnlich, dass mein Herr in derart großer Runde das Wort an mich richtete. Ich fühlte mich geehrt, aber andererseits behagte mir dieser Befehl nicht. Es war eine Prüfung - irgendwie aber auch eine Versuchung.
Ich glitt aus dem Sattel und stellte mich vor dem zitternden Wilderer auf. Er flüsterte etwas in der zischelnden Sprache der Rotpelze, die ich natürlich nicht verstand. Vielleicht bat er um Gnade, oder er betete zu irgendwelchen Götzen. Mit trockenem Mund hob ich die Streithacke und leckte mir dabei nervös über die Lippen, was wohl eher dümmlich als entschlossen aussah. Ich fragte mich, wie ich den Rotpelz am saubersten töten konnte – im wahrsten Sinne des Wortes. Einige Augenblicke lang war tatsächlich meine einzige Sorge, der Rabenschnabel meines Herrn könne über Gebühr beschmutzt werden. Sollte ich dem Goblin in den Brustkorb hacken, in den Bauch oder in den pelzigen Schädel mit der fliehenden Stirn? Ausgerechnet jetzt erinnerte ich mich daran, wie ich auf Burg Rabenmund einmal eine Katze hatte erschlagen müssen, die unter die Räder einer Kutsche geraten war: Ich hatte das bewegungsunfähige Tier nicht richtig getroffen. Auch nach mehreren Schlägen mit dem Knüppel hatte sie noch gefaucht und geschrien wie am Spieß.
Ich muss wohl ziemlich lange unschlüssig dagestanden haben. Zu lange.
Hinter mir lachte einer der Edelleute blasiert auf. „Seht nur, Answin. Euer Knappe ängstigt sich bereits, gegen einen halbtoten Goblin zu kämpfen.“
„Ist das nicht der junge Alrik Tsalind aus Friedwang? Tsalind, der Name erscheint mir überaus passend“ , amüsierte sich eine feine Dame aus Rommilys. „Seid nachsichtig mit dem Friedwanger. Man sagt, dass sie in der Schwarzen Sichel keinen Unterschied zwischen Mensch und Goblin kennen – in jeder Hinsicht.“
Ich spürte, wie mir vor Scham, aber auch Jähzorn das Blut in den Kopf schoss. Am liebsten hätte ich die Spötter auf der Stelle zu einem Zweikampf gefordert, wenn dies bei meinem Rang im mindesten statthaft gewesen wäre.
Stattdessen senkte ich möglichst gemessen die Waffe, ohne auf das Zittern in meinem Beinen und Armen zu achten.
„Aber, Herr. Widerspricht es nicht dem Gebot der Göttin Rondra, einen Wehrlosen zu erschlagen?“ Auch wenn ich diese Worte einigermaßen ruhig und beherrscht ausgesprochen hatte, klangen sie durch meinen Stimmbruch doch jämmerlich grell und kiekend. Erneut schoss mir die Röte ins Gesicht. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Ich wünschte nur noch, diese Tortur käme zu einem schnellen Ende – so oder so.
„Schau sich einer das impertinente Bürschlein an.“ Einer der Edelleute, deren Gesichter ich vor Aufregung nur noch verschwommen wahrnahm, schüttelte erbost den Kopf. „Kaum den ersten Flaum auf den Wangen und weigert sich schon, einen Befehl seines Herren auszuführen.“ Er schien zu spüren, dass einigen der Anwesenden diese kleine Blamage des Rabenmund durchaus gefiel. „Selbst einen Ritter sollte man für eine derartige Aufsässigkeit bestrafen.“
Der Adelige lenkte sein Pferd neben den Goblin und hob den Jagdspieß (ich fürchtete schon, gegen mich), aber ein Wink Answins hielt ihn zurück.
„Sprich mir nicht davon, mein lieber Fredo. Menschen, die zu Höherem berufen sind, müssen sich eben manchmal über ihre vermeintlich göttergegebene Treuepflicht hinwegsetzen.“ Answin sah mit spöttischem Lächeln in die Runde und erntete ob der Anspielung auf sein eigenes Schicksal einige Lacher. Dann wendete er sich wieder mir zu, wie ein Zureiter, der sich überlegt, wie er den Willen eines zwar bockigen, aber ansonsten nicht besonders schwierigen Pferdes brechen kann.
„Dieser Goblin ist der Wilderei überführt und würde ohnehin gehängt. Es liegt an dir, seine Leiden zu verkürzen oder nicht. Aber entscheide dich schnell, bevor uns das restliche Wild auch noch durch die Lappen geht.“
Einige Herzschläge lang empfand ich wirklich Groll gegen meinen Herrn. Er hatte nicht nur zugelassen, dass ich, der Erbe von Friedwang, in aller Öffentlichkeit bloßgestellt und gedemütigt wurde, nun sollte ich für ihn auch noch den Henker spielen. Ich weiß nicht, wohin mich mein immer stärker werdender Jähzorn getrieben hätte, wenn in diesem Augenblick nicht der scheinbar todwunde Goblin aufgesprungen wäre. Mit krummen Beinen lief er auf den Fellbeutel mit seiner Beute zu und zog darunter eine Stachelkeule hervor. Unter dem Gelächter der übrigen lief ich hinterher. Ich bin Rondra bis heute dankbar, dass sie den Rotpelz sich zum Kampf stellen ließ. Er verletzte mich leicht am Handrücken, dann schlug ich ihn zu Boden und schickte ihn mit einem weiteren Hieb mitten in den Unterleib zu seinen Wildschweingötzen.
„Na also, geht doch.“ Answin lachte zufrieden auf, zum Zeichen, dass er dem ganzen Vorfall keine allzu große Bedeutung beigemessen wissen wollte. Ich wischte den Rabenschnabel mit etwas Laub sauber und reichte ihm die Waffe, aber er winkte ab.
„Behalte ihn ruhig, Alrik Tsalind von Friedwang-Glimmerdieck, als Zeichen meiner besonderen Gunst. Er soll dich von nun an für immer an diesen Tag erinnern.“ Dann änderte sich etwas in seinem Mienenspiel. Das Gesicht des Rabenmunds wurde vieldeutig: Etwas Väterliches, Großzügiges und Ehrgebietendes lag darin, aber auch eine stillschweigende Drohung. Ich war ebenso überrumpelt wie beeindruckt, und verneigte mich rasch. Hätte er mir in diesem Augenblick befohlen, einen der Treiber zu erschlagen, ich hätte vermutlich selbst diesen Befehl ausgeführt.
Plötzlich glaubte ich zu wissen, was ich tun musste. Weniger aus Überzeugung, sondern um die Sache überhaupt zu irgendeinem Ende zu bringen, sank ich in die Knie und beugte mein Haupt, als solle ich schon jetzt den Ritterschlag erhalten. „Fortan werde ich Euren Befehlen gehorchen, Herr, mit Leib und Seele und ohne zu zögern, das schwöre ich bei allen Zwölfen!“
Answin musterte mich mit seinen graublauen Augen, erstaunt und ein wenig amüsiert ob meines theatralischen Auftritts, aber auch zufrieden.
„Gut. Ich werde bei Gelegenheit darauf zurückkommen. Jetzt lass deine Verletzung kurieren, da an der Hand.“
Mein Herr schnalzte mit der Zunge und trieb sein Pferd wieder an.
Beim abendlichen Streckelegen ging es dann hoch her. Der Kampf des Knappen Alrik gegen einen heimtückischen Goblin war längst zu einer Heldentat angeschwollen, die augenzwinkernd gefeiert wurde. Der Kratzer auf meinem Handrücken, der notdürftig verbunden worden war, ließ mich so stark und erfahren fühlen, als wäre ich bereits der Veteran vieler Schlachten. Dennoch war mir immer noch nicht wohl in meiner Haut, wenn ich den Goblin sah, der als makabrer Scherz ans Ende der Reihe aus Wildbret gelegt worden war. Irgendein Witzbold hatte ihm sogar einen Tannenwedel zwischen die Hauer gesteckt, als wäre er wirklich nur ein Tier. Bei meiner Treu, gerade wir in der Sichel leiden unter den Heimsuchungen der roten Diebe, aber sie sind ebenso Zweibeiner wie wir, zu Sprache und tieferen Gefühlen befähigt. Einige von ihnen beten ja sogar zu Firun, dem Herrn der Jagd. Eine derart entehrende Behandlung haben sie bei all ihrer Rückständigkeit und Heimtücke nicht verdient.
Andererseits hielt ich nun Answins Rabenschnabel in Händen. Ich war von dieser Ehre wie berauscht. Vor allem aber wusste ich, was sie meiner Mutter bedeuten würde, und konnte mich gar nicht mehr vom Anblick der Waffe losreißen. Der Rabenkopf wirkte kühn, stolz und wie lebendig, in den Griff waren neben dem barönlichen Wappen auch Answins Initialen eingraviert. Ein überaus wertvolles Geschenk für einen Knappen, das mich mit stolzerfüllter Brust umherschreiten ließ.
„Was ist aus dem guten Stück eigentlich geworden?“ fragte Alrik.
Francesco kratzte sich verlegen am Kopf: „Nun, eine Zeitlang befand es sich in der Waffensammlung derer von Friedwang. Ich habe es Adran geschenkt, bei einem seiner Besuche auf Burg Friedstein. Immerhin handelte es sich dabei um die Waffe eines Thronräubers und Reichsfeindes – und des Answinismus wollte ich mich nicht auch noch bezichtigen lassen.“ Der Streuner grinste. „Die Oppsteiner können mit einem solchen Verdacht eher leben.“
Alrik nickte.
Vermutlich ist es besser so. Auch damals waren meine Gefühle nicht ungeteilt. Nennt mich sentimental und abergläubisch, aber immer, wenn ich mir die Waffe ansah, hatte ich zugleich den letzten Blick des Goblins vor Augen – voller Panik, Schmerzen und Todesfurcht. Eine solch ehrlose Tat hat es einfach nicht verdient, derart fürstlich belohnt zu werden. Nein, mit seinem Geschenk wollte Answin mich zugleich kaufen, einschüchtern – und zu seinem künftigen Totschläger erziehen. Auch wenn ich dies damals vielleicht noch nicht hätte aussprechen können, tief in meinem Inneren fühlte ich, dass es so war. Also bekämpfte ich meine aufkommende Scham mit Schnaps, der an diesem kalten Herbstabend am Lagerfeuer reichlich floss. Irgendwann bin ich dann ihr in die Arme gestolpert: der „Marderin“.
Der Anblick des Rabenschnabels muss sofort ihre Gier geweckt haben. Ich Einfaltspinsel hielt ihre Blicke für aufrichtiges Interesse an mir und erzählte ihr alles. Sie schmeichelte mir, den heldenhaften Goblinbezwinger – und verspottete mich zugleich, was durchaus meinen gemischten Gefühlen entsprach. Ich war schon ziemlich betrunken, vor allem war ich noch nie einer jungen Frau so nahe gewesen, während fast alle meiner Altersgenossen bereits erste Erfahrungen mit Knappinnen oder Mägden gesammelt hatten.
Linkisch gelang es mir, sie zu küssen, aber den höchsten Preis, der zwischen ihren Schenkeln lag, wollte sie mir in dieser Nacht noch vorenthalten. Den sollte ich erst erhalten, wenn ich weniger Pusteln im Gesicht hätte, neckte die Marderin mich. Vor allem aber wollte sie als Liebesbeweis den Rabenschnabel zum Geschenk haben. Sie versprach, sich mit mir in genauer einer Woche in einem Heuschober unweit Burg Rabenmund zu treffen. In meinem Zustand erschienen mir solche Ungeheuerlichkeiten als völlig selbstverständlich, ja, geradezu als Inbegriff der wahren, ritterlichen Minne. Dass ich nicht einmal genau wusste, wer sie war, woher sie kam oder als was sie arbeitete – eine gewöhnliche Bauerntochter schien sie jedenfalls nicht zu sein – machte sie in meinen Augen nur noch um so geheimnisvoller und begehrenswerter. Hätte sie mir erzählt, sie wäre eine verkleidete Prinzessin, ich hätte es in diesem Moment wahrscheinlich ebenfalls geglaubt.
Eine ganze Woche lang ging ich meinen Gefährten mit meiner Schwärmerei auf die Nerven. Ihre besorgten Warnungen vor dieser Frau hielt ich für Neid - ebenso wie die Behauptung eines großsprecherischen Knappen namens Falk, Answin würde Rabenschnäbel wie den meinigen dutzendweise in Wehrheim anfertigen lassen, um sie dann an treue, aber nicht besonders wichtige Gefolgsleute weiter zu verschenken. Ich war wirklich bis über beide Ohren verliebt und von meinem Glück wie berauscht.
Meine Liebste hatte mir gegenüber einen Geheimgang erwähnt, der im Brunnenschacht von Burg Rabenmund seinen Anfang nahm: wie bei uns zuhause. Allein diese Information hätte mich stutzig machen müssen. Damals, in meiner jugendlichen Torheit, erschien mir derart vertrauliches Wissen geradezu wie ein Beweis ihrer Vertrauenswürdigkeit. Zur vereinbarten Zeit, nach Sonnenuntergang, schlich ich mich durch diesen Tunnel aus der Burg.
Besagter Gang war schlammig, düster und feucht – der reinste Karnickelbau, der unter dem Wassergraben hindurchführte und mitten im Wald endete. Ich hatte nicht einmal eine ordentliche Lichtquelle dabei, nur ein Kästchen mit Feuerstein, Stahl und Zunder. Als ich hinter einigen Sträuchern aus dem Loch kroch, muss ich jedenfalls ausgesehen haben wie ein Selemer Erdferkel. Der Wald war finster und voller raschelndem, unsichtbaren Leben, aber ich bezwang meine Furcht. Bald überwog die Abenteuerlust und der Reiz des Verbotenen, den ich trotz romantischer Gedanken an Minnedienste oder trauter Zweisamkeit verspürte. Das helle Madamal wies mir den Weg, ein Käuzchen und zwei raufende Wildkater sangen dazu ihr schauriges Lied.
Der vereinbarte Treffpunkt war eine Scheune am Waldrand. Ich hatte den Rabenschnabel dabei, auch wenn mich der Gedanke jetzt schon schmerzte, ihn für eine einzige Liebesnacht her zu geben – und sei es auch meine erste. Nun, ohne Lagerfeuer und Schnaps, erschien mir die Vorstellung nicht mehr ganz so minniglich wie noch vor einer Woche. Andererseits wollte ich diese einmalige Gelegenheit, vom Jüngling zum Mann zu werden, auch nicht ungenutzt verstreichen lassen. Ich hatte in den vergangenen Tagen alles in meiner Macht stehende getan, um den in meinen Gesicht sprießenden Pickeln Herr zu werden, leider vergeblich.
In der Scheune traf ich dann sie. Die Marderin ging ohne viel Umschweife zur Sache: Selbst ein erfahrenerer Mann, als es der Knappe Alrik Tsalind von Friedwang-Glimmerdieck war, wäre wohl unter ihren Griffen und Küssen schwach geworden. Bald lagen wir nackt neben unseren Kleidern im Heu. Auch wenn ich mir bei diesem Treiben plump und ungeschickt vorkam, war ich einige Momente lang der glücklichste Mensch auf Dere. Wie nahe Glück und Verderben doch so oft zusammenhängen, nicht wahr? Ja, sie war trotz allem eine kundige Lehrmeisterin. Irgendwann konnte ich nicht mehr an mich halten und stieg in Rahja - oder zumindest Levthan - gefälliger Verzückung auf sie. Als sie mir in diesem Augenblick mit beiden Händen die Kehle zudrückte, hielt ich das noch für eine besonders raffinierte Art des Liebesspiels. Dann belehrte mich ein sehr harter Schlag auf den Hinterkopf eines besseren.
Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich bereits an Händen und Füßen gefesselt. Meine Gespielin war nicht mehr allein, sondern in Begleitung eines halben Dutzends anzüglich grinsender, schwer bewaffneter Gestalten, die selbst ein Einfaltspinsel wie ich sofort als Räuber erkannte. Die zusammengeschnürten Hände schmerzten niederhöllisch, dann trat die Marderin mir auch noch mit einer gemeinen Bemerkung über meine Liebeskünste in den Unterleib. Weitaus härter traf mich, dass sie sich danach einem der Strauchdiebe an den Hals warf – offensichtlich der Anführer. Leider sah der Bursche mit Federhut und blondem Schnauzbart auch noch umwerfend gut aus. Der Räuberhauptmann, sein Name war Gundo Knochenbrecher, hielt den prächtigen Rabenschnabel in Händen und lobte sein Liebchen, der ein derart prächtiger Fang ins Netz geraten war.
Langsam musste ich den Tatsachen ins Auge sehen: Ich befand mich in den Händen von Räubern, und ein Mann war ich auch noch nicht geworden. Im Gegenteil. Sie stellten mich auf die wachsweichen, schlotternden Beine, verspotteten mich und hüllten mich in verlauste, überlriechende Fetzen. Hätte ich vor Scham im Erdboden versinken können, wäre ich damit noch gut weg gekommen.
Mit verbundenen Augen und in Lumpen gehüllt, brachten mich die Räuber in ihr Lager im Wald: eine Höhle, deren Zugang offenbar versteckt hinter einer Köhlerhütte lag. Dort setzte ein beleibter Bursche, den alle nur „Ogerfinger“ nannten, einen Brief mit einer Lösegeldforderung an den Burggrafen auf: „5000 Dukaten verlangen wir für das feine Köpfchen“, diktierte Gundo selbstherrlich beim Wein - `“runterhandeln lassen können wir uns immer noch“.
Am nächsten Tag brachte die Marderin eine Kiste mit Answins Rabenschnabel, den Brief sowie einen Kürbis mit eingeschnitzten Gesicht und aufgemalten Pusteln zur Burg.
Eigentlich behandelten mich die Räuber am Anfang gar nicht mal so unanständig: Ich bekam gegen mein Ehrenwort als Edelknappe die Fesseln gelöst und durfte mich frei in der Höhle bewegen. Auch zu essen und zu trinken gab es reichlich, es wurde viel gefiedelt, getanz und gelacht. Nach einigen Tagen hatte ich meine Schmach beinahe schon wieder vergessen- auch wenn ich keinen blassen Schimmer hatte, wie ich die genauen Umstände meiner Entführung Answin oder meiner Mutter beibringen sollte.
Knochenbrecher-Gundo klärte mich darüber auf, das ich keineswegs der erste Gefangene der Bande sei und bislang alle Geißeln gegen Lösegeld wieder freigekommen wären. Woher der eher zierlich wirkende Mann seinen Beinamen hatte, zeigte sich, als er einem seiner Spießgesellen beim Armdrücken ohne große Mühe das Handgelenk brach.
Eines Abends wurde dann, für mich völlig überraschend, Junker Gernot von Gießenborn, die Augen ebenfalls verbunden, in die Höhle geführt. Ich hatte meinen blassen Vetter mit seinem schwarzen Knebelbart und den Froschaugen bislang nie sonderlich leiden mögen noch ihn besonders ernst genommen. Aber in diesem Augenblick freute ich mich ehrlich, ihn zu sehen. Nur zu rasch merkte ich, dass dies umgekehrt nicht gerade der Fall war.
„Gütige Herrin Peraine, hast du immer noch so viele Pfucken !?“ sagte Gernot anstelle einer Begrüßung.
„Das Bürschlein ist seiner Familie keine 5000 Dukaten wert“, verkündete der Junker in die Runde. „1500 Goldstücke, mehr kann Baronin Tsalinde nicht bezahlen, und selbst dafür hat sich mich, ihren geliebten Neffen, anbetteln müssen. Zum Dank lässt sie mich auch noch als ihren Botenjunge den Kopf hinhalten.“ Und alles nur, damit eines Tages dieser Knappe Answins auf dem Steinbockthron sitzt, schien Gernots Blick sagen zu wollen.
„Ich hätte da eine Idee“, krakeelte ein kleinwüchsiger, aber muskulöser Rotschopf, der den Spitznamen „Hämmerling“ führte, dazwischen. „Wir behalten dich ganz einfach auch noch da. Mal sehen, ob diese Schweine nicht dann parieren.“ Zustimmendes Gejohle antwortete ihm.
„Ich habe einen viel besseren Vorschlag.“ Auch wenn Gernot so tat, als wäre ihm der Einfall erst gerade eben gekommen, wurde mir später klar, dass er diesen Plan schon sehr viel länger mit sich herumgetragen haben musste. „Was auch immer sie euch als Lösegeld zahlen werden: Ihr bekommt von mir die doppelte Summe, falls Alrik Tsalind nicht zurückkehrt“.
Sofort brachen in der Höhle die Niederhöllen los. Erst nach einigem Brüllen gelang es dem Räuberhauptmann, für Ruhe zu sorgen. Die Weggelagerer beratschlagten lautstark, was sie von diesem unerwarteten Angebot halten sollten.
„Warum tust du das?“ sagte ich verstört zu Gernot.
Der lachte nur freudlos auf und tupfte sich mit einem Seidentüchlein den Schweiß von der Stirn: „Seine Hochwohlgeboren Helme Haffax wünschen nicht, das der Knappe eines verurteilten Hochverräters der nächste Baron von Friedwang wird.“
Langsam ging mir ein Licht auf: „Helme Haffax? Oder du?“
„Sagen wir, ich lese dem Grafen jeden Wunsch von den Lippen ab. Schon bevor er ausgesprochen worden ist, hähä.“
„Wenn ich . . . . mir etwas zustossen sollte, dann wird eben Gunelde meine Nachfolgerin.“
„Gunelde . . . Mit der eingebildeten Schnepfe werde ich auch noch fertig“, sagte der Junker mehr zu sich selbst und in sein Taschentuch hinein. „Im Grunde muss ich dir sogar dankbar sein. Dein kleines Minneabenteuer, über das bereits halb Friedwang lästert, hat mich zu einem weiteren Plan inspiriert. Nächstes Jahr soll Gunelde in die Wehrheimer Kriegerakademie eintreten. Man könnte bei Gelegenheit einen Bauerntölpel auf sie ansetzen, zum Beispiel, während ihre Kutsche einen Achsbruch hat. Sagen wir, mit Hilfe eines Liebestrunks, den ihre Zofe ihr verabreicht. Wusstest du, dass Griniguld und der Kutscher schon seit längerem für mich auf Burg Friedstein spionieren? O, was habe ich da ausgeplaudert? Jetzt muss ich dich wirklich loswerden.“
„Du bist anscheinend völlig verrückt geworden.“
„Aber nicht doch. So etwas gibt es nur bei Bauern oder Bürgerlichen. Edelleute werden höchstens exzentrisch. Wie deine dämliche Frau Mutter, die leider meine Tante ist. Schön, dass du ihre Torheit geerbt hast. Mehr wirst du von ihr auch nicht kriegen – du nicht und ebenso wenig deine mißratenen Geschwister“.
Gernot kicherte selbstgefällig.
„Was glaubst du, was passieren wird, wenn deine Schwester mit so einem Landei durchbrennt? Tsalinde wird sie enterben. Spätestens, wenn sich das Gerücht verbreitet, Gunelde hätte ein Kind von diesem Bauerntölpel abgetrieben. Die Baronin von Friedwang ist bekanntlich überaus tsagläubig. Was hältst du davon?“
„Du musst wirklich übergeschnappt sein.“
„Sagen wir lieber, ehrgeizig. Mit Luitprand werde ich dann auch noch fertig. Diese zitternde, schwächliche Missgeburt ist doch jetzt schon ein Fraß für die Raben. Leider kann ich ihm kein Gift ins Getränk mischen, weil er eh´ immer alles ausschüttet. Aber mir wird schon etwas einfallen, genauso wie bei deiner Mutter.“
„Ich verstehe. Du willst der nächste Baron von Friedwang werden. Damit wirst du niemals Erfolg haben.“
„Abwarten, mein liebes Vetterchen, abwarten.“ Mit Kugelaugen ruckte Gernot seinen Kopf vor, Speichel glänzte auf seinen Lippen: „Ihr Friedwanger habt auf uns Gießenborner doch immer mit Verachtung herabgeblickt, nur weil wir dem Kaiserhaus die Treue halten und ihr Rabenmundfreunde nicht. Gerade deine hochnäsige Mutter. Der kleine Gernot, was soll nur aus ihm werden, zum Schwertkampf taugt er ja wohl nicht, fürchtet sich nachts im Dunklen, vergnügt sich mit Goblinweibern, wahrscheinlich wird er mit dem Junkeramt einmal überfordert sein. Nein, so was. Da hat sich diese krächzende Rabenmutter ja gleich mehrfach geeirrt. Nun bin ich auf dem besten Weg, Baron von Friedwang zu werden, und überhaupt: Ich liebe die Nacht und das Dunkle. Außerdem sind Goblinfrauen einfach wunderbar – flauschig, wild, anschmiegsam und mit überaus geschickten Händen. . .“
Francesco schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht glauben, dass Ferdin ein Verräter gewesen sein soll. Griniguld kenne ich nicht, aber der treue Ferdl? Ausgeschlossen. . . Der Kutscher hätte niemals mit Gernot gemeinsame Sache gemacht.“
„Nun, möglich wäre es“, meinte Lacertinus. „Diese Griniguld erschien mir immer etwas scheinheilig und einem schnellen Taler nicht abgeneigt: noch eine Person, der eure Mutter zu sehr vertraute. Und was den Kutscher angeht – seine Tochter Malinde arbeitete in Gießenborn auf Gernots Junkergut. Später soll sie dann nach Rommilys gegangen sein, oder besser gesagt geflohen. Wie ihr Vater war sie überaus traviagläubig, was man von Goblin-Gernot nicht gerade behaupten konnte. Er hätte also durchaus ein Druckmittel gegen den Kutscher in der Hand gehabt.“
„Im wahrsten Sinne des Wortes.“ Der Streuner grinste sarkastisch.
„Gunelde dürfte es ganz schön hart treffen … zu erfahren, dass ihre große Liebe nur auf einen schnöden Liebestrank gegründet hat. War Firnjan eigentlich in die Intrige eingeweiht - ihr Gallyser Stecher?“
„So wie ich es verstanden habe, ja“, meinte Alrik. „Trotzdem . . . Ich kann mir nicht vorstellen, wie Gernot diese Schweinerei genau in die Wege leiten wollte. Wenn Griniguld meiner Schwester wirklich einen Liebestrank verabreicht hat, hätte sich Gunelde dann nicht eher in ihre Zofe verlieben müssen?“
„Vermutlich handelte es sich dabei um kein magisches Tränklein.“ Lacertinus drehte seinen Becher in Händen. „In der Sichel gibt´s genug Kräutergebräue, die den stolzen Namen Liebestrunk führen. Meist machen sie Männlein und Weiblein aber nur `bockig´, wie man so schön sagt. Gut möglich, dass dieser Gallyser Bauerntölpel oder auch Junker Gernot die Wirkung eines solchen Rahjaicums überschätzt hat. Was die Sache mit der dauerhaften Liebe angeht, meine ich. Letzten Endes haben sie ihr Ziel aber erreicht. Gunelde hat diesen Firnjan ja geheiratet, wenn auch erst nach einigem Hin und Her – und wurde von ihrer Mutter verstoßen.“
Nach und nach musste ich also einsehen, dass mein Vetter nicht zu meiner Rettung erschienen war, ganz im Gegenteil. Schließlich mischte sich wieder Gundo ein. „Es wäre schön, Junker, wenn Ihr Euch nun wieder uns zuwenden würdet. Wir glauben nicht, dass Ihr soviel Gold habt“.
„Hat er auch nicht“, beeilte ich mich dazwischen zu gehen. „Wenn er sagt, dass er euch das Doppelte von dem zahlt, was euch meine Familie zahlt, meint er damit - gar nichts. Er wird das Lösegeld unterschlagen, und . . .“
„Halt die Klappe“, fauchte Gernot, wütend wie immer, wenn man ihm auf die Schliche gekommen war.
„Ihr werdet eingestehen müssen, dass Euer Angebot ein wenig ungewöhnlich klingt.“ Gundo versuchte seine Verwirrung durch Ironie zu überspielen. „Manche hier würden sogar sagen ungebührlich. Außerdem befinden wir uns immer noch im traviagläubigen Darpatien, nicht in Mengbilla. Wir pflegen unsere ....Gäste“ - ein scheinheiliges Lächeln in meine Richtung - „im Allgemeinen nicht umzubringen, solange sie uns unsere Gastfreundschaft mit reichlich Silbertalern vergelten“.
„Dieses picklige Bürschlein weiss doch schon viel zu viel über euch und euer Versteck. Seine Mutter ist gerade dabei, die halbe fürstliche Garde zusammenzutrommeln. Ihr habt diesmal den Falschen hopps genommen. Glaubt mir, Hildelinds Soldaten werden euch gnadenlos hetzen, sobald Alrik auf freiem Fuss ist. Vielleicht sogar schon vorher.“
„Das sind wir gewohnt“, meldete sich meine „Freundin“, die Marderin, zu Wort. „Auch für euch wäre es doch überaus betrüblich, wenn man uns in den Kerker werfen sollte. Immerhin könnten wir dann auf der Folter ausplaudern, dass wir auf Euren Wunsch den Baronssohn umgebracht haben.´
„Dass eine Frau mit einem solch schlauen Köpfchen ihr Geld ausgerechnet als Räuberin verdienen muss.“ Gernot klang schnippisch, zeigte aber Unsicherheit.
„Wer weiß, was dieser windige Bursche alles auf uns hetzen wird“, sagte eine Räuberin namens Phexlida die Elster leise, aber in diesem Augenblick für alle gut vernehmbar zu ihrem Nebenmann. Die rassige Festumerin (in die ich mich ebenfalls hätte verlieben können, wenn mein Bedarf an Räuberliebchen nicht gedeckt gewesen wäre), hatte mich von allen Bandenmitgliedern mit am freundlichsten behandelt.
„Unsinn. Ich habe keinen Grund euch zum Schweigen zu bringen. Ihr seid ohnehin in der Überzahl. Selbst wenn man auch fassen sollte, was Phex verhüten möge: Wen würde man glauben, euch oder einen angesehenen Wehrheimer Edelmann? Aber natürlich solltet ihr so bald wie möglich aus der Gegend verschwinden. Euer Gast, wie ihr ihn nennt, würde euch auf der Flucht nur behindern. Murkst ihn ab, streicht meine Belohnung ein und lasst euch die nächsten, sagen wir, fünfzig Götterläufe nicht mehr am Gernat blicken.“ Gernot machte eine kleine Kunstpause und zog einen Lederbeutel hervor.
„Als Zeichen meines guten Willens und meiner ehrlichen Absichten gewähre ich euch schon jetzt eine Anzahlung.“ Der Junker schüttete den Inhalt des Beutels auf einen grob gezimmerten Tisch in der Mitte der Höhle: Mehrere daumennagelgroße Silberbrocken fielen heraus.
„Glaubt ihr mir jetzt, dass ich bezahlen kann? Ich werde euch den Kopf des Baronieerben in Silber aufwiegen.“
„Du scheinst deinen Vetter ja wirklich zu hassen“, sagte Gundo nachdenklich und strich über das Silber. Auch die übrigen Räuber drängten sich um den Tisch. „Gut, wir werden über dein Angebot nachdenken und dir beizeiten eine Nachricht zukommen lassen. Phexlida, schaff ihn raus.“
Nach Gernots Besuch änderte sich das Verhalten der Räuber. Ich wurde nun an eine rostige Eisenkette gelegt wie ein Hund, streng bewacht und auch sonst gröber behandelt als zuvor. Langsam begann ich ernsthaft um mein Leben zu bangen und der Verrat meines Vetters machte mir ebenfalls zu schaffen. Immerhin, der Gedanke, mich zu töten, schien den meisten Räubern unangenehm zu sein. Vor allem die Marderin legte nun doch ein gutes Wort für mich ein. Auch Knochenbrecher-Gundo war die Sache offenbar zu heiß: „Hier geht’s um Adelsränke, sowas schmeckt mir nicht“, sagte er mehr als einmal, oder: „Wir sind anständige Weggelagerer, bei Phex, keine Meuchler“. Hämmerling, der sich etwas mit Schmiedekunst und Erzen auszukennen schien, untersuchte die Silberbrocken ausgiebig und meinte, dass zumindest einige von ihnen falsch sein könnten.
Nach einigen Tagen merkte ich, dass Bewegung in die Geschichte kam. Es wurde viel getuschelt und in meine Richtung geblickt, aber sorgfältig darauf geachtet, dass ich nichts von dem Gesagten mitbekam. Schließlich verbanden sie mir wieder die Augen und führten mich hinaus. Ich rechnete nun fest damit, jeden Augenblick die Kehle durchgeschnitten oder ein Messer in den Rücken zu bekommen. Heute erscheint es mir, als ob es damals ein Fremder war, der sich vor Angst beinahe in die Hose machte und mit klappernden Zähnen zu den Göttern betete. Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen und bereitete mich auf einen elenden, einsamen Tod vor.
Immer weiter ging es in den Wald hinein, fast einen halben Tag lang waren wir schon unterwegs, und ich begann langsam wieder Hoffnung zu fassen. Wenn die Räuber mich wirklich hätten töten wollen, hätten sie schon längst Gelegenheit dazu gehabt. Auf einer Lichtung in der Nähe der Reichsstraße nahmen sie mir die Augenbinde wieder ab. Es dämmerte bereits. Gundo saß mit einem südländisch aussehenden Mann am Feuer, einige Bewaffnete standen herum. Sie bewachten offenkundig einen Käfigwagen, in dem mehrere Rotpelze und teilnahmslos vor sich hinstarrende Blankhäute kauerten. Zwei Sänften sowie mehrere Pferde waren ebenfalls zwischen den Bäumen zu erkennen.
Natürlich ging es bei den Verhandlungen um mich. Der Südländer, ein schwarzgelockter Mann mit Frauenaugen und bronzefarbener Haut musterte mich ausgiebig, musterte meine Zähne, tastete über mein Gesäß und zwickte in meine Muskeln. Er schien ganz zufrieden zu sein, nur bezüglich meiner Herkunft war er sich unsicher.
