7. Kapitel
7. Kapitel
Haldanas Geheimnis
Das wütende Summen des Bienenvolkes beruhigte sich etwas. Fast erschien es Haldana, als wären die Immen zufrieden über den Ausgang des Gefechts.
Sie selbst war es auf jeden Fall. Elegant zog sie das Rapier, und musterte ihren verbliebenen Kontrahenten.
Das Gesicht des Schwarzbarts war völlig zerstochen. Der Preis bestand aus vielen gelbschwarzen Bienenkörpern, die zuckend auf dem Boden lagen, wo sie, ihres Stachels beraubt, starben.
Ihr Gegner merkte, dass er entwaffnet worden war, und hob, mit schmerzverzerrten Gesicht, die Hände. Nun, so wie es aussah, konnten sie einen Gefangenen gebrauchen, der, anders als der kläglich wimmernde Ogerbarne, noch reden konnte. Verständlich reden.
"Ergibscht dich?" fragte Haldana, und ließ das Rapier locker ums Handgelenk kreisen, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen.
Das sah sicherlich beeindruckend aus, war aber nichtsdestotrotz ein Fehler. Eine der Bienenkriegerinnen, die noch um sie herum schwirrten, nahm die schnelle Bewegung als erneuten Angriff war. Sie stach zu, genau auf die Waffenhand, tief und schmerzhaft.
Haldana schrie auf, was wenig lustvoll klang, und ließ das Rapier fallen. Entwaffnet von einer Biene, schoss es noch durch ihren verdutzten Kopf, dann warf sich Schwarzbart auch schon auf sie, mit bloßen Händen: Der Bursche war zäher, als sie gedacht hatte.
Durch die schiere Wucht des Aufpralls wurde die Sichlerin umgeworfen, prallte hart mit dem Kopf ins Gras: ausgerechnet auf die rasierte, wenig geschützte Seite. Einen Moment lang zwinkerte sie benommen. Der Bärtige schloss seine zerstochenen Pranken um ihren Hals und drückte zu, wie ein Lustmörder. Vielleicht war er das sogar.
Haldana röchelte verzweifelt und presste ihre eigenen Finger in Richtung Nase und Auge des Mannes. Luft, sie bekam keine...Luft...sie...brauchte Luft.
Die schiere Panik setzte ungeheure Kräfte in ihr frei. Kratzend und um sich schlagend gelang es ihr, sich aus dem Würgegriff freizukämpfen. Eine Biene kam ihr zu Hilfe, die Schwarzbarts Nase attackierte.
"Verdammtes Miststück" brüllte er, als hätte Haldana ihn gestochen, und drosch ihr seine Faust ins Gesicht. Die Sichlerin merkte den Schlag kaum, sondern schlug zurück. Tastete nach ihrer Klinge. Spürte die vertraute Pommel an ihren Fingern.
"Du rasierte Schlampe, ich schick dich zu Boron, wo du hingehörst!" schimpfte ihr Gegner, buchstäblich angestochen, und warf sich auf sie, einen spitzen Stein in der Hand. "Ich schlag deinen hässlichen Schädel zu Brei!" Zumindest versuchte er es.
Eigentlich hatte Haldana ihr Rapier nur gehoben, um Schwarzbart von einem erneuten Angriff abzuhalten. Allerdings hatte der Narr sich geradewegs in die Klinge geworfen, wie ein maraskanischer Selbstmordattentäter. Verblüfft starrte er auf die Waffe, die tief zwischen seinen Rippen steckte. Er verspritzte reichlich Blut, ließ den Steinbrocken fallen und rollte zur Seite.
Wäre Haldana ein Medicus gewesen, hätte ihr das matte Zucken der Beine überhaupt nicht gefallen. So aber konnte sie zufrieden sein mit ihrem Werk.
Bienen brummten umher, verwirrt vom Blutgeruch.
Haldana fühlte sich schummrig. Ihre Nase blutete. Das Dröhnen in ihrem Hinterkopf wurde eher stärker als schwächer, die Welt verschwamm vor ihren Augen.
Diese große Biene, warum schwirrte sie ständig um ihre Nase? Erst jetzt merkte sie, dass es eine Art Senkblei war, das vor ihrem Gesichtsfeld kreiste. Ein Pendel?! Nein. Ein kleiner, rötlicher Stein, der an einer Lederschnur festgebunden war.
Süßer, schwerer Duft drang an ihre Nase, der kein Blutgeruch war. Der betörende Duft nach Parfüm? Nein, eher nach Wachs.
Haldana runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen. Eine himmelblauer Robenärmel, gesäumt mit goldfarbenen Ornamenten.
Ein zeitlos schönes, ockerbraunes, etwas pummeliges Gesicht. Dunkle, schmale Augen. Tiefschwarze Zöpfe, deren Flechtart Haldana ein wenig an die Bienenkörbe erinnerte. Dazwischen ein kahlrasierter Schädel.
Wie aus weiter Ferne erklang eine Stimme, murmelte etwas in einer Sprache, die fremdartig klang und doch vertraut. Der kehlige, leise Singsang erinnerte tatsächlich an Schwarzsychlerisch.
Die Szenerie war...unwirklich. Haldana fröstelte. Irgendwie war ihr kalt.
Tatsächlich, als sie austatmete, hauchte sie ein kühles Dampfwölkchen in die Frühlingsluft über Helbers Hof.
Die kniende Frau lehnte sich etwas zurück, im Schneidersitz, sprach weiter in ihrer merkwürdigen Zunge, die südländisch klang. Irgendwie glänzte sie merkwürdig, der ganze Körper, Haut wie Haare. Wachs, das war Wachs. Die Unbekannte sah aus, als wäre sie aus dem Wachsfigurenkabinett in Havena ausgebrochen (auch wenn Haldana diese Kuriosität nur vom Hörensagen kannte). Vor allem roch sie nach Bienenwachs. Nicht unangenehm, aber doch...ungewöhnlich. "Gewachst" - so hatte Haldanas Großmutter die Mädchen in ihrem Dorf bezeichnet, die sich allzu sehr schminkten und herausputzten. Diese Frau sah aus, als hätte sie geradezu in Wachs gebadet.
Haldana setzte sich auf. Sie atmete jetzt stoßweise, wobei immer wieder kühler Dampf zwischen ihren Lippen hervordrang. Ihre Zähne klapperten.
Hatte sie Fieber? War das hier gerade eine Halluzination? Nein, dort stand noch immer das Bauernhaus, die Bienen schwirrten lautstark umher. Dort drüben lag der niedergeschlagene Tuvok, und der zerstochene Ogerbarne. Auch der tote Schwarzbart lag, fein säuberlich durchbohrt, auf seinem Platz.
"Mir ist kalt, mir ist kalt" flüsterte eine Frauenstimme. Einen Moment lang dachte sie, sie selbst hätte das gesagt.
Dann sah sie die brünette Frau in erdfarbener Tunika, die die Kapuze ihrer Gugel in den Nacken geschoben hatte. Ihr Gesicht war totenbleich. Auf ihrer Stirn prangte eine blutverkrustete Wunde.
"Hallo, Hallo." Ihre Augen irrten umher. "Ich muss zurück zur Baustelle. Wo geht es hier zur Mauer? Ich bin nicht verletzt, ich kann weiterarbeiten. Is nur ein Kratzer..."
Nun sah sie in Haldanas Richtung. Zitterte und schlang sich die Arme um den Körper.
"Mir ischd auch kaald" nickte Haldana. "Wer bischd du? Ainä Patientinn vom Doctorr?"
Die zweite Unbekannte stutzte für einen Moment. Sie schien freudig erstaunt zu sein.
"Du verstehst mich? Du kannst mich hören? Na endlich... Das ist ja wunderbar..."
Die Frau in der Tunika machte einen Schritt auf Haldana zu. Es war, als wehte ein kühler Lufthauch heran. War die Fremde es, die diesen Eishauch verbreitete? Fast kam es ihr so vor.
"Ich muss zurück nach Rommilys. So ein saudummer Unfall. Ich sag noch zum Polier, das Gerüst ist aber arg wacklig. Dann bricht schon alles zusammen. Und dann kommt auch noch der Hammer hinterher. Wenn der mich getroffen hätte. Tot könnte ich sein...hab wirklich Glück gehabt."
"Wie heisisch du?", fragte Haldana. Als sie merkte, dass sie nicht verstanden wurde, wechselte sie auf Hochgarethi:
"Wie ist dein Name?"
"Mia. Mia Herdlieb. Und du? Bist du aus Rommilys?"
"Aus der Sichel...Min Nama isch...Mein Name ist Haldana...Gehört sie zu dir?"
Die Sichlerin wies auf die "Wachspuppe", die sie beide neugierig zu mustern schien, mit freundlichem Lächeln und wachsglänzendem Gesicht.
Sie sagte wieder etwas, in ihrer Sprache.
"Das ist Nasdja. Oder Sybilla. Weiß nicht, wie sie genau heißt...Ich glaub, die ist nicht ganz richtig im Kopf."
Die Frau namens "Nasdja" sagte wieder etwas, leicht ungehalten.
"Moment, du verstehst kein Sichlerisch, Mia? Aber das Kauderwelsch da schon?"
Mia Herdlieb nickte: "Komm aus Aranierberg. Bin quasi auf dem Tulamiden-Basar aufgewachsen..."
"Das ist...Tulamidensprache?"
"Naja, sowas ähnliches, glaube ich. Ein paar Brocken verstehe ich. Ich glaube, sie sagt, sie ist deine Großmutter..."
"Meine Großmutter?!" Einen Moment lang war Haldana völlig verwirrt. Natürlich, der Sturz auf den Hinterkopf...der Fausthieb...vielleicht sogar die Bienenstiche...offenbar war ihr Gehirn völlig durcheinander.
"Ich kenne meine Großmutter...sie hätte sich niemals so...gewachst...alle beide hätten das nicht."
Mia tippte sich an ihren Haarschopf, über der blutigen Wunde: "Vielleicht liegt es ja an deiner Frisur?"
Die stämmige, blasse Maurerin versuchte ein Lächeln, das irgendwie frostig wirkte. Zumindest unterkühlt.
"Du bist verletzt...?" Haldana stand mit wackeligen Beinen auf, schwankte. Das hätte sie sich genauso selbst fragen können. Sie tastete nach der kahlen Hälfte ihres Schädels. Tatsächlich, dort wölbte sich eine ordentliche Beule. Sie musste sich auch um Tuvok kümmern.
"Lass gut sein. Ich hatte Glück im Unglück, dem Heiligen Timorn sei Dank. Dem Krach nach ist das ganze Gerüst ist auf mich drauf gefallen. Muss regelrecht verschüttet gewesen sein...konnte mich überhaupt nicht mehr bewegen. Es war schon dunkel, als sie mich ausgegraben haben."
"Ausgegraben?" Irgendwie gefiel Haldana dieses Wort nicht. Ihre vermeintliche "Großmutter" sagte wieder etwas.
"Was sagt sie?"
"Ich verstehe sie nicht" sagte Mia Herdlieb, mit bebenden Lippen. "Kalt, mir ist so fürchterlich kalt...ich muss zurück zur Mauer. Die anderen warten sicher schon. Ist ja nur ein Kratzer. Hab wirklich unglaubliches Glück gehabt...All die Götterläufe keinen Unfall, und dann das...und ich sag noch zu Perainfried, das Gerüst steht irgendwie schief..."