„Du sagst, er ist ein Diener, der seinen Herrn verraten hat?“ sagte er mit starkem, wohlklingendem Akzent, der sich für mich entfernt tulamidisch anhörte.
„Ja, Answin wünscht, das er für immer aus dem Mittelreich verschwindet“, beeilte sich Gundo zu sagen.
„Ich kann dich auch an deinen schurkischen Vetter ausliefern, falls dir das lieber ist“, raunte er mir zu, während sich der Fremde mit einem unbewaffneten Begleiter, offensichtlich eine Art Schreiber, unterhielt.
„Ihr werdet mich doch nicht an diese Heiden verschachern ?“ fragte ich angstvoll. „Das sind Novadis, nicht wahr? Götterlose Rastullahanbeter?!“
Bei diesem Wort drehte sich der Schwarzgelockte um, jähe Verärgerung in seinem Gesicht.
„Glaub mir, das ist in deiner Lage das beste für dich . . . und für uns“, sagte Gundo schnell. „Mach jetzt keinen Ärger, diese Al´Anfaner verstehen keinen Spaß.“
„Al´Anfaner?“ Das klang für mich noch verwirrender und daher erschreckender.
„Ja, Zwölfgöttergläubige wie wir. . .“ Gundo grinste zynisch. „Jedenfalls ganz bestimmt keine Novadis.“
„Was hat er verbrochen ?“ wollte der Schreiber wissen.
„Ist das so wichtig?“
„Gewiss. Ohne Verbrechen keine Strafe, ohne Strafe kein Sklaverei.“
Nun war das Wort zum ersten mal gefallen. Ich bäumte mich in meinen Fesseln auf, so dass mir Phexlida in den Magen schlug, um mich wieder zur Räson zu bringen.
„Ich bin kein Verbrecher“, keuchte ich unter Schmerzen. „Man hat mich entführt . . .“
Eine Kopfnuss hieß mich schwiegen.
„Nicht ins Gesicht. Nicht ins Gesicht.“ Mit ehrlicher Besorgnis hob der Sklavenjäger mein Kinn an.
„So ein hübscher Junge. Wenn ihr ihn schlagt, mindert das nur seinen Wert.“ Zärtlich streichelte er mir über den Kopf. „Seine Haare müssen wir ändern. Mit dieser lächerlichen Pagenfrisur wird ihn kein Silberberger nehmen wollen. Löckchen, ja, wir sollten ihm Löckchen drehen. Das sähe nett aus.“
Er schien elfisch veranlagt zu sein, was meine Angst nur noch steigerte.
„Also, was genau hat er verbrochen?“
„Er hat . . . gestohlen“, beeilte sich Gundo zu sagen.“Eine kostbare Waffe seines Herrn. Einen Rabenschnabel.“
„Das ist nicht . . .“
Phexlidas Hand grub sich in meine Haare und meine Worte gingen in einen Schmerzenschrei unter.
Der Händler nickte wissend.
„Ein Dieb also. Wir sollten das berücksichtigen, damit es in Perricum keine Scherereien gibt. Eure Leute lassen sich nicht für alles bestechen - und Pokallos möchte nur Ware, deren Herkunft einwandfrei nachgewiesen ist.“
„Ihr arbeitet für Pokallos, Meister Timotheus?“ Gundo klang nervös, aber mir sagte der Name damals nichts.
„Noch. Wenn es in Trahelien gut läuft, werde ich mich demnächst selbstständig machen.“
Der Mann namens Timotheus lächelte stolz, als er erwarte er dafür Applaus. Ein beiläufiger Wink. Einer der Söldner trat hinter mir heran und hielt meine gefesselten Arme fest.
Eine weitere Soldfrau riss mir das Hemd herunter.
Erst jetzt sah ich das Brandeisen, das eine der Wachen in der Hand hielt.
Ich wollte schreien, mich freiwinden, aber der eisenharte Griff des Söldners ließ nicht locker. Die behandschuhte Rechte seiner Gefährtin legte sich auf meinen Mund und erstickte meine Schreie.
Ein schwerer Dukatenbeutel wechselte den Besitzer. Vorsichtig, fast liebevoll nahm Dom Timotheo das Brandeisen entgegen. Auch wenn der Sklavenjäger darauf achtete, dass ich es nicht sah, wurde ich beinahe wahnsinnig vor Angst, konnte mich aber nicht wehren.
Dann drückte Dom Timotheo mir das Eisen gegen die Schulter. Tränen schossen mir aus den Augen. Ich brüllte trotz der Hand vor meinem Mund und rang nach Luft, dann schwanden mir die Sinne.
Als ich wieder erwachte, waren die Räuber verschwunden. Es war Nacht und trotz des munter prasselnden Lagereuers, das nach frischen Zweigen roch, kühl.
Zu meinem Erstaunen spürte ich nicht die geringsten Schmerzen. Auf meiner Schulter prangte ein dreiecksförmiges, schwarzes Zeichen. Es war ein Fuchskopf, das Zeichen für Diebstahl.
„Merkwürdig“, sagte Lacertinus. „Eine derartige Kennzeichnung sollte eigentlich ungewöhnlich sein. Immerhin ist der Fuchskopf ein heiliges Zeichen wie die Sonne oder die Eidechse.“
„Wie auch immer! Die Schande hat in mir jedenfalls schlimmer gebrannt als es die Gluthitze eines Eisens vermocht hätte.“ Alrik blickte zu seinem Bruder. „Wie sieht es bei Dir aus? Wurde dir in Brabak nicht auch der Fuchskopf eingebrannt – als einem echten Dieb und Betrüger?“ Kaum verhohlene Verachtung lag in der Stimme des Friedwang.
„Du hast gehört, was Lacertinus gesagt hat!“ erwiderte Francesco scharf. „Die heilige Fuchsglyphe missbraucht man nicht für solch niedrige Zwecke. Nein, Kedio, mein Lehrmeister, hat mir das Hautbild aufgemalt, nach Art seiner mohischen Vorfahren. Das war in der Nacht meiner W. . .“ Der Phexgeweihte stockte. Alrik, der die hehre Kunst des Nehmens offenkundig wenig schätzte, brauchte nicht alles zu wissen. „In der Nacht meiner Freisprechung als Meisterdieb. Dass mir der Brabaker Henker das Zeichen eingebrannt haben soll, ist nichts als ein böswilliges Gerücht. Damit wollte die Stadtgarde wohl von dem Umstand ablenken, dass es Ihr nie mehr gelungen ist, mich zu schnappen. Na gut, von einer blöden Ausnahme vielleicht mal abgesehen.“
„Diebstahl bleibt Diebstahl“ sagte Alrik und blickte spießig. „Und ehrlos ehrlos, ob man so ein Hautbild nun eingebrannt bekommt oder aufgemalt. Ich jedenfalls wurde völlig unschuldig verunstaltet.“
Eine Sklavenjägerin beugte sich über mich und hielt mir einen Becher Wein an die Lippen.
„Iss nur Zauberfarbe. Ham wir mal so einem Perricumer Alchimisten abgefuchst. Den Scherz erlaubt sich Timo öfters. Wollen unsere Ware ja nicht gleich verschandeln.“
Sie schlug mir auf die Schulter, als müssten wir jetzt die besten Freunde werden. „Mach dir nichts draus. Die Wilden nennen sowas Luloa. Ich trage auch eins - rate mal wo.“ Das Weib lachte roh und griff sich zwischen die Beine. „Außerdem bringt so ein Fuchskopf ja Glück. Wenn nicht dir, dann zumindest Timotheo.“
In dem Wein muss irgendein Rauschkraut gewesen sein, denn an alles weitere fehlt mir jede klare Erinnerung. Ich kann mich nur an apathisch blickende Gesichter, Gitterstangen und Geschaukel erinnern. Offenbar wurde ich im Käfigwagen transportiert. Das Essen und das Wasser, das wir bekamen, enthielt wohl ebenfalls Drogen.
Dunkel entsinne ich mich, das mir einmal auf der Reichsstraße fürstliche Gardisten Fragen stellten, deren Sinn ich überhaupt nicht verstand. Später wurde mir klar, dass sie nach mir, dem verschwundenen Baronssohn Alrik Tsalind von Friedwang suchten. Aber hätten ich mich in diesem Moment bei wachem Verstand gesehen, die Haare zu Locken gebrannt und das Gesicht grell geschminkt wie ein Lustknabe, ich hätte mich wohl selbst kaum wieder erkannt. Das vermeintliche Brandzeichen auf meiner Schulter tat ein übriges, um die Soldaten zu täuschen. Lediglich Timotheus begann zu ahnen, wer da in Wahrheit an ihn verkauft worden war. Nach der Begegnung mit den Soldaten legte ich den Rest der Reise mit einer schwarzen Kapuze über den Kopf zurück.
„Dom Timotheo, wie er sich später nannte, war damals nur ein kleiner Aufkäufer, der seine Ware aus Schuldtürmen, Kerkern oder, wie bei mir, sozusagen im Vorbeigehen bezog. Die Übergabe an den eigentlichen Sklavenhändler fand dann wohl in der Nähe von Perricum statt. Sie haben mich und meine Leidensgefährten auf einem Ruderboot zur Bireme hinausgefahren. Es hat so geschaukelt und mir war so übel, daß ich speien musste. Verzeiht . . .Was ist eigentlich aus dem Lösegeld geworden? 1500 Dukaten waren es, glaube ich.“
„Nun,“ hier meldete sich wieder Lacertinus zu Wort. „Die schwierige Aufgabe der Geldübergabe übernahm Gernot, zusammen mit seiner Nichte Gilia von Gießenborn und dem Waldläufer Horgen. Eigentlich sollten noch mehrere barönliche Büttel die Kiste bewachen. Aber Gernot fand, dass eine starke Eskorte zuviel Aufmerksamkeit erregen und die Geißelnehmer verschrecken könnte, was sich damals ganz vernünftig anhörte. Wie auch immer, die Übergabe des Geldes war angeblich in der Nähe des Dorfes Berler vorgesehen. Auf dem Weg dorthin wurde der kleine Trupp überfallen – von Orks und Goblins, wie es hieß. Jeder dachte natürlich an die Mallachai, die damals die ganze Gegend von der Trollpforte bis an den Gernat unsicher machten. Die drei Friedwanger konnten fliehen, aber das schöne Gold war futsch.“
„Und niemand hat da einen Verdacht gegen Gernot geschöpft?“ fragte Francesco. „Ich meine, bei anderthalbtausend Dukaten dürften ein paar Nachfragen ja wohl erlaubt sein?“
„Nun, Gernot hatte bei dem angeblichen Überfall eine Schulterwunde davongetragen, und die Gefährten bestätigten seinen Bericht. Der Junker war zwar schon zu dieser Zeit nicht sonderlich gut beleumundet und seine Verletzung harmlos. Dafür galt die blutjunge Ritterin Gilia von Gießenborn als völlig untadelig. Auch Horgen war damals noch nicht der Finsterling wie später. Das Auge verlor er im Orkkrieg, und auch seinen Pakt – mögen uns die Zwölfe beistehen – mit dem Eisigen Jäger hat er wohl erst vor einigen Götterläufen abgeschlossen. Beliebt war er nie, aber gerade weil man ihn für niemandes Freund, eigenbrötlerisch und anspruchslos hielt, konnte man sich ein abgekartetes Spiel nicht vorstellen. 1500 Dukaten sind eine stolze Summe, wenn man sich das Schweigen von Komplizen erkaufen will.“ Der Tsageweihte nippte am Rotwein.
„Die Drei schworen auf den Heiligen Suppenkessel des Badilak und den Reliquien von Sankt Alboran, dass sich das Geschehen haargenau so zugetragen hatte, wie sie es berichteten. Gernot verstand es zudem geschickt, den Verdacht in Richtung Gallys zu lenken, ohne dabei je eine offene Beschuldigung auszusprechen. Mal behauptete er, ein Fremder, hünenhaft wie ein Bär, der seinen Kopf unter einer Kapuze verborgen gehalten hätte, sei der Anführer der Bande gewesen. Dann wieder, dass sich auch die Entführer unter den Angreifern befunden hätten, die er im Räuberlager gesehen hätte. Ihr könnt euch vorstellen, wie es in Tsalindes Ohren klingen musste, als Odilon Wildgrimm von Gallys wenig später Frieden mit den Mallachai schloss und Gerüchte von einem Orkschatz in der Baernfarner Heide die Runde machten. Von Gundo und seiner Bande hat man in dieser Gegend jedenfalls nie wieder etwas gehört.“
„Hoffentlich sind sie Gernots Nachstellungen entkommen.“
Erstaunt blickten Francesco und der Tsageweihte zu Alrik, der diese Worte ausgesprochen hatte
„Na ja, für Räuber waren sie eigentlich ganz anständig, Gundo Knochenbrecher, Sholtan Flinkfinger, Phexlida die Elster und wie sie alle hießen. Ich meine, im Vergleich zu manchen anderen Zeitgenossen, denen ich später begegnet bin. Nur dass sie mich am Schluß an die Al´Anfaner verscherbelt haben wie ein Stück Vieh, das war nicht nett“ .
Auf der B a l p h e m o r wurde ich an einen Riemen gekettet und sollte mich selbst in die Sklaverei fahren. Ihr werdet verstehen, dass ich dagegen einige Einwände hatte. Ich war ein junger Baronssohn, gerade fünfzehn Götterläufe alt geworden und nicht gewohnt, Befehle von Gemeinen entgegen zu nehmen. Merkwürdigerweise haben sie nicht einmal versucht, meinen Willen zu brechen. Stattdessen musste ich den Rest der Reise beim Kapitän das tun, was ich als Knappe des Grafen von Wehrheim ohnehin am besten konnte: Servieren, Wein einschenken, ihm in die Uniform helfen und so weiter. Kapitän Delgrano entsprach nicht unbedingt dem Bild, das man sich damals im Mittelreich von einem Al´Anfaner machte. Er war ein älterer, biederer Mann, auf seine Weise gerissen und geschäftstüchtig, aber nicht wirklich bösartig.
Ich weiß nicht mehr genau, was ich damals empfand. Natürlich wollte ich wieder nach Hause. Ein wenig machte mir das Abenteuer, so seltsam es klingen mag, aber auch Spaß. In meinem jugendlichen Leichtsinn glaubte ich sogar, daß ich als Baronssohn dazu verpflichtet sei, erst einmal eine gefahrvolle Queste zu bestehen, bevor ich dann für den Rest meines Lebens über Friedwang herrschen würde. Die exotischen Gerüche, die der Wind von den unbekannten Häfen des Tulamidenlands heranwehte, das endlose Perlenmeer selbst und die Palmeninseln des Südmeeres – all das war weitaus mehr, als die meisten Barone der Schwarzen Sichel je von Aventurien zu sehen bekommen hatten.
Die Galeere brachte uns zu meiner Überraschung nicht in die Schwarze Perle, sondern geradewegs nach Port Saphirna. Den Namen müsst ihr nicht kennen. Hätten sie mich nach Riesland geschafft, der Ort hätte für mich keinen besonderen Unterschied gemacht. Saphirna ist der Haupthafen von Sukkuvelani, einer al´anfanischen Kolonie im Ter Rijßen-Archipel. Das abgelegene Eiland ist auch als Adamanteninsel bekannt. Dort bricht jedes Jahr ein Konvoi mit Mohagoni, Diamanten, Gold, Edelhölzern und Weihrauch in Richtung Al´Anfa auf.
An dieser Küste landete ich also an einem strahlend schönen Tag des späten Boronmonds. Damals erschien mir das alles natürlich sehr rätselhaft, mittlerweile glaube ich das Vorgehen der Sklavenhändler zu verstehen. Wir schrieben Herbst 15 Hal, ein Krieg mit Trahelien stand nach allgemeiner Meinung unmittelbar bevor, und da man in der Stadt des Roten Goldes mit dem Eintreffen großer Lieferungen von Sklaven rechnete, waren die Preise entsprechend im Keller. In den entlegenen Kolonien des Imperiums hingegen zahlte man für Arbeitskräfte immer noch gute Dublonen. Hier fragte vor allem niemand, woher die Unglücklichen kamen, die dann bis an ihr Lebensende in den Diamantminen schuften mussten. Die meisten meiner Leidensgenossen waren ja Darpaten, Tobrier oder Aranier, keine Wilden aus dem Urwald. Nicht zuletzt besaß Kapitän Nestario Delgrano, ein ehemaliger Offizier der Schwarzen Flotte, eine hübsche Plantage in der Nähe von Saphirna, und außerdem eine äußert liebreizende Frau.
Einen Moment lang schloss Alrik die Augen. Der Klang von Wellenschlag und keckernder Urwaldlärm schien an seine Ohren zu dringen.
Saphirna ist eine sehr große Festung, zumindest für die Gegend. Über hundert Söldner schieben dort Dienst. Nach der langen Seefahrt glaubte ich, ich wäre in Peraines Paradies angekommen. Die Lage, der Dschungel, die Gerüche, Farben und Geräusche . . . Der Unterschied zwischen der Charyptik und der Schwarzen Sichel oder der Grafschaft Wehrheim hätte kaum größer sein können. Ich wundere mich heute selbst, dass ich mir damals nicht mehr Fragen nach meiner Zukunft stellte. Aber ich war sehr jung und wurde von unbekannten, neuen Eindrücken überflutet. Heute frage ich mich, ob Sukkuvelani nicht eher zu den Niederhöllen zählt. In der Ferne gab es die Überreste eines gewaltigen Vulkans, der vor Urzeiten das halbe Archipel in die Luft gesprengt haben soll. Im Hinterland sollte es von schwarzhäutigen Utulus nur so wimmeln – von Menschenfressern, wie die Al´Anfaner sie nannten. Außerdem gab es jede Menge wilder Bluthunde, die Sklaven wie mich von einer Flucht abhalten sollten. Ich glaube, ich hatte damals wirklich mehr Angst vor den Wilden als vor meinen Bewachern, die ich im Laufe der Zeit mehr wie Beschützer empfand. Und natürlich war die fiebergeschwängerte Luft des Hinterlands alles andere als gesund.
Bei der Ankunft erfuhr ich, dass ich als das persönliche Eigentum des Kapitäns galt. Ihr müsst wissen, daß es Offizieren auf Al´Anfanischen Sklavenschiffen gestattet ist, ein bestimmtes Kontingent an Sklaven auf eigene Rechnung zu verkaufen. Bald wurde ich Haussklave auf der Plantage von Lucrezia Delgrano, der Frau unseres Kapitäns, der man ihre frühere Schönheit noch immer ansah.
Ich kann nicht behaupten, dass ich von diesem Tag an wirklich das Leben eines Sklaven geführt habe. Damals noch nicht . . . Im Gegenteil, mir gefiel der Gedanke, den Winter hier unten in der sonnigen Charyptik statt im nasskalten Wehrheim zu verbringen.
Außerdem war da noch Dona Lucrezia, die Hausherrin. Ich war eine Art verspätetes Geschenk zum Geburtstag, wir feierten fast am gleichen Tag Tsafest, aber das nur nebenbei. Die Frau des Kapitäns hatte ganz offenbar ein Faible für junge Männer und war oft sehr einsam. Außerdem war sie fieberkrank. Ich denke, für Nestario sollte ich wohl den Sohn ersetzen, den sie nicht hatten und sich sehnlichst wünschten. Für die Hausherrin war ich eher der Ersatz für den oftmals fehlenden Ehemann.
Als ich in der Finca Delgrano ankam, gab es dort bereits einen anderen Jüngling. Goldo Paligan der Jüngere nannte er sich. Angeblich war er ein Bastardsohn des Granden Darion Paligan und Opfer einer gemeinen Intrige der Familie geworden, die den möglichen Erben hatte aus dem Weg räumen wollen. Das behauptete er jedenfalls unentwegt. Später erfuhr ich von den anderen Sklaven, dass er im Ruf stand, ein notorischer Lügner, Phantast und Hochstapler aus dem Al´Anfaner Elendsvierteln zu sein, dem seine Rauschkrautsucht erst den Verstand und das Geld und schließlich auch die Freiheit gekostet hatte. Aber ich war jung und unerfahren, und glaubte in seiner Geschichte meine eigene zu erkennen. Außerdem sah er mir ein wenig ähnlich – offenbar entsprachen wir beide dem besonderen Geschmack von Dona Lucrezia. Sie war hübsch, deutlich jünger als ihr Gatte und dennoch sehr erfahren. Tatsächlich wurde ich von ihr nur wenige Tage nach meiner Ankunft zum Mann gemacht – aber das ist eine andere Geschichte.
Das Problem für Goldo war, dass er sich seinem achtzehnten Geburtstag näherte und damit dem Alter, in dem er laut der Meinung des Don eine Gefahr für die eheliche Treue seiner werten Gemahlin werden konnte. Also hatte er beschlossen, ihn im nächsten Jahr in Al´Anfa zu verkaufen. Obwohl der gute Goldo ganz offensichtlich ebenfalls das Bett der Dona teilte, schien ihm der Gedanke an einen Abschied nicht unangenehm zu sein. Er hoffte , sich in Al´Anfa an seinen Vater wenden zu können, der nun Großadmiral der Schwarzen Armada sei. Dann würde der ihn befreien und wieder in seine Rechte einsetzen. Im nachhinein glaube ich, dass er sich einfach aus meiner Geschichte, die ich ihm anvertraut hatte, ein ähnliches Schicksal erfand - so wie die Papageien von Sukkuvelani jedes Wort nachplapperten, das man ihnen vorsagte. Vielleicht hat Goldo damals auch geglaubt, ich hätte mir meine adelige Herkunft ebenfalls nur ausgedacht, um mich interessant zu machen. Wahrscheinlich war für ihn alles nur ein einziger großer Jux.
Damals hegte ich die Hoffnung, dass, wenn nur Großadmiral Darion Paligan von meinem Schicksal erführe, ich bald freigelassen werden würde. Immerhin handelte es sich bei mir um den Sohn einer Wehrheimer Baronin, die Schwarze Perle und das Mittelreich waren Verbündete. Wenn mir in meiner Lage überhaupt jemand helfen konnte, dann doch wohl der Al´Anfaner Schwager unseres Kaisers.
Also diktierte ich Goldo einen Brief, den er seinem Vater übergeben sollte. Darin schilderte ich ihm meine adelige Herkunft und was mir widerfahren war. Ich fügte noch einige Details aus meinem bisherigen Leben bei, um meine Glaubwürdigkeit zu steigern. Natürlich war es damals reichlich naiv von mir, anzunehmen, daß mir auf den Silberberg irgendjemand geholfen hätte. Vermutlich wäre ich eher diskret aus dem Weg geräumt worden. Damals erschien mir der Brief an den Großadmiral wie meine letzte Rettung.
Im Winter kam die Nachricht, dass der Krieg unmittelbar bevorstünde. Kapitän Delgrano erhielt den Befehl, sich mit der B a l p h e m o r nach Port Visar zu begeben und dort der Schwarzen Armada anzuschließen. Goldo nahm er als seinen Diener mit. Ich selbst bat darum, ihn begleiten zu dürfen, hoffte ich doch auf eine bessere Gelegenheit zur Flucht. Zumindest würde ich mich in Port Visar näher an Al´Anfa und damit am kaiserlichen Schwager befinden. Don Nestario schien der Gedanke mittlerweile unangenehm zu sein, mich allein bei seiner Gemahlin zurück zu lassen, also stimmte er zu.
Wenn Goldo jemals wirklich geglaubt haben sollte, Kontakt mit seinem angeblichen Vater aufnehmen zu können, dann wurde er rasch eines besseren belehrt. In Port Visar erfuhren wir, dass Darion Paligan, der Großadmiral, schon Monate zuvor zuvor durch den novadischen Piraten El´Harkir entführt worden war. Aber auch Don Nestario wurde enttäuscht: Niemand wollte seinen Sklaven zu einem vernünftigen Preis kaufen, nun, wo jeder damit rechnete, dass die Märkte bald mit billiger Ware überschwemmt werden würden.
Wie jeder weiß, zielte der Angriff der Al´Anfaner nicht auf das kleine Trahelien, das sich auch so rasch ergab. Stattdessen wurde die Armada in Richtung des Kalifats in Marsch gesetzt. Am 22. FIRun ereichten wir Selem.
Mit Goldo ging eine merkwürdige Verwandlung vor sich. Er behauptete, er müsse unbedingt in die Khom-Wüste, zu den Novadis aufbrechen, um etwas über das Schicksal seines Vaters herauszufinden. Ich versuchte ihn davon abzuhalten, aber er war wie besessen von diesem irrwitzigen Gedanken. Am nächsten Tag hatte er sich aus dem Staub gemacht.
Später hieß es, er sei zur Armee des Kalifen übergelaufen und in der Schlacht am Szinto wieder gefangen genommen worden. Es ist schon komisch: Ein paar Wochen zuvor wollte ihn wegen dem Krieg niemand als Sklave kaufen, nun wurde er als Kriegsgefangener auf den Sklavenmarkt getrieben. Aber so ist eben Al´Anfa.
Einige Wochen später traf ein Bote aus dem gerade eroberten Unau im Hafen ein, ein Krieger der Boronsraben. Seine Heiligkeit, der Patriarch höchst, selbst verlange mich zu sehen. Ich fasste wieder Mut, glaubte ich doch, dass sich nun alles zum Guten wenden und ich bald freikommen würde. Der Ritt durch die Wüste war beschwerlich und eintönig. Hätte ich es ernsthaft versucht, wäre mir eine Flucht wahrscheinlich sogar geglückt. Aber Goldos Schicksal schreckte mich ab, außerdem war ich überzeugt, dass sich auch so alles zum Guten wenden würde. Zu den Novadis überlaufen oder mich neuen, unbekannten Gefahren aussetzen wollte ich jedenfalls nicht. Der schweigsame Reiter brachte mich tatsächlich zum Lager, das Tar Honak im Funduq von Unau aufgeschlagen hatte. Noch am Abend meiner Ankunft wurde ich von Seiner Hochwürdigsten Erhabenheit empfangen.
Ich muss gestehen, dass ich im ersten Moment enttäuscht war. Tar Honak sah vollkommen unscheinbar aus, ein blasser, fast schon schwächlich wirkender Mann mit dünnem Schnauzbart und leiser Stimme. Erst im nachhinein kam er mir grausam, exotisch, halbseiden und vor allem dekadent vor, aber das wagte ich in diesem Augenblick nicht einmal zu denken. Ich wagte überhaupt nicht zu denken.
In seiner Gegenwart befand sich noch ein Mann in der schwarzen Uniform der Rabengarde, den ich nicht genau einzuordnen vermochte.
Der Patriarch winkte mich näher zu sich heran, der ich verschüchtert am Eingang stand. Seine schwarzsamtene Robe raschelte bei dieser Bewegung, ein Geräusch, dass mich an das Flattern eines Vogels erinnerte. Mir fiel auf, dass die Nägel seiner Finger, mit denen er einige Pergamente auf dem Tisch durchblätterte, spitz wie die Klauen eines Raben waren. Seine Robe war mit Pelz besetzt, ich glaube, es war feiner Zobel aus dem Land der Nivesen. Ein wenig kam mir der Träger selbst wie ein grausamer nivesischer Fallensteller vor.
„Dein Name ist Alrik von Friedwang, nicht wahr ?“, fragte er, wobei er in sanftem, halb forschendem, halb wissendem Tonfall sprach und kurz von seiner Beschäftigung aufblickte. Nebelgraue, unergründliche Augen schienen mein Innerstes zu streifen und wanderten dann wieder zurück zu irgendeiner Schriftrolle.
„Gewiss. Das bin ich, Herr.“ Ich trat vor, erleichtert, da ich nun damit rechnete, endlich wieder nach Hause zurückkehren zu dürfen. Aber tief in mir warnte mich eine Stimme, dass ich mich in Wahrheit in höchster Gefahr befand.
„Gut.“ Tar Honak blickte anerkennend zu seinem Nebenmann, während er einen schwarzen Federkiel nahm und in Tinte tauchte. „Das heißt, man hat mich richtig informiert.“
Der Offizier straffte sich und griff zum Schwert.
„Wie gesagt, Eure Hochwürdigste Erhabenheit. Ein Befehl von Euch, und er ist des Todes. Draußen in der Wüste wird seine Leiche niemand finden“.
Ich weiß nicht mehr, was ich in diesem Augenblick dachte. Ich glaube, ich war empört über soviel Niedertracht und sah mich bereits nach einer Waffe oder einem Fluchtweg um. Aber natürlich empfand ich auch Furcht.
Eine Handbewegung des Patriarchen hielt uns beide zurück.
„Gemach, gemach. Natürlich ist der Junge des Todes. Die Frage ist nur, ob schon heute oder erst in ein paar Götterläufen. Unser Herr Boron wünscht reife, vollendete Seelen für seine Ernte. Die unfertigen, friedlosen und verstörten zählen ihm wenig. Bisweilen verwehrt er solchen Toten gar den Einlass in seine Hallen.“
Gelangweilt überflog Tar Honak das Schriftstück und unterzeichnete es mit einem Federstrich. Dann steckte er die Rabenfeder wieder zurück in das schmuckvolle Tintenfässchen.
„Es gibt schon zu viele ruhelose Geister in und um Unau herum. Außerdem ist unser lieber Alrik ein Zwölfgöttergläubiger aus dem Mittelreich, von Stand und noch dazu ein halbes Kind.“ Dann zog er in theatralisch gespielter Verzweiflung die tiefschwarzen Augenbrauen nach oben. „Aber was soll ich machen? Nicht nur, dass mir diese Schwachköpfe einen Baronssohn aus dem Kaiserreich in die Sklaverei verschleppen. Dann fällt ihnen auch noch nichts besseres ein, als das Bürschchen auf die Adamanteninsel zu schaffen, wo jedes Jahr einer unser wichtigsten und geheimsten Konvois ausläuft. Was ich nun unternehme, ist falsch: Wenn ich den Bengel töte, und es wird bekannt, riskiere ich diplomatische Verwicklungen. Am Ende könnte das der Anlaß für den Kriegseintritt Gareths auf Seiten der Rastullahanbeter sein - wenn natürlich auch nicht der Grund. Lasse ich ihn leben, riskiere ich das gleiche. Boron ist ein Gott, der die Dinge abwägt und erst dann entscheidet, vergesst das nicht. Natürlich. V e r g e s s e n . . . Vielleicht ist d a s die Lösung.“
Erst jetzt sah ich den gedrechselten, ebenholzschwarzen Stab mit dem Rabenkopf auf dem Tisch liegen. Der Patriarch nahm ihn in die Hand und ging damit gemessenen Schrittes auf mich zu.
Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich in diesem Augenblick zu zittern begann und auf die Knie fiel, unfähig etwas zu sagen oder sonst etwas zu unternehmen. Mein Gesicht wurde vermutlich bleicher als das des Patriarchen. Ich ahnte, dass nun etwas sehr Entsetzliches geschehen würde und ich mich nicht im geringsten dagegen würde wehren können.
Dann berührte er mich mit dem Rabenkopf an der Stirn. Das Holz fühlte sich kühl an, kühl, alt und glatt. Ein Gefühl vollkommener Ruhe ging von ihm aus, von Frieden und fast schon heiterer Gelassenheit. Alle Angst fiel von mir ab.
Wie aus weiter Ferne hörte ich Tar Honaks Stimme: „Vergiss dein bisheriges Leben, wie du heißt und wer du warst. Du bist nun ein Skl .... nein halt. Du siehst kräftig und kampftauglich aus, und wir können Soldaten gebrauchen. Du bist nun ein Kämpfer in Diensten Al´Anfas. Und jetzt schafft ihn mir aus den Augen.“
Dann war da nur noch ein Schatten über meinem Geist. Das nächste, woran ich mich wieder klar erinnere, ist, dass ich plötzlich mitten im Lager gestanden habe und mich alle anstarrten wie einen Geist. Es war kühl, und im Funduq brannten Lagerfeuer aus Kameldung und Hausrat. Überall sah ich dunkelhäutige Gesichter, Kamele, Pferde, Rüstungen und Waffen, während die Luft erfüllt war von fremden Gerüchen und den Geräuschen einer vom Feind besetzten Wüstenstadt bei Nacht. Ein wenig erinnerte mich all das an ein Märchen aus 1001 Rausch (merkwürdig, dass ich diesen Begriff noch kannte), aber vor allem jagte es mir Angst ein. Vor mir, unter mir und hinter mir gähnte ein einziger Abgrund aus f e h l e n de r E r i n n e r u n g. Es war, als ob ich von einem Meer an einen unbekannten Strand gespült worden wäre, wie ein Schiffbrüchiger, auch wenn der Vergleich mitten in der Wüste seltsam anmutete. Zunächst nannten sie mich den Junge mit der Okarina, weil ich ihre Soldaten-Jammer auf diesem Instrument nachzuspielen versuchte. Es hieß, ich hätte Talent.
Die Soldaten sagten mir später, ich hätte wie jemand ausgesehen, der in einem ewigen Traum gefangen sei – ohne das klar gewesen sei, ob mir darin etwas Schönes oder Schreckliches begegne. Also gaben sie mir den Namen Bishdarielon. Sie dachten, ich wäre ein Trossjunge, der einen Hitzschlag erlitten und deswegen sein Gedächtnis verloren habe. Ich selbst klammerte mich an diese Erklärung wie an einen Strohhalm, zumal meine helle Haut nach den Tagen in der Wüste wirklich einen fürchterlichen Sonnenbrand aufwies. Es war tatsächlich alles so wie in einem seltsamen Traumgespinst. Man weiß genau , dass man nach dem Aufwachen wieder in sein wahres Leben zurückkehren wird – aber es gibt kein wahres Leben und kein Aufwachen mehr. Der schrecklich-schöne Traum wurde zu meiner Wirklichkeit, und insofern war der Name gut gewählt.
Anfangs waren die Al´Anfaner so freundlich zu mir, wie es raue Söldnerseelen sein können, für die Töten, Plündern und Versklaven etwas Alltägliches ist. Durch meinen Gedächtnisschwund schien ich Boron näher zu sein als sie, die doch Tag für Tag an der Mauer zur Oberstadt ihm und dem Feind ins Auge blickten. Ich revanchierte mich, in dem ich ihre Waffen pflegte, ihre Schuhe putzte und Rüstungen polierte – aus irgendeinem Grund schien ich darin Erfahrung zu haben. Nachdem sich mehr und mehr herausstellte, dass mich weder in der Unterstadt noch auf dem Quad Al´Zulquh, wo der Tross lagerte, jemand kannte, wurde die Stimmung allerdings rasch feindseliger. Bald hieß es, ich sei ein Spion, der nur vortäusche, sein Gedächtnis verloren zu haben, zumal ich aussah und sprach wie die Fremdländischen oben in der Festung. „Ich bin ein Kämpfer Al´Anfas“, entgegnete ich auf solche Verdächtigungen, mit der Inbrunst der Überzeugung eines jungen Mannes, der irgendwo einen Satz aufgeschnappt hat, ohne ihn zu verstehen. Einige der Söldner schienen diese Worte zu rühren, und ich war ja wirklich arglos. Gehorsam ließ ich mich in die Kammer eines Lehmhauses sperren. Einige Stunden lang hatte ich Zeit, mir auszumalen, was wäre, wenn ich wirklich einer der Anderen wäre, der sich an nichts mehr erinnern konnte und in die Hände des Feindes geraten war. Hatte einer der Soldaten nicht etwas von einer Schlacht vor einigen Wochen erzählt, in der die Novadis und ihre Verbündeten dank Boron reihenweise ihre Erinnerung verloren haben sollten?
Schließlich öffnete sich die Tür zu meinem Gefängnis, und ein streng blickender Mann in schwarzem Harnisch, den spitzen Helm unter den Arm geklemmt, trat ein. In seinem Gürtel steckte ein Rabenschnabel. Die Al´Anfanischen Wachen behandelten den Offizier mit größtem Respekt, und auch auf mich machte der Mann mit dem wettergegerbten Gesicht, dem mitleidlosen, wölfischen Blick und den hellbraunen, von der Sonne gebleichten Haaren sofort Eindruck. Er roch nach Schweiß, gefettetem Leder und Blut.
„Wie heißt du?“ fragte mich der Offizier mit barscher, befehlsgewohnter Stimme. „Zu welchem Banner gehörst du ?“
„Bishdarielon.“ Es war das erste mal, das ich mich selbst so nannte. „Zumindest werde ich im Lager so genannt. Mehr weiß ich nicht.“
Der Mann sah bestätigend zu seinen Untergebenen: „Er spricht wirklich merkwürdig“. Dann wandte er sich wieder mir zu und sah mich forschend an - wie eine Karte, auf der es eine unerklärliche Truppenbewegung des Feindes zu ergründen galt: „Es heißt, du wärst ein Spion.“
„Das bin ich nicht, Herr“, sagte ich und fügte zaghaft hinzu. „Glaube ich jedenfalls.“
Der Offizier lachte grimmig.
„Zieh dich aus“, befahl er dann.
Ich gehorchte nicht sofort. Irgendein Gefühl des Trotzes sagte mir, dass der Al´Anfaner kein Recht hatte, so mit mir zu sprechen.
„Du gibst vor, ein Soldat Al´Anfas zu sein und weigerst dich, den Befehl deines Generals auszuführen?“
„Ich kenne Euch nicht, Herr.“
Der fremde Offizier schien zunehmend belustigt zu sein. ``Mein Name ist Oderin du Metuant. Ich glaube, ich habe einen gewissen Ruf vorzuweisen.“ Das unterwürfige Gelächter seiner Soldaten gab ihm Recht.
„Im Gegensatz zu dir, den hier im Lager niemand zu kennen scheint. Runter mit den Novadifetzen.“
Ich tat, wie mir geheißen wurde, auch wenn Zorn meine Angst zu überlagern begann, und zog den wollenen Silham und den darunter liegenden Burnus aus. Schließlich stand ich nur noch im Lendenschurz da. Vor allem die Offizierinnen, aber auch der eine oder andere Hauptmann musterte meinen wohl noch knabenhaften, aber kräftigen Körper interessiert. Ich merkte, wie sich in meiner Hose etwas zu regen begann und wurde rot vor Scham. Insgeheim hoffte ich, dass es nur die grell geschminkten, nach schwerem Parfüm riechenden, amazonenhaften, aber durchaus sinnlichen Al´Anfanerinnen waren, die mich verwirrten. Die Dekadenz der Schwarzen Perle drohte mich früh in ihren Bann zu ziehen.
„Jetzt zieh dich wieder an, Junge.“ Der Al´Anfaner hatte nicht einmal Anstalten gemacht, meinen vor Scham und Sonnenbrand feuerroten Körper genauer in Augenschein zu nehmen.
Ich tat, wie mir geheißen wurde.
Der General wies unbestimmt auf den Boden und wandte sich zu einem schwarzgerüsteten Mann, der hinter ihm stand: „Seine Gewänder waren voller feinem Sand. Das beweist, dass er die letzten Tage in der Wüste verbracht hat– und nicht oben in der Festung.“
„Das muss ja nichts heißen, Herr General. Auf der Gegenseite kämpfen einige Nordländer. Vielleicht hat der hier seine Erinnerung am Szinto verloren“, meinte der Stabsoffizier und sah mich misstrauisch an.
„Was bedeuten würde, dass er sich schon seit Monden im Land der Ersten Sonne aufhält“ meinte Oderin du Metuant. „Unwahrscheinlich, Hauptmann Marius. Man bekommt seinen Sonnenbrand entweder gleich am Anfang oder gar nicht. Außerdem ist er noch sehr jung. Ich glaube nicht, dass ein Mittelreicher für die Kameltreiber in den Krieg zieht, dem gerade mal der erste Flaum sprießt. Wahrscheinlich handelt es sich bei ihm um einen Überlebenden der Nachschub-Karawane, die letzte Woche bei Bir es-Soltan überfallen worden ist. Der arme Kerl wäre nicht der erste, der im Krieg vor Schreck seine Erinnerung verliert. Ja, ich glaube, er ist von Boron berührt worden, um zu vergessen, was die götzendienerischen Schlächter seinen Kameraden angetan haben.“
Auch wenn ich über mich selbst kaum mehr wusste als Oderin du Metuant, bewunderte ich doch den Scharfsinn des Generals. Dieser Mensch war der erste im Lager, der mich an die Hand zu nehmen und über die schmale Brücke zu führen versuchte, die sich über den Abgrund spannte. Meine Abneigung gegen ihn schwand. Er begann von diesem Tag an wie ein Vater für mich zu werden.
„Ich bitte Euch, Herr General“, platzte es aus mir heraus. „Lasst mich für euch kämpfen. Ich bin ein Soldat Al´Anfas , ganz sicher.“
„Wenn es wirklich so ist, wie ich vermute, dann solltest du den Zwölfen danken, den Krummschwertern der Heiden entkommen zu sein“, sagte du Metuant und schlug mir aufmunternd auf die Schulter. „Du erscheinst mir noch ein wenig jung, um dieses Land mit dem Schwert vom Schmutz des Unglaubens zu befreien. Aber ich habe erfahren, dass du ein Talent dafür hast, Stiefel, Klingen und Rüstungen von Novadidreck zu reinigen. Ab heute wirst du mir als Bursche dienen, Bishdarielon.“
Und so kam es auch. Ich finde es schon ironisch, dass ich für Oderin du Metuant das gleiche tat, was ich auch für Answin von Rabenmund hätte erledigen müssen, wäre ich in Darpatien geblieben: Auftragen, einschenken, die Waffen reinigen, das Pferd satteln und dergleichen – beides im Zeichen des Raben. Heute frage ich mich, wer von den beiden der größere Schurke ist, Answin oder Oderin. Damals erschien er mir wie ein strahlender Held, ja, wie ein überaus strenger, aber kluger und gerechter Vater, nicht anders als den anderen Soldaten Al´Anfas. Vom Krieg mit seinen Schlachten selbst bekam ich eher wenig mit, obwohl oder gerade weil ich im Zelt seines Obersten Befehlshabers ein und ausging. Nach einigen Monden begann ich wie ein Al´Anfaner zu denken und zu fühlen – was blieb mir als junger Mann ohne Herkunft auch anderes übrig?
Ich fluchte über den feinen, trockenen Sand, der sich wie ein kratziges Tuch oder Mehlstaub über alles legte. Ich weinte bitterlich, als die Nachricht kam, das Tar Honak von der Tulamidin Nahema mittels schwarzer Magie ermordet worden war. Ich verabscheute den scheinheiligen, intriganten Kaiser Hal und seinen Obersten Leomar, die mit den Feinden der Zwölfgötter gemeinsame Sache machten. Ich empfand kaum Mitleid, wenn im Quartier des Generals Gefangene gefoltert und dann zur Hinrichtung weggeschleppt wurden – und wenn mich dieses Gefühl doch einmal überfiel, schämte ich mich für meine Schwäche. Die wenigen Novadis, die ich lebend und aus der Nähe sah, erschienen mir hitzköpfig und verbohrt, sie logen und kämpften hinterhältig, vor allem aber waren sie Ungläubige, wenn nicht noch etwas Schlimmeres. Ihr Götze Rastullah war für sie der dreizehnte Gott, den wir den Gott ohne Namen und damit das Böse nennen. Hatte einer ihrer Piraten nicht heimtückisch den Hafen von Al´Anfa überfallen und damit den ganzen Krieg erst angezettelt ? War es nicht menschlich von uns, sie, statt zu töten, in der Gefangenschaft weiterleben zu lassen und ihnen so die Gelegenheit zu geben, sich zum Glauben an die Zwölf zu bekehren, statt sie den Niederhöllen oder zumindest der Ewigen Verdammnis zu überlassen? War nicht jedes Leben, selbst das in der Sklaverei, besser als ein Dasein im Schmutz und Elend des Wüstenlagers, wo sie entgegen dem Gebot der Travia und Peraine ruhelos umherziehen mussten? Es bedurfte Jahre des Krieges, um mir ein wenig Achtung vor unserem Gegner einzuflößen: Die Krieger des Kalifen waren an Leib und Seele reinlicher als unsere Söldner, sie fluchten selten, ertrugen Hitze, Durst und Verzweiflung ohne zu murren, wussten, was männliche Ehre war, kämpften listenreich und gaben selbst dann nicht auf, wenn sie eine Zeitlang ins Hintertreffen gerieten. Vor allem aber waren sie meisterliche Reiter und Schwertfechter. Am Ende waren wir es, die diesen Krieg verlieren sollten.
Hatte ich mein Leben ohne Erinnerung zunächst als Last und Makel empfunden, wuchs in mir der Stolz, wenn die übrigen Soldaten und Trossdiener über mich sprachen: Seht nur, das ist Bishdarielon, der Bursche des Marschall-Gubernators, den Boron selbst berührt hat. Wenn ich als einziger einen Überfall auf eine unserer Karawanen überlebt hatte – eine Theorie, die ich langsam für Wahrheit nahm -, musste es mit mir ja eine besondere Bewandnis haben. Mein sehnlichster Wunsch wurde es, eines Tages selbst ein Gardist bei den Boronsraben zu werden, und Oderin bestärkte mich bei jeder Gelegenheit darin.
Nach fast zwei Jahren Krieg, in der Schlacht von Selem, also schon auf dem Rückzug, durfte ich erstmals selbst an der Seite des Marschall-Gubernators in den Kampf ziehen. Die Dreitagesschlacht im Boron war ein wirres Gemetzel gegen die fanatischen, verschleierten Reiterhorden der Kasimiten, das ich nicht recht verstand. Bis heute erinnere ich mich nur an einen seltsam abgehackten Zeitfluss, an von Pferdehufen hochgewirbelten Sand, schreiende, vor Wut und Schmerz verzerrte Fratzen und überall herumsprühendes Blut, das sich wie ein schwerer, süßlich riechender Lack auf unsere Rüstungen oder wie grausige Schminke in unsere Gesichter legte. Ich habe gelegentlich Cheriacha oder Alphana geraucht, aber kein Rauschkraut ist in seiner Wirkung so erregend und verheerend wie eine Schlacht. Nachdem nach drei Tagen alles vorbeiwar, verbrachte ich fast noch einmal die gleiche Zeit damit, mich zu übergeben, auf die Latrine zu laufen und den Khunchomerhieb auf meiner Schulter zu betasten, der mir ohne Betäubung zugenäht worden war. Noch heute sehe ich die großen, runden, dunklen Augen des jungen Kasimiten vor mir, dem ich solange meinen Dolch in die Eingeweide trieb, bis sie jeden Glanz verloren hatten, und sich der Schleier vor seinem gurgelnden, stöhnenden Mund rot färbte. Er war an Jahren sicher kaum älter gewesen als ich selbst.
Am Ende hieß es, der Marschall hätte die Schlacht glorreich gegen eine Übermacht an Feinden gewonnen und ich mich darin bewährt. Wenig später kehrten wir im Triumphzug nach Al´Anfa zurück und ich bewarb mich beim Orden des Schwarzen Raben um Aufnahme. Eigentlich hätte ich dazu als Bursche des Ordensgroßmeisters über die besten Vorrausetzungen verfügen müssen. Aber irgendeine absurde Vorschrift sah wohl vor, dass man volljährig, frei und Bürger Al´Anfas sein musste, um die niederen Weihen zu erhalten. Da ich weder nachweislich frei noch ein Sklave war, konnte ich einfach kein Al´ Anfaner sein. Du Metuant verschaffte mir eine Leutnantsstelle bei der Fremdenlegion. Nach ein paar Jahren könne ich das Bürgerrecht erhalten und dann würde man weitersehen, hieß es. Schon damals bekam das strahlende Bild, das ich von meinem Herren hatte, einen ersten Kratzer. Ich fühlte mich fast ein wenig hintergangen.
So wurde ich Söldner. Mein Offiziersrang bewahrte mich wenigstens davor, am Tag meines Eintritts zusammengeschlagen oder mit Tätowierungen geschunden zu werden wie viele andere Neulinge. Im Grunde fühlte ich mich dort sogar wohl. Alle mein Kameraden hatten ihr früheres Leben verloren wie ich und schon Blut an den Händen – wie ich. Die Legion war nun unser Vaterland. Gewiss, ich galt bald als merkwürdiger Außenseiter, als verwöhnter Günstling eines Granden. Aber dafür schlug nachts niemand mit Dublonenbeuteln auf mich ein (was sie „die schwarze Parole“ nannten) oder ging im Mannschaftsquartier aus nichtigem Anlaß mit dem Messer auf mich los. Es wurde viel von Kameradschaft geschwatzt, von Zusammenhalt, Ehre, Korpsgeist und Elite. In Wirklichkeit waren wir vom Leben misshandelte, weinerliche Kinder, die alle vor sich selbst davonliefen, mit ihren Waffen, ihrer Habgier und Härte oder einem Dasein als „Söldner“ prahlten. Eigentlich waren wir ständig betrunken, auf Rauschkraut oder im Bett mit Huren, an deren Gesichter wir uns schon am nächsten Tag nicht mehr erinnern konnten. Meist alles auf einmal. Ja, wir hatten sehr viel Spaß in Port Corrad, jedenfalls mehr als die Einwohner, die unser bevorzugtes Spielzeug darstellten. Ich weiß noch, dass wir einmal mit einem Ochsengespann eine ganze Schenke zum Einsturz brachten, deren Wirt einen der Unsrigen beleidigt hatte. Danach hatten wir allerdings erstmal nichts mehr zu lachen.
Nur einmal ging es in den Krieg, oder zumindest etwas ähnliches. Wir waren auf Sklavenfang auf der Halbinsel von Süd-Elem, was sich hochoffoziell „Strafexpedition gegen räuberische Waldmenschenstämme“ nannte. Hatte ich die Novadis zumindest am Anfang als verachtenswert empfunden, waren die ersten freilebenden Mohas, die ich sah, für mich einfach nur fremdartig - mehr wilden Tieren oder Gespenstern als Menschen ähnlich. Das heißt, in der ersten Zeit sah man sie überhaupt nicht. Eine gute Kameradin, Praiociosa, wurde eines nachts am Wachfeuer von einem mohischen Giftpfeil getroffen. Es dauerte Stunden, bis das Shurin seine Wirkung getan hatte. Am Ende war sie schlaff wie ein Sack. Es war unheimlich, einen Menschen zu beerdigen, der eben nicht starr und steif wirkte, sondern ganz lebendig, wie betrunken. Alle hatten wir Angst, sie könne noch am Leben sein, während wir sie verscharrten. Ich weiß noch, wie Guido, einer der Söldner, plötzlich durchdrehte, und mit seinem Degen auf sie einstach. Das war unsere erste Begegnung mit den Shokubungas.
Einige Tage später griffen wir das Dorf der Lehmköppe an, wie wir sie nannten. Nun erblickten wir unseren Feind aus der Nähe. Sie sahen seltsam aus, wie sie ihre Haare mit Lehm zu merkwürdigen Stacheln hochgetürmt und sich auch das Gesicht eingeschmiert hatten. Unser Sinn stand nicht nach Gnade. Es bereitete uns sogar eine dunkle Freude, die schwarzhäutigen Dämonen, die für uns nichts Menschliches an sich hatten, zu ihren Götzen zu schicken. Ich lernte, wie man Laubhütten am schnellsten in Brand steckt und wie man gefangene Kinder und Frauen mit Seilschlingen immer paarweise zusammenbindet. Oft hätte ich gar nicht sagen können, ob die Mohas, deren Heimstätten wir überfielen, wirklich Shokubungas waren. Danach wichen sie uns aus. Wir ritten die meiste Zeit sinnlos im Dschungel, dem Sumpf oder der Savanne umher, verbrannten leere Dörfer, verwüsteten ihre Kultstätten und schossen ins Leere, wenn wieder einmal Giftpfeile wie Hornissen um uns herum schwirrten. Einmal wurde ich um Haaresbreite von einem morschen Urwaldriesen erschlagen, der, die Blätter und Zweige nass vom Abendregen, auf unser Zelt stürzte. Wenig später bekam ich das Sumpffieber und kehrte mit einem weiteren Transport Gefangener nach Port Corrad zurück. Die wirren Fieberträume gaukelten mir vor, ich könne mich plötzliches an mein früheres Leben erinnern. Mir träumte, mein Vater wäre ein hochrangiger Borongeweihter in der Stadt des Schweigens und riefe mich zu mir.
Die Krankheit machte mich endgültig zu einem frommen Anbeter des Schweigsamen. Ich war kaum genesen, als ich mein Gesuch um Aufnahme in die Al´Anfanische Bürgerschaft und in den Orden des Schwarzen Raben stellte. Nach einigen Wochen wurde ihm stattgegeben. Außer mir wurden noch zwei weitere Kameraden ins Banner aufgenommen, so dass mir der Abschied nicht gar so schwer fiel. Natürlich kannte mich oben im Tempelbezirk niemand, mit Ausnahme von Oderin du Metuant, meinem neuen und alten Herren. Er wurde im Laufe der Jahre zu meinem Ersatzvater. Heute stößt mich das schwülstige Gerede von Vater, Kindern, Brüdern und Schwestern ab, damals war es der Sinn unseres Lebens. Wir waren vom wahren Leben getrennt und gaukelten uns vor, durch ein besonderes Band aus Pflicht und Ehre miteinander verbunden zu sein. Der Dienst in der Stadt des Schweigens war, wie schon der Name hätte vermuten lassen sollen, langweilig. Nur ab und an gab es einmal ein kleines Geplänkel mit den Söldnern der Basaltfaust, für das die Beteiligten durch Oderin zwar bestraft worden sind – aber jedes Mal mit einem Augenzwinkern. Das Jahr Dienst auf der B o r o n s k r o n e war da eine willkommene Abwechslung.
Einmal ging es sogar in den Kampf, gegen einen bornländischen Kaperfahrer: N i v e s e n b l u t hieß die Schivone, mit der wir uns vor der trahelischen Küste beharkten. Nun, wir Rabengardisten konnten froh sein, mit unserer Trireme gerupft, aber lebend und unversenkt aus dem Seegefecht wieder herauszukommen.
Im nachhinein schaudert es mir, wenn ich an den Tempelbezirk von Al´Anfa denke, die nackten, kühlen Mauern aus Basalt, den süßlichen Rauschkrautduft, die allgegenwärtigen Schatten oder die lautlos herumhuschenden Boronsgeweihten, die man hierzulande wohl eher als Schwarzmagier ansehen würde. Wie in der Wüste, so empfand ich auch hier wenig, wenn ich irgendeinen Unglücklichen in der Stadt abholte und zum Silberberg brachte – sei es erst in die Folterkammer oder gleich zum Scharfrichter, der ihn von hinten erdrosselte, köpfte oder ihm den Giftbecher mischte. Wenn sie sich in meinem Griff aufbäumten, trat ich ihnen in die Kniekehlen oder schlug ihnen in den Nacken, wenn sie davonliefen, schoss ich ihnen ohne zu zögern hinterher – und es reute mich nur die Verletzung meines Befehls, wenn mein Pfeil sie statt ins Bein in den Rücken traf.
Im Gegenteil war ich sogar stolz, in der Garde als scharfer Hund zu gelten, glaubte ich doch, der ich anscheinend keine Vergangenheit hatte, keine Rücksicht auf Freunde oder Verwandte nehmen zu müssen. Der Zweifel wuchs im Stillen. Wenn ich nicht wusste, wer ich war, konnte jedes meiner Opfer der beste Freund, ein Verwandter, Bruder, Schwester, ja, theoretisch sogar Vater oder Mutter sein. Wie hätten sie mich unter dem Visier meines Rabenhelms auch erkennen sollen ? Dennoch wagte ich meist nicht, es zu öffnen, denn was wäre geschehen, wenn mich tatsächlich einer der Verhafteten erkannt hätte? Nicht, dass ich Angst vor einem Widerstreit zwischen Mitgefühl und Pflichterfüllung gehabt hätte. Ihr Betteln um Gnade hätte mich kompromittiert.
Ich redete mir ein, meinen endgültigen Platz im Leben gefunden zu haben. In Wirklichkeit wurde der schwarze Abgrund unter mir von Tag zu Tag tiefer und dunkler. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als endlich zu erfahren, wer ich war und fürchte mich zugleich vor dem Tag, an dem die Wahrheit ans Licht treten würde. Heute denke ich, dass mein Leben in Unwissenheit vielleicht sogar gnädiger war als die offene Schurkerei so mancher Al´Anfaner.
Ab und an ließ ich mich auf eine flüchtige Affäre ein, die Frauen fühlten sich durch meine schwarze Uniform gleichermaßen angezogen wie abgestoßen. Auch Freunde hatte ich kaum. Die Priester, mit denen ich über meine fehlende Erinnerung sprach, antworteten wenig und ausweichend. Es sei wohl Borons Wille, ich müsse mich darin fügen und dergleichen. Ansonsten verbrachte ich viel Zeit in den Stallungen. Die Pferde wurden meine eigentlichen Vertrauten und die Arbeit mit ihnen ging mir leicht von der Hand, was das Gerücht zu bestätigen schien, ich sei einmal ein Trossjunge im Khomkrieg gewesen. Aber das frühere Leben, das Leben überhaupt war an diesem Ort des Todes nicht mehr sonderlich von Belang. Im Grunde war ich bereits als vollkommener Kirchensoldat in den Orden eingetreten.
Der Dienst als Boronsrabe war ehrenvoll, gelegentlich hart und grausam, aber, wie gesagt, über die Jahre hinweg eher eintönig. Selbst den jungen Honak sah man nur ab und an. Als gläubiger Boronsdiener wollte man ja auch nicht so genau wissen, was und mit wem er es in seinem Schlafzimmer so tat. Er spürte, das wir seine Verkommenheit erahnten, und hielt sich von seinen Leibwächtern fern, insoweit sein und unser Amt dies zuließ. Am kurzweiligsten war es noch , wenn Seine Erhabenheit in der Arena den Kämpfen beiwohnte. Ein paar mal habe ich dich dort unten im Sand sogar fechten sehen, Francesco. Auf dem Silberberg haben wir dich für deinen groben Kampfstil gehasst, er galt als Beweis, dass der Geschmack des Fana nun auch die borongefälligen Gladiatorenspiele lächerlich zu machen begann. Oderin lobte Rahjadan Bonareth, der dich aus der Arena entfernte, obwohl er gute Dublonen mit seinem Kämpfer verdient hatte. Damals glaubte ich, der Gladiator aus der Gosse wäre in irgendeinem Bergwerk oder an den Sklavenpfählen im Hanfla geendet, und ich empfand sogar eine gewisse Genugtuung darüber. Seltsam, wie das Leben so spielt, nicht wahr?
Von einem Ereignis kann ich dann doch noch berichten. Eines Tages befreite sich ein Visar-Anbeter, dessen Befragung der Patriarch persönlich beiwohnen wollte, aus dem Griff der Wachen. Der Ketzer griff Amir Honak mit einem glühenden Brandeisen an, wobei er eine wilde Lästerung Borons hervorstieß. Der Mordversuch, wenn man die Verzweiflungstat überhaupt so nennen wollte, war lächerlich. Dennoch zögerte ich keinen Augenblick, den Elenden zu seinem Totengott zu schicken, bevor er auch nur in die Nähe des Patriarchen kam. Danach erwartete ich einen Tadel dafür, dass ich einen wichtigen Zeugen vor dem Verhör zum Schweigen gebracht hatte. Stattdessen hieß es, ich hätte Seiner Erhabenheit durch meine mutige, selbstlose Tat das Leben gerettet. Amir Honak zeigte sich mit einigen Dublonen Zuschlag auf meinem Sold erkenntlich und ließ vor dem versammelten Banner eine Belobigung verlesen. Damals wähnte ich mich Alveran nahe. Ich konnte nicht ahnen, wie nahe ich Boron wirklich war. Es ist in Al´Anfa nicht zwangsläufig von Vorteil, die Aufmerksamkeit eines Mächtigen zu wecken.
Einige Wochen später erreichte mich aus heiterem Himmel die Nachricht, dass mich der Patriarch zu sehen wünsche. Mir zitterten die Knie, als ich das Audienzzimmer betrat. Wenn Amir Honak einen ruft, ist es immer, als ob Golgari nach dir krächzt, auch wenn ich eigentlich keinen Grund zur Besorgnis hatte. Zumindest dachte ich in diesem Moment noch, dass ich mir keine Sorgen zu machen bräuchte.
Ich kann nicht sagen, dass mich Tar Honaks Sohn mehr beeindruckte als sein Vater, den ich im Khomkrieg ein paar mal aus der Nähe gesehen hatte. Auf jeden Fall sah er mit seinen langen, dunkelbraunen, fast schwarzen Haaren besser aus und wirkte sehr viel natürlicher: wie ein junger, zorniger Rabe aus dem Dschungel. Als ich eintrat, stand er gerade am Fenster und blickte auf die nächtliche Bucht von Al´Anfa. Er wandte mir halb den Rücken zu, hatte die Arme verschränkt und stützte mit seinen schlanken, zarten Elfenfingern das Kinn. Amir wirkte in solchen Momenten oft wie ein verträumter, leidenschaftlicher Künstler, nicht wie einer der mächtigsten Herrscher des Südens. Ich wusste, das er ein begnadeter Tänzer war und immer wieder romantische Anwandlungen hatte. Manchmal ging er als Karim, der Gardist, verkleidet, durch die Gassen seiner Heimatstadt, um dem Volk auf dessen Schnabel zu schauen.
„Weißt du, was mein schlimmster Feind ist? Nicht die Intrigen der übrigen Granden oder meiner lieben Verwandten. Auch nicht die Festumer Pfefferrsäcke oder, Boron bewahre, diese Thorwaler Barbaren. Nicht einmal Amene-Horas bereitet mir schlaflose Nächte. Nein, meine schlimmste Feindin ist die Langeweile. Sie wird mich eines Tages noch umbringen. Wahrlich eine unwürdige Art, vor den Götterfürsten zu treten: vor Langeweile sterben. Oder was meinst du ?“ Mit diesen Worten drehte er sich um und sah mich mit seinen großen, kalt lauernden Augen an.
Ich war schon froh, dass er nicht sofort Befehl gegeben hatte, mich wegen irgendeines Vergehens, das mir gar nicht bewusst geworden war, in den Kerker werfen, foltern oder hinrichten zu lassen.
„Als Soldat verspüre ich nur auf der Wache Langeweile“, hörte ich mich sagen. „Manchmal jedenfalls“, fügte ich hastig hinzu. „Aber auf Wache getötet zu werden wäre wahrlich eine unwürdige Art, vor Boron zu treten, Eure Erhabenheit.“
Sofort verspürte ich wieder Unbehagen. War meine Antwort nun einfältig, aufmüpfig oder schlagfertig gewesen?
Dem jungen Patriarchen war nicht anzumerken, was er davon hielt. „Ach, die Langeweile“, fuhr er fort, wobei er wieder aufs Meer hinaus blickte. „Unlängst wurde ich besonders heftig von ihr befallen. Also habe ich in den geheimen Aufzeichnungen meines Vaters zum Khomkrieg gelesen. Nicht, dass mich die Lektüre sonderlich zerstreut hätte – das Ende ist ja bekannt. Aber ein kleines Detail vermochte dann doch meine Aufmerksamkeit zu fesseln. In einem Nebensatz erwähnte er einen Soldaten Bishdarielon, den er mit dem Stab des Vergessens die Erinnerung genommen habe. Es ist eine große Ehre, in einem solchen Bericht Erwähnung zu finden. Größer noch aber ist die Gnade, durch Borons Heiligstes Artefakt darselbst berührt zu werden.“ Ruckartig wandte er sich mir zu. „Dieser Bishdarielon bist du, nicht wahr?“
Ich spürte, wie mein Herz schneller zu schlagen begann. Ich bejahte, um Fassung ringend. Also war ich kein gewöhnlicher Trossjunge. Tar Honak hatte hier seine Hände im Spiel gehabt! War dies nun eine Ehre oder verbarg sich etwas anderes, Ungeheurliches dahinter?
„Nun stellt sich die Frage: Was könnte es für einen Grund geben, dass der Patriarch von Al´Anfa höchst selbst einem Menschen die Erinnerung an sein vorheriges Leben auslöscht?“
„Wie soll ich das wissen, wo Euer Vater doch geruhte, mir die Erinnerung daran zu nehmen, Herr.“
„Ich sehe, das Gedächtnis hast du verloren, aber nicht deinen Witz.“ Amir Honak nickte anerkennend, was mir in diesem Moment als großes Lob erschien. Dann ging er zu einem Stuhl hinüber und ließ sich nieder. Mit seiner feingliedrigen Hand wies er auf einen Tisch daneben, auf dem der Stab des Vergessens ruhte, wie ich nun sah.
„Du weißt, dass ich dir jederzeit die Erinnerung an dein früheres Leben zurückgeben könnte. Ich brauche dazu nur deine Stirn mit dem Ende des Stabes zu berühren“.
Plötzlich zappelte ich wieder über dem Abgrund. In wenigen Momenten würde er sich vielleicht schließen – und mich zermalmen ?
Mühsam beherrscht sagte ich: „Ja, Herr, das ist mir bekannt.“
„Möchtest du das? Möglicherweise wäre es besser für dich, wenn an deiner Vergangenheit nicht gerührt wird.“
Amir Honak hatte freundlich geklungen, nun wurden seine Augen und seine Stimme wieder lauernd. „Vielleicht wäre es aber auch besser für m ic h - oder Al´Anfa, was im Wesentlichen das gleiche ist.“
„Hat nicht jeder Mensch ein Recht auf ein eigenes Leben ?“, fragte ich und wunderte mich über mich selbst. Das klang nun wirklich aufmüpfig.
„Als Ordenskrieger des Boron hast du nur das Recht auf einen eigenen Tod.“ Amir Honak klang ungehalten, und ich senkte schuldbewusst den Blick.
Zum Glück lenkte der Patriarch seine Gedanken in eine andere Richtung.
„Ich haben meinen Vater gehasst – dafür, das für ihn selbst die Macht Borons nur Mittel zum politischen Zweck war. Aber auch du scheinst zu glauben, dass Sein heiligstes Artefakt dazu dient, nach Belieben der Sterblichen eingesetzt zu werden. Ein kleines Tippen mit dem Rabenkopf gegen die Stirn, und was uns nicht behagt, verschwindet aus dem Gedächtnis. Eine Berührung mit dem Stabende, und das Verlorene kehrt in die Welt zurück. Aber ich kann dir keinen Vorwurf machen, wenn selbst mein Vater, der es als Patriarch doch besser hätte wissen müssen, ähnlich gedacht hat. I c h sehe das nicht so einfach.“
Die Enttäuschung war mir wohl anzusehen, denn die Stimme Amir Honaks wurde sofort wieder scharf und tadelnd: „Missbilligst du das etwa? Ist es dir nicht Ehre genug, dass sich der Patriarch höchst selbst mit deinem Fall beschäftigt ? Wagst du es am Ende gar, S e i n e n unermesslichen Ratschluss in Zweifel zu ziehen?“
„Keineswegs, Herr“, stammelte ich. „Es ist . . . es war nur immer mein sehnlichster Wunsch zu erfahren, wer ich wirklich bin. Ein Teil meines Lebens wurde mir genommen, ausgelöscht wie die Schrift auf einer Wachstafel, und. . .“
„Bishdarielon, du machst mich sehr unglücklich. Der Götterfürst selbst war es, der in seiner unendlichen Weisheit und Güte beschlossen hat, dass dir solches widerfahre. Aber ich werde gnädig sein, und den Mantel des Vergessens über deine ungehörigen Worte decken, so du sie nur aufrichtig bereust.“
„Gewiss, Herr, tue ich das. Ich frage mich nur . . .“
„Ja?“
„Ich frage mich nur, warum Ihr mich dann habt rufen lassen.“
„Ein kluger Einwand. Dass ich nicht ohne weiteres bereit bin, dir deine Erinnerung zurückzugeben, heißt nicht, dass i c h nicht wüsste, wer du bist - wer du wirklich bist.“ Amir lächelte überlegen. Das Katz- und Mausspiel schien ihm zu gefallen.