Wieder der kehlige Singsang von Sibylla, Nasdja, oder wie die Kahlschädelige hieß.
"Was sagt sie?" wiederholte Haldana.
"Ich verstehe auch nicht so ganz, was sie meint. Oder wen von uns beiden..."
"Frag sie doch mal, wo sie herkommt"
In holprigen Worten versuchte Mia einen Satz zu bilden...oder besser gesagt einzelne Brocken aneinanderzureihen, die Tulamidisch klangen.
"Sie sagt wieder, sie wäre deine...ich glaube, das Wort heißt Großmutter, aber ich bin mir nicht sicher...irgendwas von vielen Jahren...etwas in der vergangenen Zeit?"
Nasjda nickte, deute erst auf sich und dann auf Haldana: "Mischpacha"
Mia zuckte mit den Schultern. "Ich glaube, wir verschwenden unsere Zeit. Irgendeine alte Frau, die ihren Verstand schon lange an Hesinde abgegeben hat. Vielleicht ist sie ja eine von diesen Zahoris? Wir sollten aufpassen, dass sie uns nicht beklaut. Ich muss jetzt wirklich wieder an die Arbeit...sonst kürzt mir Perainfried den Lohn."
Nasdja-Sybilla schüttelte den Kopf. Wieder "tulamidische" Worte.
"Marb, Marb" Mia wiederholte eines der Worte und schien noch etwas mehr zu erbleichen. "Sie ist wirklich völlig verrückt... marb... nein sowas."
"Was heißt das - marb?"
"Ach, nur Unsinn. Sie behauptet, die ganze Zeit, ich wäre tot...Völlig verrückt, die Alte... richtig unheimlich. Komm, wir verschwinden."
Haldana erstarrte, was nicht an Mias Worten lag. Jedenfalls nicht nur. Vor ihr stand der Schwarzbärtige, ebenfalls totenbleich...mit einer großen roten Einstichwunde im Wanst. Das hätte die Sichlerin noch nicht einmal besonders erschreckt (ein verdammt zäher Bursche war der Kerl schon).
Was sie wirklich beunruhigte, dass seine Leiche noch immer einige Schritt neben ihm lag, in einer großen, roten Blutlache.
"Verdammtes Miststück!" brüllte der Schwarzbart, mit merkwürdig verzerrter, hallender Stimme. "Ich bring dich um!"
Mit zombiehaft erhobenen Händen stürmte der Würger auf sie zu, als hätte er nicht gerade mehrere Spann besten Klingenstahls geschluckt.
"Lass sie in Ruhe!" rief Mia.
Haldana empfing den Angreifer mit einem kräftigen Hieb. Das Rapier flirrte einfach durch ihn hindurch, wie durch dünnen Nebel.
Er selbst huschte durch sie hindurch, als eiskalter Nachtwind.
Die Sichlerin begriff, in einem einzigen Moment des Grauens. Marb.
Ich sehe tote Menschen.
Mit einem Seufzen fiel sie in gnädige Ohnmacht.
Alriks Rapier zuckte vor und glitt genau in den Schlüsselring. Das Frettchengesicht wollte danach grapschen, aber der Friedwanger verbot es ihm mit einer Fingerbewegung. Dann nahm er den Schlüsselbund an sich, der an der Klingenspitze klimperte.
"Soso, Meister Alfengrund hat euch also erlaubt, sich während seiner Abwesenheit um sein Haus zu kümmern?" Alrik rümpfte die Nase, was auch an dem leicht süßlichen Geruch lag, denn das "Frettchen" verströmte. Dessen Schuhe waren völlig verdreckt, wie er nun bemerkte. "Sehr vertrauensvoll von ihm..."
"Irgendjemand muss doch nach den Hunden sehen", sagte sein Gefangener, unterwürfig und falschzüngig zugleich, mit der ständigen "Unschuldsmiene" eines typischen kleinen Gauners.
Alrik hielt mit der Linken den Schlüssel hoch: "Das sieht mir eher nach einem Satz Dietriche aus. Und noch nicht einmal nach einem besonders Guten."
Aus den Augenwinkeln sah er, wie Jodokus und Rovik den vierten Gegner überwältigten und an einen der Deckenbalken fesselten.
Die gute Stube des Bauernhauses war bei der kleinen, aber lautstarken Rauferei ziemlich in Unordnung geraten. Stühle und Tische waren umgefallen, auch eine Flasche Branntwein zersplittert. An den Wänden hingen Kräuterbündel. Hesindian hatte einen weiteren Hund im Sprung erstarren lassen und stellte ihn nun beiläufig auf eine Kommode. Dank einer brennenden Laterne an einem Wandhaken und der halboffenen Tür war es einigermaßen hell. Münzen glänzten auf dem Boden.
"Ich hab ja nicht gesagt, dass das die Hausschlüssel sind": Das Frettchen zuckte mit den Schultern.
Draußen vor der Tür schien es hoch her zu gehen, mit Hundegebell und Geschrei. Zum Glück waren es nicht Tuvok und Haldana, die da schrien.
Nun ja, zumindest hoffte Alrik das. Das wütende Gesumme klang nach Bienen. Natürlich, Haldana, die Imkerin, hatte zu einer Geheimwaffe gegriffen?!
"Soll ich mal rausschauen?" fragte Jodokus besorgt.
"Schau dich erst mal hier drinnen um - sicher ist sicher."
Der Baernfarn nahm die Laterne und ging in die Nebenzimmer.
"Was soll das?" schimpfte der Andere, ein lockenköpfiger Mann, den der Zwerg nun auch noch die Füße an den Balken band (Schnüre waren dank der Kräuterbüschel reichlich vorhanden). Das Auffallendste an seinem Gesicht war die spitze Nase. "Das ist Traviafrevel, den ihr da begeht. Einbruch und Traviafriedensbruch. Wer seid Ihr?"
"Sagen wir, wir wollten auch nur mal kurz nach dem Rechten sehen." Mit dem Fuß schob der Friedwanger die Ochsenzunge zur Seite, die er dem Frettchen gerade abgenommen hatte. "Ich darf die Frage also zurückgeben. Wer seid I h r ?"
"Mein...mein Name ist Willbur Herk. Ich bin der Gehilfe von Doctor Alfengrund. Der Herr Medicus wird wahrlich nicht erfreut sein, wenn er zurückkehrt. Das wird Konsequenzen haben, Herr, äh...?"
Alrik ignorierte die Frage. "Ganz sicher wird das Konsequenzen haben. Fragt sich nur für wen. Ist sonst noch jemand im Haus?"
Jodokus übernahm die Antwort. "Scheint sauber zu sein."
"Sagt an, werter Herr, äh, Herk?" Alrik linste zur Seite. "Wie kann es sein, dass ich vor kurzem schon mal hier war, Ihr aber nicht?"
"Ich wüsste nicht, warum ich diese Frage irgendwelchen... dahergelaufenen... Strolchen beantworten müsste..."
"Ihr sollt sie ja auch nicht Euren Schlagetots beantworten, sondern uns."
"Glaubt mir, wir handeln im offiziellen Auftrag" Jodokus baute sich etwas auf, um die "Spitzmaus" einzuschüchtern. "Von ganz oben..."
Hesindian, der Magus, ließ seinen Zauberstab aufflammen und hielt die brausende Flamme direkt vors Gesicht des Gefangenen. Dann zeigte er ihm das Gildensiegel auf seiner Handfläche und kniff ein Auge zu. "Sagt Euch der Name Informationsinstitut etwas?"
"Informationsinstitut?" Neben dem Fackellicht spiegelte sich Furcht in den Augen Wilburs.
"Ganz Recht."
"Was wollt Ihr von mir?"
"Wie wärs mit - Informationen??! Und erzählt mir nicht, dass Eure Putztruppe zum Staubwischen und Blumengießen vorbeigekommen ist..."
"Nun, wie Roderick, ein weiterer Gehilfe des Herrn Alfengrund, schon sagte." Wilbur Herk reckte das Kinn vor und blickte zum Frettchen. "Sie sind jeden Tag hier, um nach dem Rechten zu sehen, und die Wehrheimer Doggen zu versorgen, die das Haus bewachen. Ich selber wohne im Dachboden, bin tagsüber aber meist im Spital oder bei Patienten...jedenfalls in der Stadt unterwegs. Das Haus liegt nun einmal außerhalb der Stadt, da kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Zumal in diesen Zeiten."
Jodokus ging auch noch die Treppe nach oben hinauf, mit erhobener Lampe, die rechte Hand an der Klinge. Sicher war sicher.
"Hier oben ist auch niemand" hörte Alrik seine gedämpfte Stimme. "Glaube ich. Ah, ist das dunkel hier". Den Geräuschen nach wurde ein Fensterladen entriegelt.
"Auf der anderen Seite steht ein Fuhrwerk, mit angeschirrten Pferden. Vor der Scheune...
Hesindian schob mit den Füßen die Münzen auf dem Boden zusammen. "Soll das die Entlohnung für Eure Hausmädchen sein?"
Rovik sammelte die Dukaten und Silbertaler zusammen, durchaus etwas gierig: "Mal nachzählen", brummte er. Eine der Taler glitt ihm aus der Hand, blieb in einer Spalte zwischen den Holzbohlen auf dem Boden stecken. Der Hügelzwerg fischte ihn wieder heraus und rümpfte für einen Moment die große Zwergennase. Mit der Axt klopfte er auf den Boden. Es klang hohl. Rovik zückte ein Messer und hob das Brett etwas an. Im Nu stellte sich heraus, dass es wirklich nur dünne Bretter waren, die auf einer Holzluke lagen und sie verdeckten. Der Tisch hatte offenbar darüber gestanden.
Gute Handwerksarbeit, musste der Sohn des Vulkanus zugeben. Die exakt eingepassten, gleichfarbigen Bretter waren von den umliegenden Bohlen kaum zu unterscheiden: Außer wenn man sie "bodennah" untersuchte, so wie er es gerade tat. Das Schummerlicht störte ihn nicht, seine Augen waren Halbdunkel gewohnt. An der Luke war eine kräftige Schnur befestigt, an der er nun zog. Ächzend öffnete sich die Falltür - und gab den Blick auf eine Holztreppe frei.
Der Gehilfe seufzte: "Entweder Ihr sagt mir jetzt, wer Ihr seid, und wer Euch geschickt hat. Wer euch wirklich geschickt hat. Oder ich sage kein Wort mehr."
"Alrik, mein Name ist Alrik". Der Baron packte das Frettchen und schob ihn in Richtung Balken. "Wo ist eigentlich Doktor Alfengrund?"
"Das geht Euch nichts an" schimpfte Wilbur Herk.
"Haben wir noch Seil?" Erst jetzt sah Alrik, dass der Zwerg etwas entdeckt hatte. "Ein Geheimversteck?"
Der Zwerg nickte und war nun ganz in seinem Element.
"Ich werd hier oben auf die Gefangenen aufpassen" sagte Jodokus, der vom Dachboden zurückgekehrt war.
Hesindian ging nach unten, mit Flammenstab. Nach einigen wenigen Stufen standen er, der Zwerg und Alrik in einem Gewölbekeller. Es roch muffig, nach Branntwein - und unangenehm süßlich. Auf einem Kandelaber staken einige Kerzen. Der Magus zündete sie an. Langsam kam Licht ins Dunkel.
Ein großer Tisch. Ein Eimer. Ein kleiner Tisch, auf dem allerhand Klingen, Sägen und dergleichen standen. Regale mit einer Art von Einmachgläsern. Es waren Präparate, die darin in gelblicher Flüssigkeit schwammen: Herzen, Leber, Lungen, Hände, eine Art Riesenwalnuss (ah, ein Gehirn) und sogar ein winziger Säugling - sogar mit Nabelschnur. Hesindian verzog angewidert das Gesicht. "Allweise Herrin, steh uns bei"
"Bei Angrosch" brummte Rovik. "Wer tut so was?"
Alrik nickte: "Ein Anatom. Ganz nette Sammlung, die Alfengrund hier angelegt hat."
"Das...das ist Frevel..." Der Magier blickte kopfschüttelnd in ein einzelnes Auge, das ihm aus einem der "Einmachgläser" anstarrte. "Geradezu niederhöllisch."
"Du bist der wissensdurstige Hesindejünger, nicht ich", sagte Alrik und sah auf den Tisch. Er wollte gar nicht wissen, wie die dunklen Flecken auf der Steinplatte (oder auf dem gestampften Lehmboden) zustande gekommen war. "Jedenfalls gut, dass hier ab und zu jemand zum Saubermachen vorbeikommt."
"Was ist denn das?" Rovik hob seine Axt.
Der Baron zuckte kurz zusammen, als er das Skelett sah, das in der Ecke stand. Und zum Glück stehen blieb. Den Spinnweben nach zu urteilen hatte es sich schon länger nicht mehr bewegt.
Da hatte er schon ganz andere Klappergestalten kennen gelernt...Alriks Knie zitterten dennoch. Trotz seiner kaltschnäuzigen Worte waren auch seine Nerven bis zum Zerreißen angespannt. Zeichnungen hingen an der Wand, die keinen Zweifel daran ließen, woran Alfengrund hier unten forschte: Der menschliche Körper, ausgeweidet, gehäutet, durchschnitten, in sämtlichen denkbaren und undenkbaren Variationen. An einem Haken hing die lederne Storchenmaske, die der Baron bereits kannte, sowie eine große, fleckige Lederschürze.
Im Regal daneben fanden sich Schriftrollen und allerhand Büchlein, in die der Anatom Notizen eingetragen oder einzelne Zettel eingefügt hatte: Es ging um Kräuter- und Heilkunde, ein wenig Alchimie und wieder anatomische Zeichnungen, natürlich...ganz hübsch gezeichnet, aber boronsgefällig wirkte das alles nicht. Bishdarielon, sein dunkler Bruder, wäre hier unten durchgedreht, zwischen all der düsteren Pracht, die eines Nekromanten würdig gewesen wäre.
Drei echte Bücher fanden sich auch, neben Schriftrollen: "Wider Boron und Satinav" eines gewissen Hagen von Gunnar, der sich mit der Kunst der Präparation, Mumifizierung und Sezierung beschäftigte, ein tulamidisches Buch über die Heilkunst (mit vielen bunten Bildern), sowie ein Folianth der Kräuterkunde, in einer weniger wertvollen Abschrift.
Hesindian ging fassungslos in der Gruft umher (wie Alrik das sinistre Gewölbe für sich bereits nannte).
Rovik hatte schon wieder etwas entdeckt. Deutliche sichtbare Fußspuren führten in einen Seitengang, mit Fackelhaltern an der Wand. Mit einer Kerze folgte der Angroscho dem Tunnel.
Dem Friedwanger interessierte mehr der Verlauf der Fährte in der anderen Richtung. Tatsächlich, die Fußstapfen befanden sich im gesamten Gewölbekeller. Von dort aus ging die Fährte zu einem weiteren Durchgang, der lediglich mit einem Vorhang verdeckt war. Alrik nahm sich eine einzelne Kerze (sein Hofmagier war gerade an einem großen Schrank zugange) und trat ein.
Eine große Holzkiste stand auf dem Boden. Nein, nicht auf dem Boden, sondern auf großen Eisblöcken, die den etwas tiefer gelegten Kellerboden bedeckten. Um ein Haar wäre Alrik ausgerutscht. Auch an den Wänden stapelte sich Firuns Element - und glitzerte überderisch im Kerzenlicht. Oder gespenstisch. Mit einem Stoßgebet an den "Unfassbaren Schleicher" schlitterte der Friedwanger auf die Kiste zu. Unter seinen Füßen war das Eis ziemlich schmutzig, und auch der Sarg dreckverschmiert (dass es sich um einen solchen handelte, daran zweifelte der Mondschatten nicht mehr, schon allein aufgrund des zartsüßlichen, modrigen, erdigen Geruchs).
Einen Moment lang kämpfte Alrik mit seiner Totenangst und schlichtem Ekel. Schemenhafte Bilder flackerten vor seinem inneren Augen. Klauenhände, die sich durchs Erdreich wühlten. Von unten. Wandelnde, schlurfende Tote. Menschliche Leiber, in jeder Phase der Zersetzung, stöhnend, ächzend, wankend.
Der Baron schüttelte den Kopf und vertrieb die Erinnerungen. Wahrlich, er hatte schon in Schlachten gekämpft, in denen Dutzende halb verwester Leichen auf ihn zu gestapft waren. Gerade deswegen wusste er normale Verstorbene zu schätzen. Wer einen Toten auf Eis legte, war vermutlich kein Totenbeschwörer.
Dennoch stellte er die Kerze ab und hielt sein Rapier griffbereit, als er den Sarg öffnete (immerhin stand da draußen das Unheiligtum einer Erzdämonin). Der schien aufgebrochen worden zu sein: von außen, was schon mal gegen einen allzu lebendigen Inhalt sprach.
Der Friedwanger klappte die Kiste auf. Der zarte Verwesungsgeruch war erträglich, ebenso der Anblick. Eine brünette, totenblasse Frau mit blutverkrusteter Stirnwunde, Allerweltstunika und Gugel. Kräftig, etwas untersetzt. Weder hübsch, noch hässlich. Einfach nur tot, und schon ziemlich steif und aufgedunsen. Die Augen hatte sie geschlossen, der Mund war nur leicht geöffnet. Die Tote wirkte irgendwie überrascht, das war alles. Lange war sie noch nicht verblichen, höchstens ein paar Tage. Die paar welken Blumen, die man ihr in die geschwollenen Hände gedrückt hatte, waren noch als Gänseblümchen zu erkennen.
Der Abscheu, den er empfunden hatte, wich Mitleid. Alrik war alles andere als ein Moralist - aber die Störung der Totenruhe war nun wahrlich kein Kavaliersdelikt. Der Geweihte schlug das Boronsrad. Natürlich, dass da oben waren Leichendiebe, die Doctor Alfengrund Nachschub geliefert hatten.
"Alrik, das solltest du dir ansehen" hörte er Hesindians Stimme aus der Gruft. Der Baron war froh, den Sargdeckel wieder schließen zu dürfen. Vorsichtig verließ er die eisige, rutschige Grabkammer.
Rovik kam gerade aus dem Tunnel zurück. "Führt rüber in die Scheune" sagte der Zwerg und klang etwas enttäuscht
"Schaut euch das an!"
Der Magier hatte den großen Bauernschrank geöffnet und gab den Blick auf den Inhalt frei. Eine Gestalt kauerte im Schrankinneren, nicht unähnlich den Präparaten in den Regalen. Allerdings schwamm sie nicht in Gebrannten, sondern duftete zart nach Honig. Nein, eigentlich nach Wachs.
Die Frauenmumie mit den Überresten schwarzer Zöpfe saß in einer Art Meditationshaltung da, im Schneidersitz, und war schon ziemlich verschrumpelt. Der Kopf war kahl, das gelbliche Gesicht eingefallen, ihr Gewand zerschlissen und verwittert. Es schien mal eine bläuliche Färbung gehabt zu haben. In den Händen hielt sie ein rötliches Steinchen, dass an einer grauen Lederschnur hing, die um die klauenähnlichen, verdorrten Finger gewickelt war. Ein Stück der Nase war abgebrochen.
"Bei der Süßen scheint der Honigmond schon etwas länger vorüber zu sein", hörte Alrik sich sagen. Vorsichtshalber legte er die Hand auf das Rapier. Aber auch diese Verstorbene wirkte völlig friedlich - abgesehen davon, dass sie schon weitaus länger das Zeitliche gesegnet zu haben schien als ihre Nachbarin in der Kiste.
"Eine norbardische Zibilja", flüsterte Hesindian, durchaus fasziniert. "Vielleicht sogar eine alte Alhanierin. Die haben in der Zeit vor Bosparans Fall auch am Ochsenwasser gelebt. Erstaunlich gut erhalten...nur die Nase ist ein bisschen lädiert."
"Das Leichengeschnibbel verstehe ich ja noch irgendwie. Aber was will ein Medicus mit einer...einer kandierten Norbardin im Schrank?" Alrik schüttelte den Kopf, während Rovik große Augen machte.
"Eine Wachsmumie...die Norbarden konservieren so ihre Toten, wenn die Sippe auf Wanderschaft ist. Und keine Möglichkeit hat, sie in einem Hügelgrab beizusetzen. Wir sollten ein bisschen aufpassen: Al´Hani-Mumien haben manchmal ein Eigenleben. Bislang war der Schrank abgesperrt."
"Die soll nur mal zucken" brummte der Zwerg und klopfte auf seine Axt.
"Drüben liegt noch eine Tote. Aber die sieht etwas frischer aus. Sicher, dass die Norbarden die gute Frau hier in Honig eingelegt haben...und nicht unser feiner Doctor mit seiner Vorliebe für Bienen?"
"Wie du schon sagtest. Diese Mumie muss Jahrhunderte alt sein, oder noch älter. Vielleicht wollte Korwid an ihr alhanische Konservierungstechniken studieren. Oder sie zu Mumia Vera pulverisieren...In seinem Peraineeifer ist er zuletzt jedenfalls ziemlich weit gegangen. Gelehrte wie er sind die klassischen Kandidaten für erzdämonische Einflüsterungen..."
"Mumia Vera?"
"Mumienpulver...hilft angeblich gegen alles Mögliche. Wegen den magischen Ingredienzen, mit denen die alten Tulamiden ihre Mumien...naja...haltbar gemacht haben. Was Satinavs Hörnern widersteht, verzögert auch die Alterung der Lebenden."
"Da bevorzuge ich doch lieber Gallyser Ogermeth."
Ein greller Aufschrei von oben ließ das Trio zusammenzucken: "Haldana! Um Firuns Willen!"
Das war Jodokus.
"Ah, endlich bist Du wach"
Haldana zwinkerte und erahnte eine schemenhafte Gestalt neben sich. Natürlich, der Schwarzbart hatte sie niedergeschlagen, und sie erwachte erst jetzt aus ihrer Ohnmacht. Sie hatte wirklich seltsame Halluzinationen gehabt.
Merkwürdig nur, dass sie stand. Neben Nasdja oder Sybilla, die ziemlich klein und untersetzt war, wie sie nun bemerkte.
Entsetzt starrte sie auf ihren Körper, der bleich und regungslos auf dem Boden lag, wie schlafend. Oder tot.
Marb. Das klang schon nach Marbo.
Sie starrte auf ihre Hände, die irgendwie...unstofflich wirkten. Zart und durchscheinend.
"Entschuldige, Kindchen, aber das erleichtert unsere Verständigung ungemein", plauderte die "Wachsfrau" los, mit angenehmer, aber irgendwie seltsamer Stimme. Sprach sie wirklich? Auf merkwürdige Weise konnte Haldana keine Worte, geschweige denn Sprache, wahrnehmen - und verstand doch, was "ihre Großmutter" von ihr wollte.