„Ganz recht, ich habe Nachforschungen zu deinem Vorleben anstellen lassen. Aber wir sind hier in Al´Anfa, Bishdarielon. Nichts hat einen Wert, aber alles hat seinen Preis. Was könntest du mir als Gegenleistung geben, wenn ich dir das Geheimnis verrate?“
„Geben? Aber ich diene ich Euch doch schon mit Leib und Leben, Herr.“
„Nun enttäuscht du mich aber doch. Dir ist doch klar, dass du in diesem Moment nicht mehr Bishdarielon, Soldat im Orden des Schwarzen Raben sein würdest, sondern – jemand anderes.“
Ihr könnt Euch vorstellen, dass ich in diesem Augenblick völlig durcheinander war.
„Das kommt darauf, wie viel dieses Geheimnis wert ist.“
„Al´Anfa hat einige Dublonen in dich investiert, wenn du das meinst. Außerdem verzichte ich nur ungern auf einen treuen Leibwächter, der mich davor bewahrt hat, von einem Brandeisen entstellt zu werden. Irschans Spott hätte ich noch weniger ertragen als den Schmerz. Die Frage ist, ob du deinem Patriarchen auch in Zukunft die Treue halten wirst?“
„Gewiss, Herr, so wahr ich hier stehe.“
„Dann schwöre es bei Boron, dem Herrn der Götter, und den übrigen Elfen!“
„Ich schwöre es.“
„Gut. Ich will dir sagen, wer du bist. Alrik Tsalind von Friedwang, ein Baronssohn aus Darpatien. Das ist ein Fürstentum im Neuen Reich.“
Er hätte mir in diesem Moment jeden anderen Namen nennen können. Der hier sagte mir rein gar nichts. Ehrlich gesagt hatte mich bei dem Gespräch am meisten die Offenheit verstört, mit der Amir Honak über seinen Vater sprach, der uns Boronsraben als halber Heiliger galt.
„Wie bin ich nach Al´Anfa gekommen?“
„Siehst du, da fängt es schon an. Wenn ich dir die Erinnerung zurückgeben würde, wer sagt mir dann, dass du nicht einen Groll gegen diese Stadt empfinden würdest, deren geistiges Oberhaupt ich bin?´
„Ich war damals noch sehr jung. Heißt das, dass ich als Sklave hierher gebracht wurde?“
Amir Honak klatschte halb begeistert, halb gelangweilt Beifall, wie er es oft in der Gladiatorenarena zu tun pflegte.
Ich empfand nichts. Ob Sklave, Trossjunge oder Baronssohn - es war alles gleich. So sehr ich mich auch anstrengte, die Erinnerung kehrte nicht wieder.
„Warum? Warum ist das alles geschehen?“
``Gerade das war mir an dir unheimlich, Bishdarielon. Oder soll ich dich nun Alrik nennen ? Dass du immer gesprochen hast wie ein Herr, selbst dann, wenn du aufgetreten bist wie ein Diener. Wir können unsere Herkunft vielleicht eine Zeitlang vergessen, aber nicht ablegen wie einen verschlissenen Mantel. Als Grande ist mir dieses Problem durchaus vertraut. Wie auch immer, was geschehen ist, liegt beinahe zehn Götterläufe zurück. Es war eine andere Zeit damals. Mein Vater befürchtete wohl, dass es zu Spannungen mit dem Kaiserreich kommen könnte, wenn bekannt würde, dass ein Mitglied des mittelreichischen Hochadels in die al´anfanische Sklaverei verschleppt worden ist. Immerhin standen wir mit Gareth damals am Rande eines Krieges wegen dieser Geschichte in der Khom. Also hat er sämtliche Spuren beseitigt. Das heißt, beinahe sämtliche Spuren.“
Der Patriarch stand auf und ging langsam zu dem Tischchen, wo der schwarze, runenverzierte Stab lag.
„Die Entscheidung über dein Schicksal ist mir nicht leicht gefallen. Boron hat dazu geschwiegen, wie so oft. Ich will, dass du auf das vorbereitet bist, was dir nun widerfahren wird. Leicht kann der Geist eines Sterblichen unter einer solchen Erfahrung zerbrechen.“
Eine freudige Erregung überfiel mich, aber auch Furcht vor der unerwarteten Wendung, die mein Leben nehmen würde, ganz so, wie wenn man sich zum ersten mal mit einer unbekannten Schönheit verabredet hat.
Amir Honak nahm einen Klöppel, und schlug damit gegen einen Gong, der neben dem Tischchen stand.
Ein Soldat in der Uniform der Boronsraben, trat ein, den spitzen Helm unter den Arm geklemmt. Oderin du Metuant, mein Vorgesetzter, salutierte formvollendet und schneidig wie immer – ein gut geölter Mechanismus der Macht.
„Marschall-Gubernator, Ihr ward damals in der Khom anwesend, als es meinem Vater geruhte, dem Gemeinen Bishdarielon die Erinnerung an sein Vorleben auszulöschen. Seid so freundlich und teilt ihm mit, was wir darüber wissen.“
Mit schnarrender Stimme rasselte Oderin meinen Lebenslauf herunter: Die Entführung nach Sukkuvelani an Bord des Sklavenschiffes B a l p h e m o r, das ich Haussklave des Kapitäns Don Nestario Delgrano und dessen Gemahlin Lukrezia gewesen war, schließlich, wie ich in Unau vor ihn und Tar Honak gebracht worden war.
Ich hatte das Gefühl, als würde mir der kostbare tulamidische Teppich, auf dem ich stand und der vermutlich sogar aus dem Khomkrieg stammte, unter den Füßen weggezogen. Oderin du Metuant, mein Kommandant, hatte von Anfang an alles gewusst und all die Jahre geschwiegen? Das Ausmaß an Vertrauensbruch ließ mir übel werden. Aber ich hatte gelernt, mich auch in extremen Situationen zu beherrschen.
Oderin zog beiläufig ein zusammengefaltetes Stück Papier aus seinem Ärmel hervor: „Dieser Brief ist uns nach der Schlacht am Szinto in die Hände gefallen, bei einem entlaufenen Sklaven. Es gibt Grund zur Annahme, dass du ihn geschrieben oder zumindest diktiert hast, Bishdarielon.“
Emotionslos, als wäre es ein schriftlicher Befehl, überreichte er mir den vergilbten Zettel. Ich faltete ihn auseinander und überflog ihn. Es war zweifelsohne der Bericht eines jungen Baronssohns, aus irgendeinem Grund adressiert an den damaligen Großadmiral der Schwarzen Flotte, Darion Paligan.
Es war das naive Geplauder eines verwöhnten, machtgewohnten jungen Mannes, für den seine Reise in den Süden noch ein atemberaubendes Abenteuer gewesen war, ein unerhörtes Missverständnis, das spätestens in ein paar Monaten wieder berichtigt sein würde. Aus irgendeinem Grund erkannte ich mich tatsächlich darin wieder, und begriff sofort die Pointe: Ich hatte diesen Brief an mich selbst geschrieben. Nicht meine Eltern, nicht der Admiralissimus, ich selbst war aufgrund einer Laune Borons derjenige, der durch ihn von meinem Schicksal erfuhr. Dieser Junker Alrik, der also einmal ich gewesen sein sollte, hatte einen ausführlichen Bericht seiner Erlebnisse verfasst und auch Einzelheiten seines Lebens in Friedwang beigefügt.
Als ich durch die Tür zu den privaten Gemächern des Patriarchen getreten war, hatte ich mit allem gerechnet: Einer Beförderung, meiner sofortigen Hinrichtung, einem geheimen Sonderauftrag, ja, sogar mit einer intimen Verführung. Irgendwie traf das sogar alles auf einmal zu – und dann doch wieder nicht.
Ich lachte leise in mich hinein, schüttelte den Kopf und sah zum Patriarchen, der nun den Stab in Händen hielt, den Rabenkopf nach unten gewandt.
„Knie nieder, Bishdarielon. So es Borons Wille ist, wird er dir nun dein Leben als Alrik von Friedwang zurück geben.“
Ich fiel auf die Knie und der Brief entglitt meinen zitternden Händen.
Dann berührte mich das dünne Ende des Stabes, das eine schwarze Klaue zierte. Schon das Gefühl des Holzes, kühl, glatt und alt, weckte eine Erinnerung in mir. Unendlicher Frieden und Ewige Ruhe durchströmten meine Glieder, aber auch den Geist.
„Erinnere dich, wer du bist und wer du warst, bevor du das erste mal mit diesem Stab berührt wurdest!“
Bilder durchzuckten mich, das Gesicht des alten Patriarchen mit dem feinen Schnurbart. Und jetzt schafft ihn mir aus den Augen.
Einen Augenblick lang glaubte ich, Satinav würde den Strom der Zeit rückwärts fließen lassen – oder besser gesagt durcheinander wirbeln.
Ich hörte die Stimmen Tar Honaks und Oderins in meinem Kopf und doch irgendwie darüber hinweg hallen.
Ein Befehl von Euch, und er ist des Todes.
. . . und noch dazu ein halbes Kind.
Vergiss dein bisheriges Leben, wie du heißt und wer du warst!
Dann brach in dem Abgrund in meinem Innersten die lange verschüttete Quelle auf – erst wild und trübe, dann rein und kalt. Ihr kennt sicherlich das Gefühl, wenn einem siedend heiß etwas einfällt, was man lange Zeit vergessen hat, diese Mischung aus Schrecken, das man beinahe etwas Wichtiges versäumt hätte und Erleichterung, das es einem gerade noch rechtzeitig eingefallen ist. Es mag banal klingen, aber mich ereilte genau dieses Gefühl, wenn auch um ein Vieltausendfaches verstärkt. Grauen überkam mich, als ich erkannte, was ich verloren hatte. Unendliches Glück durchströmte mich, weil ich es endlich wiedergefunden hatte.
Alles war wieder klar und ergab einen Sinn. Die Nacht im Funduq von Unau. Selem. Das Ter-Rijßen-Archipel. Die B a l p h e m o r. Burg Rabenmund. Der Friedstein. Meine Mutter, Baronin Tsalinde Kalmanderia. Du wirst morgen Knappe unseres Herrn Answins sein. Ich bin sehr stolz auf dich, mein Sohn. Der kleine, dunkelgelockte Luitprand, wie er lachend von seinem Pony heruntergrüßte. Alrik, mein großer Bruder. Oder soll ich dich schon Hochgeboren nennen? Wenn ich groß bin, werde ich Kaufmann in Rommilys, das ist etwas viel besseres. Meine Schwester Gunelde, die mich am Brunnen mit Wasser bespritzte. Fang mich, wenn du mich kriegst. Fang mich doch. Zwischen ihr glockenhelles Lachen mischte sich die strenge Stimme der Zofe Hildelind. Nicht so ungestüm, Herr Junker. Ihr werdet Euch nur schmutzig machen. Vergesst nicht, ihr müsst immer ein Vorbild für die anderen zu sein . . .
Vergesst nicht . . . Vergesst nicht . . .
Ich sah den entsetzlichen Spalt, der durch meine Erinnerung und damit mein Leben ging, und ich erstarrte. Das Rad meines Lebens war zerbrochen, seine Hälften ließen sich nicht mehr zusammen fügen. So ähnlich musste der Moment des Todes sein. Statt mein wahres Leben wieder zu finden, hielt ich nun die Bruchstücke von zwei zerschlagenen Leben in Händen. Mein anderes Leben - wie viele Jahre lag das nun zurück? Zehn, nein, zwölf Götterläufe. Ihr gütigen Götter, warum habt Ihr mir das angetan? Es war wie in den Märchen, in denen der Held in die Feenwelt reist und nach seiner Rückkehr feststellt, das niemand aus der Familie oder von seinen Freunden mehr am Leben ist.
Nein, eigentlich war i c h tot.
Genaugenommen hatte ich nicht einmal mehr einen Tod.
Um tot zu sein, muss man zuvor gelebt haben – ein rundes, vollkommenes Leben.
Aber ich war nun nicht mehr Bishdarielon, der gnadenlose Rabengardist, der die Feinde des Patriarchen zur Strecke brachte. Ebenso wenig war ich Alrik von Friedwang, der hochmütige Junker, der selbst noch seine Entführer wie aufmüpfige Diener behandelt hatte. Als ich Knappe in Wehrheim gewesen war, hatte ich davon geträumt, als Ritter am Hofe eines weisen, gütigen Herrschers den Armen und Schwachen beizustehen, die Witwen und Waisen zu beschützen. Nun war ich ein Totschläger des sündigen Al´Anfa, ich hatte unschuldige Menschen, Männer, Frauen und Kinder verschleppt, ihnen die Freiheit, die Würde oder das Leben genommen, Grauen, Angst, Tod und Leiden in die Welt gebracht. Ihr heiligen Zwölfe, warum straft ihr mich so ?
Al´Anfa demütigt seine Bewohner Tag für Tag, aber selten traf das Wort von einem gebrochenen Menschen mehr zu wie auf mich in dieser Stunde. Hemmungslos begann ich zu schluchzen. Tränen rannen mir über das Gesicht. In diesem Augenblick war ich wieder der entführte Baronssohn, mochten seit der verhängnisvollen Nacht im Wehrheimschen auch noch so viele Götterläufe vergangen sein.
„Ich bitte Euch, Patriarch. Lasst mich in Travias Namen in die Heimat und zu meiner Familie zurückkehren ...“, hörte ich mich flehen und schämte mich zugleich für meine Schwachheit.
Halb mitleidig, halb geringschätzig sah mich Amir Honak an. Mit einem Degen stach er den Brief auf, der zu Boden geglitten war, und hielt ihn in eine der Feuerschalen. Das Papier verbrannte lichterloh, und der Patriarch zerstieß auch noch die Asche.
„Das geht nicht. Ich kann dich nicht nach Friedwang zurückkehren lassen, Alrik. Was der gekrönte Rabe einmal in Klauen hält, lässt er nie mehr los. Was hätte er auch davon? Hätte ich dich ohne Erinnerung zurückgeschickt, niemand hätte deine Geschichte geglaubt, wahrscheinlich nicht einmal du selbst. Nun, da Boron sie dir zurück gegeben hat, bindet dich nichts mehr an Al´Anfa. Vermutlich wirst du uns sogar hassen, für das, was wir dir angetan haben. Nun, daran sind wir gewöhnt. Aber warum sollten wir die Zahl unser Feinde im mittelreichischen Hochadel weiter vermehren? Der wichtigste Grund, dich nicht gehen zu lassen, ist jedoch dein Vetter Gernot, der vermutlich der nächste Baron von Friedwang sein wird. Wir machen gute Geschäfte mit ihm und brauchen in Friedwang keine Mirhamionette mehr.“
„Wenn das so ist, warum habt Ihr mich mein bisheriges Leben nicht einfach weiterleben lassen?“ In meine Verzweiflung mischte sich Wut. „Warum habt Ihr mir alles genommen? Mein Leben in Al´Anfa, meine Heimat, die Familie. . . Warum? Wegen Gernot? Um noch mehr Sklaven aus Darpatien zu erhalten?“
„Das sind zwei Fragen, Bishdarielon. Was die letztere betrifft: Natürlich geht es Al´Anfa nicht um ein paar Goblins oder Bauern, die uns dein Vetter liefert. Jedenfalls nicht nur. Die Golgariten breiten sich im Kaiserreich aus wie Gruftschimmel.“ Amir Honak wickelte gedankenverloren einen seiner Zöpfe um den Finger. „Dein Vetter hat mir zugesagt, gegen unsere erklärten Feinde vorzugehen - Alara sieht in ihrem Günstling schon den zukünftigen Grafen von Wehrheim. Ich benötige einen Verbündeten gegen die golgaritische Pest und das Silber, das Gernot der einzig wahren Kirche des Boron für ihr Schweigen bezahlt, enthält Spuren von Arkanium.“ Der Patriarch blickte wieder hinaus auf die Bucht.
„Warum ich mich vor dir rechtfertige? Nun, in der Staatskunst gibt es Dinge, die schlimmer sind als jedes Verbrechen - und das sind Fehler. Ich traue deinem Vetter nicht, der schon sein eigenes Blut verrät. Das tun wir Granden zwar auch, aber dafür bleibt das dann wirklich in der Familie.“
Der Hohepriester seufzte. „Was soll ich machen? Wahre Ehrenmänner sind selbst für Al´Anfa unerschwinglich.“
Scheinbar erheitert drehte sich Amir um. „Da fällt mir ein. Irschan Perval ist ganz verrückt nach diesem Gänsewein, den Junker Gernot uns schickt. Ist das nicht Grund genug, dass unser Freund und nicht du der nächste Baron von Friedwang wird?“
Francesco schmunzelte erstaunt. „Gernot hatte eine Affäre mit Alara Paligan? Der Kaiserwitwe?“
Alrik nickte: „Er war als junger Mann ein paar mal bei ihr in Garetien zu Gast, ja. Er hat sie weniger mit seiner Schönheit umgarnt als mit Gerede von einem goblinischen Ritual, das angeblich Unsterblichkeit schenken soll. Es heißt, das er damals sogar Jakuutska mit nach Schloß Tolakstein geschleppt hat, du weißt schon, die Schamanin der Njakuul. Tja, unser Vetter war wirklich nie wählerisch, was seine Verbündeten anging. Letzten Endes war das alles eine einzige Posse: Das Versprechen der Kaiserin, Gernot einmal zum Grafen von Wehrheim zu machen, galt wohl soviel wie dessen Versprechen, der Schwarzen Witwe die ewige Jugend und Schönheit zu erhalten. Aber er hatte seit damals durchaus einflussreiche Freunde am Kaiserhof, die ihre schützenden Hände über ihn hielten. Sonst hätte Helme Haffax, der tatsächliche Graf von Wehrheim, Gernots Eskapaden nicht so lange tatenlos zugesehen.“
Nach der Enthüllung des Patriarchen stand ich kurz davor, verrückt zu werden.
„Soll das heißen, Ihr deckt diesen Schurken – wegen saurem Wein aus Gießenborn?“ Ich schrie ihn beinahe an.
Amir ging zu einem Kanapee und goß sich etwas in einen edelsteinbesetzten Becher: „ Sprich nicht so schlecht über euren Rebensaft. Al´Anfaner lieben alles, was hell ist, einen herben, einfachen Geschmack besitzt und Charakter hat. Eben das, was unserem süßen Leben in der Schwarzen Perle fehlt. Ich probiere Irschans Liebling heute zum ersten mal. Möchtest du einen Schluck?“
Ich schüttelte kraftlos den Kopf.
Amir zuckte gleichgültig mit den Schultern und nippte an dem Wein. Dann verzog er leicht das Gesicht. Wein schwappte über die Hände des Patriarchen, als er den Kelch wegstellte. Mit einem parfümierten Tüchlein reinigte er sich die Finger.
„Ihr hattet Recht, Oderin, er verträgt unser Klima nicht. Nun zu deiner ersten Frage. Ich habe dich eingeweiht, weil ich möchte, dass du meine Entscheidung verstehst, dich aus dem Orden des Schwarzen Raben auszustoßen. Glaub mir, ich weiß deine Dienste zu schätzen, Bishdarielon. Du hast mir, wenn nicht das Leben gerettet, so doch zumindest die Kosten für einen teuren Heiler erspart. Dennoch sehe ich nun, dass mein Vater seinem ersten Gedanken hätte folgen und dich als Sklaven weiterleben lassen sollen. Du warst nie dazu berufen, ein Soldat Al´Anfas zu sein, geschweige denn, im Orden des Schwarzen Raben zu dienen. Ein Mann ohne Erinnerung, ohne Herkunft, Namen, Glauben, Halt, Gewissen oder Treue. Im Grunde warst du nicht besser als ein Untoter.“ Jähen Abscheu, ja, Hass schleuderte mir der schöne, grausame Mund des Patriarchen entgegen.
„Machen wir es kurz und schmerzlos. Du kannst nicht länger Boronsrabe sein. Nehmt Eurem Gardisten die Waffe ab, Oderin.“
Der Marschall-Gubernator zog mir den Rabenschnabel aus dem Gürtel. Ich war unfähig mich zu rühren und ließ alles mit mir geschehen. Alles schien völlig unwirklich zu sein – ein Alptraum, der mich gar nicht betraf.
„Ihr kennt meine Meinung dazu, Erhabener“, hörte ich Oderin ohne jede Gefühlsregung sagen.
„Ja. Exekutieren oder zumindest die Zunge herausschneiden, das waren Eure Worte. Aber das hieße nun wirklich, gut geleistete Dienste schlecht zu vergelten. Man kann Al´Anfa vieles nachsagen, nur das nicht. Außerdem hat sich Don Timotheo ein Druckmittel ausbedungen, falls diesem Gernot einfallen sollte, nicht mehr zu liefern. Er sollte also nach Möglichkeit seine Zunge behalten.“
Langsam begriff ich, was hier gespielt wurde. Ich muss Oderin wohl entrüstet angestarrt haben, denn der Ordensgroßmeister lächelte kalt zurück: „Gefühle sind dazu da, aufgebraucht zu werden, Alrik.“
Es war gar nicht einmal die wilkürliche Entehrung, die mich nun traf wie Uthars Pfeil. Ich fühlte mich wie ein Sohn, der erfahren musste, dass die Menschen, die er für seinen Vater oder seine Mutter gehalten hatte, gar nicht seine leiblichen Eltern waren. Die Heilige Kirche des Raben von Al´Anfa war immer wie eine Mutter für mich gewesen, ebenso wie der Marschall-Gubernator für mich eine gleichermaßen bewunderte wie gefürchtete Vaterfigur dargestellt hatte.
All das fiel nun von mir ab. Es ist seltsam, dass man das Unrecht, das anderen widerfahren ist, oft erst erkennt, wenn einem selbst Unrecht geschieht, nicht wahr?
„Ich weiß, meine Entscheidung muss dir hart erscheinen“, sagte der Patriarch mit einer Stimme, die Anteilnahme heuchelte. „Aber mit der Zeit wirst du sie verstehen, Alrik von Friedwang“. Die kaum unterdrückte Belustigung bei meinem Namen strafte seine Worte Lügen. „Vergiss außerdem nicht, dass du mir bei Boron Gehorsam geschworen hast. Als dein Patriarch befehle ich dir, keinem Dritten auch nur ein Wort darüber zu berichten, was in diesem Raum gesprochen worden ist. Desweiteren wirst du das Al´Anfanische Imperium nicht mehr verlassen. Solltest du dich nicht an deinen Schwur halten, lässt sich meine Entscheidung, dein Leben zu schonen, jederzeit widerrufen.“
Ich blickte zum Marschall-Gubernator. Vermutlich sah ich bemitleidenswert aus, denn Oderin schien es nun doch ein wenig schwer ums Herz zu werden.
„Ist schon in Ordnung, Bishdarielon“, sagte mein ehemaliger Ziehvater mit rauer, begütigender Stimme. „Du hast keinen Fehler begangen. Du w a r s t der Fehler.“
Ein prustendes, empörtes Kichern entrang sich meiner Kehle. Kopfschüttelnd wandte ich mich ab.
Erneut schlug Amir gegen den Gong, kurz und heftig.
Waffenklirrend traten zwei Ordensritter ein.
„Wachen! Bruder Bishdarielon ist wegen, sagen wir, Pflichtvergessenheit aus dem Orden ausgestoßen und zur lebenslangen Sklaverei verurteilt. Nehmt ihm die Rüstung ab, legt ihn in Ketten und bringt ihn zur Plantage des Don Timotheo. Sagt dem Sklavenhändler, bei Alrik handelt es sich um eine kleine Aufmerksamkeit des Patriarchen. Er wird dann verstehen. Und sagt dem Sklaven, er kann den Tee jetzt servieren. Trinkt Ihr eine Tasse mit, Marschall-Gubernator? Ich habe gehört, der Ongalo Hochland Erste Ernte Blattspitzenauswahl wird auch am Garether Kaiserhof gerne getrunken. . .“
Ich hörte wie aus weiter Ferne die Worte, aber ihren Sinn verstand ich noch nicht recht. Dann spürte ich, wie sich zwei gepanzerte Hände auf meine Schultern legten. Ich kannte die beiden Wachen gut. Noch vor einer Stunde hatte ich mit ihnen gescherzt und zu Abend gegessen. Nun führten mich meine Kameraden wie einen Schwerverbrecher hinaus.
Eine halbe Stunde später saß ich mit Ketten gefesselt in der Kutsche, mit der wir so oft Gefangene aus der Umgebung von Al´Anfa in die Stadt des Schweigens gebracht hatten. Nur langsam erwachte ich aus meiner Benommenheit. Im Grunde war die Situation die genaue Umkehrung der Nacht in Unau. Ich konnte mich immer klarer und deutlicher an mein früheres Leben erinnern. Dafür lag nun vor mir das schiere Nichts. Ab heute würde die Erinnerung an einen Ritter Bishdarielon in der Stadt des Schweigens ausgelöscht sein.
Nach einigen Stunden kamen wir dann auf der Plantage an, die ja auch du nur zu gut kennst, Francesco.“
Alriks Bruder pfiff leise durch die Zähne: „Dass mich doch der Namenlose - ein verstossener Boronsrabe! Daran hätte ich damals nun wirklich als letztes gedacht. Warum hast du mir nie davon erzählt?“
„Hätte ich mitten in einem Sklavenquartier damit prahlen sollen, das ich selbst einmal Sklavenjäger und ein Häscher des Patriarchen gewesen war? Ich wollte doch nicht eines Morgens mit einem Dolch in der Kehle aufwachen. Und meine wahre Geschichte hätte mir ohnehin niemand geglaubt. Außerdem hatte mich der Patriarch zum Schweigen verpflichtet.“
„Unglaublich! Und ich hätte schwören können, sie hätten dich geradewegs vom Sklavenmarkt in die Barracke geschafft.“
„Nun, als ich in der Kutsche saß, kam mir erst die ganze Tragweite des Geschehens zu Bewusstsein. In der Stadt des Schweigens hatte ich noch einigermaßen die Fassung bewahren können, wie ein Betrunkener, der instinktiv den Anschein erwecken möchte, alles sei normal und in bester Ordnung. Nun wich der Rausch dem Katzenjammer. Ich warf mich schreiend und tobend wie ein wildes Tier gegen die Wände meines Gefängnisses, schlug mit den Ketten gegen die Wachen und wurde brutal zusammengeschlagen. Kaum war ich auf der Hacienda angekommen, ging es auch schon weiter. Die Aufseherin hatte wirklich einiges Talent, einen Menschen so zu schlagen, dass er vor Schmerz hab irrsinnig wird, aber kaum bleibende Spuren davon trägt. Gewehrt habe ich mich bis zuletzt, obwohl ich natürlich wusste, dass es sinnlos war. Erst, als mich jemand mit dem Dolch niederstach, verlor ich das Bewusstsein. Als ich wieder erwachte, stand ich schon am Sklavenpfahl, umschwirrt von tausend Moskitos, zerstochen, blutig geschlagen und das Hirn von der glühenden Sonne gemartert. Dich habe ich damals noch nicht gesehen, nur gehört, wie sie dich neben mir ausgepeitscht haben. Warum eigentlich?“
„Vermutlich aus dem gleichen Grund wie bei dir: um meinen Willen zu brechen. Diese blöde Schlampe Samira. Die wollte doch nur Gefälligkeiten erpressen, wie sie Aufseherinnen immer wollen. Diese Schickse! Wahrscheinlich sitzt sie heute in Oron und verprügelt Kahlschädel. . .“
„Ohne deine Liebeskünste anzweifeln zu wollen, Francesco.“ Lacertinus lächelte, blickte aber rasch wieder ernst. „Diese Behandlung hattet Ihr allein Merwan zu verdanken. Er wollte sich an euch rächen – auf ganz perfide Art und Weise. Die Misshandlungen waren erst der Anfang.“
„Tja, als sie mich damals folterten – anders kann man es nicht bezeichnen – dachte ich eher an Gernot. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er persönlich aufgetaucht wäre. Schließlich haben sie mich in den Sklavenstall geworfen. Dort hast du dann schon gekauert, Francesco.“
„Ja, ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre. Naja, in Hochstimmung befand ich mich damals auch nicht gerade, immerhin war ich kurz zuvor noch umjubelter Gladiator in der Arena gewesen. Tja, hätte ich bei dem Wettbetrug mitgemacht, wie es Rahjadan Bonareth wünschte, und gegen den tumben Chorhoper verloren ... Die ersten zwanzig Peitschenhiebe stammten von Rahjadan, diesem Schwein. Sogar ins Muränenbecken haben sie mich geworfen, na ja, zum Glück waren die Biester gerade gefüttert. Kleiner Scherz. Dann hieß es: ab sofort ein Leben als Schindsklave auf der Plantage. Es gibt Erbaulicheres. Aber du sahst aus wie das nackte Elend, nicht nur wegen der Blessuren. Die einzige Ähnlichkeit, die mir damals aufgefallen ist, waren wirklich unsere geschundenen Leiber. Als ich dein halbes Ohr gesehen haben, dachte ich zuerst, Samira hätte es dir mit der Peitsche abgeschlagen. Halbohr, so haben dich die anderen genannt. Warst wirklich völlig runter, vor allem mit den Nerven. Fertig mit den Göttern und der Welt. Erst nach ein paar Tagen ging es dann langsam wieder aufwärts.“ Der Streuner kippelte mit dem Stuhl.
„Merwan . . .“ Francesco nagte an einem Fingernagel. „Ich erinnere mich, dass er eines Nachts vor der Gittertür stand, bleich wie das Madamal, das über ihm schien. Schwarze Robe, klauenartige Finger. Ich hielt das für einen Alptraum. Die Mohas flüsterten von einem bösen Geist, der nächtens umherging, um ihnen den Tapam zu rauben“.
„Ganz unrecht hatten sie damit nicht.“ Lacertinus legte mehre Holzscheite ins Feuer, das hell und knisternd hochzubrennen begann. Langsam wich die Dunkelheit wieder dem Licht. „Das ist seine Profession: Seelen für seinen Götzen zu stehlen.“
„Nun, ich ahnte bald, dass auf dieser Plantage etwas nicht stimmte – ich meine, neben den Dingen, die in meinem Leben ganz offenkundig nicht mehr stimmten.“ Alrik drehte das Weinglas in der Hand.
„Da war dieser Wächter, Manolo, wie er hieß. Hatte eines Abends dieses Amulett um den Hals – ein Rabe mit einer Beere in der Klaue. War ihm offenkundig unangenehm, dass ich es gesehen hatte. Das Zeichen des Seelenraben V`Sar, ganz eindeutig. Und dann die Sklaven, die hin und wieder verschwanden, um nicht wiederzukehren. Gerade die, die fleißig, gesund und kräftig waren. Die Mohas, die wiederkehrten, starr und völlig weiß auf einer Tragbahre, mit blutüberströmten Hälsen. Die jungen Al´Anfaner, die manchmal nachts mit bleichem Gesicht und völlig orientierungslos über das Gelände irrten, und wieder eingefangen werden mussten. Für mich war klar, dass das hier ein Nest von Visarianern war, und zwar der übelsten Sorte.“
„Ja, aber selbst dieses kleine Geheimnis von Dom Timotheo war nur eine raffinierte Tarnung, eine aranische Wand, hinter der sich noch weitaus gräulichere Dinge ereigneten.“ Lacertinus goss sich noch etwas Wein nach. „Es ging darum, mit finsteren Ritualen Seelen für den Namenlosen anzulocken. Der vorgeschobene Visarkult sollte nur die Hemmschwelle von marbiden Kaufmannstöchern oder gelangweilten Grandensöhnchen senken. Hinter diesem äußeren Zirkel lag dann das eigentlichen Rattennest verborgen. Im Grunde macht es Merwan in der Schwarzen Sichel nicht anders, aber dort ist es der verfälschte Kult der Sokramor, mit dem er die Neugierigen und Leichtsinnigen in ihr Verderben lockt.“
“Dom Timotheo, ja. Nach zwei Wochen habe ich ihn das erste mal seit Wehrheim wieder gesehen, draußen auf der Zitabhar-Plantage, wo ich und die anderen Sklaven einen Bewässerungsgraben für das Rauschkraut gruben. Ließ sich in einer Sänfte vorbeitragen, die von mehreren blonden Sklaven getragen wurde, eindeutig Mittelländer und sich untereinander ziemlich ähnlich. Ich hielt das Sammeln von Doppelgängern für eine Marotte von ihm. Wie auch immer, ich erkannte ihn sofort, auch wenn er in der Zwischenzeit fett geworden war und auch sonst ziemlich verlebt aussah. Timotheus hatte sich grell geschminkt wie eine Hafenhure, und trug protzige Ringe an jedem seiner Wurstfinger, mit denen er sich über seidene, grellbunte Gewänder strich. Ansonsten war er wirklich noch der Alte.“
Er musterte mich ausgiebig.
„Schöne Grüße von Gernot“, sagte er dann, und es klang lauernd.
Ich antwortete nicht, sondern reckte trotzig das Kinn vor.
„Sicher freut es dich zu hören, dass dein Vetter bald der nächste Baron von Friedwang sein wird.“ Timotheos Blick glitt über meinen Körper - voller pervalischem Genuss, aber irgendwie auch bohrend, forschend und fasziniert.