Sie fühlte sich leicht und luftig, während die Welt um sie herum merkwürdig entrückt wirkte.
Das Summen und Brummen der Bienen war intensiver als zuletzt, fast schon eine Brücke in die Welt der Lebenden. Alles um sie herum wirkte grau, fahl, schemenhaft, unfassbar, in eine Art ewiges Zwielicht getaucht.
"Bin ich tot?" fragte sie in Richtung ihrer Begleiterin. Ihr momentanes Dasein fühlte sich unwirklich an, aber keinesfalls unangenehm. Sie war wie berauscht, schlafwandelnd oder in einem Traum gefangen. Sumus Schwere war vollkommen von ihr abgefallen. Da war nur eine Ahnung, dass es irgendwo um sie herum noch etwas Anderes gab. Eine noch leichtere, hellere, unbeschwertere Welt, die ihr einstweilen verwehrt war.
"Bin ich tot?" wiederholte sie ihre Frage, mit irritiertem Blick auf die leere Hülle, die ihr Körper sein sollte.
Da war noch etwas in der Nähe. Etwas ungemein Beunruhigendes, Alptraumhaftes, was sie nicht wahrhaben wollte. Geschweige denn sehen.
"Tot? Nein. Jedenfalls nicht besonders". Die Frau winkte ab. "Im Vergleich zu den beiden da."
Tatsächlich, dort drüben standen Schwarzbart und Mia, und gestikulierten wild herum.
"Tot, ich bin tot" rief der Gassenstrolch und raufte sich die immateriellen Haare, mit Blick auf seine Leiche.
"Das Miststück hat mich umgebracht. Einfach abgestochen..wie ein Tier. Das war kein rondrianischer Kampf. Stein gegen Schwert...pfui, wie unfair."
"Ich muss wieder an die Stadtmauer" sagte Mia, die kräftigen Arme in die Seite gestemmt. "Ich bin ja wohl nicht gestorben. Keine Leiche. Also nicht tot. Ganz einfach."
"Moment, moment", sagte Haldana. "Da komme ich jetzt nicht so ganz mit. Warum hat sich Mia vorhin mit dir auf Tulamidisch unterhalten, wenn sie doch...marb ist? Während wir uns auch so verstehen..."
"Alhanisch. Das war Alhanisch" sagte Nasdja. "Nun. Der Grund warst Du. Für einen Geist ist es ein bisschen schwer, sich gleichzeitig mit einer Geisterseherin und einem anderen Geist zu unterhalten. Das stört den Einklang der Seelen. Deswegen musste ich dich zu uns auf die andere Seite holen. Um ehrlich zu sein: Ich habe einst auch eure Sprache gesprochen. Nur wollte ich erst einmal zuhören."
"Moment. Ich verstehe gerade nur Beilunker Reiter-Station. Bin ich gerade gestorben? Ich meine...warum sollte ich gestorben sein? Vor Schreck ganz bestimmt nicht."
In diesem Moment hatte der Schwarzbärtige sie entdeckt. "Hervorragend, ich habe mich gerächt...wenn ich schon in die Niederhöllen fahre, dann wenigstens nicht allein...Haha...das Miststück habe ich wenigstens noch mitgenommen."
"Halt einfach den Mund!" Nasdja hob ihr Pendel und ließ es kreiseln. Das schien den Wüterich irgendwie zu beeindrucken. Zumindest war er nun wirklich still.
"Das heißt, wir beide sind gar nicht tot, Haldana und ich?" Mia begann freudig zu lächeln. "Wusste ich es doch."
Nasdja seufzte. "Ich weiß nicht, was dein Eindruck von Geistern ist, Haldana… aber auf dieser Seite sind sie noch schrecklicher."
"Wer bist du?"
"Nasdja Persanzeff. Eine norbardische Wissende. Bei meinem Volk nennt man unsereins Zibiljas."
"Ah" sagte Haldana, ohne wirklich zu verstehen.
"Eine Zauberin. Ich bin es gewohnt, mich ohne diesen lästigen Ballast da fortzubewegen" Sie wies auf die toten Körper. "Das war ich schon zu Lebzeiten. Ich muss sagen, du bist erstaunlich gefasst. Andere reagieren auf die... Trennung anders. Wahrlich, du bist eine würdige Enkelin. Naja, Urenkelin...Ururur...ach, vergiss es...Zeit wird gemeinhin überschätzt." Die Norbardin winkte ab. "Der Fluss der Zeit ist ein ewiger Kreis, weißt Du, keine Linie, die irgendwann abbricht. Die meisten Sterblichen verstehen das nicht."
"Ich bin...Moment... ich verstehe schon das andere nicht. Das mit der Ururur… Ich soll eine Nachkommin von dir sein?"
Die Zibilja tippte auf ihren kahlen Schädel. "Höre in der Welt der Lebenden ruhig auf die Stimme deines Verstandes. Aber niemals zu sehr. Wenn du auf das Flüstern deines Blutes lauscht, was hörst du da? Du hast ein Gespür für Bienen, die heiligen Tiere der Mokoscha. Du trägst dein Haar wie ich. Naja, fast. Und du liebst Musik, so wie wir den Klang der Tamburka lieben, der Darabutschka und des Scharanko. Und du reist mit einem Jäger umher, in dessen Adern nivesisches Blut fließt. Wahrlich, dir hätte ein Platz in unserem Seffer Manech gebührt."
"Pfefferwas?"
"Unser Sippenbuch."
"Warum sehe ich plötzlich Gespenster?"
"Die Herrin Hesinde möge mir verzeihen. Aber manchmal hindert uns ein Übermaß an Klugheit und Vernunft daran, all die Dinge um uns herum so zu sehen, wie sie wirklich sind. Zumindest mehr zu sehen als andere. Manchmal braucht es einen kleinen Schlag auf den Kopf, um hinter den Vorhang des Verstandes zu blicken. Oder ein paar kleine Bienenstiche, je nachdem..."
"Irgendwie ist das für mich alles ein bisschen zu viel. Ich würde gerne wieder in meinen Körper zurückkehren, bevor mich die anderen für tot halten."
"Ach, halb so wild. Ich war damals auch völlig durcheinander, als sich meine Vorfahrin offenbart hat. Unsere gemeinsame Ahnin. Im Traum war das, als wir im Sommerlager am Ysli-See schliefen. Eine Barnfarnja, die in einem Hügelgrab zu Füßen der Berge beigesetzt ist, die du deine Heimat nennst. Ihr letzte Ruhestätte wurde geschändet, von Grabräubern. Sie haben eine Schriftrolle gestohlen, mit uraltem Wissen, das keinem Unberufenen in die Hände fallen darf. Mokoscha, unsere Göttin der Bienen, hat eine dunkle Schwester, die Angst, Sieche und Plage über die Menschen bringt. Du hast ihre Macht bereits kennengelernt."
Nasdja deutete in Richtung der Felder, dort, wo der unheilige Schrein stand. Nun wusste sie, dass von dort das Gefühl ständiger Beunruhigung ausging, dessen Quelle sie beharrlich ignoriert hatte.
Tatsächlich schien in dem Häuschen etwas Abgründiges zu lauern. Ein finsterer, giftiger, fauliger Schatten, den nur die Seele wahrnehmen konnte, nicht das Auge. Ein kaltheißer Mahlstrom, der endgültig aus der Welt führte. Dahinter war nur noch Wispern, Flüstern, Rascheln. Das Scharren Myriaden zarter Füßchen.
Haldana fürchtete sich - eine körperlose, aber umso tiefere Furcht. Irgendeine unsichtbare Kraft schien an ihr zu ziehen, zu zerren, sie einsaugen zu wollen, hinein in ein wimmelndes, beißendes, stechendes Nest.
Tatsächlich, Schwarzbart war schon dabei, langsam, aber stetig auf das Unheiligtum zuzutreiben, mit wehenden Geisterhaaren.
"Was, zum Namenlosen...? He, aufhören..."
"Seine Seele ist verderbter, als ich dachte" sagte Nasdja und klang traurig.
Der Bärtige begann zu schreien, zu heulen und zu kreischen. Dann verwirbelte er zu einer Art grauem Rauch - und wehte auf den Mahlstrom zu. Wenig später war er im Schlund verschwunden. Wurde einfach vom Nest verschluckt. Von einem unsichtbaren Schwarm eingehüllt und zerfressen.
Mia blickte entsetzt, und stemmte sich dem Grauen entgegen.
"Merkst du nun, dass es schlimmere Dinge gibt als den Tod, Mia? Weitaus schlimmere Dinge?" Nasdja winkte den anderen Geist zu sich heran. "Komm näher. In meiner Nähe bist du sicherer. Aber dein Leichnam sollte endlich beerdigt werden."
Die Maurerin huschte verstört näher. "Was ist das?"
"Der Weg in den Abgrund. Mokoschas Schwester hat uns entdeckt. Noch ist ihre Macht gering, selbst hier, in dieser Zwischenwelt, aber sie wächst stetig. Ja, ich glaube, ich sollte dich jetzt wirklich in deinen Körper zurückschicken, Haldana." Die Zibilja stellte sich zwischen die Sichlerin, Mia und dem Unheiligtum. Sofort ließ der unheilvolle Sog nach.
"Lange Zeit bin ich umhergewandert, auf der Suche nach der Schriftrolle. Eine andere Zeit, eine andere Welt und doch bleibt sie immer die gleiche. Denn die Zeit ist ein großer Kreis. Viele Winter ist das nun her, mehr als ich zählen kann. Irgendwann habe ich das verborgene Wissen gefunden und gehütet. Ich hätte das Pergament sofort verbrennen sollen. Damals erschien es mir fast schon heilig. Viele Jahre habe ich in der Sichel gelebt, mit Gemahl, Kindern - und Bienen.
Aber dann kam es, wie es immer geschieht, wenn große Furcht auf noch größere Dummheit trifft. Dein Volk hat mich vergiftet, weil es meine Zaubermacht gefürchtet hat. Vergiftet mit Honig. Hexe, so haben sie mich genannt. Kahle Hexe und Praiosfrevlerin aus dem finsteren Ysilien. Als ob nicht auch die Schwarzsichler Alhanier unter ihren Vorfahren gehabt hätten. Und doch gab es im Sichelvolk Menschen, die ihr Herz nicht verschlossen haben. Dazu gehörte auch Brûn, dein...nun ja, nennen wir ihn ruhig Großvater. Auch er war ein überaus gelehriger Schüler. Ein Mann muss eine Frau wohl von ganzen Herzen lieben, um ihre starre Leiche in Wachs zu hüllen, vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. Er hat das Ritual genauso ausgeführt, wie ich es ihm gelehrt habe. Nur meinen Körper zurück zu bringen, zu meiner Sippe, das vermochte er nicht. Es war die Zeit, als die letzten Norbarden aus den Wäldern Taubriens vertrieben worden sind, von den Eiferern des Praios, die damals in Gareth herrschten. Vertrieben worden sind, erschlagen oder verbrannt. "
Haldana schluckte. Diese Frau war ihre direkte Vorfahrin? Nun, eine gewisse Ähnlichkeit war da, auch ohne rasierte Haare. Zumindest das Gefühl von Vertrautheit. Sonst hätte sie dieses wahrliche gespenstische Zusammentreffen nicht so gelassen hingenommen. Wann hatte...Nasdja gelebt? Sie wusste wenig von Geschichte, aber von den Priesterkaisern hatte sie bereits gehört. Die Ereignisse mussten schon viele Hundert Jahre her sein.