„Gernot?“ rief ich aus. „Meine Familie wird nicht zulassen, das dieser Schurke jemals auf den Steinbockthron kommt. Wenn überhaupt, wird Gunelde Baronierbin werden, sobald ich für tot erklärt bin.“
Der Sklavenhalter schmunzelte, halb überrascht, halb zufrieden. Dann sah er mich mitleidig an: „Gunelde wurde von deiner Mutter enterbt.“
„Enterbt? Aber. . . Unmöglich. Warum sollte Mutter so etwas tun?“ Ich war endgültig verwirrt. „Und woher wollt Ihr das wissen?“
Don Timotheo hob einen Brief hoch, den er affektiert zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand hielt.
„Ich erhalte regelmäßig Nachricht aus Darpatien. Es ist wirklich amüsant, zu verfolgen, was in deiner ehemaligen Heimat Friedwang so vor sich geht. Als würde man kleine Wollschweinchen in einer Kiste beobachten.“ Dom Timotheo deute mit der linken Hand ein Krabbeln an. „Al´Anfa ist wie ein großer Bruder. Der Rabe, der einen immer und zu jeder Zeit im Auge behält – auch dich, mein lieber kleiner Alrik.“
Der Händler wedelte sich mit dem Brief Luft zu.
„Wie auch immer, Gunelde ist mit einem Bauernburschen aus . . .wie hieß das Dorf noch gleich? Zappelstein?“
„Zippelsteen ?! Das liegt in Gallys!“ entfuhr es mir.
„Richtig, Zippelsteen. Sie ist mit so einem Bauerntrottel aus Zippelsteen durchgebrannt. Aus Zippelsteen! Warum haben unsere Dörfer nicht derartig possierliche Namen ?“
Der dicke Mann kicherte schweratmig in seinen Fächer hinein.
Es fehlte nicht viel, und auch ich hätte lauthals aufgelacht.
„Mit einem Gallyser davongelaufen? Meine hochnäsige Schwester? Das glaubt Ihr doch selbst nicht!“
Ich hatte bis zu diesem Moment vergessen, was mir Gernot in der Räuberhöhle erzählt hatte. Nun fiel es mir wieder ein. So hatte er es also doch geschafft, seinen verrückten Plan mit dem Liebestrank in die Tat umzusetzen.
„Nun gut. Einmal vorausgesetzt, es stimmt, was Ihr mir erzählt, dann wird eben der kleine Luitprand Baron. Aber ganz sicher nicht mein schurkischer Vetter!“
„Luitprand? Ach ja, dein jüngster Bruder. Der wurde schon vor einigen Jahren versilbert. Ich hielt das um meiner Freundschaft mit Gernot willen für zweckmäßig. Meine Meuchlerin hat den Stoffballen, der deinem Bruder bei seinen Anfällen zwischen die Zähne geschoben wurde, mit Kukris getränkt. Ein Gift, dass seine Opfer unter entsetzlichen Krämpfen tötet. Hesindial, nicht wahr?“
Ich starrte meinen Gegenüber entsetzt an:
„Das....nein, das glaube ich nicht!“
„Hör auf, herumzujammern, Sklave. Du verdirbst mir noch die gute Laune mit deinem melancholischen Blick. Früher oder später hätte die Schüttelsieche deinen Bruder ohnehin dahingerafft!“
„Ihr habt. . ..Luitprand ermordet?! Du verdammtes Schwein hast meinen Bruder umgebracht. . .??!!!“
Ich schrie und hob die Hacke in meinen Händen. Der Aufseher neben der Sänfte legte seine Hand auf den Schwertgriff .
„Isch mach disch Boronanger!“ nuschelte der Söldner, dem Aussehen, der Rüstung und dem Khunchomer nach ein Novadi.
„Lass gut sein, Abdul. Eine Stunde im Praiostempel dürfte für diese Unbotmäßigkeit genügen.“
Der „Praiostempel´“ war ein hölzerner Schwitzkasten, in dem Sklaven für kleinere Vergehen ein paar Stunden der sengenden Hitze und dem Luftmangel ausgesetzt wurden.
Ich senkte die Hacke wieder. Als ehemaliger Rabengardist wusste ich instinktiv, dass mich Timotheos Leibwächter töten würde, bevor ich auch nur in die Nähe der Sänfte kam. Tränen der Trauer und der ohnmächtigen Wut rannen mir über das Gesicht.
„Ich mag Schweine. Sie werden von dem fett, was sie im Dreck finden, genau wie ich“.
Schnaufend tupfte sich Dom Timotheo mit einem seidenen, goldbestickten Taschentuch ein paar Schweißtropfen von den Wangen. Da er dabei seine Schminke verwischte, sah er danach aus wie ein Farbtopf.
„Was nun deinen Bruder betrifft: Glaub mir, der Tod war für ihn eine Erlösung. Oft klammern wir uns, wie soll ich sagen, krampfhaft an ein Leben, das in Wahrheit gar nicht mehr lebenswert ist.“
Timotheo glotzte mich an: „Jetzt hasst du mich, nicht wahr, Sklave? Hältst mich für grausam und unmoralisch. Schau dich doch einmal um.“ Unbestimmt deutete der Händler auf die Felder, wo vielerorts der Zitabhar bereits zu sprießen begann. „Das Rauschkraut, das hier heranwächst, wird Menschen ebenfalls die Freiheit nehmen, sie vergiften und womöglich gar töten. Hat es deswegen ein schlechtes Gewissen? Nein, die Götter haben es so geschaffen, wie es eben ist. Drogen bringen uns schleichend um und belügen uns zugleich darüber, deswegen liebe ich diese borongefälligen Pflanzen. Und du hilfst mir sogar dabei, sie anzubauen, ebenso wie die übrigen Sklaven. Also bist du ebenfalls mitschuld am Leiden und Sterben anderer Menschen. Aber natürlich tust du das nur, weil du dich vor den Peitschen und den Sklaventods meiner Wachen fürchtest. Ich mag der Schurke sein, aber du bist ein Feigling. Abdul, falls er noch einmal die Hacke über den Gürtel hebt, schlag ihm den Kopf ab.“
Ich ließ das Ackergerät kraftlos sinken. Timotheo hatte recht. Ein heldenhaftes Aufbegehren, der Versuch, edle Rache zu nehmen – all das machte für jemanden in meiner Lage keinen Sinn.
„Ist wenigstens meine Mutter noch am Leben ....?“ hörte ich mich tonlos fragen.
„Am Leben schon. Allerdings hat das Rauschkraut, das ihr Gernot regelmäßig in den Wein mischen lässt, ihr die Sinne verwirrt, so dass euer Graf sich leider gezwungen sah, sie zu entmündigen. Die irre Tsalinde, so nennen sie deine Mutter jetzt. Gernot ist ihr Vormund und de facto Herr der Baronie. Du siehst, mein guter Freund wird also ziemlich sicher ihre Nachfolge antreten.“
Ich schüttelte den Kopf und raufte mir in einem fort die Haare. Es fehlte nicht viel, und ich wäre selbst ein Fall für die Noioniten geworden.
Dom Timotheo beobachtete mich noch immer mit einer Mischung aus Zufriedenheit und Faszination, die ich nicht recht verstand.
„Gernot wird euch früher oder später verraten“, sagte ich leise, „ob ihr mich nun als Druckmittel in der Hinterhand behaltet oder nicht.“
Mein Herr öffnete ein kleines Döschen, zog eine rosenfarbene Pille hervor und lutschte sie wie ein Bonbon.
„Rede keinen Unsinn. Deinen Vetter zu Schandtaten zu erpressen, ist wie eine Dirne zur Unzucht zu verführen.“ Der Sklavenhändler gluckste. „Wer sagt, dass du als Druckmittel hier bist?“
„Seine Ehrwürdigste Erhabenheit, der Patriarch von Al´Anfa.“
Ein Schatten zog über Timotheus weibisches, von Wein und Rauschkraut aufgedunsenes Gesicht. „Mein süßer kleiner Amir, wieviel weiß er schon von den Dingen, die außerhalb seines geliebten Al´Anfa vor sich gehen.“
Aus dem Abgrund meiner Gefühle begann erneut Zorn emporzusteigen. „Gewisse Geheimnisse würden ihn sicherlich brennend interessieren“.
„Er hätte seinen kleinen Timo einfach nicht fallen lassen dürfen“, grunzte mein Herr, ohne auf die Anspielung auf den Visarkult einzugehen. „Nicht für die Laffen, mit denen er sich jetzt umgibt. Amir hat mir das Herz gebrochen, aber ich liebe ihn noch immer. Immerhin leistet er sich mir gegenüber ein schlechtes Gewissen –auch und gerade für einen Silberberger ein horrender Luxus.“
„Und Ihr solltet Euch einmal den Luxus eines Spiegels leisten“, rutschte es mir heraus. Erst dann wurde mir klar, das man mich jetzt für derartige Frechheiten ungestraft töten konnte.
„Ich verabscheue Spiegel, aber der Meister will nicht, dass ich sie verhängen lasse. Das macht er nur, um mich zu quälen, um mich zu seinem düsteren Abgott zu verführen. Ich hasse ihn, ich versuche mich zu wehren, aber er ist mächtig. Er hat versprochen, mir meine Jugend und Schönheit zurückgeben. Dann muß Amir . . .“
Eine fleischige Hand krallte sich in den Vorhang der Sänfte. Schweiß rann Timotheo über das zerstörte Gesicht. „Weißt du denn nicht, dass einem im Spiegel die Geister der Toten ansehen? Vor allem im Festsaal . . .“
Don Timotheus glotzte mich durchdringend an, als wäre ich ein solches Gespenst. Ich merkte, dass er gerade eben Rauschkraut eingenommen hatte, das nun zu wirken begann.
„Wer weiß, vielleicht werde ich auch dich zu irgendeiner Boronsstunde darin erblicken“, sagte er mehr zu sich selbst als zu mir. „Ein hübsches Gesicht. Schade, dass der Meister dich für sich ausbedungen hat – dich und . . . den anderen. Genieße dein Leben, Sklave, bis E r zurückehrt. Vor allem, sorge dafür, dass der Bewässerungsgraben bis heute abend fertig wird. Dann werde ich dir den Praiostempel erlassen.“
Mit diesen Worten verschwand Timotheo wieder in der Sänfte und gab mit einem Klatschen Befehl, ihn davonzutragen.
Wie betäubt blieb ich zurück. Ich machte mich wieder an die Arbeit, schlug die Hacke in den Boden und versuchte um Luitprand zu weinen, aber es gelang mir nicht. Auch wenn ich wenig bis gar nichts von dem zuletzt Gesagten verstanden hatte, ahnte ich, dass mein eigenes Leben – und vielleicht mehr als das – sich in höchster Gefahr befand. Bislang hatte mich die wage Hoffnung umgetrieben, freigelassen zu werden, sobald sich Gernot mit seinen Al´Anfaner Verbündeten überwarf. Nun spürte ich, dass Dom Timotheo und dieser merkwürdige „Meister“ mehr waren als das: sie waren seine Puppenspieler. Wie auch immer, der Graben wurde bis Sonnenuntergang fertig und mir die Schwitzhütte erlassen. Ich hatte meinen ersten Schritt ins Sklavendasein vollendet. Dennoch war ich in den ersten Wochen davon überzeugt , bald Gelegenheit zu einer Flucht zu finden. Ich träumte davon, als rächender Dämon nach Friedwang zurückzukehren und Gernot zu bestrafen. Am besten, ihn von Hunden zerfleischen zu lassen – wie es dem Heiligen Alboran geschehen sein sollte, vor dessen Ende ich mich als Kind immer so gefürchtet hatte.
„Aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen Monate, ohne das wirklich etwas Aufsehenerregendes geschah. Die Mohas sahen mich und Francesco am Anfang etwas seltsam an, als läge ein Fluch über uns, aber mit der Zeit kamen wir ganz gut mit ihnen aus. Am Ende waren wir gut ein halbes Jahr auf Gut Liro, nicht wahr? Bei meiner Treu´, letzten Endes sind es nicht die Peitschen, Sklaventods oder Bluthunde, die einen Sklaven von der Flucht abhalten. Nicht einmal der Gedanke an die grüne, dampfende Hölle des Dschungels um uns herum. Nein, es ist vor allem die Macht der Gewohnheit, die ihm irgendwann jeden avesgefälligen Freiheitsdrang raubt. Unsere Leidensgenossen jammerten viel über ihr Schicksal, aber kaum jemand dachte ernsthaft daran, sich aus dem Staub zu machen. Das Leben als Sklave hat ja auch seine Annehmlichkeiten, so merkwürdig das klingt: Man hat einen geregelten Tagesablauf, das Essen war dank der Kochkünste von Mama Wupa und Onkel Bensaris nicht schlecht und Peitschenhiebe gab es eher selten. Nur Moskitos jede Menge. Aber Jastek, der zweite Aufseher hatte schon recht, auch wenn er ständig zum Flachmann griff: Viele Manufakturbesitzer im Horasreich oder sewerische Bronnjaren behandeln ihre Leute schlechter. Letztere Unfreie sind schon in der Seele Sklaven, erstere an den Geldbeutel gekettet, wie Jastek, unser Philosoph, so schön sagte. Wir Sklaven Al´Anfas hingegen waren Gefangene des Schicksals, was ja etwas Tröstliches und Würdevolles hat. Irgendwann ist jeder Sklave soweit, dass er sich vor der Freiheit zu fürchten beginnt, ob die Welt da draußen nun aus einem Urwald oder dem Dschungel der Großstadt besteht. Heute glaube ich, dass es auch die Ausdünstungen der Rauschkraut-Plantage waren, die uns mit der Zeit gleichgültig machten. Gleichgültig und wahrscheinlich auch süchtig - nach einem Dasein als Sklave. Als damals die Keilerei mit den betrunkenen Mohas begann, hätte ich nie daran gedacht, schon eine Stunde später mit Francesco durch die Pflanzungen zu hetzen.“
„Ja, aber lustig war´s schon.“ Francesco krümelte den restlichen Tabak in seine Pfeife, zündete ihn an und begann wieder zu rauchen. „Wenn ich überlege, was wir in dieser Nacht für einen Dusel hatten. Es gab bereits Gerüchte, wonach dieser Tapamfresser oder `Meister´, wie du ihn nanntest, auf die Plantage zurückgekehrt war. Irgendwie hatte ich´s in der Pisse, dass das Unheil bedeuten würde. Samira, diese Raubkatze, hätte uns nie entwischen lassen. Zum Glück war es Jastek, der uns zum Heiler brachte. Wieder mal voll bis Oberkante Unterkiefer. Das einzige, was der noch fertigbrachte, war, sich davon kaum etwas anmerken zu lassen. Naja, und als die Tür zur Plantage, die eigentlich nur am Tag und für verletzte Arbeiter geöffnet werden durfte, im Nachtwind auf und zu schlug, habe ich den Aufseher einfach beiseite gestossen und bin losgerannt. Du warst wenigstens noch schlau genug, das Messer mit zu nehmen. Jastek ist dann noch einige Schritt hinterher getorkelt, über eine Wurzel gestolpert und ins Dornicht gefallen. Das beste war sein Gesicht, als ich ihm Rabenfraß abgenommen habe. Er muss wirklich geglaubt haben, ich werde mich nun für seine Schikanen rächen. Stattdessen habe ich ihn noch ein paar Spann tiefer in die Dornenhecke getreten.“ Der Streuner versteckte sein pervalisches Lächeln hinter einer Rauchwolke.
„O Mann, wenn die uns damals lebend zurück gebracht hätten. . . Aber mit dieser Kusliker Klinge in der Hand fühlte ich mich unbesiegbar. Es war einfach . . . ein unbeschreibliches Gefühl, plötzlich durch den nächtlichen Dschungel zu laufen, und ... jede Richtung einschlagen zu dürfen, die man wollte . . . Am liebsten wäre ich durch den Urwald getanzt und hätte nur noch gejauchzt.“
„Ja, die Spuren, die ihr hinterlassen habt, müssen mehr als deutlich gewesen sein“, meinte Lacertinus. „Zum Glück ward Ihr schlau genug, erstmal durch die Zitabhar-Plantage zu laufen. Da hätte man zwar auch meinen können, eine Herde Waldelefanten wäre hindurchgetrampelt. Aber dafür dauerte es dann auch mehrere Stunden, bis die Zornbrechter mit ihren feinen Nasen wieder einigermaßen gerade aus laufen konnten. . . .“
„Ja, für die Köter muss das auch eine rauschhafte Nacht gewesen sein.“
Die drei Männer lachten spitzbübisch. Selbst Lacertinus vergass für einen Moment, was er in dieser Nacht erlebt hatte.
„Tja, und als am nächsten Abend der Platzregen hereinbrach, waren wir fürs erste gerettet“, meinte Alrik. „Bis wir dann in die Nähe des Oberen Jalob kamen. Da hatte uns der tsaverfluchte Regenwald schon ganz schön klein gekriegt. Moskitos, Blutegel, Fieber . . . Ich war fast schon dankbar, als die Sklavenjäger kamen. Wenigstens nicht an Durchfall oder Würmern krepiert, war mein letzter Gedanke. Na ja, auch nicht gerade rondrianisch. Über allem anderen liegt eine Art roter Nebel. Als ich wieder richtig zu mir kam, lag ich schon in einer der Laubhütten der Chapewahas. Ake-Tscheya sagte später, ich hätte mich auf der Lichtung noch mit ihr unterhalten, aber ich konnte mich nicht einmal mehr an eine Lichtung erinnern. Anscheinend hat sie mir dort irgendsoeinen mohischen Heiltrank eingeflößt: Pa-Shu, wie sie es nannte. Dennoch schwebte ich mehrere Tage zwischen Leben und Tod. Uguna, der Medizinmann, hat mich langsam wieder aufgepäppelt. Hat mir so Blattschneiderameisen auf die Wunden gesetzt, die sie mit ihren Kiefern zugeklammert haben, und ihnen dann die Köpfe angedreht. Oder mir das Essen und Heilkräuter vorgekaut und in den Mund geschoben.“ Alrik schauerte einen Moment. „Als ich dann das erste mal in diesen Teich geblickt habe, sah ich mit meiner kaputten linken Hand und den Schmissen im Gesicht immer noch aus wie ein Warunker Zombie. Aber Ake-Tscheya meinte, die Narben stünden mir gut – und nicht nur die . . . Viele junge Krieger der Chapewahas ließen sich Schmucknarben stechen, die auf mich ähnlich abstoßend wirkten wie mein eigenes Aussehen. Sie bewunderten mich, weil ich einen der Zornbrechter Bluthunde getötet hatte, die sie fürchteten. Honto-Wakente, der Häuptling, schien sogar stolz zu sein, dass seine Tochter mich dazu ausersehen hatte, mit ihr die Bastmatte zu teilen. Ich liebte Ake-Tscheya, ihre schwarzen, leicht gelockten Haare, ihre bronzefarbene Haut, den feurigen Pardelblick. Auch wenn sie ein Kind des Dschungels war. Ach ja, von dir habe ich nach einiger Zeit auch wieder gehört. Ein Späher berichte, die Tschitschewan hätten einen weißen Mann aufgenommen, der wie ich einen Hundekopf auf der Schulter trug und mir auch sonst ziemlich ähnlich war. Dies schien die Chapewahas doch etwas zu beunruhigen. Am liebsten hätte ich dir eine Nachricht zukommen lassen, aber ich rang selbst noch viele Tage mit dem Tod. Das Verhältnis der beiden Stämme stand nicht zum besten, und irgendein Tabu erforderte, das man kein Wort miteinander sprach. Sie schienen wie Hund und Katz zu sein, buchstäblich: Unser Totemtier war der Jaguar, das der Tschitschewan, die offenbar Feinschmecker waren, ihre Lieblingsspeise Hund. Im Gegenteil, ich musste meinen Gastgebern sogar versichern, das du und ich Feinde waren. Im Grunde waren wir das ja auch – immerhin hast du mich auf der Lichtung schmälich im Stich gelassen!“
„Glaubst du, ich habe es gerne getan? Hätte ich gewusst, dass du noch am Leben bist. . . Aber nach einigen Tagen, als es mir wieder etwas besser ging, haben die Tschitschewan mich wieder hinauskomplimentiert.“
„Du wirst eben angefangen haben, sie zu beklauen“, meinte Alrik gehässig.
„Von wegen. Sie schienen vor etwas Angst zu haben. Etwas, was sie mit mir in Verbindung brachten. Aber ich spreche nur ein paar Brocken Mohisch, und ihr Geschnatter ergab für mich keinen Sinn.“
„Da hatte ich es doch besser erwischt. Eine Zeitlang glaubte ich, im Paradies gelandet zu sein – zugegebenermaßen einem sehr eigenwilligen Paradies. Ich lernte Mohisch, mit dem Blasrohr Affen und Wasserschweine zu jagen oder ihre merkwürdigen Sitten zu tolerieren. Irgendwann war ich mutig genug, mich den Wasserfall hinunter in den Teich zu stürzen (die Ochsenwasserfälle habe ich ihn genannt, weil er gleich hinter dem Dorf lag), vom Herz eines Verstorbenen zu speisen und den Anblick des blonden Schrumpfkopfs in meiner Hütte zu ertragen, der angeblich von der Anführerin der Sklavenfänger stammte. Ich setzte mich mit einem Blasrohr im Mund in eine Heeresstraße von Feuerameisen und erduldete das krabbelnde Grauen ebenso wie die brennenden Schmerzen. Nach dieser Mutprobe bekam ich von Uguna als vollwertiges Stammesmitglied einen Medizinbeutel um den Hals gelegt. “
Kurzum, ich wurde ein Chapewaha. Wären da nicht die beklemmenden Träume gewesen, in denen ich Nachts durch den Urwald lief – auf allen vieren, wie mir schien -, oder das wolkenverhangene Madamal anheulte, ich wäre wirklich glücklich gewesen.
Eines Abends rief mich deswegen der alte Uguna in seine Hütte. Er tanzte um mich herum, rasselte dabei mit seiner Knochenkeule und warf betäubende Kräuter ins Feuer. Ich war mir nicht sicher, ob ich das kehlige Mohisch wirklich verstand, dass er zwischen seinen Zahnstummeln hervornuschelte. Er behauptete, den Grund für meine schlechten Träume zu kennen: Der Geisterhund wäre zurückgekehrt, um sich an seinen Überwinder zu rächen. Zwar wage er es nicht, den Schutzkreis zu überschreiten, den der Schamane um das Dorf der Chapewaha gezogen hätte, aber ich solle mich von der Lichtung fernhalten, wo ich den Hund getötet hätte (das tat ich ohnehin, zumal ich kaum wusste, wo sie lag). Ich solle das Dorf am besten überhaupt nicht mehr verlassen. Dann sagte der Alte noch etwas wie, dass er den Hund nicht töten könne, da er und ich nun einen gemeinsamen Tapam hätten. Würde der Hund endgültig vernichtet, stürbe auch ich. Auf der anderen Seite sinne der Zornbrechter auf meinen Tod, um meinen Tapam zu rauben wie ein Yaq´Hai. Außerdem wäre etwas mit meinem Schatten.
„Sag ich doch“ Francesco nickte eifrig. „Irgendetwas stimmt damit nicht“. Der Streuner blickte in den abgedunkelten Raum. Leider – oder glücklicherweise – vermochte er den Schatten seines Bruders darin nicht zu erblicken. „Dieser Hund hat dir deine Seele gestohlen: Frag mich nicht wie, aber das Vieh muss verflucht gewesen sein. Groß wie ein Kalb, schwarz wie die Sünde und Augen gleich Feuerrädern. Bis nach Friedwang hat es mich verfolgt. Parinor von Oppstein und seine Bannstrahler haben ihn schließlich eingefangen und im Praiostempel erschlagen. Aber du warst ja dabei. Die Bauern sagen, das man sein Heulen noch heute ab und an im Schratenwald hört, vor allem in den Namenlosen Tagen.“
„Einem Menschen die Seele – ich meine, die wirkliche, göttliche Seele oder seinen Funken Nayrakis, wie Rohal sagt, zu stehlen – ist nun wirklich nicht einfach. Selbst ein Dämon bringt so etwas nur in den seltensten Fällen fertig.“ Lacertinus tastete nach der Eidechsenbrosche an seinem Hals. „Aber ein Diener des Namenlosen verfügt über die Macht für einen solchen schrecklichen Frevel! Genau das muss Merwans Plan gewesen sein: Er hat diesen verfluchten Hund auf euch gehetzt, um euch die Seelen zu rauben – oder zumindest einem von euch. Möge Tsa uns gegen das Böse beistehen!“
„Was Ihr immer mit meiner Seele habt?“ Alrik schüttelte den Kopf. „Uguna hat es ja gesagt: der Hund und ich teilen uns einen Tapam, wie auch immer das gehen soll. Von Diebstahl war nie die Rede. Im Gegenteil: Uguna beteuerte, das ich einen starken Nipakau besäße: Ein roter Hund, der mich vor dem schwarzen Hund beschützen würde.“
„Jetzt wird´s ja immer doller. Hund und Mensch, die sich eine Seele teilen? Roter Hund gegen schwarzer Hund?“ Francesco entschlüpfte ein Lacher, der in einem keuchenden Husten unterging. „Du bist wirklich schon ein halber Moha geworden. Diesen Unsinn glaubst du doch nicht wirklich, oder?“
„Rauch nicht so viel, vor allem nicht dieses abscheuliche Kratzkraut. Warum nicht? Mein Seelentier ist angeblich ein Hund – hat mir mal so ein Weissager in Al´Anfa von der Stirn ab gelesen. Einen rotbraunen Winhaller Wolfsjäger, um genau zu sein. Ausdauernd, treu, gehorsam und mutig, so hat er mich genannt.“
„O Mann, du hast´s aber wirklich mit solchem Hokuspokus.“ Francesco bohrte sich den rechten Zeigefinger in die Schläfer. „Ja, auf den Hund gekommen bist du . . . Vor allem lassen sich Winhaller Wolfsjäger nicht auf Menschen hetzen, so wie du. . .“
Sein Bruder wollte wutentbrannt aufspringen, aber ein strenges Räuspern des Tsageweihten hielt ihn zurück.
„Alrik hat schon recht. Das erinnert alles sehr an elfische Seelentiere oder hexische Vertrautenmagie. Ihr wisst schon, Tiere, die Flüche überbringen.“ Lacertinus war aufgestanden und blickte zu einem der Ölgemälde mit den Vorfahren des Gutsbesitzers.
„Ich kenne Merwan besser als jeder andere, vielleicht eingeschlossen seiner selbst.“ Die beiden Brüder blickten erstaunt, also beeilte sich der Tsageweihte fortzufahren: „Keine Sorge, das soll keine Prahlerei sein. Meine Bekanntschaft mit ihm war doch ein überaus zweifelhaftes Vergnügen.“
Lacertinus legte die Hand grüblerisch ans Kinn: „Es muss mit diesem Amulett zu tun haben, der Schwarzen Sonne, wie er sie nannte. Merwan ist kein Geweihter des Namenlosen im landläufigen Sinne. Die dreizehnstrahlige Sonne ist die einzige Quelle göttlicher Macht, über die er verfügt. Damit könnte es ihm schon gelingen, die Seele eines Sterblichen zu bannen. Und dann hatte er in Al´Anfa noch diesen Vulkanglasdolch bei sich, den er hütete wie seinen Augapfel. . .“
„Nun, das Amulett hat er jetzt nicht mehr“, meldete sich Francesco zu Wort. „Ich habe es ihm im Schratenwald gestohlen, nach Rommilys gebracht und mit Hilfe des Vogtvikar Valpo Phexlieb vernichtet.“
Lacertinus blickte erstaunt. „Tatsächlich? Das vermag ich kaum zu glauben. Eine der Eigenschaften der Schwarzen Sonne ist es, karmale Kräfte der Zwölfgötter, die um sie herum wirken, aufzusaugen wie ein Vampir. In dreizehn Schritt Umkreis ist es so gut wie unmöglich, ein Wunder zu wirken. Einige sagen, dass die Berchweiler Hexenknöten, die Sikaryan aus der Umgebung ziehen, ebenfalls mit Hilfe Merwans erschaffen worden sind, aber das ist eine andere Geschichte. Es hätte bedeutet, den Göttern einen Bärendienst zu erweisen, wenn du das Artefakt in einen ihrer Tempel gebracht hättest. Desweiteren erschien es mir immer als so gut wie unzerstörbar.“
Der Mondschatten lächelte selbstzufrieden: „Tja, der Namenlose hat sich durch seine reizende Art noch mehr Feinde gemacht als nur unsere guten Zwölfgötter. Zum Beispiel den finsteren Herrn der Rache. Durch einen `verbrannten´ Spion Galottas in Rommilys ist es mir . . . uns gelungen, dem Dämonenkaiser das Ding in die Hände zu spielen. Ich hoffe, der Rübenschädel hat es seinem Götzen noch vor dem Absturz der fliegenden Festung geopfert.“ Francescos Lächeln wurde breiter. „Wer weiß, vielleicht lag das Amulett dem Erzdämonen so schwer im Magen, dass dieses irrsinnige Konstrukt gerade deswegen abgeschmiert ist.“
„Jetzt werde mal nicht gleich selbst größenwahnsinnig. Galottas Sturz hatte sicher andere Gründe. Immerhin, deine Idee war überaus riskant, aber gut. Gegen erzdämonische Kräfte dürfte das Amulett wirklich machtlos sein.“ Der Tsageweihte nickte zufrieden. „Das ist endlich einmal eine gute Nachricht. Gütige Tsa, so etwas nennt man wohl den Namenlosen mit dem Dämonensultan austreiben. Ohne Schwarze Sonne verfügt das Kind der Finsternis nur noch über einen Bruchtteil seiner Macht.“
„Was hat es mit diesem Vulkanglasdolch auf sich?“ wollte Alrik wissen.
„Nun, Merwan war vor 700 Jahren noch kein Magier, sondern ein Druide, ein Schüler des berühmten Zeburon Erdendiener. Merwan vom Schratenwald, ja, das war sein urspünglicher Name. Später ist er dann in die Rolle des unglücklichen Baronsohns Melwan Honald von Schratenwald geschlüpft. Allein die Namensähnlichkeit muss ihn damals fasziniert haben. Aber er handelte wohl auch aus einer persönlichen Notlage heraus, wir sprechen immerhin von der Zeit der Priesterkaiser, die Geschöpfe wie ihn gnadenlos verfolgt haben. In seinem Fall völlig zu Recht. . . Du siehst, Francesco, derartige Maskeraden haben in Friedwang eine lange Tradition.“
„Und mir hat er vorgejammert, seine ganze Familie wäre von den Praioseiferern ausgelöscht worden.“
„Möglich, dass er diese Geschichte mittlerweile selber glaubt. Irrsinnig genug dazu wäre er. In sieben Jahrhunderten kann man einiges vergessen oder durcheinander bringen.“
Die jungen Männer lachten auf.
„Im Ernst. Manchmal schien es mir, als ob die Erinnerungen genauso schnell durch seinen Geist rinnen würden wie die gestohlene Lebenskraft durch seinen Körper. Oft wusste er nicht, was im vergangenen Jahr geschehen war, geschweige denn, vor einem Jahrhundert. Merwan prahlte einmal damit, dass er einen schwarzmagischen Weg gefunden habe, anderen Lebewesen das Gedächtnis zu stehlen und es sich selbst ein zu verleiben. Er nannte es in Erinnerungen schwelgen. Der Vampir schlürft sie regelrecht wie lebende Menschen Tee oder Wein, auch wenn er nach einiger Zeit den überwiegenden Teil wieder verliert. Auf diese Weise vermehrt er aber auch sein Wissen und seine magische Macht. Merwan ist ein vollendeter Parasit, in allen Bereichen seines vielhundertjährigen Unlebens. Desweiteren scheint er regelrecht mit den Opfern zu verschmelzen, in deren Rolle er schlüpft. Zuletzt in die von Illkôr Brasgar, einem völlig skrupellosen, aber nicht allzu mächtigen Nekromanten und Dämonologen der Halle der Dunklen Geister zu Brabak, genannt Brabakbengel. In Galottas Brabaker Zeit müssen sich die Wege der beiden ein paar mal gekreuzt haben. Als Illkôr Brasgar genoss der Vampir dann das besondere Vertrauen des Dämonenkaisers in Yol´Ghurmak, oder besser gesagt, der Dämonenkaiser nahm ihn nicht sonderlich ernst. Die übliche Selbstüberschätzung des ehemaligen Garether Hofmagiers, die ihm mittlerweile das Genick gebrochen hat . .“
„Aber, was will dieser schwarze Blutegel eigentlich in der Schwarzen Sichel?“ Francesco beugte sich vor. „Krieg für Galotta führen, über dessen Tod hinaus? Oder einfach nur Tod und Verderben über unschuldige Menschen bringen?“
„Nein.“ Lacertinus ging wieder zum Feuer und hielt seine Hände gegen dessen lodernden Flammen. „Und natürlich geht es einem Wesen wie ihm auch nicht um Macht über ein paar Dörfer am Fuße der Schwarzen Sichel. Alles, was der Vampir tut, entspringt einem Plan – den Großen Plan, wie er ihn nennt. Selbst sein Glaube an den Namenlosen ist letzten Endes noch parasitär, ein Mittel zu einem einzigen Zweck: Macht zu erringen. Er möchte selbst einmal ein Gott werden, ja, ich denke das ist seine wahre Absicht.“
„Ein Gott?“ Der Mondschatten schüttelte verständnislos den Kopf. „Aber dann . . . dann ist er ja noch verrückter, als ich es gedacht hätte.“
„Nun, nahezu unsterblich ist er bereits und seine Macht schon jetzt nicht zu unerschätzen. Nur an seiner göttlichen Allgegenwart hapert es noch. In Al´Anfa sprach er mir gegenüber von einem Plan, Replikanten zu erschaffen, genaue Kopien seiner selbst: Menschen, die aussehen wie er, die ungefähr über seine magischen Fähigkeiten verfügen, sein Gedächtnis und seine Persönlichkeit teilen, vor allem aber durch ein magisches Band untrennbar miteinander verbunden sind.“
Voller Abscheu und Unglauben blickte nun auch Alrik auf: „Diese Kreatur muss wirklich vollkommen wahnsinnig sein.“
„Gewiss, aber seinen Großen Plan nimmt er dennoch sehr ernst. Merwan ist der Ansicht, dass er einen Kontrakt mit dem Namenlosen geschlossen hat - wenn man so will, eine Art Rückkaufvertrag. Wenn er ihm die Seelen von zwölf Geweihten, zwölf Frevlern sowie hundert Normalsterblichen liefert, erhält er die seinige zurück. Sprich, er wird im Tausch gegen 124 Menschenleben wieder zu einem Wesen aus Fleisch und Blut. Gut möglich oder sogar wahrscheinlich, dass das alles nur eine weitere düstere Legende aus den Sichellanden ist. Aber Merwan scheint mittlerweile selbst daran zu glauben. Der Gott ohne Namen hätte dabei nicht einmal einen Verlust, denn schwarz und schuldbeladen würde Merwans Seele am Ende doch nur wieder zur Sternenbresche fahren.“
„Also geht es Merwan auch um Erlösung?“ fragte Francesco, der mit dem Schürhaken die orangefarben brennenden Scheite verteilte.
„Nein. Jedenfalls nicht nur. Dahinter steckt auch mehr als nur die übliche friedwängische Wankelmütigkeit. Als Schwarzdruide war Merwan ursprünglich nur für die Menschen in der Umgebung des Schratenwalds eine Gefahr. Aber durch sein tsafrevlerisch langes Leben – oder besser gesagt Unleben – hat er magisches Wissen gehortet und Sprüche gemeistert, die ihm im Reich der Lebenden durchaus den Rang eines Rhazzazor, Galotta oder Balphemor von Punin verleihen würden. Jedenfalls, sobald er nicht mehr an die Beschränkungen seines vampirischen Daseins gebunden ist. Ich glaube, sein Kontrakt ist nach all den Götterläufen beinahe erfüllt.“
Irgendwo draußen heulte, winselten Wölfe. Es klang zaghaft, beinahe ängstlich.
Die beiden Brüder, die die ganze Zeit über noch schwarzhumorig gegrinst hatten, erschauerten, blickten bange in das flackernde Lagerfeuer.
„Ich wusste gar nicht, dass es Wölfe in dieser Gegend Garetiens gibt“. Francesco schluckte.
„Sie kommen aus den darpatischen Wäldern, weil sie die Toten der Schlachtfelder riechen.“ Lacertinus war zu einem der Fenster gegangen und blickte hinaus in die graubläuliche Nacht. Erneut drang Wolfsgeheul an ihre Ohren. „. . . oder das Massengrab hinter dem Hof. Hoffentlich hat Haglind dort Wachen mit Fackeln aufgestellt, wie ich es ihr geraten habe.“
Eine Zeitlang war nur das Knacken der brennenden Holzscheite und schauriger Wolfsgesang zu hören. Die schützenden Mauern des Herrenhauses, an denen sich unruhig geisternde Schatten und roter Feuerschein spiegelten, schienen gar nicht mehr vorhanden zu sein. Die drei Menschen hätten eben so gut in einer Höhle des Orklands sitzen können.
Irgendwann verebbte das Geheul, so schlagartig und plötzlich, wie es aufgekommen war.
„Das könnte auch von drüben, jenseits des Flusses gekommen sein. Scheint so, als hätte sie etwas vertrieben.“ Der Tsageweihte langte an seine Eidechsenbrosche. „Sie haben Angst , wie wir, und Hunger zugleich. . .“
Lacertinus schwieg und brütete vor sich hin. Was auch immer da draußen noch war, jagte gerade Wölfe und keine Menschen . . .
„Ein Seelensammler ist dieser Merwan also“ murmelte Alrik in die entstandene Stille hinein. „Hat er deswegen den Hund auf mich gehetzt?“
Lacertinus nickte.
„Aber wie kommt es dann, dass . . .“
„Dass Merwan keinen Erfolg damit hatte? Nun, einem Menschen die Seele zu rauben ist götterlob nicht einfach. Wie soll ich euch hier auf die Schnelle Dinge erklären, die selbst der höheren Magietheorie verschlossen geblieben sind? Vereinfacht gesagt hängt die seelische Widerstandskraft eines Menschen gegenüber einem solchen Diebstahlsversuch von seiner Willensstärke und Verbindung mit einer höheren Wesenheit ab. Über Paktiererseelen dürfte Merwan mittlerweile alle verfügen, jeweils einen pro Erzdämon: Flatterhafte Paktiererseelen sind schon von Natur aus leicht in die Irre zu führen. Bei einem einfachen Menschen genügen hingegen oft schon Todesangst, Schmerzen und Verzweiflung, um ihm seine Seele durch ein namenloses Wunder entreißen zu können: gemeinhin also in dem Augenblick, da er an die Ufer des Nirgendmeeres tritt.“
Der Tsageweihte ging auf und ab. „Vermutlich sollte in eurem Fall wirklich der Bluthund Merwans Seelenbann überbringen – wie ein Rabe oder schwarzer Kater den Fluch einer Hexe. Ja, ich glaube, der Vergleich passt. Aber da gibt es noch einen Unterschied zwischen der Lebensseele des Menschen, die im Augenblick des Todes mit ihm vergeht, und seiner Geist- oder Wahre Seele, die allein den Göttern zusteht. Dass einem Opfer die Geistseele entrissen wird und es dennoch weiterlebt, ich glaube, diese Möglichkeit hat Merwan in seinem finsteren Plan nicht bedacht. Im Gegenteil, der Hund ist gestorben, und Alrik besitzt einen überaus starken Willen. Am Ende hat nicht der Hund deine Wahre Seele gestohlen, vielmehr war es dieser göttliche Funke in dir, der sich den Hund unterworfen hat. Plötzlich warst du es, dessen Hass auf Gernot die Kreatur nach Friedwang gelenkt hat – wenn auch unbewusst. Ja, so ähnlich kann man es sich vielleicht vorstellen, auch wenn derartige Dinge für den Menschengeist nicht wirklich fassbar sind.“
„Starker Wille? Ich weiß nicht.“ Alrik kratzte sich verlegen am Kopf. „Gut möglich, dass es eher etwas mit den Ritualen zu tun hatte, mit denen Uguna meinen Tapam stärken wollte, wie er sich ausdrückte. Die haben sich über viele Monate erstreckt, eine Zeit, in der ich wirklich seltsame Träume hatte. Träume, an die ich mich kaum noch erinnern kann. Vielleicht ging es dem Schamanen auch einfach nur darum, mich an der Seite Ake-Tscheyas zu halten.“
„Jedenfalls hat Merwan deine Seele nicht bekommen. Wo war ich gerade? Ach ja. Geweihtenseelen dürften für den Vampir besonders schwer zu stehlen sein. Es ist nun einmal nicht leicht, die in vielen Jahren aufgebaute Verbindung eines Menschen zu seiner Gottheit aufzubrechen. Aber selbst da fehlen ihm offenbar nur noch wenige. In jedem Fall die eines Tsa- sowie eines Phexgeweihten . . .“
Francesco schluckte.
„Keine Sorge, nun, da er die Schwarze Sonne verloren hat, wird es für ihn schwer werden, seinen Plan zu verwirklichen. Den guten Göttern sei Dank! Er wird auf ewig ein Vampir bleiben – sofern der Vertrag nicht von vorneherein eine seiner Wahnideen ist. Aber er ist auch so stark. Dadurch, dass er selbst als Mensch nie zu den Zwölfgöttern gebetet hat, scheint er nicht verwundbar zu sein wie andere Blutsauger, die im Augenblick ihrer Erhebung durch Alveran verflucht werden. Ich glaube, dass zumindest ein Fluch der Erdgöttin Sumu auf ihm liegt, zumindest schien er sich vor dem frischen Humus in meinen Blumenbeeten zu ekeln, wenn nicht zu fürchten. Und in Al´Anfa hat er keinen Schritt in den Dschungel gesetzt, obwohl er euch leicht hätte verfolgen können, etwa in Fledermausgestalt. Ob man ihn mit Sumus Element vernichten könnte, weiß ich nicht“.
„Als ich ihm das Amulett gestohlen habe, habe ich ihm eine Handvoll Erde ins Gesicht geworfen. Besonders zu gefallen schien ihm das nicht. Aber eingeäschert hat es ihn auch nicht.“ Francesco blickte bedauernd.
„Ja, es gibt nichts, was ihm wirklich schadet. Jedenfalls nichts, von dem ich wüsste. Vor Tempeln und Geweihten fürchtet er sich kaum. Selbst im hellen Tageslicht habe ich ihn schon wandeln sehen, auch wenn er sich darin sichtlich unwohl fühlt.“
„Da fällt mir ein, Francesco. Was hast du eigentlich mit dem Phextempel von Rommilys zu schaffen?“ wechselte Alrik das Thema.
„Das ist eine längere Geschichte“ antwortete der Streuner ausweichend. „Erzähl lieber, wie es dir weiter im Dschungel ergangen ist? Hattest du denn nach all den Jahren überhaupt kein Bedürfnis mehr, nach Friedwang zurück zu kehren“
„Bei meiner Seel´, Uguna hat mich ja ausdrücklich davor gewarnt, den Bannkreis zu verlassen, den er um das Dorf gezogen hatte. Desweiteren wollte er meinen Tapam weiter gegen das Geschöpf des Burdaq rüsten, wie er sagte. Vor allem war da noch Ake-Tscheya. Irgendwann wurde sie schwanger und gebar mir eine kleine Tochter – Chepka. Sie war kaum ein halbes Jahr alt, als eines Morgens. . .“ Alriks Stimme stockte. Der Baronierbe begann zu keuchen und hielt sich die zitternden Hände vors Gesicht.
Die Al´Anfaner kamen im Morgengrauen. Ohne jede Vorwarnung fielen die Sklavenjäger über uns her. Als dieser Bluthund in unsere Hütte gehechelt kam, dachte ich im ersten Moment, es wäre dieser verfluchte Zornbrechter. . . Ake-Tscheya tötete ihn mit dem Speer, aber ich war vor Grauen wie gelähmt. Das Dach der Hütte stand schon in Flammen. Nie werde ich das Geschrei und das Weinen der Kinder vergessen. Meine Geliebte ist mit dem Speer in der einen Hand und der kleinen Chepka unter dem anderen Arm nach draußen gelaufen.
In der flimmernden Luft sah ich, wie sie beide fielen, im gleichen Moment, durch einen Schwertstoß aneinandergeheftet. Als ich mich mit dem Steinbeil auf die Angreifer stürzte, war ich fest entschlossen, selbst zu sterben und möglichst viele Gegner mit zu nehmen. Einen oder zwei werde ich wohl niedergehauen haben, aber auch ich blutete bald aus zahlreichen Wunden. Das Kriegsbeil fiel mir aus dem aufgeschlitzten Arm. Irgendwann hatten sie mich in die Enge getrieben und hoben ihre Waffen. Ich wartete auf den Tod, aber Al´Anfa kannte auch an diesem Tag keine Gnade.
„Sieh an, ein weißer Wudu!“ staunte ein stoppelbärtiger Questador, dessen Gesicht mir sogar von irgendwoher bekannt vorkam. „Scheiß Deserteur und Überläufer, was? Oder bist du ein entlaufener Sklave? Schaut ihn euch an, wie er sich herausgeputzt hat, mit Lendenschurz und Federn.“ Der Mann spuckte aus, einige Tropfen trafen mein Gesicht.
„Ja, er sieht aus wie ein Wilder!“ schrie seine Gefährtin. Sie riss mir meinen Medizinbeutel vom Hals und trampelte ihn in den Staub. „Legen wir den Verräter um!“
In diesem Augenblick wusste ich, dass ich nicht sterben wollte. Eigentlich wollte ich auch nicht mehr leben, aber eine Ahnung sagte mir, dass mit meiner Seele dann etwas Schreckliches passieren würde.
„Bringt mich zum Patriarchen!“ stieß ich, einen Degen am Hals, hervor. „Ich muss mit Amir reden. Meine Geschichte wird ihn interessieren.“
„Aber bitte. Dein Wunsch ist uns Befehl!“
Mir wurde das Joch aufgebunden und eine Schlinge um den Hals gelegt, wie einem Dutzend anderer Überlebenden des Dorfes auch. Der Rest war geflohen oder tot. Als sie uns in den Dschungel trieben und hinter uns der Rauch des brennenden Dorfes in die Luft stieg – ich glaube, das war der elendste Augenblick in meinem Leben. In diesem Moment wusste ich, dass ich Ake-Tscheya wirklich geliebt hatte. Die Zeit im Dschungel war die einzige gewesen, die wirklich mir selbst gehört hatte.
Auf dem Sklavenmarkt von Al´Anfa verspürte ich neben Trauer und meinem körperlichen Schmerz nur noch brennende Scham. All das, was nun mir widerfuhr, hatte ich früher anderen angetan. Das Dasein in Gefangenschaft, ohne Würde, ohne Rechte, dieses Leben wie ein Tier war schlimmer als Dom Timotheos Plantage. Sie betasteten meine Muskeln, griffen mir in die Zähne, einige Frauen auch zwischen die Beine. Eine Grandentochter versuchte sogar, mich mit einer Pfauenfeder zu erregen. Tiefer kann man nicht herunter kommen. Mit meinen schlecht verbunden, eitrigen Wunden tat sich der Händler schwer, für den geforderten Preis einen Käufer zu finden. Auch mein schemenhafter Schatten schreckte viele ab.
Irgendwann stand plötzlich Drusilla vor mir, eine Sklavin, die ich von der Stadt des Schweigens her kannte. Auch sie erkannte mich sofort. „Sorge dafür, dass der Patriarch von meinem Schicksal erfährt“, raunte ich ihr zu.
Eine Stunde später rückte ein Trupp Rabengardisten an – auch hier war mir das eine oder andere Gesicht noch vertraut.
„Gnädige Marbo, ist das denn die Möglichkeit? Unser alter Kamerad Bishdarielon! Das wird aber ein Hallo geben oben in der Stadt des Schweigens.“
„Ich freue mich auch, Euch wieder zu sehen.“
Ein Hieb in die Magengrube belehrte mich eines besseren. „Halt den Schnabel, elende Krähe. Wir haben gehört, dass du aus der Sklaverei getürmt bist und dich dann auch noch bei den Mohas verkrochen hast. Wie kann ein Boronsrabe nur so tief sinken? Händler, nimm ihm die Ketten ab und schick die Rechnung an Amir Honak. Du wirst ja wissen, wo du ihn findest.“
Alrik lachte sarkastisch. „Tja, nun war ich wieder zuhause. Sozusagen. Irgendwie hatte ich sogar das Gefühl, ich wäre nie wirklich weg gewesen. Der Lärm, die Gerüche, das Stimmengewirr in mindestens einem halben Dutzend Sprachen: Das alles war eine vertraute Welt. Nur, dass ich mich jetzt endgültig auf der anderen Seite der Schwarzen Perle befand.“
„Wie kommt es eigentlich, dass du dich so bemerkenswert gut erinnern kannst?“ fragte Francesco. Fast scheint es, als würdest du das Geschehen noch einmal erleben.“
„Ja, mein Erinnerungsvermögen ist jetzt weitaus besser als früher. Ich nehme an, dass es mit dem Heiligen Stab des Vergessens zusammen hängt, der mir zuletzt mein Gedächtnis zurückgegeben hat. Scheint so, als solle mir aus Borons Berührung nicht nur Unbill erwachsen“.
Die Wachen brachten mich auf den Silberberg, in den tiefsten Kerker der Boronsstadt. Ich erzählte meine Geschichte freimütig, wusste ich doch nur zu gut, dass sie mir auf der Folter auf jeden Fall die Zunge lockern würden. Warum hätte ich auch schweigen sollen: Im Gegenteil, ich war froh, dass endlich einmal jemand meine Geschichte anhörte, und wenn es nur ein fetter Schreiberling war, der immer wieder erstaunt von seinem Pult aufblickte. Eines Tages kamen sie dann in meine Zelle, banden mich, stülpten mir eine schwarze Kapuze über den Kopf und zerrten mich durch die Gänge nach oben. Ich war davon überzeugt, dass es nun zur Hinrichtung ging.
Als sie mir den Sack vom Kopf zogen, stand ich in einem Bad. Es war Abend. Tulamidische Sklavinnen wuschen mich und kleideten mich in saubere Gewänder. Nach einer Mahlzeit wurde ich, wieder in Ketten gelegt und eine Maske vor dem Gesicht, in die Gemächer des Patriarchen gebracht. Meine alten Gefährten, die mich eskortierten, erkannten mich nicht, und wenn doch, ließen sie es sich nicht anmerken.
Amir Honak stand wieder am Fenster und blickte auf die nachtschwarze Bucht von Al´Anfa hinaus, die Arme verschränkt und mit feingliedrigen Fingern das Kinn haltend. Es war fast alles so wie bei unserer letzten Begegnung. Das war wohl seine Art von Humor. Nein, etwas war diesmal doch anders: Zwei weitere Personen befanden sich bei ihm. Eine Magierin in pompösen, geschmacklosen Gewändern, das alterslose Gesicht grell geschminkt, saß an einem Tischchen und begann, kaum dass ich eingetreten war, mein Gesicht zu skizzieren. Außer ihrem Zauberstab fiel mir noch die geöffnete Tasche eines Medicus auf, aus der mir scharfe Klingen entgegenblitzten. Würde das mein Folterwerkzeug sein ?
Der andere Mann sass neben der Magierin und rauchte nervös eine Mohacca nach der anderen, als wäre in Wahrheit er es, der in diesem Raum Martern und Hinrichtung zu erwarten hätte. Ich erkannte ihn sofort, auch wenn er mit mir gealtert war. Dort saß „Goldo Paligan der Jüngere“, mein Schicksalsgenosse aus Sukkuvelani, schwitzte, zitterte und paffte. Der verrückte Sklave, der entlaufen und in der Schlacht am Szinto wieder eingefangen worden war. Innerlich hatte ich ihn längst für tot gehalten, aber Goldo lebte und wie ein Sklave sah er in seinen vornehmen Gewändern auch nicht aus. Ich nahm die Maske ab und lächelte ihm freudig überrascht zu. Doch Goldo wich meinem Blick aus, als könne allein der ihm zum Schaden gereichen.
„Sieh an. Mein entflogenes Räblein ist in den Käfig zurückgekehrt.“ Der Patriarch drehte sich gemessen um. Mit einer Geste, die mich an den Flügelschlag eines Raben erinnerte, scheuchte er die Wachen hinaus. Zu meiner Zufriedenheit hatte ich registriert, dass mir die Ketten nicht abgenommen worden waren. Sie fürchteten den Ordenskrieger in mir also noch immer.
Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. Ungeschickt deutete ich eine Verbeugung an und wollte zu einer Erklärung ansetzen, aber eine weitere unwirsche Handbewegung hieß mich schweigen.
„Ich bin enttäuscht, Bishdarielon. Sogar sehr enttäuscht. Du hast deinem Patriarchen ewige Treue geschworen und läufst ihm bei erstbester Gelegenheit davon. Dankst du mir so, dass dir Boron durch mich deine Erinnerung wiedergegeben hat? Dankt ihr mir so die Wohltaten, die ich euch allen erweise?“
Letztere Worte hatte er in die ganze Runde, ja, zum offenen Fenster hin gesprochen. In diesem Augenblick kam er mir einfach nur vor wie ein verwöhntes Grandensöhnchen, für den selbst noch die Gefühle seiner Mitmenschen käuflich oder zumindest erpressbar waren.
Erst jetzt merkte ich, dass Amir durch sein Wohlleben weibischer und fülliger geworden war - und, wenngleich er noch nicht die Schwelle zum Alter überschritten hatte, auch körperlich älter: Er sah aus wie ein behäbiger, selbstzufriedener, hämischer Pfaffe. Kein Zweifel: Amir hatte sich einen festen Platz im Machtgefüge seiner Heimatstadt erobert und schien von seinem eigenen Erfolg selbst am meisten beeindruckt zu sein. Ein Besitzstandswahrer. Als mir diese subversiven Gedanken durch den Kopf gingen, musste ich lächeln. Zu meinem eigenen Erstaunen merkte ich, dass ich kaum noch Angst vor ihm, dem einstigen Herrn meines Lebens, hatte.
„Habt Ihr wirklich geglaubt, das ich nicht versuchen würde, aus der Stadt des Roten Goldes zu fliehen? Nachdem ich erfahren habe, wer ich wirklich bin?“ sagte ich mit fester Stimme. Meine alte Furcht vor dem Patriarchen verschwand nun gänzlich. „Schuldet etwa ein Tier, das man in Gefangensschaft hält, seinem Wärter Treue?“
„Ein Tier verschont seinen Wärter mit solchen Spitzfindigkeiten.“ Der Patriarch lächelte dünn. “Sag mir nur eins. Warum bist nicht auf geradem Weg nach Darpatien zurückgekehrt, sondern hast dich stattdessen im Regenwald bei den Wilden verkrochen?“
„Wegen einer Frau, die ich liebe.“
Amir stieß ein leises, kaum hörbares Keckern aus, wie ein lachender Rabe. Dann wurde er wieder ernst.
„Gut. Der Scherz gefällt mir. Statt eine Baronie im Mittelreich zu erben oder die Segnungen der Al´Anfanischen Zivilisation zu genießen, ziehst du eine armselige Laubhütte und ein buntbemaltes Wuduweibchen vor. Sogar Nachwuchs hast du mit diesem Tier gezeugt. Ich muss sagen, Ihr habt Geschmack, Alrik von Friedwang. Nun gut, wir sind uns doch nicht so ähnlich, wie ich dachte.“ Echte Entäuschung, ja, tiefe Einsamkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben.
„Alle haben sie Verrat geübt, alle. Aber nicht mir seid ihr untreu geworden, sondern Boron. Du, Dom Timotheo, Gernot und dieser golgaritische Narr Lucardus von Kémet, der jetzt vor dem Schwarzen Drachen kriecht. Nun gut, zumindest damit habe ich gerechnet. Endlich beginnt sich der Seelenspreu vom Weizen zu trennen. Es wird dich freuen zu hören, dass dein schurkischer Vetter, kaum ein Jahr, nachdem sie ihn zum Baron gemacht haben, wieder gestürzt worden ist. Man sagt, er sei ein Scherge des verfluchten Dämonenmeisters gewesen. Und ich dachte, er wäre an M a c h t interessiert.“
„Was ist mit meiner Mutter ?“
„Baronin Tsalinde? Eine Geschichte, die einem das Herz zerreißen könnte. Sie hat ihren kleinen Alrik gesucht und ist deswegen bis nach Al´Anfa gereist. Wahrlich ein Zeichen von Mutterliebe, nicht wahr? Leider haben sich dein Herr Dom Timotheo und sein Leibmagier als Anhänger des verfluchten Namenlosen herausgestellt. Mehr noch hat sich dieser Magier aus den Brabaker Sümpfen als Blutsauger erwiesen. Er hat die Baronin in eine Vampirin verwandelt und ist hernach ins Mittelreich geflohen. Möge der Herr der Götter ihn bestrafen! “
Ich sah den Patriarchen ungläubig an: „Das ist nicht wahr!“
„Warum sollte ich dich belügen?“
„Meine Mutter, was ist mit ihr?“
„Offiziell ist sie an einem heimtückischen Fieber gestorben. Inoffiziell hat sich die Hand Borons ihrer erbarmt. Es ging nicht anderes, Bishdarielon. Ich kann keine Vampirplage in der Stadt Borons gebrauchen. Möge sie in Frieden ruhen“. Der Patriarch schlug das Zeichen des gebrochenen Rades.
Ich hätte aufschreien müssen, brüllen, weinen. Stattdessen empfand ich nichts.
„Und der Sklavenhändler ?“ hörte ich mich fragen.
„Die Hand Borons hat sich auch dieses Problems angenommen“.
Geistesabwesend blätterte Amir in einigen Papieren, die wohl Berichte von Spionen oder etwas ähnliches waren. „Das beste ist, dass sich in Friedwang nun ein anderer als zurückkgekehrter Baronssohn Alrik ausgibt.“ Der Patriarch sah mich lauernd an. „Du kennst ihn gut. Francesco di Palazzo, ein Dieb und notorischer Hochstapler aus der Unterstadt. Dein Freund aus den Sklavenbaracken. Siehst du nun, Bishdarielon, wie schwach und verführbar die Herzen der Menschen sind?“
„Schickt mich zurück nach Friedwang“ sagte ich tonlos.
„Nein, du weist bereits zu viel über die Geheimnisse Al´Anfas. Außerdem hast du schon einmal deinen Schwur mir gegenüber gebrochen.“
„Eurer Befehl lautete, außerhalb dieser Mauern mit niemandem Dritten über das Gesagte zu sprechen. Ich habe nur Francesco eingeweiht, und selbst ihn nicht vollständig. Das sind zwei Menschen, die außerhalb der Stadt des Schweigens über meine Herkunft bescheid wissen, nicht drei. Desweiteren befahlt Ihr mir, das Gebiet des Al´Anfanischen Imperiums nicht zu verlassen. Nun, das erstreckt sich bekanntlich über den gesamten Süden einschließlich des Regenwaldes – mindestens.´
„Glaubst du, dich mit dem Patriarchen von Al´Anfa auf ein rhetonisches Duell einlassen zu dürfen?“
„Nein, ich will Euch warnen. Schon Eurer Vater hat den Fehler begangen, nicht auf den tieferen Sinn der Worte zu achten“.
„Du sprichst in Rätseln.“
„Wurde Tar Honak nicht prophezeit, kein Sterblicher könne ihn töten, keine Waffe, die von eines Menschen Hand geformt ist, ihn verwunden? Aber es gibt auch unsterbliche Menschen, und Waffen, die durch den Geist geformt werden.“
Amir sah mich erstaunt an. Er schien nicht einmal zornig zu sein, nur erstaunt, das jemand derart offen mit ihm zu sprechen wagte.
„Gut, meine kleine Nahema. Du glaubst, das du nichts mehr zu verlieren hast. Aber das ist ein Irrtum. Es gibt mühsame und es gibt leichte Wege über das Nirgendmeer. Man kann Golgaris Krallen eine Zeitlang ausweichen, man mag über den Tod scherzen, entkommen wird man ihm nicht. Du nicht, Illkôr Brasgar nicht, weder Lucardus von Kémet oder der Schwarze Drache, vor dem er jetzt kriecht. Auch dieser erbärmliche darpatische Junker nicht, falls er noch in der Dritten Sphäre weilt. Goldo wird gehen und die Interessen Borons in der Schwarzen Sichel vertreten.“ Der Patriarch wies auf den entlaufenen Sklaven. „In deinem Namen, als wahrer Alrik von Friedwang. Boron sei Dank sieht er dir bereits ähnlich. Dort wird er das Werkzeug meiner Rache sein und die Feinde Al´Anfas vernichten.“
“Goldo? Das nimmt Euch niemand ab!“
Die Magierin war mittlerweile bei der Schattierung meines Gesichts angekommen.
„Ja, bleibt jätzt so stähen“ sagte sie mit rauchiger Stimme und starkem südländischen Akzent. „Es gibt Mittäl, das Aussähen einäs Menschen auf Dauärrr zu verrrändärn. Mit einäm IMAGO TRRANSMUTABILÄ bekommä ich das hin, Eurrrä Ärrrhabänheit. Halb Al´Anfa läuft mit den Nasän, Kinnän und Brrrüstän herum, die meine Kunst ihm geschänkt hat.“
„Die Übereinstimmung muss nicht vollkommen sein.“ sagte Amir. „Es ist schon einige Jahre her, seitdem dieser Strolch und Alrik zusammen gesperrt waren“.
„Bitte um Nachsicht, Ärrrhabänheit. Aber wenn ich etwas beginnä, dann wirrrd äs vollkommän.“
„Das Äußere ist nicht alles“ sagte ich. „Man kann Adel nicht fälschen, bei meiner Seel´. Niederes Blut verdirbt alles Edle.“
„Ein schöner Ausspruch. Hast du dir diese Weisheit ausgedacht? Oder stammt sie von deinem Wuduliebchen?“ Der Patriarch lächelte maliziös.
„Weder noch. Meine Großmutter hat das gesagt.“
„Seine Großmutter, so so. Merk dir das Zitat gut, Goldo. Und auch dieses affektierte B e i m e i n e r S e e l .´
„Niemand wird seine Geschichte glauben. Eher halten sie noch Francesco für den echten Baronssohn.“
„Auch die Errrinnerungän eines Menschän lassän sich ändärrrn.“ Die Magierin blies sacht einige Kohlekrümmel von ihrer Zeichnung.
Goldo sprang auf: „Jetzt langts mir aber. Ich mache da nicht mit. Diese boronverfluchte Mirhamer Hexe. Ich hänge an meinem Gesicht und Erinnerungen, gütige Marbo. Ihr habt mir versprochen, nach meinem letzten Auftrag ist Schluß.“
Der Patriarch schüttelte ungehalten den Kopf: „Mit dem Spionieren ist es wie mit Rauschkraut und Glücksspiel. Hat man erst einmal damit angefangen, fällt es schwer, wieder aufzuhören. Ebenso verhält es sich mit dem Leben in der Sklaverei und der Flucht daraus. Damals am Szinto war dein Leben verwirkt. Mein Vater hat es dir gnädig geschenkt, ebenso wie die Freiheit. Hast du nicht immer behauptet, der Bastard eines Granden zu sein? Nun stelle ich dir ein Leben als mittelreichischer Baron in Aussicht und zum Dank jammerst du wieder nur herum.“
Er blätterte in den Aufzeichnungen herum, die vor ihm auf den Tisch lagen. „Das müsste zusammen mit dem Bericht unserer Spione über Friedwang genügen, um unserem Alrik eine glaubwürdige Legende zu verschaffen. Schneidet Goldo ein paar Finger ab und verleiht ihm einige Narben. Vor allem, Magistra Esteforia: Vergesst nicht die Sache mit dem rechten Ohr.“
„Wie? Ach so ja. Das hättä ich beinahä überrrsähän.“ Die Schwarze sah blinzelnd in meine Richtung. Dann löschte sie die betreffende Stelle auf der Zeichnung mit einem Bimsstein aus und malte sie neu.
„Wie? Davon war nie die Rede!“ jammerte Goldo. „Nicht genug, das ich mit dem seiner Visage und fremden Erinnerungen herumlaufen soll. Nun wollt Ihr mich auch noch verstümmeln!“
„Es reicht, uns brauchst du keinen Beweis deiner Schauspielkunst zu geben.“
„Wenn ich etwas klarrrställän dürrrftä“, meldete sich wieder die Magierin zu Wort. „Mit einäm MEMORRRABIA FALSIFIRR lässt sich einäm Menschen nicht einä völlig neue Errinerrrung einpflanzen. Leidärrr . . . Ich dachte eherrr an das hier.“ Sie zog aus ihrer Arzttasche eine kleine Phiole hervor, in der eine bläuliche Flüssigkeit schwappte.
„Man nännt äs Tarrrquinios Lügentrrrank. Es basierrrt auf einerrr geheimen Rrrezeptur derrr Wudu-Schamanän. Damit lässt sich das Gedächtnis eines Menschen verrrändärn, wenn auch nurrr für wenige Stundän. Wärrr immärrr davon trinkt, ist in diesärrr Zeit davon überzeugt, das seinä Lügän die lautärrrä, prrraiosgefälligä Wahrrrheit darställän.“ Die Magistra hielt einen Moment mit dem Dozieren innä und strich sich selbstgefällig über das nachtschwarze Haar. „Zuglaich unterdrückt die Drogä jenä Beraichä däs mänschlichen Gaistäs, mit dänen wirrr für gewöhnlich Warrrheit und Lüge zu unterscheidän värmögän...“
Amir winkt ungehalten ab. „Verschont uns mit Einzelheiten. Eine Rezeptur der Wudu-Schamanen, sagtet Ihr? Ich hoffe doch sehr, diese Droge hat nichts mit visaristischer Ketzerei zu tun?“
„Borrron bewahrrä, nein. Die Mixturrr ist völlig ungefährrrlich, auch wenn sie nicht zusammän mit andärrrän Rauschmittäln eingenommen werrrdän sollte. Es wurrrde verrrwendät, um unserrre Spione auf där Foltärrr zu schützän – genauär gäsagt, unsärrä Schläfär im Ausland.“
„Ungefährlich?!“ Goldo lachte auf und raufte sich die Haare. „Ich habe Erkundigungen über dieses Dämonenzeug eingezogen. Wie es heißt, sollte die Magistra für Euren erhabenen Vater ursprünglich eine Wahrheitsdroge entwickeln. Stattdessen kam das genaue Gegenteil dabei heraus. Der einzige Nichtsklave, bei dem es jemals angewendet wurde, war unser Spion am Hof des Großkönigs von Selem. Es hat seinen Verstand zu Boron geblasen. Hernach hat Euer Vater die Anwendung dieses Zeugs verboten.“
„Unsinn. Pipapo. Besagtärrr Gesandter warrr für sainän exzsässsivän Rauschkrautverbrrrauch bekannt. Und der selige Patrrriarch hat sich weiland ähärrr am Namän von Tarrrquinios Lügentrrrank gestörrrt. Seitdäm nännt man die Mixturrr Bishdariels Brudär. Ain Wortspiel, dänn Bishdariels Brudär maint im Volksmund einän Schlafändän. Was die Wahrheitsdrrrogä angäht – die Alchimistän, die das Unauer Porzellan errrfunden haben, wolltän ursprünglich auch dän Stein därrr Weisän ärrrschaffän.“ Die Magierin schnaubte beleidigt. „Ich sagä Euch, noch ein paar kleinä Värrrbässerungän und Äxpärimäntä, dann wirrrd Bishdariels Brudär Al´Anfa auf däm Gebiet därrr Spionage zur führrrändän Macht das Südäns aufsteigän lassän.“
„Das sind wir doch längst“ Amir lächelte nachsichtig. „Nicht nur, was die Tätigkeit unserer Meuchler und Spione anbelangt. Aber ich bin für jedwede Neuerung durchaus aufgeschlossen, werte Magistra. Wenn sich Eure Erfindung bewährt, wer weiß, vielleicht werde ich eines Tages bei meinen Reden an das Volk darauf zurück greifen. Genug, hinaus mit Euch! Ich erwarte baldige Ergebnisse.“ Ein leichtes Handwedeln. Magistra Esteforia packte ihre Sachen zusammen und eilte mit Goldo und einer hastigen Verbeugung zur Tür.