"Erst wollten sie meine Mumie ins Feuer werfen. Aber dann hatten sie Angst, dass meine Zauberkräfte zurückkehren würden, sobald das Wachs schmelzen würde. Diese Narren. Also haben sie mich in irgendeinem Verlies eingemauert, mitsamt der Schriftrolle, deren Siegel und Zauberzeichen sie fast noch mehr gefürchtet haben als mich. Ich kann mich kaum noch an die Zeit in der endlosen Finsternis erinnern. Nur manchmal vermochte ich ein bisschen umher zu wandeln. Irgendwann fiel wieder Licht herein. Es war Sisa, die das Mauerwerk durchbrochen hat, mit ihren Helfern."
"Sisa die Schwarzhexe?"
"Ja, Sisa Brundel. Ich glaube, sie ist ebenfalls eine Nachfahrin von mir. Für dich ist wäre sie dann eine Art Schwester." Die Zibilja lächelte und kratzte sich die Nase. "Ich weiß nicht, warum Sisa mich gesucht hat, noch weniger, wie sie mich gefunden hat. Aber nun gut, wir Norbarden haben Sinn für Familiengeschichte. Unsere Nachkommen dann wohl auch. Einen Sinn für norbardische Traditionen hat Sisa nicht. Ich kann mich nur schemenhaft erinnern, was danach passiert ist. Die Schriftrolle hat sie an sich genommen, und mich wohl verkauft, an diesen verrückten Schamanen mit der Storchenmaske. Ich glaube, das ist alles noch gar nicht so lange her. Aber Zeit..."
"Ist ein Kreis, keine Linie, ich verstehe" sagte Haldana. "Was steht in dieser Schriftrolle?"
Sie blickte irritiert um sich. Irgendwie schien die Welt gerade noch dunkler zu werden. Immer neue Schatten krochen heran. Als würden Gewitterwolken aufziehen und sich vor die Sonne schieben (die Sonne, wo war sie überhaupt? Da war nur dieses ewige, matte Zwielicht. Langsam bekam sie Angst. Irgendwie hatte sie auch keinen Boden unter den Füßen mehr).
"Du solltest nun rasch in deinen Leib zurückkehren. Sonst verlierst du dich bei uns. Bring meine Überreste in ein würdiges Norbardengrab. Vor allem: Finde und vernichte diese Schriftrolle. Ich habe verstanden, dass sich nicht machtvolles Wissen darin verbirgt, und keine höhere Erkenntnis. Sondern nur Wahnsinn, Elend und Schrecken. Die beiden Schwestern sind ungleich. Leider."
"Was steht darin geschrieben?"
Nasdja seufzte. Sie schien sich von ihr zu entfernen, immer weiter hinein in die Schattenwelt, ebenso wie die völlig eingeschüchterte Mia.
"Die Grüne Wolke" hauchte die Zibilja.
Irgendeine Urgewalt packte Haldana, ohne jede Vorwarnung. Sie schrie, voller Furcht, sie könne ebenfalls in das sieche Nest gezogen werden, hinab in den wimmelnden Abgrund.
HALDAAANAAAA! UM FIRUUUNS WILLEN!
Es war die Stimme von Jodokus. Eine Biene summte an ihr vorbei. Eine Biene?
Noch ein wenig verschwommen sah Haldana, was sich rings um Sie abspielte. Einige Bienen schwirrten noch umher, beruhigten sich aber nach und nach wieder.
„Firun gedankt, Haldana“ stammelte Jodokus. „Ich dachte schon du seist tot. Du bist voller Blut“ Erst jetzt blickte die Bardin an sich herab. Tatsächlich war ihre Bluse und Hose mit Blut regelrecht vollgesogen.
„Das isch vom Schwarzbart…“ hauchte Haldana matt. „Ich hab nichts abb´kommen… oder doch?“ Stöhnend fasste sie sich mit der Linken an die blutverschorfte Beule an ihrem Kopf. Fühlte sich seltsam an. So dick, als wäre ein Geschwür aus dem Schädel gewachsen.
„Du musst einen mächtigen Schlag abbekommen haben“ erläuterte Jodokus.
„Wie lang` lieg` ich hier?“
„Oh, sicher zwei Stunden. Ich habe Rovik losgeschickt mit einer Nachricht nach Rommilys. Die Büttel sollen die Gefangenen abholen und weiter verhören… ach, das weißt du noch gar nicht. Dieser angebliche Heiler hat sich hier als Leichenfledderer betätigt. Dieser Schwarzbart und seine Kumpane haben ihm sein, ähm, Anschauungsmaterial vom Boronanger beschafft. Im Keller hat Doktor Korwid sein Labor… gespenstisch, wie es da aussieht. Eingewachste Leichen. Ekelhaft.“
Eingewachste Leichen… dachte Haldana und erinnerte sich an Nasdjas Worte. Seltsam, was diese geisterhafte Norbardin zu ihr gesagt hatte, erinnerte sie an die Abschiedsworte ihrer Mutter, als sie sie auf die Reise geschickt hatte. „Du musst in die Fremde ziehen, um die Heimat zu finden“ hatte ihre Mutter, nach der sie auch ihren Namen Haldana bekommen hatte, gesagt. Begann sich hier, das Schicksal zu erfüllen?
„Mutt`r…“ begann Haldana, stockte aber plötzlich. Das war nichts, worüber sie mit dem Stadtadeligen reden konnte. „Tuvok?“ fragte Haldana stattdessen.
„Der Jäger, ja. Der ist wieder wohlauf. Hat ein paar Bisswunden von den Hunden davongetragen, aber ich schätze der Bursche ist zäh. Alrik hat ihn verbunden. Mach Dir mal keine Sorgen, das wird schon.“
Haldana fühlte sich eher beunruhigt, sie hatte das Gefühl, man wolle ihr einen vielleicht tatsächlich kritischeren Zustand des Gefährten verschweigen. Haldana seufzte. Jodokus reichte ihr hilfsbereit seinen Wasserschlauch. Ohne wirklich Durst zu haben, trank Haldana.
„Was ist mit Deiner Mutter?“ Jodokus versuchte, sich einfühlsam zu zeigen.
„Hmm“ brummte die Bardin. Jodokus wusste nicht, ob Haldana erschöpft oder schlicht einsilbig war, und ob er vielleicht doch besser nicht nach der Mutter gefragt hätte. „Als ich weg`gang`n bi vo daheim, ich hab´ `s G´fühl, meine Mutt`r het gwisst, was uf mi zukomm`n werd… Hier mit diesem Unheiligtum und… du würdest es nicht verstehen. Du bist nicht aus der Sichel.“ Haldana mühte sich, wieder Hochgarethi zu sprechen. Sie hatte immer noch das Gefühl, dass der Stadtadelige den Dialekt nicht ganz verstand.
„Ich mag in Rommilys wohnen, aber ich komme aus Gallys“ warf Jodokus ein. „Mein Onkel Veneficus wird nicht umsonst das lebende Geschichtsbuch der Schwarzen Sichel genannt.“
Haldana nickte. Von dem alten Gallyser Magus und seinem profunden Wissen über die Geschichten und Mythen aus längst vergangenen Zeiten hatte sie gehört.
„Na gut“ begann Haldana. „Hat dein Oheim dir die Geschichte der norbardischen Seherin Nasdja erzählt?“ fragte sie, mit einer Mischung aus der Erwartung, Jodokus seine Unwissenheit vorzuführen und der vagen Hoffnung, doch etwas zu erfahren.
„Nein… Die Seherin Nasdja sagt mir jetzt nichts. Was nicht heißen muss, dass Veneficus nichts darüber wüsste.“
„Dann kannst du es auch nicht verstehen.“ Haldana begann, das Erlebte als Geschichte zu erzählen. Dem nüchternen Städter zu erzählen, sie habe mit Toten gesprochen käme dem Versuch gleich, sich selbst als reif für das Noionitenkloster darzustellen.
„Nasdja war eine Seherin der Norbarden, ich weiß nicht vor wie vielen Jahrhunderten. Vielleicht in der Zeit der Priesterkaiser, vielleicht noch früher. Vielleicht ist es auch eine Vorfahrin meiner Familie, aber das ist nicht gewiss. Manche sagen es, aber das mag auch nur eine Geschichte sein. Wie vieles, was nur aus Überlieferung beruht. Jedenfalls… man sagt, dass Nasdja zwei Töchter hatte. Die zweite, von der sagt man, dass sie sich finsteren Mächten verschrieben hatte. Auch diese hatte Nachfahren, die, so sagt man, noch bis heute. Nun… irgendwie hat mich die Schwarze Hexe, diese Sisa Brundel, von der Baron Alrik erzählt hat, daran erinnert. Ich musste an die Geschichte denken, als ich von Sisa Brundel gehört hatte. Kann aber auch Einbildung sein. Es klang halt nur ähnlich wie diese alte Geschichte. Nun… entweder spielt mir die Fantasie einen Streich, oder die Schwarze Hexe und ich sind tatsächlich beide Nachfahren der alten Seherin Nasdja. Dann wäre es kein Zufall, sondern Schicksal.“
Jodokus nickte. „Nun ja, die Wege der Götter sind unergründlich, wie man so schön sagt. Die Wege der Zwölf ebenso wie die Wege der Alten, wie mein Großonkel hinzufügen würde.“ Der Stadtadelige fügte den letzten Satz bewusst hinzu, da er nicht wusste, ob Haldana insgeheim - wie wohl auch sein Onkel Veneficus - den alten Göttern anhing. Er wusste, dass die Sichler vielerorts nur an der Oberfläche den Zwölfen anhingen, dies aber mit vielen alten rituellen und kultischen Glaubensinhalten verknüpften, was aber niemand offen sagte, und vielleicht auch nicht jeder wusste, der nur aus Tradition an derlei kultischen Handlungen teilnahm. Nicht jedenfalls seit der Herrschaft der Priesterkaiser.
„Aber eine schöne Geschichte. Nun, ob es tatsächlich eine solche Verbindung zwischen Dir und der Schwarzen Hexe gibt, werden wir vielleicht nie erfahren.“
„Was sagtest du vorhin? Eingewachste Leichen?“
„Ja. Zwei Frauenleichen. Eine davon mumifiziert. Die andere offenbar erst jüngst gestorben. “
„Wie sah sie aus?“
Jodokus verstand nicht recht, was Haldana an den Verstorbenen so interessierte. „Irgendwie norbardisch…“ stammelte er. Warum gerade jetzt Haldana die Geschichte von einer norbardischen Seherin erzählte, wenn zeitgleich eine norbardische mumifizierte Leiche gefunden wurde. Jodokus verstand nicht, was vor sich ging. Aber es schien wichtig zu sein. Auch wenn er sich keinen Reim darauf machen konnte, wieso Haldana gerade jetzt von dieser Geschichte sprach. Die Leiche der Norbardin hatte sie ja nicht gesehen. Das ganze kam ihm seltsam vor.
Das Klappern von Hufen auf dem steinigen Karrenweg ließ Haldana aufhorchen. Auch Jodokus sah auf. Offenbar kamen die Büttel aus Rommilys, die Rovik verständigt hatte.