„Nun zu dir, mein kleiner Rabe“ Mit raschelnder Robe wandte sich der Patriarch in meine Richtung.
„Ihr werdet mich töten lassen, nicht wahr?“ Ich wunderte mich selbst, wie ruhig ich bei diesen Worten klang.
„Dachtet Ihr dabei eher an Gift, Eure Erhabenheit? Einen Dolch, oder das Richtschwert? Eine Seidenschnur? Oder wäre Euch die Garotte genehm ?“
„Lass deine marbiden Scherze. Nein, deine Sorgen sind unbegründet. Boron hat dich zweimal berührt, ihm allein obliegt es, über dein endgültiges Schicksal zu entscheiden. Aber du verstehst sicher, dass ich dir die Flügel stutzen muss, mein aufmüpfiges Räblein. Du wirst nach Saphirna zurückkehren, zu den Menschenfressern, die du doch über alles zu lieben scheinst. In den Minen von Sukkuvelani wird dir genügend Zeit bleiben, um über das Geschenk nachzudenken, die Borons Gabe für uns Sterbliche bedeutet.“
Es war mir beinahe gleichgültig, denn ich hatte mit Schlimmeren gerechnet.
„Gestattet mir nur eine Frage?“
Der Patriarch machte eine gönnerhafte Geste.
„Warum ist das kleine, unbedeutende Friedwang für Al´Anfa so wichtig, dass es alles versucht, es unter seine Kontrolle zu bringen?“
“Wo denkst du hin? Wir Al´Anfaner beuten so viele Landstriche aus, warum sollte uns da ausgerechnet deine Baronie besonders wichtig sein? Trete näher, zu mir ins Mondlicht.“
Ich tat, wie mir geheißen wurde, wenn auch mit leisem Unbehagen.
„Keine Angst, ich werde dir nichts tun.“
Der Patriarch wies auf die Wand hinter mir. „Was siehst du dort?“ .
Ich kniff die Augen zusammen. Obwohl ich mitten im Mondlicht stand und der Lichtstrahl auf den schwarzen Marmor fiel, war dort meine Silhouette nicht zu erkennen, nur eine Art Flackern oder Flimmern.
„Nichts, Herr. Oder besser gesagt nicht viel.“
„So ist es. Du wirfst keinen ordentlichen Schatten mehr. Meine Priester sagen, es läge daran, dass sich deine Geistseele außerhalb ihres Körpers aufhält. Offenbar war es dieses Kind der Finsternis, dass sie dir gestohlen hat. Wie genau, das wissen die Götter allein. Du siehst, ein überaus gefährlicher Gegner. Nicht einmal die Hand Borons hat den Blutsauger vernichten können. Im Gegenteil. Sehr beunruhigend.“
„Meine Seele, was ist mit meiner Seele?“
„Seltsam, wie wenig du bei dem Gedanken, keine Seele mehr zu haben empfindest, nicht wahr? Ein Grund mehr, dich nicht zu töten – was hätte Boron auch davon ? – sondern dich von den Menschen fern zu halten. Aber sei unbesorgt: Die Untaten dieses Illkôr Brasgar werden keinesfalls ungesühnt bleiben. Eine Kreatur, die Boron die Seele eines sterblichen Wesens zu stehlen vermag, darf nicht auf Dere wandeln.“
Er rollte die Aufzeichnungen, die noch immer auf den Tisch lagen, zusammen: „Der arme Goldo ist nur ein Köder, wie man ihn einer zweibeinigen Ratte vorwirft. Dieser Lügentrank, dessen Name mir überaus passend erscheint, enthält eine zweite Komponente: ein boronheiliges Quecksilber, das man Anti-Sikaryan nennen könnte. Es vernichtet jede Lebenskraft, gleich ob in einem Menschen, einem Tier, einer Pflanze oder einem Untoten, und lässt das Opfer zu Asche zerfallen. Bekanntlich leben Vampire von dem Sikaryan ihrer Opfer. Saugt dieses Kind der Finsternis unseren unglücklichen Goldo aus, wird er selbst an dem Gift zugrunde gehen. Goldo hat bereits unwissentlich ein Antidot eingenommen, so dass sich das Anti-Sikaryan gefahrlos in seinem Körper einlagern kann. Du siehst, dein Opfer ist keinesfalls umsonst. Möge dir dies ein Trost sein auf deiner langen Reise“.
Amir Honak schlug einen kleinen Gong. Zwei geharnischte Wachen traten ein, Rabensgardisten, die zu jung waren, als das ich sie kannte.
„Schafft diesen Seelenlosen hinaus.“
Das war das letzte mal, das ich den Patriarchen sah. Ich glaube, Amir begann mich schon in dem Augenblick zu vergessen, als in der Tür der schwarzseidene Vorhang zwischen uns fiel.
Am nächsten Tag brachten sie mich auf eine Bireme, die mit dem Ziel Ter-Rijßen-Archipel in See stach. Zufall oder nicht, es war die B a l p h e m o r, alterschwach zwar und wurmstichig, aber ohne Zweifel das gleiche Schiff, mit dem ich vor fast zwanzig Jahren schon einmal ans Ende der bekannten Welt gebracht worden war . Der Kreis hatte sich geschlossen.
Ich genoss nach all den Jahren noch immer Privilegien. So musste ich nicht an den Riemen schuften, sondern wurde in einem eigenen Verschlag gehalten, als Sondergefangener des Patriarchen. So gingen die Tage dahin. Wir Sklaven hofften natürlich, dass irgendwann das Segel irgendeines Piraten am Horizont auftauchen und der Korsar die Schwarze Galeere aufbringen würde. Bald machten Bilgengerüchte die Runde: Irgendetwas Unvorhergesehenes werde geschehen, dies sei die letzte Fahrt der Balphemor, und dergleichen mehr. Selbst die Matrosen wurden von einer merkwürdigen Unruhe befallen.
Kapitän Belisar Delgrano, der Neffe und Erbe des vormaligen Kapitäns, der in der Seeschlacht in der Tränenbucht gefallen war, bekam bald Wind von dieser Stimmung. Als wir unter Segel fuhren, hielt er eine Ansprache an die Rojer.
Als die Bireme vor vielen Jahren gebaut worden sei, hätte sich auf der Werft ein Unglück ereignet: Eine Trosse sei gerissen, und habe einem Haipu-Sklaven den Kopf abgeschlagen, so dass dessen Blut gegen den Rumpf des Schiffes gespritzt war. Belisars Großonkel habe einen Deuter Bishdariels um Rat gefragt, ob es sich dabei um ein schlechtes Omen handle. Im Gegenteil, hatte der Boroni gesagt: Das Schiff werde viele Jahre glücklich und gewinnbringend zur See fahren, kein Sturm und kein Seeungeheuer könne ihm etwas anhaben, kein Pirat werde längsseits gehen, kein Feuer seine Planken verzehren und es immer eine Handbreit Wasser unter dem Kiel haben. Vulpicio Delgrano hatte die Bireme daraufhin B a l p h e m o r getauft, nicht nach dem Vater des damaligen Patriarchen, sondern ihrem dunkelhäutigen Glücksbringer. Ihr Bug wurde fortan von einem schwarzen Mohakopf geziert. In den weit mehr als zwanzig Jahren, die das Schiff nun schon die Meere zwischen Charypso und Perricum befuhr, habe sich kein größeres Unglück ereignet, im Gegenteil: Wann immer sie in den Hafen von Al´Anfa eingelaufen war, seien ihre Decks immer prall mit Sklaven, Gewürzen und Edelsteinen angefüllt gewesen.
So sprach der junge Belisar Delgrano. Tatsächlich kreuzte auch auf dieser Reise kein Thorwaler und kein Kaperfahrer den Kurs der B a l p h e m o r, um ihre Sklaven zu befreien. Die Freiheit wuchs mir auf ganz andere, unverhoffte Weise zu.
Die B a l p h e m o r hatte eine hochrangige Al´Anfaner Beamtin an Bord, die wohl die Saphirminen von Sukkuvelani inspizieren sollte. Dona Hesindiosa war ihr Name, aber das war auch schon das einzige an ihr, was der Allweisen Herrin gefällig war. Jedenfalls fand sie die Vorstellung einer Schiffsreise durch die gesamte Charyptik überaus romantisch. Schon beim Auslaufen stand sie am Bug und breitete ihre Arme aus wie ein Rabe.„Ich bin die Königin des Südmeers“ rief sie dabei und dergleichen unsinniges Zeug mehr.
Diese Dona Hesindiosa hatte es sich in den Kopf gesetzt, jeden Tag mindestens ein Schaumbad auf dem Achterdeck einzunehmen und dabei mit kleinen Modellen Seeschlachten nachzuspielen. Mir kam dabei die ehrenhafte Aufgabe zu, ihr den Rücken einzuseifen – offenbar waren es genau solche Tätigkeiten, die sich diese Frau unter den Pflichten eines „Sondergefangenen“ vorstellte. Dabei schnurrte sie wie ein Seidenkätzchen, und verlangte hernach oft noch nach einer ausgefallenen Massage in ihrer Kajüte: Massagen, bei denen sie eine schwarze, lederne Maske trug, sich mit dickflüssigem Duftöl einschmieren ließ, mich bei jedem vermeintlichen Fehlgriff mit der Peitsche traktierte, oder aber . . . . Nun, das ist eine andere Geschichte.
Jedenfalls kam es, wie es kommen musste: Bereits auf der Höhe von Altoum waren unsere Trinkwasservorräte restlos aufgebraucht. Also befahl der Kapitän, an der Ostküste der Insel vor Anker zu gehen und nach einer Quelle zu suchen. Diese Aufgabe kam den Schindsklaven aus dem Bauch der Galeere zu. Bei mir erschien die Fluchtgefahr als zu hoch, als das man mich ohne weiteres an Land gelassen hätte.
Dona Hesindiosa allerdings war nach mehreren Tagen auf See nach einem kleinen Spaziergang zumute, wobei ich ihr den Sonnenschirm halten sollte. Bewacht von zwei schwerbewaffneten Matrosen mit Armbrüsten, lustwandelten ich und die Senora also an irgendeiner praiosverlassenen Bucht von Altoum den schneeweißen Sandstrand entlang. Selbst als das Trinkwasser schon an Bord gebracht worden war, wollte die Senora noch nicht zurückkehren. Sie krisch vor Aufregung wie ein kleines Mädchen, bückte sich nach jeder Muschel, warf sie wieder fort, tanzte herum und sprang in die Wellen hinein, wie sie tosend hereinkamen. Als würde selbst Efferd die Bosheit Al´Anfas nicht ertragen, wich das Meer plötzlich und binnen kürzester Zeit zurück. Hunderte kleine Fische lagen zappelnd auf dem Strand. Begeistert gab Dona Hesindiosa den Matrosen den Befehl, die Tiere für das Abendessen aufzusammeln, wobei sie überhaupt nicht bedachte, dass sie und die Offiziere soviel Fisch gar nicht würden verzehren können.
Plötzlich hörte ich ein Grollen vom offenen, strahlendblauen Meer her , und sah, wie sich weit draußen eine Welle auftürmte.
Aus der Ferne erschien sie mir zunächst als nicht sehr hoch, aber rasch wuchs sie zu einer regelrechten Mauer aus Wasser heran. Meine Instinkte aus dem Regenwald sagten mir, dass ich fliehen musste. Ohne nachzudenken, ließ ich den Sonnenschirm fallen und lief auf den Urwald zu. Die närrischen Matrosen haben mir noch ihre Bolzen hinter her geschossen, den Göttern sei Dank aber schlecht gezielt. Dann schlug die Welle mit mörderischem Donnern am Strand auf. Ich höre noch immer die Schreie der Al´Anfaner, und emfinde keine Genugtuung beim Gedanken an ihr jämmerliches Ende. Quader von Wasser begruben mich unter sich. Die Flut riss mich über scharfkantige Felsen hinweg in den Dschungel hinein. Ich überschlug mich, schluckte Salzwasser, wurde gegen Bäume geschlagen.
Arg zerschunden, konnte ich mich an einer Palme festhalten und so verhindern, dass mich die Jahrhundertwoge hinaus aufs offene Meer zog. Immer neue Brecher schlugen auf mich ein. Schließlich ging das Wasser etwas zurück, und ich konnte mich auf eine nahe Klippe retten. Dort oben sah ich ein Bild, das ich mein Lebtag nicht vergessen werde: Die B a l p h e m o r lag Hunderte Schritt vom Meer entfernt im Dschungel, von der Flutwelle über die abgeknickten Bäume hinweg getragen wie bei einem Stapellauf, nur in umgekehrter Richtung. Nun ruhte sie quer über einem kleinen Bächlein, der Mast und der Kiel gebrochen, hie und da starrten noch einzelne Riemen aus ihrem hölzernen Leib – ein Grabmal für Sklaven wie Freie gleichermaßen. Das jemand an Bord diese Urgewalten überlebt haben konnte, war ausgeschlossen. Der Boroni hatte mit seiner Prophezeiung also recht behalten: Kein Sturm, kein Pirat und kein Seeungeheuer hatte der Schwarzen Galeere das Ende gebracht, und selbst jetzt noch fand sich eine Handbreit Wasser unter ihrem Kiel.
Ich aber war frei. Alles andere war im Grunde für einen Schüler des Regenwaldes ein Kinderspiel. Ich schlug mich durch den Urwald, nährte mich vom Saft des Turupa-Baumes, erhielt bei Holzfällern Gastung und lebte eine Zeitlang bei den Bukanieren. Viele dieser wilden Gesellen waren von der Flutwelle ebenfalls hart getroffen worden, die sich hier unten mit einer gewissen Regelmäßigkeit ereignen sollten. Mit einem selbstgebauten Kanu ging es dann die Küste entlang gen Firun.
An der Straße von Souram (der südlichen bei Altoum, nicht der gefährlichen Landenge zwischen Ost- und West-Souram) wartete ich auf die Ankunft eines Schiffes, das mir zusagte. Ich schätzte mich glücklich, als eine Festumer Karracke, die S i e b e n g e s c h w i n d, auf meine Rauchzeichen hin beidrehte und ein Ruderboot zum Strand schickte.
Als sie mich hinüberbrachte, zog die Besatzung am Bug plötzlich eine Tafel nach oben, und zu meinem Entsetzen entpuppte sich die S i e b e n g e s c h w i n d als S i e b e n g e h ö r n t. Ich war in die Hände xeraanischer Piraten gefallen. Ihr Kapitän war der schwarzbärtige, einarmige Mercurio.
Francesco blickte erstaunt: „Der Schwarze Mendener?“
„Ja, so nannte er sich. Kennst du ihn ?“
„Das kann man wohl sagen. Nein, ich glaube das jetzt nicht. Ich bin ihm später auf einer Queste nach Maraskan begegnet. Aber das ist eine andere Geschichte4. Er hatte einen Handhaken und einen Papageien auf der Schulter, nicht wahr? Wie hieß das Mistvieh noch gleich? Shruufschnabel, glaube ich?“
„So ist es.“
„Eine seltsame Laune des Aves, will mir scheinen. Mercurio, der Schwarze Mendener, nein so was! Aber erzähl weiter.“
„Nun, bei meiner Treu, was soll ich sagen? Ich war vom Regen in die Traufe geraten, wie man so schön sagt.“
Mercurio und seine Bande hatten in diesem Gebiet schon seit Wochen kein Schiff mehr aufgebracht. Nun streunten sie auf der Suche nach Strandgut, dass in den Untiefen der nordöstlichen Souramstraße recht häufig zu finden sein soll, umher und waren überaus schlecht gelaunt. Allein dass ich ihnen versprach, sie zum Wrack der B a l p h e m o r zu führen, rettete mir wohl das Leben.
Ich muss zugeben, dass ich erst nach und nach begriff, was der Unterschied zwischen einem Piraten der Dämonenreiche und einem stolzen Freibeuter des Tiefen Südens ausmachte, wie ich sie zumindest vom Hörensagen kannte. Zuerst hielt ich das Gerede der Mannschaft von einer riesigen Ratte, die sie bei Aeltikan an Bord genommen hätten und die nun in einem Verschlag im Unterdeck säße, für Seemannsgarn. Dann kam es zu einem Streit zwischen einem von Mercurios Männern und Emporio Lamendusa, dem Leutnant, ich glaube,weil der Pirat sich sinnlos betrunken hatte und auf Wache eingeschlafen war . Der Zwist endete damit, dass der Pirat mit einem Messer auf den Leutnant losging. Zur Strafe wurde er, noch völlig betrunken, ins Unterdeck geschleift und in besagten Verschlag gesperrt. Ich hörte nur die grässlichen Schreie, eine lautes Fiepen oder Quieken, und sah dann die völlig zerfleischte Leiche auf dem Oberdeck liegen. Viel war von dem Meuterer nicht mehr zu erkennen, aber seine entsetzlichen Wunden sahen wirklich so aus, wie von gewaltigen Nagezähnen in seinen Leib geschlagen. In diesem Augenblick glaubte ich die Geschichte mit der Riesenratte von Aeltikan.
„Das Vieh ist für die Arena von Al´Anfa bestimmt“ meinte Mercurio beiläufig. „Ich mache ab und an gute Geschäfte mit einem Sklavenhändler namens Dom Timotheo? Kennst du ihn zufällig, bei den feuchten Haaren der Tiefen Tochter? Du kommst doch aus der Pestbeule des Südens.“
Ich verneinte, auch wenn ich an Mercurios Dialekt erkannte, dass er ebenfalls Al´Anfaner sein musste. Das sah Dom Timotheo ähnlich, mit einem götterlosen Xeraanier Geschäfte abzuschließen.
„Wenn du uns angelogen hast, was dieses Wrack angeht, bist du das nächste Rattenfutter, blutiger Schwefel und Dämonenpest“, fügte der Schwarze Mendener noch beiläufig hinzu, während sie den Toten wie Abfall über Bord warfen. „Das wohl, das wohl“ kreischte der Papagei auf seiner Schulter. „Rattenfutter, Rattenfutter!“
„Halt die Klappe, Shruufschnabel“, knurrte der Piratenkapitän und schlug mit dem Handhaken nach dem hässlichen Vogel. Ich war von diesem Moment mehr auf der Hut als je zuvor. Den Zwölfen sei Dank gelang es mir, ein Messer in den Stiefel zu stecken, das eines der götterlosen Piraten achtlos liegen gelassen hatte. Ich schwor mir, mein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.
Die S i e b e n g e h ö r n t war ein einziger schwimmender Alptraum. Bei der pechschwarzen Karracke handelte es sich um einen Seelenverkäufer im Wortsinn. Die Piraten brachten sich oft wegen Nichtigkeiten um, ohne dass dies Mercurio im mindesten gestört hätte. Nur Angriffe auf Offiziere wurden geahndet, dann aber grausam. Im Gegenzug erschlug der Schwarzbärtige hin und wieder ohne ersichtlichen Grund ein Mitglied seiner Mannschaft, und verbreitete dadurch Angst und Schrecken unter diesem Abschaum. Die Bande bestand nicht einmal ausschließlich aus Menschen: Ich sah unter anderen einen feisten Krakonier, einen Hummerier mit Pendelaugen und Scheren statt Armen sowie mehrere Echsenmenschen.
Dann war da noch Triefauge. Sah aus wie eine Mischung aus Krakonier und Wasserleiche. Zumindest roch er so. Ständig tropfte Salzwasser aus seinen glitschigen, grindigen Glatze. Der Paktierer, der offenbar eine Art Priester der Unbarmherzigen Ersäuferin war – möge Efferd uns beistehen! – konnte nicht einmal mehr richtig sprechen, er gluckste und zirpte wie ein Unterwasserwesen. Ich glaube, er hatte sogar schon Kiemen am Hals, sein ganzer Körper war mit merkwürdigen Tätowierungen bedeckt. Außerdem gab es noch Fisch, den Schiffsjungen, der taubstumm war, stahl wie eine Elster und seinen Körper als Lustknabe an den Meistbietenden feilbot. In der Regel an einen einäugigen Kerl namens Zoltan Schönauge, der wahrlich oronische Neigungen hatte. Ich habe in Al´Anfa wahrlich einiges an Schlechtigkeit erlebt, aber erst auf dieser xeraanischen Karracke erfahren, was dagegen die Verderbtheit der Niederhöllen bedeutet.
Nach zwei oder drei Tagen erreichten wir den letzten Hafen der B a l p h e m o r . Die Piraten plünderten die verwesenden Leichen und das Schiff wie die Aasgeier. Als wir wieder an Bord der Karracke waren, klopfte mir Mercurio auf die Schulter: „Du hast Wort gehalten, mein Freund. Und ich habe dich wie versprochen am Leben gelassen. Wie lange, davon war nie die Rede. Bringt ihn runter zur Ratte!“
Johlend und lachend zerrten mich die Piraten hinunter ins Unterdeck, wo ein großer Verschlag stand. Dann stürmten sie wieder die Treppe hinauf, einer sprang oben auf die Kiste und öffnete sie. Ein graues Etwas mit hässlicher, rüsselartiger Nase sprang wie ein Blitz heraus und griff mich an. Instinktiv zog ich das Taumesser aus meinem Stiefel und stach zu. Ich erwischte das Mistvieh, wurde aber schmerzhaft von zwei Hauern an der Schulter getroffen. Der Biss ging verflucht tief. Verzweifelt, fast schon panisch kämpfte ich um mein Leben. Irgendwann lag das schweinegroße Untier vor mir in seinem Blut und röchelte nur noch schwach. Erst jetzt bemerkte ich, mit was für eine Kreatur ich es zu tun hatte. Es war ein eigentlich harmloser Pflanzenfresser, wie ich ihm selbst schon im Dschungel begegnet war und den die Mohas Tapir nannten. Dem pelzigen Leib nach und wegen der markanten Nase konnte man ihn leicht mit einer riesigen Ratte verwechseln. Die Piraten mussten das Tier bis in den Wahnsinn gequält haben, wie Brandwunden und Peitschenhiebe an seinem ganzen Körper verrieten, und es auf diese Weise erst aggressiv gemacht haben. Ich aber hatte es getötet.
„Nicht schlecht, Siebenfinger, bei allen plankenfressenden Würmern der Blutigen See, nicht schlecht.“ Mercurio klatschte Beifall, in dem er seine stählerne Prothese gegen einen Stützbalken schlug.„Ich kann beherzte Kerle wie dich gebrauchen. Aber für dies wahrlich seltene Tier hätte mir Dom Timotheo mehr gezahlt als ich Dummkopf für den charyptorothverfluchten Krüppel von Papagei, den er mir in Port Rulat aufgeschwatzt hat. Du wirst deine Schulden beim Schwarzen Mendener abarbeiten müssen, so oder so.“
Also wurde ich Seeräuber, wenn auch wider Willen. Siebenfinger oder Alrik Treibgut, so nannten sie mich. Letzteres klang wie eine ständige Drohung.
Zwei Wochen später fielen wir dann auf der Höhe von Thalusa über die S c h w a r z s t o r c h, eine Al´Anfanische Potte her. Ich hatte wahrlich keinen Grund, die Bewohner der Pestbeule zu lieben, aber das Gemetzel an den unschuldigen, kaum bewaffneten Matrosen war grauenhaft. Da ich mich nach der Meinung des Schwarzen Mercurio mit zuwenig Eifer am Kampf beteiligt hatte, wurde ich kurzerhand zu den Gefangenen unter Deck gesperrt.
In Mendena würde man uns auf dem Sklavenmarkt oder schlimmer noch an finstere Beschwörer verhökern, hieß es. Auch eine Art, seine Schulden beim Schwarzen Mendener zurück zu zahlen . . . Nun, ich hatte Glück. Im Sturm wurde die S i e b e n g e h ö r n t von ihrer Prise getrennt. Tags darauf kreuzte die S c h w a r z s t o r c h dann den Kurs einer horasischen Schivone. Deren Besatzung schöpfte ob der schweren Bewaffnung und dem wilden Aussehen der Besatzung Verdacht und brachte den Korntransporter nach kurzem Geplänkel auf. Nun waren wiederum die götterlosen Piraten der Übermacht hilflos ausgeliefert. Gleichzeitig gab es einen Aufstand der Gefangenen, deren Anführer meine Wenigkeit war. Schon nach einer halben Stunde war alles vorbei.
An Bord der A s m o d e n a – H o r a s wurden wir nach Khunchom gebracht. Nun ja, der Ausgang der Geschichte hatte für die Al´Anfaner einen Dämonenfuß, denn Kapitan Emeraldo ya Gamba, ein unglaublich arroganter, aber auch kultivierter und tapferer Mann behandelte ihr Schiff seinerseits als Prise. Nun gut, die Handvoll überlebender Matrosen hätte sich vermutlich ohnehin schwer getan, die beschädigte Potte sicher in einen Hafen zu steuern.
Ich als Mittelländer wurde eigentlich recht anständig behandelt, vor allem, nachdem ich eine verkürzte Version meines Schicksals zum besten gegeben hatte. Die gefangenen Piraten waren ebenso einfältig wie hasserfüllt genug, um mit Flüchen und Verwünschungen meine Geschichte zu bestätigen, bevor sie ya Gamba ohne viel Federlesens an den Rahen aufknüpfen ließ. Die Al´Anfaner Matrosen wurden bei Khunchom an Land gesetzt. Der Kapitan zahlte mir großzügigerweise sogar ein kleinen Anteil am Verkauf der Potte und ihrer Ladung aus. Ein nicht ganz sauberes Geschäft, wie mir dünkt, aber angesichts der Umstände, die mich seinerzeit nach Al´Anfa verschlagen hatten, hielt sich meine Entrüstung in Grenzen. Zumal für mich, völlig mittellos wie ich war, die Horasdor das reinste Göttergeschenk darstellten. “
„Nun, die Prise hat dem Horasier kein Glück gebracht.“ Francesco lächelte schmallippig. „Wenn ich mich recht entsinne, wurde die Asmodena-Horas wenig später vom Schwarzen Mercurio aufgebracht, der bei dem Kampf sein altes Schiff verlor. Sie fuhr dann als Fran-Horas durch die Blutige See und ist heute vermutlich ein Geisterschiff.“
„Ja, der Schwarze Mendener schien mir überaus nachtragend zu sein, und dabei über eine Art siebten Sinn zu verfügen – gleich einem Mörderwal, der angeblich ja auch über viele Hundert Meilen hinweg spürt, wenn ein Mitglied seiner Sippe getötet wird, und dann blutige Rache übt. Einmal hat er mich aus einer Laune heraus in eine bizarre geformte Muschel horchen lassen, die offenbar magisch war. Ob es sich dabei um ein Efferd gefälliges Artefakt handelte, weiß ich nicht. Ich konnte die Stimmen des Ozeans hören, ein tiefes Rauschen, den klagenden Gesang und das tiefe Brummen der Wale, ein schnatterndes Quietschen der Delphine . . . Nun, ich glaube nicht, dass die Muschel wirklich unheilig war. Mercurio spürte wohl, dass ich bei diesen Urlauten eine tiefe Verehrung für Efferd und den Ozean in mir zu spüren begann, denn er riss mir die Muschel aus der Hand. Er würde damit jedes Schiff hören, das in Hundert Meilen Umkreis das Meer befahre, teilweise sogar Gespräche belauschen, die an Bord stattfänden. Dank der Muschel sei er zu einem der reichsten Piraten der Blutigen See geworden. Ihm entgehe dadurch nichts und niemand in seinem Tiefblauen Reich. Mercurio gefiel sichtlich die Betroffenheit in meinem Gesicht darüber, dass dieses herrliche Artefakt zum Jagdwerkzeug eines blut- und raubierigen Xeraaniers verkommen war. Hämisch grinsend sperrte er sie wieder in eine Kiste, über der mich zu allem Überfluss als Porträtbild das runzlige, kahle Gesicht des Portifex Maximus anstarrte“.
„Merkwürdig, diese Zaubermuschel haben wir an Bord der Fran-Horas gar nicht gefunden“, meinte Francesco, der gerade seine Pfeife in den Kamin ausklopfte. „Offenbar ist sie mit der Siebengehörnt untergegangen. Efferd sei Dank, den so ein Unterwasser-Hörrohr ist in der Hand eines götterlosen Piraten wahrlich eine gefährliche Waffe . . . Vielleicht war der Verlust der Muschel der Grund für Mercurio Mirhamdez´ Niedergang. Als ich, meine Schwester Gunelde, der Magus Hesindian, Odilon Wildgrimm von Gallys und dessem Tochter Alvan, ach ja, und dieser Streuner Sigismund an Bord der Fran-Horas kamen, befand sich die Mannschaft jedenfalls schon am Rande einer Meuterei. Mich wundert auch, dass mich der Schwarze Mendener nicht `wiedererkannt´ hat, immerhin sehe ich ja fast aus wie du und bin auch unter dem gleichen Namen aufgetreten.“
„Nun ja. Alrik ist ein Allerweltsname, und so wie damals aussah, mit Zottelbart und langen Haaren, wie sich Käp´tn Belisarius Süderstrand auf einer einsamen Insel, hätte ich auch der Kaiser von Gareth sein können und wäre nicht erkannt worden.
Von Khunchom aus schlug ich mich auf Umwegen bis Almada durch. Die Reise durch Mhanadistan und über den Raschtulswall war ein Abenteuer für sich. Die Gastfreundschaft der Tulamiden, die mir auf dem Weg zuteil wurde, beschämte mich allerdings zutiefst. Ich selbst konnte kaum glauben, dass ich siebzehn Jahre zuvor als hasserfüllter Eroberer an Tar Honkas Feldzug ins Kalifat teilgenommen haben sollte. Ein paar Tage verbrachte ich dann in Punin, um mich von den vorangegangenen Strapazen zu erholen und Magisters Gordianus Al´Runahand aufzusuchen, der ja ein alter Freund unserer Familie war.“
„Viel Glück wirst du dabei nicht gehabt haben. Er ist im Krieg gegen den Bethanier gefallen.“
„Ja, diese traurige Nachricht habe ich in der Akademie erhalten. Ich bin dann weiter in Richtung Gareth gereist, wo angeblich noch ein paar weit entfernte bürgerliche Verwandte unserer Familie namens Glimmerdieck leben sollen. Du weißt ja, wir sind eine der größten Familien des Reiches.“
Alrik grinste sarkastisch, und auch Francesco musste schmunzeln. Glimmerdiek oder Glimmerdieck war im Reich tatsächlich ein Allerweltsname. Schwer zu sagen, wer davon mit dem Haus Friedwang war und wer nicht.
„Gefunden habe ich sie jedenfalls nicht. Ehrlich gesagt, wollte ich mir vor allem die Kaiserstadt ansehen und wohl auch unsere Wiederbegegnung hinauszögern. Denn je näher ich wieder an Friedwang herankam, desto mehr wurden mir die Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten bewusst, die mich in meiner Heimat erwarteten: Eine Familie besaß ich nicht mehr, stattdessen gab sich dort nun mein ehemals bester Freund unter meinem Namen als Baron aus. Vor allem hatte ich wenig bis überhaupt nichts in der Hand, um zu beweisen, das ich wirklich der aus der Al´Anfanischen Sklaverei zurück gekehrte Baronierbe Alrik Tsalind von Friedwang war. Ich selbst hatte nach all den Jahren ja so meine Schwierigkeiten, das zu glauben. Zudem rann mir das Geld nur so durch die Finger, es war zweifelhaft, ob ich es mit den paar Silbertalern überhaupt noch bis nach Rommilys schaffen würde. Mich als Tagelöhner oder zu sonstiger niedriger Arbeit zu verdingen, dafür war ich zu stolz“.
Eines Tages, als ich wieder einmal ziellos durch die Gassen von Gareth schlenderte, sah ich eine aufgeregte Menschenmenge, die einem von Stadtgardisten bewachten Wagen folgte. Auf dem Ochsenkarren stand ein Mann, die Hände gefesselt und den Kopf unter einer blutroten Kapuze verborgen. Ich gestehe, dass ich aus reiner Neugier dem Schauspiel folgte, das offenbar in der Nähe des Stadtrands, am Gardelbach enden sollte. „Ick fass es nich´“, hörte ich einen der Gaffer sagen, „ `nen Giftmörder in so `ner Brühe zu ertränken, dett is doch selbst een Attentat“.
Es stellte sich heraus, dass der Mann ein notorischer Glücksspieler war, ein Ausländer aus der Pestbeule des Südens noch dazu, der vor einigen Wochen einem angesehenen Händler ein Tränklein verkauft hatte. Kaum hatte der brave Bürger davon getrunken, war er auf der Stelle zu Staub zerfallen.
Als der Henker von Gareth dem Delinquenten die Kapuze vom Kopf zogen, damit er noch ein paar Worte ans Volk richten konnte, erstarrte ich. Es war mein eigenes Gesicht, das mich von dort oben ansah - zugleich vollkommen künstlich und wächsern, wie ein lebendes Spottbild meiner selbst. Nicht nur deswegen wusste ich sofort, um wen es sich bei dem angeblichen Giftmischer handelte. S i e hatten dem Mann grässliche Narben zugefügt, wohl um die Unvollkommenheit dieser Kopie zu übertünchen, und auch drei Finger der linken Hand abgehackt. Kein Zweifel, das musste der unglückliche Goldo sein, der dort oben darauf wartete, zur Mittagszeit im Gardelbach ersäuft zu werden. Irgendwie tat er mir leid, vor allem fühlte ich mich für das Schicksals meines Al´Anfaner „Doppelgängers“ mit verantwortlich.