Erst jetzt bemerkte Haldana, dass Jodokus die ganze Zeit ihre Hand gehalten hatte. Hastig zog sie sie zurück und stand auf.
***
Mit elegantem Schwung beförderte der Büttel die Fackel durch die Tür des Bauernhauses. Einen Moment lang tat sich nichts. Nur ein einzelnes, rötliches Feuerauge blinzelte hinaus in die blauschwarze Nacht, die mittlerweile über Helbers Hof hereingebrochen war. Zarter Rauch stieg auf und verwehte.
Alrik glaubte für einen Moment, der Brand im Inneren wäre wieder erloschen, trotz des Reisigs, der Holzscheite, des Strohs und des Lampenöls aus den Vorräten von Doctor Korwid Alfengrund. Dann begann es wieder zu flackern und zu qualmen.
Zwei weitere, hell lodernde Fackeln folgten, die durch die geöffneten Fensterläden geworfen wurden. Rasch wuchs das Glimmen im Inneren an, zu einem machtvollen Glosen. Die ersten Feuerzungen loderten empor. Es rauchte und qualmte. Nach kurzer Zeit stand das Haupthaus in Vollbrand. Schnatternd und zeternd flatterten Amseln auf, die in der Nähe geschlafen hatten. Irgendwo in der Ferne belferten Hofhunde.
Langsam wurde es heiß, und fast schon taghell. Funken schwirrten umher, wie Glühwürmchen. Hesindian wich zurück, hob die Hand, um seine Augen vor dem Feuerschein zu beschützen und hustete nervös. Die Szene kam ihm allzu zu bekannt vor: mit dem Unterschied, dass er vor kurzem noch im Inneren eines solchen Glutofens gestanden hate.
Alrik paffte scheinbar unbewegt seine Fuchskopf-Pfeife. "Scheint, der Feuerteufel geht wieder um, in Rommilys"
"In Rommilys und um Rommilys und rund um Rommilys herum". Stockend murmelte der weißhaarige Magier den alten Zungenbrecher.
Der Baron verwedelte den Tabakrauch, und blickte wieder zu den Brandstiftern. Die Stadtwache, so hatte er das Dutzend Frauen und Männer für sich selbst genannt. Aber eigentlich sahen sie aus, wie sich Klein-Alrik Spione von KGIA oder FDEA vorstellte. In ihren schlichten, graubraunen Kapuzenmänteln erinnerten sie fast ein wenig an einen Mönchsorden. Eine strengblickende, schlanke, schon etwas ältere Frau in Räuberzivil schien ihre Anführerin zu sein. Ihre Haare hatte sie hinter dem Kopf zu einem Dutt gebunden, die Körperhaltung war kerzengerade. Sie unterhielt sich leise mit Jodokus.
Die berittene Truppe, die aus der Stadt herbeigeeilt war, durfte man mit Fug und Recht als Putztruppe bezeichnen. Ein Teil von ihnen hatte die Gefangenen und die Beweismittel mitgenommen, außerdem die beiden Toten auf dem Pferdefuhrwerk fortgeschafft. Nun war "Thorwalsches Aufräumen" angesagt.
Nur die Wachsmumie war ihnen entgangen: Haldana hatte partout darauf bestanden, sie in einer Truhe zu verstecken - Phex wusste, wohin sie die Kiste geschleppt hatte, zusammen mit Rovik. Wahrscheinlich in den Geheimgang unter der Scheune. Auch die Bienenstöcke durfte niemand antasten.
Nach ihrem Schlag auf den Kopf war die Sichlerin immer noch völlig durcheinander. Die Wachsmumie habe ein norbardisches Begräbnis verdient, behauptete sie steif und fest. Wie auch immer sie diese Trauerfeier bewerkstelligen wollte.
Der Mondschatten wies mit der Pfeife auf den jungen Patrizier und die fremde Frau: "Jodokus scheint unsere geheimnisvolle Unbekannte zu kennen." Der Friedwanger wich nun ebenfalls vor dem Hitzeschwall zurück. "Vielleicht seine Zofe oder Kindermädchen" sagte er, mit schiefem Grinsen. "So respektvoll, wie er mit ihr spricht."
"Das ist Halike Rattel", antworte der Graumagier. "Die stellvertretende Spektabilität des Informations-Instituts."
"Oha. Du kennst sie auch?"
"Vom Namen her. Ich habe sie kurz auf dem Flur getroffen, in der Akademie. "
"Und nun taucht sie hier auf, zu nachtschlafener Zeit? Ohne Stab, ohne Robe, wie eine Borbaradianerin? Widerspricht das nicht sämtlichen Magiergesetzen?"
"Pssst, nicht so laut" Der Hofmagier schien ernsthaft eingeschüchtert zu sein. "Die Informationsmagier sind nunmal ...diskret unterwegs, im Dienst des Reiches".
"Ich dachte, die gehören zu den rundherum Guten...den Weißen...den praiosgefälligen Magiern." Leichter Spott schwang in der Stimme des Friedwangers mit, während er paffte und einen einzelnen Funken von seinem Mantel wischte, der vom brennenden Haus heran geweht war
"Selbst Praios verbirgt sich vor unwürdigen Blicken, hinter Wolken oder blendendem Licht"
"Sagt Hesindian von Orweiler?"
"Ist ein Zitat von Reichsgroßgeheimrat Dexter Nemrod. Glaube ich..."
"Mein ehemaliger Wehrheimer Graf. Manchmal vermisse ich ihn. Ebenso wie das schöne Wehrheim selbst. Das waren noch Zeiten… Der Götterfürst war für Dexter also nur ein Blender? Soso..."
Eifrig verwedelte Alrik die lästerlichen Worte vor seinem Mund, wie es der Aberglaube verlangte. Bevor sie gen Alveran aufzusteigen vermochten.
Dabei hatte er nichts gegen Blender und Hochstapler, rein gar nichts.
Halike Rattel betrachtete ihr Zerstörungswerk, die Hände hinter dem Rücken, wie eine Feldherrin auf dem Kommandantenhügel.
"Helbers Hof wird von einer Räuberbande niedergebrannt, heute Nacht, schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Jahre...wie überaus bedauerlich..." sagte sie.
"Vermutlich wird Doctor Alfengrund nach dieser Schreckensnacht verschwunden bleiben. Für immer. Womöglich ist er im Feuer verbrannt, vielleicht einfach nur weitergezogen. Wenn Ihr versteht, was ich meine?"
Die Weißmagierin wandte sich wieder dem jungen Baernfarn zu.
"Ich dachte eigentlich, Ihr wolltet Euch geradewegs auf die Suche begeben, nach ihm und dem Hexer von Rommilys? Ich hätte mich derweil schon um Korwids Rattennest gekümmert..."
"Nun, wie es scheint, sind wir gerade zur rechten Zeit hier eingetroffen" Jodokus versuchte nicht allzu vorwurfsvoll zu klingen. "Immerhin haben wir eine ganze Bande von Leichendieben dingfest gemacht."
"Wir sind das Informations-Institut, nicht die Informations-Agentur", sagte die Magistra Magna. "In den letzten Götterläufen sind unsere Möglichkeiten leider begrenzt. In der Stadt sind wir dabei, die Storchenschwingen zu überprüfen. Ein paar übereifrige Spitalknechte und -Mägde, Feldscher und Peraine-Akoluthen, mehr nicht. Fanatische Peraineanhänger, die sich regelmäßig zur Leichenschau getroffen haben, an geheimen Orten, wie diesem hier. Nicht gerade göttergefällig, aber auch kein Kapitalverbrechen. Hinweise auf Dämonenbündelei oder Verrat an Alveran gibt es bislang keine. Mir wurde schon nahegelegt, meine Untersuchung nicht über Gebühr auszudehnen. Vor allem nicht über die Stadtgrenzen hinaus. Bei Hofe scheinen sie zu glauben, dass wir vom Institut nur Vorwände suchen, um uns in die Geschicke der Mark einzumischen oder gleich eine neue KGIA aufzubauen." Halike verkniff den Mund. Zumindest letzteres hätte sie vermutlich gerne in die Wege geleitet.
"Am Greifenplatz würden sie am liebsten die Bannstrahler von der Leine lassen. Das Wort Inquisition ist auch schon gefallen. Sie fragen bereits nach Raberto und dieser Maraske, oben im Palastkerker. Das kann gefährlich werden, sobald der Name Eures Braumeisters fällt. Wenn sich Geißler auf Hexenjagd begeben, bleibt es meist nicht bei einer Anklage. So wie es jetzt aussieht, wird die Auslieferung noch ein paar Tage aufgeschoben. Immerhin wurde der Andergaster bei seiner Verhaftung verwundet. Allerdings legt unser Institut Wert auf ein gutes Verhältnis zum Orden vom Bannstrahl..."
"Wolltet Ihr das Diebespärchen nicht in Hôt-Alem loswerden?" Jodokus schluckte. "Das hört sich eher nach dem Feuer eines Scheiterhaufens an, als nach der Hitze des Tiefen Südens..."
"Wenn es nur das wäre. Mein Gesprächspartner im Orden hat schon Andeutungen gemacht. Nun, wie seltsam es doch ist, wenn..." Halike hüstelte verlegen, was nicht nur am Rauch des brennenden Bauernhauses lag. "Wie merkwürdig es doch ist, wenn eine, öhött, ältere Dame wie Eure Frau Gemahlin mit einem derart jungen Ehemann verheiratet ist, wie Ihr es seid. Warum Euch Eure Gemahlin derart verzaubern würde.... verzaubern, das war exakt das Wort."
Einen Moment lang war Jodokus ehrlich empört. "Was soll das jetzt wieder heißen? Ich liebe Irmelinde von Herzen. Wir wurden vor Travias Altar getraut und sind rechtmäßig Mann und Frau... überhaupt, wir beide sind in dieser Angelegenheit ja wohl Opfer, nicht Täter..."
"Gemach, Gemach" Halike hob die Hand. "Gehen wir ein Stück? Am besten dort entlang."
Die Magierin wies den Weg, und Jodokus trottete schicksalsergeben hinterher.
"Seid unbesorgt", fuhr die Magierin fort. "Wir leben nicht mehr in der Zeit der Priesterkaiser. Wo ein bloßes Gerücht genügt hat, um rechtschaffene Leute auf den Scheiterhaufen zu bringen."
Und ihr Vermögen in die Kasse des Praiostempels, fügte der Händler in Gedanken hinzu.
"Seid gewiss, dass ich zu Eurem Gunsten gesprochen habe. Und einige Informationen noch zurückhalten werde. Schon meine `Drohung´ Raberto magisch heilen zu lassen, hat die Situation entspannt." Halike schmunzelte, wurde aber schnell wieder ernst. "Dennoch. Euer Ruf in Rommilys würde sicher Schaden nehmen, falls die Sache hochkocht. Das Beste wird sein, wenn Ihr selbst die wahren Übeltäter dingfest macht, mit Euren Gefährten. Oder gleich unschädlich. Damit hätten wir zwei Heshtots mit einem IGNISPHAERO ausgetrieben, wie man bei uns an der Akademie so schön sagt. Das Informationsinstitut setzt sich nicht den Verdacht aus, draußen in der Mark Reichsgroßgeheimrat spielen zu wollen. Ihr wiederum könnt den Praiosdienern beweisen, dass Ihr nichts mit den schwarzmagischen Umtrieben zu tun habt, im Gegenteil. So ist Thron und Altar in gleicher Weise gedient."
Jodokus nickte. Aus irgendeinem Grund schien er bei der gestrengen Halike ein Stein im Brett zu haben. Das konnte er spüren. Vielleicht lag es daran, dass die Magierin den Marsch der Tausend Oger hautnah miterlebt hatte. Es war kein Geheimnis, dass Baron Odilon Wildgrimm von Gallys, sein Großvater, heldenhaft gegen die Menschenfresser gekämpft hatte, an der Trollpforte. Womöglich hatte er sogar den Fährhof der Rattels vor den keulenschwingenden Ungeheuern gerettet. Irgendwie kam ihm die Geschichte bekannt vor.
Schon der Gedanke, Meister Krummbacher an die Inquisition auszuliefern, war ihm unangenehm. Der Rommilyser war in unsaubere Geschäfte verwickelt gewesen. Sicher. Aber Krummbacher war selbst erpresst worden, seine Familie befand sich immer noch in Gewalt des Medicus, und damit vermutlich auch des Hexers und dieser Sisa Brundel. Es würde ihm, seinem Dienstherren, nichts anderes übrig bleiben, als die Flucht nach vorne anzutreten. Und die Sache aufzuklären.
Sie gingen den Feldweg entlang auf das Unheiligtum zu, in das die "Gugelmänner" eifrig Reisig, Stroh und Brennholz schichteten, im Schein einiger Lampen, zu einem regelrechten Scheiterhaufen. Die Szene erinnerte tatsächlich an eine nächtliche Hexenverbrennung. Nur dass die Statue der Bienenkönigin in Flammen aufgehen sollte, keine Schadenszauberin aus Fleisch und Blut. In der Nähe schnaubten und stampften die Pferde. Es war ein gespenstisches, unwirkliches Schauspiel. Die Hitze des Feuers im Rücken und die Kühle der Nacht im Gesicht waren ein merkwürdiger Kontrast. Der junge Baernfarn schauerte.
"Ein paar Tage Vorsprung wird man Euch gewähren" sagte Halike. "Ach ja. Ich habe erfahren, dass vor kurzem die Flusshexe gesichtet worden ist, in Rommilys. Diese schwimmende Spielhölle. Offenbar ist sie doch nicht im Krieg verbrannt. Jedenfalls nicht vollständig. Sie hat vor ein paar Tagen im Hafen angelegt, mit einer Ladung maraskanischem Rum, Getreide und Gewürze. Wie es heißt, hat sie im Gegenzug ein paar Dutzend Fässer an Bord genommen."
"Kennt man den Inhalt?"
"Pechfässer. Aber sie waren allesamt leer. Das Schiff hat nach ein paar Stunden wieder abgelegt."
"Um demnächst Nachschub an Tlalucs Brodem in die Stadt zu bringen?"
"Nun, laut Hafenmeister ist sie mittlerweile in Perricum registriert. Papiere wären in Ordnung gewesen. Die Besatzung hätte aber schon sehr verwegen ausgesehen...Es gab Ärger in ner Hafenkneipe, wo sie Kaiser Valpos Entzücken gespielt haben."
"Valpos Entzücken?"
"Ihr seid Besitzer einer Brauerei, und kennt das Trinkspiel nicht?" Halike griff nach einer Fackel. "Man folgt dem Trinker auf seiner Rundreise durch die 13 alten Provinzen des Reiches, nach der Thronbesteigung. Von Albernia bis Maraskan. Für jede Provinz steht reihum ein Glas Schnaps auf dem Tablett. Jedesmal eine landestypische Spirituose. In Darpatien trinkt man Traviagünstchen."
Jodokus verzog das Gesicht. Traviagünstchen, das trüborange Zeug. Schmeckte mild, verursachte aber einen niederhöllischen Kater. Zumindest bei ihm war das der Fall gewesen. "Ihr seid wieder mal bestens informiert, für eine Magierin der Weißen Gilde..."
"Wie ich schon sagte, wir sind das Informationsinstitut - und mit sämtlichen Ränken des Bösen vertraut. Außerdem, ich war auch mal Elevin...Bei unseren Trinkspielen ging es aber doch etwas friedlicher zu. In der Kaschemme wurde ein Messer gezückt, gleich hinter den Nordmarken. Es war wohl die billige Variante des Spiels. Wie es heißt, gab es nur Trollzacker Birnengeist, in allen Provinzen. " Die Magierin warf die Fackel in den Schrein.
"Die Rauferei kommt uns aber gelegen. Der Messerstecher saß noch in der Arrestzelle, oben in der Hauptwache, und konnte befragt werden. Die Flusshexe gehört mittlerweile dem Handelshaus Warrlinger. Hat aber noch einen stillen Eigner, der sich in Rommilys um das Geschäft kümmert. Sie wird jetzt als Treidelschiff eingesetzt - darpatabwärts wird gesegelt, mit Mast. Flussaufwärts wird sie von Darpatbullen gezogen, den Leinpfad auf der Trollzacker Seite entlang. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches."
Jodokus nickte. Warrlinger, das war ein reiches, vor allem einflussreiches Perricumer Handelshaus, das in Khunchom am mächtigen Maraskankontor beteiligt war, zusammen mit Stoerrebrandt, Dhachmani und Gerbelstein. Das Handelshaus Romerzi machte ab und an Geschäfte mit ihnen. Die Warrlingers, oder besser gesagt ihre Mittelsmänner, wirkten auf ihn schon etwas hochnäsig, durchtrieben und rücksichtslos. "Wenn man mit Warrlinger verhandelt, stürzt am Ende der Rechenschieber um", hieß es bei seinen Kontoristen. So ein Flussschiff auf dem Darpat zählte im Maraskankontor sicher nur als kleiner Fisch, bei dem am Ende nur die Bilanzen interessierten.
"Nun, mit leeren Fässer den Darpat hinab zu fahren, das ist schon etwas ungewöhnlich", meinte Jodokus.
"Sie soll Pech aus den Trollzacken übernehmen, ein paar Meilen darpatabwärts. An der ersten Treidelstation hinter der Einmündung der Natter. Und die Ware dann nach Perricum bringen, für die Werften. Zum Kalfatern der Schiffe."
"Moment. Die Flusshexe will runter ans Meer?" Der Rommilyser wurde hellhörig. "In eine Hafenstadt? Mit den Pechfässern? Das heißt, womöglich wollen die Paktierer Tlalucs Brodem über ganz Aventurien verbreiten… und damit den Schrecken der Seuche?!!"
Halike sah versonnen zu, wie die Flammen des "Scheiterhaufens" züngelten und das Feuer langsam hochbrannte. "Nun, ein Handelsherr wie Baldo Warrlinger dürfte über jeden Verdacht erhaben sein. Ein echter Mäzen und Wohltäter, nach allem, was man so hört. Sicherlich kein Dämonenpaktierer, der halb Dere ins Chaos stürzen möchte. "
"Er muss davon ja nichts mitbekommen, in seiner noblen Villa am fernen Perlenmeer. Es genügt, wenn sein Miteigner in Rommilys die Entscheidungen trifft. An Bord einer Schivone oder Trireme würde Tlalucs Brodem eine unglaubliche Panik auslösen. Damit könnte man die halbe Perlenmeerflotte lahmlegen. Sagtet Ihr nicht, die Flusshexe hatte Rum an Bord? In einem Fass Offenbarung der Zwillinge würde das Zeug ebenfalls nicht auffallen."
"Sagt das mal einem stolzen Maraskaner des freien Shikanydad. Nun denn. Bislang ist das nichts weiter als Spekulation. Aber Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, wie Praiodane Werckenfels zu sagen pflegt. Man sollte der Sache nachgehen."
Jäh brüllten die Flammen auf, mit giftgrünem Glanz. Selbst die Magierin hob erschrocken den Arm, als das Innere des Unheiligtums entflammte. Eine Art Schreien und Kreischen war zu hören. Jodokus schlug hastig den Firunspfeil. Schwarzer Rauch stieg auf, verwirbelte, bildete bizarre Schatten. Dem Baernfarn standen die Haare zu Berge. Welche Mächte hatten sie hier geweckt?
Alrik und Hesindian waren der Magierin und dem Patrizier in einigen Schritt Abstand gefolgt.
Der Mondschatten hatte dennoch fast alles mit angehört, dank seines füchsischen Gehörs. Jedenfalls genug, um sich aus dem Rest einen Reim machen zu können. Auf den letzten Schritten lenkten ihn Rovik, Tuvok und Haldana ab. Die Sichlerin stand totenbleich vor ihm, wie ein Geist.
"Wie gehts es dir?" fragte Alrik, ehrlich besorgt. Zwei Stunden in Borons Dämmerland, das war durchaus nicht normal. Aber ernsthaft verletzt schien die junge Frau nicht zu sein.
"Desch letzti was i brauch, isch där Medicus" Die Sichlerin versuchte einen Scherz und lächelte tapfer. Dann hatte sie den mit Brennmaterial vollgestopften Schrein entdeckt. Furcht breitete sich in ihrem Gesicht aus - eine Angst, die nicht von dieser Welt war.
"Wasch hat Jodokus voor? Kännt är die Frau?"
"Er scheint viele einflussreiche Leute zu kennen, in Rommilys", sagte der Friedwanger ausweichend. Irrte Alrik sich, oder hörte er Eifersucht aus Haldanas Stimme heraus? Immerhin, der junge Edelmann schien auf ältere Damen zu stehen. Oder vielleicht auch nur auf das Vermögen alter Damen, aber wer wollte schon danach fragen.
Eine strahlende Schönheit war die stellvertretende Akademieleiterin nicht mehr, aber sie besaß durchaus Charisma.
Halike Rattel hatte eine Fackel ergriffen, warf sie beiläufig ins Holz und plauderte ungerührt weiter. Alrik langte sich mit der linken Hand nervös an den Kragen und "sprach" mit den Fingern der Rechten ein stummes Gebet zu Phex, in der Zeichensprache Atak.
Er wollte noch eingreifen, aber es war schon zu spät. Die Vize-Spektabilität hatte nicht das gesehen, was er gesehen hatte, mit den Augen eines Geweihten. Was er gespürt hatte. Vermutlich war die "Zartfüßige" mit den Insektenaugen für die Magistra einfach nur ein Götzenbild. Er wusste, dass dahinter mehr lauerte. Ein Abgrund, der geradewegs in die Niederhöllen führte. Die Macht einer gefallenen Unsterblichen.
Diese Kraft ist nicht von dieser Welt.
Im nächsten Herzschlag fauchten giftgrüne Flammen empor. Haldana schrie auf, stopfte sich die Faust in den Mund. Rovik und Tuvok blickten einfach nur erschrocken. Wenn die Kapuzenmänner verstört waren, ließen sie es sich nicht anmerken.
Es stank zum Peraineerbarmen. Schwarzer Rauch quoll aus dem Scheiterhaufen. Die Menschen husteten und keuchten. In der Mitte thronte die Königin, Herrscherin des Untergangs, und lächelte huldvoll. Einige bange Momente lang glaubte der Mondschatten, die Statue wäre auf widernatürliche Weise gefeit. Aber dann griff das Feuer doch auf das Holz über. Die Farbe begann abzublättern und zu verwehen. Die Facettenaugen glühten, in fiebrigem, schwefelfarbene Glanz. Wispern, Rascheln, Nagen, Summen. Hörte Alrik die Geräusche wirklich, oder gab es sie wieder nur in seinem Kopf? Die Figur, die gerade noch menschenähnlich gewesen war, verformte sich. Wurde zu einem grotesken Etwas, das seine Gestalt mit jedem Herzschlag zu verändern schien, in der flirrenden, hitzegeschwängerten Luft. Der Tiegel zerbrach, wie eine faule Frucht, entließ eine Art von Hornissenschwarm. Die meisten der Insekten verbrannten. Drei oder vier der Plagegeister stürzten sich wutsummend auf Alrik, den Geweihten, bohrten ihre Stachel in seine Haut und verschwanden, wie eine Halluzination. Auch Rovik und Jodokus wurden gestochen. Sie schlugen um sich, schrien und schimpften.