Ehe ich mich versah, hatte ich auch schon mein Schwert gezückt und war auf den Ochsenkarren gesprungen. Ich drängte den völlig überrumpelten Scharfrichter hinunter und schlug mit der Peitsche auf die Tiere ein. Ochsen können erstaunlich schnell sein, aber mehr noch als ihre Geschwindigkeit rettete mich der Garether Mob, der uns Flüchtenden hinterherdrängte – wobei sie vor Begeisterung ob dieser sensationellen Wendung johlten und brüllten und den Stadtgardisten die Verfolgung unmöglich machten. Kurz zuvor hatten sie noch ebenso lauthals den Tod des Giftmischers gefordert.
Am Rand der Dämonenbrache, wohin uns selbst zur Praiosstunde niemand zu folgen wagte, hielt ich dann an. Goldo war mir überaus dankbar für seine Rettung. Er hatte nie ernsthaft daran gedacht, nach Friedwang zu gehen, vermutlich weil er bereits spürte, dass ihm seine Geschichte niemand glauben würde. Vor allem aber fürchtete er sich vor Merwan, den er mit einem geweihten Silberdolch töten sollte, und war völlig aufgelöst wegen eines Boronfrevels, den er noch in Al´Anfa begangen hatte. Beim Schlendern über den riesigen Boronanger war er auf das Grab von Firungaro di Friedwang-Palazzo gestossen, dem Questador, dessen letzte Ruhestätte ich eigentlich eher im Brabakischen vermutet hätte. Des Nachts war Goldo in die Gruft eingebrochen und hatte dem Skelett den Siegelring vom Knochenfinger gezogen. Später hatte ihn Reue überfallen - und nicht zuletzt deswegen der Mut für seine Mission verlassen. Schließlich war er in Gareth gestrandet, wo er Tarquinios Lügentrank zu Geld hatte machen wollen.
Wir kehrten auf Schleichwegen zurück in die Stadt. Goldo führte mich zu seinem Quartier, wo er den Silberdolch, einige Münzen sowie den Siegelring versteckt hatte. Er gab mir den Ring, nachdem ich ihm stellvertretend für Firungaro den Frevel verziehen hatte – es war ja gewiss im Sinne unseres Urahnen, dass sein Siegel nach Friedwang zurückkehrte. Desweiteren schenkte er mir den versilberten Dolch, den ich nach allem, was mir Amir Honak erzählt hatte, für ziemlich machtlos gegen Merwan hielt. Also verkaufte ich ihn, wenn auch weit unter Preis, bei einem Hehler, da die offensichtliche Kultwaffe sonst niemand hatte erwerben wollen.
Mit dem Geld schaffte ich es dann, Ende Tsa 32 Hal, gerade bis nach Friedwang. Ich erfuhr, dass für den Phexmond ein Maskenball auf Burg Friedstein anberaumt war. Da dazu auch viele andere schwarzsichler Adelige eingeladen waren – darunter auch der Reichskammerrichter Keven von Grassing -, erschien mir die Gelegenheit überaus günstig, mein Recht einzufordern. Nun ja, ich war wohl ziemlich naiv. Aber woher sollte ich auch ahnen, dass die übrigen Barone auf Francescos Taschenspielertricks hereinfallen würden – oder besser gesagt, mit ihm gemeinsame Sache machen würden? Ich dachte, ich könnte das Ganze wirklich mit einem klassischen Zweikampf regeln.
„Am Ende hast du mich dann in die unterirdischen Gewölb von Burg Friedstein geschleppt, verschnürt und den Mund mit einer Serviette gestopft. Ich empfand beinahe so etwas wie Dankbarkeit, als du mich nur in diese Falle mit den Borbaradmoskitos geworfen hast – ich hatte mit meinem Leben bereits abgeschlossen. Nun, wie ich schon sagte, zwei Dutzend Moskitos reichen nicht aus, um einen Mann den Verstand zu rauben, auch wenn die Nacht in diesem lichtlosen, stickigen Loch alles andere als angenehm war. Meine Erinnerungen schienen den Biestern nicht recht zu pläsieren, wahrscheinlich waren sie einfach zu schlecht für ihren Geschmack – Praios sei Dank. Einige waren wohl auch tot, zumindest habe ich ihre verdörrten Leiber auf meiner Haut gespürt. Irgendwann kamst du dann verschleiert mit einer rauchenden Fackel die Leiter heruntergestiegen und hast mich wieder nach oben gebracht.“
„Ja, die Biester haben auch mich ein paar mal gebissen. Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, wie ich dich aus der Falle rausgebracht habe. Nur dass du plötzlich als stammelnder Narr durch die Burg gekrabbelt bist.“
Lacertinus blickte mit zusammen gerunzelten Augenbrauen in Francescos Richtung: „In eine Falle mit Borbaradmoskitos hast du deinen Bruder geworfen? Das als war des Rätsels Lösung für seine Narrheit. Nun, so etwas ähnliches habe ich mir bereits gedacht. Eine wenig göttergefällige Vorgehensweise, fürwahr.“
„Was hätte ich denn tun sollen? Umbringen wollte ich ihn ja nicht gleich, im Gegensatz zu ihm. Zu einem Zweikampf auf Leben und Tod hat er mich herausgefordert. Da habe ich ihn mit Schafgift außer Gefecht gesetzt und mich an die Falle mit den Borbaradmoskitos erinnert.“
„Ach was, ich hätte dich nur ein wenig angeritzt. Wollte dir eben eine Lektion erteilen.“
„Sehr schön. Das hättest du dann aber auch dazu sagen müssen.“
„Sei´s drum, die Sache mit den verfluchten Fliegen ging einigermaßen glimpflich aus. Mit Hilfe der Magd Merle konnte ich dir vorgaukeln, meinen Verstand verloren zu haben. Die Geschichte mit diesen Narrenbeeren habe ich dir schon erzählt. Was ich nicht erzählt habe ist, dass sie hochgradig süchtig machen. Ich war also darauf angewiesen, dass mir die Dörfler regelmäßig ein paar Beeren zusteckten – erst Merle, dann andere. Sie wollten mich mit dieser, wie nanntest du sie doch gleich, Ogerschelle, wohl buchstäblich dumm halten. Ich kann mich kaum noch an diese unselige Zeit erinnern. Hesinde hat mich damals verlassen. Auch diese Nacht im Tempel, als Praionor den Hund vom Schratenwald erschlug, ist wie unter einem Schleier verborgen. Glücklicherweise . . .
Ich weiß nur noch, dass ich plötzlich mit weit aufgerissenen Augen am Boden lag und mich nicht mehr rühren konnte. Als hätte mich der Schlagfluss getroffen. Parinor und die übrigen Geweihten beugten sich über mich und sprachen mit verzerrten Stimmen, die ich kaum noch verstand. Erst als sie mir die Augen schlossen, begriff ich, dass sie mich für tot hielten.“ Alrik erschauerte und trank hastig einen Schluck. Etwas Rotwein rann ihm wie Blut den Mundwinkel herunter.
„Ein klassischer Fall von Scheintod“ meinte Lacertinus. „Möglicherweise gab es durch den Diebstahl deiner Seele eine besondere geistige Verbindung zwischen dir und dem Dämonenhund. Als er starb, fielst auch du in diesen todesähnlichen Zustand. Oder der Schreck vor der Bestie hat deine Glieder erstarren lassen. Vielleicht liegt da auch eine Mischung aus beiden vor. Da fällt mir ein: Ogerschelle schreibt man bei Überdosierung ebenfalls eine lähmende Wirkung zu . . .“
Francesco nickte. „Das hat Gunelde auch gesagt. Eine macht dumm, zweie haun dich um“
„Nun, ganz so gefährlich sind die Beeren nicht. Aber man hört da das verückteste Zeug. Manche glauben, nach einer Handvoll fliegen zu können, stürzen vom Dachfirst und brechen sich sämtliche Knochen. Andere liegen einfach nur da und starren an die Decke: Stundenlang, tagelang. So wie du.“
„Ja. Es gibt wirklich Angenehmeres, als seinen eigenen Tod zu erleben“ Alrik wischte sich das Kinn sauber.
Es war, als hätte ich einen Marbotäubling gegessen. Keinen Finger konnte ich mehr rühren, nicht einmal mit dem Fußzeh wackeln. Nachdem sie mir die Augen zugedrückt haben, war ich sogar blind. Ich kann nicht wirklich beschreiben, was mir in diesem Zustand durch den Kopf ging. Panik, natürlich, die Angst davor, lebendig begraben zu werden – ich hoffte nur, dass, wenn ich schon sterben sollte, es wenigstens auf einem Scheiterhaufen passieren würde. Dann dieses dämonische Jucken an meinem linken großen Zeh – es machte mich irrsinnig. Die ganze Zeit musste ich auch an Praiociosa denken, meine Kameradin auf der Halbinsel von Elem, die dieser mohische Giftpfeil getroffen hatte. War sie wirklich tot gewesen, als wir sie im Urwald verscharrt hatten? Langsam wuchs in mir der Wahn, ihr Geist sei zurückgekehrt, und wolle sich an mir rächen. Schon, als sie mir ein Leichentuch über den Kopf zogen, und mich in der Krypta aufbahrten, hatte ich Angst zu ersticken – wie muss es erst sein, wenn schaufelweise Erde auf dich geworfen wird? Dann, wenn ich eine Zeitlang still lag, vor mich hindämmerte und merkte, dass ich immer noch am Leben war (auch wenn ich offenbar immer wieder für kurze Zeit das Bewusstsein verlor), schöpfte ich wieder Hoffnung. Früher oder später musste doch ein Boronsdiener kommen und merken, dass ich noch am Leben war. Einmal hörte ich, wie zwei Praioten sich genau darüber unterhielten. „Sollte man nicht den Golgariten Bescheid geben?“ fragte der eine, offenbar ein Bannstrahler, der eine Art Totenwache hielt. „Manchmal habe ich fast das Gefühl, er sei noch am Leben.“
„Wir sollten den Raben nicht rufen, wenn es vermeidbar ist“, antwortete der Andere . Möglicherweise war es Parinor, auch wenn ich unter der Decke die Stimme nicht recht erkannte. „Sie werden möglicherweise Fragen zur Herkunft dieses Mannes stellen und uns in Versuchung führen, Antworten zu geben, die dem Herrn Praios nicht gefällig sind. Vergiss nicht, dass seine Seele durch namenlose Ränke im Leib dieses Hundes gebannt war. Als wir die Bestie gestern auf dem Scheiterhaufen verbrannt haben und sie sich noch einmal heulend aufgebäumt hat, konnte ich spüren, wie der unsterbliche Teil dieses Unglücklichen leicht und unbeschwert sein Gefängnis verlies. Dieser derische Leib hier war bereits seit langem entseelt.“
Mindestens einen Tag lang lag ich also schon so. Ich hatte brennenden Durst und langsam wuchs in mir die Erkenntnis, dass ich durchaus auch ganz schlichtweg verhungern und verdursten könnte. Schließlich kam Francesco und schlug das Laken beiseite.
„Er sieht wirklich aus, als würde er nur schlafen“, hörte ich den falschen Baron sagen – es klang fast so, als hoffte er es. Oder nach schlechtem Gewissen. Erneut glomm Hoffnung in mir auf. Es ist ein scheußliches Gefühl, zu glauben, nur zu blinzeln oder einen kleinen Finger bewegen zu müssen, um sich verständlich zu machen und sich doch keinen Haarbreit rühren zu können.
„Bitte um Nachsicht, Euer Hochgeboren, aber das täuscht“, sagte einer der Bannstrahler. „Es ist wohl die Nähe des heiligen Alboran, die seinen Leib noch mit Licht erfüllt.“
„Kann es einen besseren Beweis dafür geben, dass Alboran wahrlich ein Heiliger ist?“ erwiderte eine schwärmerische Frauenstimme. „Heißt es nicht, dass die Orkensauffe seinen Leib völlig unverwest freigeben habe, obwohl er für ganze zwölf Praiosläufe darin verschwunden war? Es ist zweifelsohne allein die Aura der Reliquien Sankt Alborans, die diesen Körper noch so frisch aussehen lässt.“
„Und doch darf der Leib eines schändlichen Menschen nicht an einem derart heiligen Ort ruhen“, erwiderte der erste Praiot. „Bedenke, der Siebenfingrige war nichts weiter als ein Hochstapler und Narr, wenn nicht Schlimmeres. Man sollte seine Überreste baldigmöglichst auf dem Arme-Sünder-Anger verscharren und nicht länger als nötig neben den verehrungswürdigen Knochen eines Heiligen aufbahren.“
„Der Meinung bin ich auch!“ beeilte sich Francesco zu sagen. „Ich werde Parinor bitten, mir den Leichnam auszuhändigen. Die Gemeinschaft des Lichts hatte schon zuviel Scherereien mit A...äh...diesem Verirrten.“
Sie gingen nach oben und nach einiger Zeit kehrte Francesco in Begleitung eines fremden Mannes zurück.
„Tja, mein Lieber, nun werden wir dich beerdigen. Es gibt da eine hübsche Stelle im Wald, wie geschaffen für deine letzte Ruhestätte.“
Ich hatte mich beinahe schon an meinen eigenartigen Zwischenzustand zwischen Leben und Tod gewöhnt. Aber nun, da die Dinge einer Entscheidung zustrebten – der schrecklichsten Lösung von allen – kehrte das Grauen in meine steifen Glieder zurück. Sie packten mich auf eine Tragbahre und brachten mich nach oben, ins Freie. Die frische Nachtluft und der Regen ließen eine Klarheit in mein Bewusstein zurückkehren, die den Schrecken ins fast Unerträgliche steigerte.
„Und ich sag´, der lebt noch!“ sagte der Fremde.
„Unsinn.“ Der falsche Baron klang ungehalten, aber auch ein wenig unsicher. „Ich werde es dir beweisen.“
Ein Dolch wurde hörbar aus einer Scheide gezogen. Einen Augenblick lang hoffte ich, dass Francesco ihn mir ins Herz stoßen würde, wie wir es damals bei Praiociosa getan hatten – ins Herz, das jetzt für mich hörbar klopfte (aber die anderen mussten es doch um der Götter willen auch hören?). Stattdessen hob er die Hand und stach in einen Finger. Zumindest vermutete ich das, denn ich spürte nichts.
„Siehst du. Der macht keinen Muckser mehr.“
Sie wickelten mich in irgendetwas hinein und legten mich auf ein Packpferd, aber ich nahm es kaum noch wahr.Denn von nun an tobte in meinem Kopf ein Dämon. Ich sah die tote Praiocosa auf mir liegen und mit Erde verschmierten Lippen immer die gleichen Worte formen: Lebendig begraben . . .lebendig begraben. . . lebendig begraben...Dabei fielen ihr kleine Erdkrümel aus Mund und Nase und drohten mich zu ersticken. Gewiss, es gibt grauenhafte Arten und Weisen zu sterben, aber dabei schreien, um sich schlagen oder weglaufen zu dürfen – und sei es auch vergeblich – ist noch eine Gnade. Ich gestehe, dass ich in diesen Stunden die Zwölfe verfluchte, ja, sogar den Erzdämonen meine Seele anbot, falls sie mich aus dieser Lage befreiten – aber leider, oder besser gesagt glücklicherweise, standen mir nicht einmal diese Kräfte in meiner Not bei.
„Irgendwann hielt das Pferd an und ich wurde auf den Boden geworfen, wobei sich zu allem Unglück auch noch mein rechtes Auge öffnete. Regen plätscherte herab, es war feucht und kalt. An einem Stück groben Wollstoff vorbei sah einen nächtlichen Wald, und euch, wie ihr euch an einer Grabplatte zu schaffen machtet. Ich sollte also auch noch Augenzeuge meiner eigenen Beisetzung werden“.
„Tja, wer wäre nicht gerne als Gast bei seiner eigenen Leich anwesend?“ Francesco grinste zynisch und prostete seinem Bruder zu.
„Sehr witzig. Hast du eine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man glaubt, gleich unter mehreren Schritt Erde begraben zu werden ?“
„Es waren anderthalb Schritt, wenn überhaupt.“ Der Streuner schlug seine Zähne in einen Hühnerschlegel, als wolle er den Leichenschmaus nachholen. „Und ganz offenkundig bist du darunter nicht erstickt.“
„O Mann, ich sollte ich dir einfach nur in die Fresse schlagen.“
„Das hast du bereits zur Genüge getan . . .“
„Gemach, gemach, ihr beiden. Was war das eigentlich für ein leeres Grab auf dieser Lichtung?“ fragte Lacertinus. „Selbst in Zaberg hat man sich davon erzählt. Dorthin hast du Alrik doch gebracht, oder?“
„Ja, stimmt.“ Francesco griff wieder nach der Pfeife.
„Nun, ich hatte das Gefühl ...ich wäre es Alrik schuldig...auch wenn ich Francesco di Palazzo auf die Grabplatte geschrieben habe. Sagen wir, Alrik und mir schuldig. Irgendwie bin ja wohl auch ich damals im Regenwald gestorben. Ich hatte die Lichtung bei Schneiß zufällig auf einem Ausritt entdeckt. Auch wenn sie nicht wirklich so aussah, hat sie mich sofort an den Ort erinnert, wo ich....nun, wo ich meinen Bruder zurückgelassen...das heißt, damals wusste ich ja noch nicht, dass wir Brüder waren. All das Totholz, das Schratmoos, das von den Bäumen hing wie Lianen, die bunten Pilze am Boden, die Eidechse, die sich auf dieser Schieferplatte in der Mitte sonnte – alles sah ein wenig aus wie in einem Regenwald. Also habe ich ein leeres Grab anlegen lassen. Eigentlich eine blödsinnige Idee, war ja nicht ganz billig. Andererseits war es gut, einen Ort zu haben, wo man seinem vergangenen Leben gedenken konnte, ohne gleich Angst haben zu müssen, sich zu verplappern. Ich war oft dort, und habe mit dir gesprochen, Alrik.“
Alrik sah übellaunig drein: „Du hast auch damals mit mir gesprochen. Bei meiner `Beerdigung´.“ Der Baronieerbe malte mit seinen Zeigefingern zwei Häkchen in die Luft.
„Ja, das kann schon sein.“ Francesco paffte hektisch. „Dein Tod ging mir jedenfalls ziemlich nahe.“
„Das hat die Ratte nun davon, dass sie unbedingt den Baronsthron von Friedwang erhaschen wollte.“
Alrik lachte derb und gab meinem reglosen Körper einen Tritt, so dass ich schlaff aus dem Teppich rollte, in den er mich eingewickelt hatte. „Sumu hilf!“ dachte ich, dann plumpste ich unsanft in die Grube. Zum Glück regnete es in dieser Nacht in Strömen, sonst hätte ich mir sonst was gebrochen. So aber klatschte ich in kalten, feuchten, glibbrigen Schlamm, der sofort durch mein Leichentuch durchfeuchtete.
„Was war das eigentlich für ein Stofffetzen, in den du mich gehüllt hast?“
„Der Teppich? Den haben die Bauern aus dem Schloß gerettet, damals beim großen Brand. War aber schon ziemlich angesengt . . .“
„Zum standesgemäßen Sarg hats ja offenbar nicht gelangt, bei meiner Treu. Und wer war eigentlich der andere, dieser Barnhelm?“
„Wie...ach, so. Barnhelm. Ein Gardist. Nicht gerade der Hellste, aber kräftig wie ein Darpatbulle. Den hatte ich als Totengräber dabei. Vor allem um die schwere Grabplatte mit dem Hirsch und dem Hund darauf beiseite zu schieben. . .“
„Sollte nich´ irgendjemand nen Segen sprechen?“ grunzte Barnhelm.
„Wieso? Genügt doch, wenn er `nen Grab hat. Und was für ein nobles. Von Rechts wegen müsste er am Galgen baumeln und die Krähen ihn wegputzen.“ Francescos Stimme klang schwer – offensichtlich hatte er in der Zwischenzeit getrunken.
„Ich weiß nich´, ich weiß nich´. Halten zu Gnaden, Euer Hochgeboren, aber ich weiß nich´. Was is´, wenn er wiederkommt?“
„Der kommt im Leben nicht wieder.“ Der angebliche Baron von Friedwang lachte rau.
„Im Leben vielleicht nich´, aber. . . was is´ wenn er . . . Vielleicht sollte man ihm den Kopf abschneiden und verkehrt rum auf die Schultern setzen?“
Ja, bettelte etwas in mir. Tötet mich. Wenn es nur schnell geht.
„Was soll das denn bringen?“
„Naja, dass er nich wiederkommt.“
„Ich finde, um das zu verhindern, reichen mehrere Fingerbreit Berchweiler Granit mit einem Boronsrad drauf völlig aus.“
„Halten zu Gnaden, Euer Hochgeboren, aber das hier ist der Schratenwald. Meine Tante Sokramoria sagt immer, wer im Schwarzen Wald stirbt, der kommt wieder . . .“
„Mag sein, mag nicht sein. Aber der Siebenfingrige ist nicht hier, sondern im Praiostempel entschlummert. Glaub mir, der kommt nicht wieder.“
Francesco schien einem Moment zu überlegen. „Meinst du etwa die Sokramoria aus Rübenscholl? Haben die nicht letztes Jahr die Bannstrahler geholt?“
„Nee, die is´ rechtzeitig nach Oppstein getürmt. Aber das hier hat sie mir zurückgelassen.“
Der Andere namens Barnhelm kramte hörbar etwas hervor.
„Gütiger Herr Phex, was soll das denn sein?“
„Ein Eichkatzelschweif. Wenn man das einem Mann an den linken Fuß bindet, findet er immer den Weg in die Feenwelt. Ihr versteht schon: Feh – Fee? Is ´n Zauber, der totsicher wirkt. Dann muss die Schlafende Herrin nur noch machen, dass er für immer drüben bleibt. Deswegen des Stück Steinbockhorn da. Des muss man ihm ins Nasenloch stecken, damit die Seele nich im letzten Moment in unsere Welt zurückschlupfen kann. Äh, ich glaube ins Rechte. Ins Linke steckt man ein Büschel Haare von nem schwarzen Kater. Wirkt aber nur, wenn dem das Fell bei lebendigen Leib abgezogen worden ist. Hört sich scheußlich an, geht aber nich anders. Dann muss man es nur noch bei Vollmond mit dreizehn Nägeln an ein Scheunentor nageln und mit ner Sichel die Haare abschaben. Die machen dann, dass der Namenlose einem die Seele nich im letzten Moment stiebitzt. Oder annersrum was Niederhöllisches in den Körper reinkriecht. Is klar?!“
„Klar.“ Ein Gluckern verriet, dass der Baron wieder einen Schluck trank. „Du hast wohl ein besonders inniges Verhältnis zu deiner Tante, wie?“
„Sokramoria ist eine weise Frau.“
„Und vor allem so lieb zu Katzen. Mann, mit dem Kram hier könnte man ja glatt einen Dämonen beschwören. Wofür hast du das ganze Zauberzeug bloß dabei?“
„Wenn ich jetzt sage, dass mir gestern nacht der Geist vom alten Rude gesagt hat, ich solls heute unbedingt mitnehmen . . . Nun, das glaubt Ihr mir dann eh nich, oder?.“
„Naja, Rude Borkenbehr würde ich so was glatt zutrauen. Das ist doch der versoffene Schwachkopf, der in den Namenlosen Tagen in den Wald gerannt und nachher nicht mehr aufgetaucht ist?“
„Halten zu Gnaden, Euer Hochgeboren, aber Schwachkopf würde ich ihn nich´ nennen. Der wusste auch viel über die Alten. Mehr noch als mein Tantchen, würde ich sagen.“
„Jetzt weiß er möglicherweise mehr. Und was ist das da?“
„Satuariensbeere. Bei Neumond gepflückt. Legt man unter die Zunge, als Wegzehrung in die annere Welt. N´ Önüks-Stein wär´ auch nich schlecht, hab ich aber leider nich´. Ein Feenkäppchen is aber fast noch besser.“
„Setzt man das dann auf den Kopf?“
„Nee. Ich mein einen von den Pilzen hier. Schmecken übrigens lecker. . .Wir sollten ein paar mitnehmen.“
Francesco lachte wieder. „Ich bin nicht zum Pilzesammeln hierhergekommen. Los, trink noch nen Schluck. Und dann zackig, bevor uns der Regen wegspült.“
„Ihr habt recht. Das erzürnt nur die Feeischen. Wenn man an ihren Türen herumnagt wie bei uns der Holzwurm. Sozusachen.“
„O Heimlicher, ich versteh´ nur Beilunker Reiter-Wechselstation . Barnhelm, du erstaunst mich wirklich immer wieder aufs Neue. Also, wenn es dir ein gutes Gefühl gibt, vollführ deinen kleinen Zauber. Aber übertreib´s nich. Ich box dich nicht aus dem Turm der Freude raus, wenn die Bannstrahler davon Wind kriegen. . .“
„Keine Sorge, das machen in Friedwang doch alle. Hier habe ich noch ein Amulett mit einem Hirschzahn und ein paar Brotkrumen, um die bösen Geister abzuwehren. Ne Feder von einer Gespensterkrähe, Beifuß oder ein Ziegenfell hab´ ich leider nicht aufgetrieben. Aber ich denke, er kommt auch so rüber.“
„Er ist schon drüben, Barnhelm. Aber tu dir keinen Zwang an.“
Während sich die beiden über meinen Kopf hinweg unterhielten, stieg das Regenwasser in der Grube immer höher. Mittlerweile drohte ich auch noch zu ertrinken.
Dieser schmutzige Büttel hantierte mit groben Händen an mir herum, stopfte mir etwas Übelriechendes in die Nasenlöcher und murmelte merkwürdige Wörter, die sich anhörten wie Alhanisch, Goblinisch, Schwartzsychlerisch oder eine wüste Mischung aus allem. Vielleicht wäre ich jetzt schon erstickt, hätte mir der Mann nicht auch noch einen Pilz zwischen die Zähne geschoben. Dann band er etwas an meinem Stiefel fest, vermutlich den Eichhörnchenschwanz. Anschließend wurde ein Amulett um einen Hals gehängt und kleine Klümpchen über mich gestreut.
Selbst die letzte, göttergefällige Würde wurde mir in diesem Augenblick noch genommen.
Dann warf Francesco als seine Grabbeigabe den Teppich über mich und es wurde endgültig dunkel.
In diesem Moment begann in meinem Kopf alles einzustürzen. Ich hörte die beiden nur noch gedämpft miteinander sprechen und schlließlich das abwechselnde Geräusch von Spaten, die in Erde gestochen wurden und von Erdklumpen, die schmerzhaft auf meinen Körper fielen. Als ein Brocken in meinem Gesicht landete, biss ich den Pilz ab. Barnhelm hatte recht, der Saft, der mir nun in die Kehle rann, war durchaus wohlschmeckend. Leider fiel auch noch ein Stück Pilz hinterher – in die Luftröhre.
Während immer mehr nasse Erde auf mich platschte, begann ich also schon an einem Stück Feenkäppchen zu ersticken. Eine fast schon dämonische Art und Weise zu sterben. Die Last auf meinem Brustkorb nahm immer mehr zu. Der Boden unter mir wurde weicher und weicher, dann schien er unter meinem Gewicht nachzugeben.
Ich rutschte durch . . . So also war es, zu sterben. Ich fiel in einen Sog aus wirbelnder Dunkelheit, spürte nur am Rande, wie das verfluchte Stück Pilz wieder aus meiner Kehle fiel. Und doch war es kein freier Fall, eher ein ruckartiges, erleichterndes Durchsacken. Das einzige Gefühl, mit dem ich es vergleichen konnte, war, als mir die übrigen Knappen damals die Bettpfosten angesägt hatten und mein Bett mitten in der Nacht zusammen gesackt war. Dieses Gefühl, aus einem schweren Traum zu erwachen und doch dem Geschehen hilflos ausgeliefert zu sein.
Das erste, was ich dann wieder spürte, war etwas, was an mir zog und zerrte. Offenbar Golgari und seine Klauen. Als ich ins Grab gerollt war, hatte sich mein Auge leider wieder geschlossen. Noch immer herrschte Dunkelheit, aber einen Grad heller als bisher. Ich steckte fast mit der ganzen Ruckseite des Körpers fest – fast wie in einer Badewanne, nur in etwas Weichem, Federndem. Es roch nach frischer Erde, Gras stach mir in die Hände. Kleine, piepsende Stimmen an meinem Ohr. Eine Art Wispern, aber auch Schmerzenslaute. Ein Rabe und sein Flügelschlag hörte sich doch anders an. War ich am Ende in den Niederhöllen gelandet?
Dutzende kleiner, bepelzter Fingerchen schoben von unten oder zerrten seitlich an mir. Irgendwo krähte ein winziger Säugling. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich in einen Kaninchenbau eingebrochen. Mit mehr oder weniger sanfter Gewalt wurde ich weitergeschoben.
Langsam wurde es heller. Kein Regen, stattdessen milde Wärme und Vogelgezwitscher. Dazwischen immer wieder die piepsenden Kinderstimmen. Etwas zerrte an meiner linken Wimper und öffnete das Auge. Grelles Licht blendete mich. Um mich herum Bäume, Wurzeln, Laub.
Ich sah in das Gesicht eines verschrumpelten Männleins, dem anstelle von Haar Moos, Gras, und Blumen auf dem Haupt wuchsen – ebenso auf dem Rücken. Seine Haut war borkig und erdfarben. Das Wesen roch gut: eben nach frischer Erde, Moos und Frühlingblumen
„Du, Mens, was massu da in unner Haus? piepste der Wichtel, wobei er ein Hand in die Seite stemmte und mit der anderen noch immer mein Auge offenhielt, als wäre es eine Klappe. „Warum massu es kaputt?“
„So eine Unversämtheit! Fällt einfach von Deck un mach unner Haus kaputt!“ fiepten die anderen.
Mein Auge fiel nun wieder zu. Eine Zeitlang lag ich nur da und ließ die warme Frühlingssonne auf mich scheinen. Langsam schien das Leben in meine erstarrten Glieder zurückzukehren. Ich ließ die merkwürdigen Kreaturen plappern, froh, das mir nichts Schrecklicheres widerfuhr. Wurzelbolde – ja, irgendeine freundliche Erinnerung sagte mir, das man sie so nannte.
Sie trugen, schoben und schleiften mich in einen Wald und setzten mich schließlich in der Sonne ab. Nach einer Weile war nichts mehr zu hören. Die Wärme tat mir gut. Langsam kehrte das Leben in meine Glieder zurück. Ab und an vermochte ich sogar zu blinzeln und sah dann, dass ich mich in einem Birkenwäldchen befand.
Langsam wurde es Nacht – eine milde, lauwarme Sommernacht voller Grillenzirp und Säuselsang der Natur, wie der Dichter sagen würde. Ich schlug die Augen endgültig auf und blickte in einen fremden Sternenhimmel. Kein Zweifel, ich war in der Feenwelt gelandet.
Langsam war ich soweit, dass ich meine schmerzenden, steifen Glieder wieder bewegen und mich sogar aufsetzen konnte. Dann sah ich sie: Eine leise surrende, ätherisch schimmernde Lichtkugel schwebte vor meinen Kopf. Das Licht verharrte und schien mich, so kam es mir wenigstens vor, zu mustern. Ehe ich Gelegenheit hatte, mich zu ängstigen oder sonst etwas zu empfinden, flog sie in meinen Kopf. Danach war alles sehr seltsam.
Als ich wieder erwachte, war in dieser Welt wieder Tag, dem Licht nach wahrscheinlich sogar Nachmittag. Noch immer war ich völlig erschöpft. Im Halbschlaf hörte und mehr noch spürte ich, wie sich schwerere Schritte näherten. Jemand beugte sich über mich. Ein kräftiger Wildgeruch trat an meine Nase. Dann hörte ich ein Seufzen, das vieles ausdrücken konnte – Mitleid, Erkennen, Verstehen?
Ich spürte, wie aus meinem einen Nasenloch die Katzenhaare gezogen wurden (das andere war offenbar bereits frei).
„Diese Narren. Dafür nimmt man doch Telfiskraut“ sagte eine tiefe, klangvolle Stimme, die mich entfernt an den Ruf eines Hirschen erinnerte – und an noch etwas anderes. Der Unbekannte legte seine Hand auf meine Stirn und murmelte etwas in einer mir fremden Sprache. Das Leben kehrte schmerzhaft in meine Glieder zurück. Ich musste niesen und öffnete die Augen. Verschwommen ragte über mir eine Gestalt unter einem weißen Fellmantel auf, angetan mit einem prächtigen Silberbart und einem imposanten Hirschgeweih.
Eine Zeitlang hustete und keuchte ich noch vor mich hin. Nur langsam begriff ich, wo ich mich befand – und wer sich gerade über mich beugte.
„Willkommen in der Feenwelt“ sagte der Karnmann. „Du bist Alrik Tsalind von Friedwang, nicht wahr?“
Ich konnte kaum mehr als nicken. Schüchtern rappelte ich mich auf.
„Bin ich tot?“ hörte ich mich zaghaft fragen.
Der Karnmann lachte auf. „Ja und nein. Das kommt ganz darauf an, welche Welt du für die der Lebenden erachtest. Ich denke, ich werde dich nun erst einmal zur Quelle bringen. Die kleinen Feen fürchten sich vor dir.“
Immer noch verstört folgte ich dem Fabelwesen, dass der Karnmann für mich nun einmal war. Noch heute ist mir nicht ganz klar, wo ich mich damals befand. Es war wie ein schöner Traum.
Das Licht, das sanfte, honigfarbene Licht ist das, woran ich mich am klarsten erinnere. Keine Sonne stand am Himmel, und doch war alles warm, licht und bunt wie an einem Frühlingstag. Alles war wilde, unbegrenzte Natur, und doch hätte man meinen können, sich gleichzeitig in einer ausgedehnten Parklandschaft befinden: Der lichte Wald mit seinen ausgedehnten Blumenwiesen, Grotten und Birkenhainen wirkte niedlich und verspielt,