Das… das ganze Ding brannte jetzt lichterloh, wie eine Fackel. Mit einem ekligen, matschigen Geräusch platzte das Götzenbild auseinander, brach in sich zusammen. Schleimige, gelbe Maden, wuselnde Kakerlaken, fahlgraue Asseln, feiste Gruftkäfer quollen heraus, ein einziges, wimmelndes Knäuel, das zischend, knackend, zappelnd in der Feuersbrunst verschwand. Alrik war sich keineswegs sicher, ob das Geziefer aus derischer Substanz bestand. Der Gestank nach Fäulnis, Schwefel und Verwesung, der sich mit dem finsteren Rauch verbreitete, war nicht von dieser Welt. Ascheflocken wirbelten umher, oder war es schwirrendes Kroppzeug?
Haldana war wie gelähmt und spürte nichts. Die Hornissen schwirrten an ihr vorbei, ohne sie auch nur zu berühren. Einen Moment lang glaubte sie den Schwarzbart im Qualm zu erblicken, der noch einmal nach ihrem Innersten griff, wie ein Ertrinkender nach der rettenden Planke. Jäher Wind kam auf, zerriss die fetten Schwaden zu kleinen Fetzen und trieb sie auseinander.
Der Pesthauch ließ nach.
Rumpelnd brach das Dach ein. Nach einiger Zeit war es fast ein normales Feuer, das in der Ruine brannte.
"Was hast du dir dabei gedacht?" Jodokus rieb sich seinen Hals, wo ihn eines der Biester gestochen hatte. Sie waren in den Keller unter der Scheune gegangen, ein paar krumme Stufen hinab. Aus dem Gang, der zum Bauernhof hinüberführte, roch es nach Rauch, aber das kleine, muffige Gewölbe war nur wenig verqualmt. Mitten im Keller, im Schein der Laterne, stand die Truhe. "Du willst die Mumie mitnehmen?"
"Wir brauche a Saumpferd", stellte Haldana fest. "Un festi Tragrieme..."
"Ein Packpferd?" Der junge Patrizier war vollkommen perplex. Waren mittlerweile eigentlich alle verrückt geworden? "Wir sollen mit... mit einem Sarg hinüber in die Trollzacken reiten?" Mit der freien Hand nestelte er eine alte Spinnwebe aus seinem Gesicht.
"Isch vielleichd die Mumi von de Nasdja" sagte die Schwarzsichlerin und klang trotzig wie ein kleines Kind. Irgendwo raschelte eine Maus.
"Warum sollte das die Mumie von deiner... deiner angeblichen Vorfahrin sein?" Irritiert sah der Baernfarn auf den halbrasierten Schädel seiner Angebeteten, wo noch immer die riesige Beule prangte.
Trug die Bardin deswegen so eine abscheuliche Frisur? Weil sie sich einbildete, von einer norbardischen Seherin abzustammen? Die vertrocknete Leiche in der Kiste war sogar kahlrasiert. Alles überaus beunruhigend. Bereits der Gedanke, heute Nacht in der Scheune schlafen zu müssen, über einer solchen Gruft, war mehr als unangenehm. Mit einer Mumie durch die zwölfgöttlichen Lande zu reisen, sprengte für ihn endgültig die Grenzen des Vorstellbaren.
"Du bist völlig durcheinander" stellte Jodokus nüchtern fest. "Wir sollten jetzt nach oben und noch ein paar Stunden schlafen. Ruh dich etwas aus, morgen schaut die Welt ganz anders aus."
Sie hatten kurz beraten und sich dann entschieden, in der Scheune zu übernachten, die recht geräumig und immer noch voller Heu und Stroh war.
Tuvoks Wunden schmerzten offenbar niederhöllisch, auch wenn Hesindian behauptete, dass sie nicht allzu schwer waren.
Reiten wäre für ihn eine Qual. Auch die Sängerin schien eine Gehirnerschütterung erlitten zu haben. Es war besser, hier zu bleiben, bevor sie endgültig dem Delirium verfiel.
Beide hatten sich geweigert, einen Heilzauber auf sich sprechen zu lassen: Tuvok offenbar aus abergläubischer Furcht vor Magie, Haldana, weil sie störrisch und uneinsichtig war. Hesindian schien diese Weigerung keinesfalls unangenehm zu sein. Der machtvolle Zauber, den er vor kurzem auf Alrik gesprochen hatte, schien sehr viel von seinen Kräften aufgezehrt zu haben.
"Obe in de Schüür isch a kleins Wägeli" Haldana kratzte sich nachdenklich am Kopf, gleich neben der Beule. "Da könnt i desch Pferd vorspanne..."
"Der wackelige Karren? Damit kämen wir nicht mal nach Rommilys... Haldana, es ist gut… die Gardisten werden morgen noch einmal zurückkehren, und das Ding da entsorg... mitnehmen... du solltest dich jetzt wirklich etwas ausruhen."
"I fuel mich gued." Haldanas Augen funkelten empört. "Wirkli!"
Lag da plötzlich ein anderer Glanz in ihren Augen? Was für ein närrisches, wunderbares, dralles, pralles Bauernkind...
"Haldana!" Jodokus stellte die Laterne ab und fasste der Bardin an die Schultern.
"Lass mi! Mi gehts gued!" Die Sichlerin versuchte sich frei zu winden, weitaus weniger energisch, als es ihre Worte vermuten ließen.
Jodokus spürte ihren warmen, angespannten Körper unter seinen Händen. Eigentlich wollte er dieses... dieses verrückte Mädchen wieder loslassen.
Dann überkam es ihn einfach, als hätte die Göttin Rahja (oder ihr Sohn Levthan?) die Macht über seine Glieder übernommen. Über sämtliche Glieder.
Er zog sie an sich, presste seine Lippen auf ihren feuchten, sinnlichen Mund, versank vor Wonne stöhnend in einem tiefen Kuss. Seine Finger glitten die Schulter hinab, bis zu den Hüften und wieder hinauf, bis sie gefunden hatten, wonach sie suchten.
Nur kurz bäumte sich Haldana in seinem Griff auf, eher spielerisch als widerwillig. Sie wuschelte durch seine Haare.
Rötlich flackerte das Licht der Laterne. Hastig riss Jodokus Haldana die Kleider vom Leib, als befänden sie sich in einem lauschigen Schlafgemach in Rommilys. Glühend heiß überflutete sie die Wollust, raubte ihnen beiden den Verstand. Mit nacktem Hintern und barbusig prallte Haldana auf die Truhe, Jodokus suchte ihren Schatz der Rahja und riss Haldana mit seiner Leidenschaft einfach mit sich. Haldana fiel in einen Taumel von Leidenschaft und Neugier und öffnete seine Kleider.
Ich betrüge gerade meine Gemahlin, auf einer Truhe mit einer uralten vertrockneten Norbardin, dachte Jodokus. Nein… nicht Norbardin, und nicht uralt. Bardin und jung…
Das war der letzte klare Gedanke, den er fassen konnte.
Haldana schrie kurz auf. Es war, als würde eine Biene sie in den Unterleib stechen. Nur schmerzhafter. Und zugleich unendlich viel schöner. Sie vermochte nicht zu entscheiden, ob Schmerz oder Freude überwog. Vorsichtig bewegte sie ihr Becken im gleichen Rhythmus wie der Städter, so wie sie es hin und wieder bei der kessen Magd Rimhilde gesehen hatte, die sich des Öfteren mit den Knechten in der Scheune vergnügt hatte. Als Kind hatte Haldana Rimhilde öfters dabei überrascht und neugierig beobachtet. Ob sie es so richtig machte? Haldana war unsicher, ließ sich treiben im Strudel der Gefühle… Es tat weh. Haldana biss sich auf die Lippe. Zwischen dem Schmerz fuhren aber auch Wellen eines ungekannten Glücksgefühls durch ihren Körper.
Langsam, aber dennoch unvermeidlich ließ durch den nicht nachlassen wollenden Schmerz der Rausch nach, der sie eben noch erfasst hatte. Wie durch einen Nebel drangen soeben noch entfernt liegende Gedanken aus dem tiefsten verborgenen ihres Verstandes wieder in den Vordergrund.
Was tat sie da eigentlich? Und dann ausgerechnet mit Valyrias Ziehsohn! Ein Traviafrevel der besonderen Art. Wie konnte sie so ungehorsam sein? Sie hatte es ihrer Mutter versprochen, auf sich acht zu geben. Was würde nun sein? Was war, konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden… Es muss am Bienengift liegen, dachte Haldana. Es war das gleiche Gefühl, das sie durchdrang, wenn sie bei der Imkerei von Bienen gestochen wurde. Durch den Schmerz wurde ihr bewusst, wie sie lebte, und daher liebte sie das Gefühl genauso wie sie es fürchtete. Und es versetzte sie immer wieder in einen Rausch. Vorhin in den Rausch des Tötens. Ihre Mutter hatte sie davor gewarnt. Auch wenn es im Kampf war und gegen einen unheiligen Feind, das erste Mal einen Menschen zu töten enthemmte einen Menschen, der Krieg und Kampf nicht gewohnt hatte, auf das Heftigste. Und die Begegnung mit der norbardischen Seherin… war das Wirklichkeit oder Traum gewesen… Das alles schien zu viel für sie gewesen zu sein, wie sonst hätte sie sich solcherart enthemmt gehen lassen können?
Nunmehr hatte der Zustand der Ekstase bei Haldana völlig nachgelassen. Sie erstarrte, machte die langsam stoßenden Bewegungen des Stadtadeligen nicht mehr mit.
Jodokus war offensichtlich verwirrt darüber, dass seine Gespielin die Lust verloren zu haben schien. Er verstand auch nicht, warum. Wie hätte er das auch? Aber er ließ nicht nach in seinem Tun. Sei es, dass er hoffte, sie erneut zum lustvollen Treiben zu motivieren, sei es, dass er selbst schon so sehr in Ekstase verfallen war, dass er nicht mehr inne halten konnte. Doch so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht mehr, Haldana in lustvollen Rausch zu versetzen.
Leidenschaftlich küsste er die Bardin auf den Mund. Seine Lippen glitten weiter herab auf den Hals. Jodokus Atem ging schnell. Sanft streichelten seine Finger die Angebetete, so wie er wusste, dass es allen Mädchen, mit denen er bislang sein Lager geteilt hatte, gefallen hatte. Jodokus war keiner, der nur an sich dachte. Er genoss es, einem Mädchen Freude zu bereiten und er konnte es selbst nur halb so sehr genießen, wenn das nicht gelang, auch wenn er selbst, von seiner eigenen Erregung übermannt, schon seine Freude gehabt hatte. Allein, es gelang ihm nicht, in Haldana wieder Lust zu entfachen.
„Hör` uf“ murmelte Haldana leise.
Jodokus, der ohnehin zuvorderst mit dem Gedanken weiter machte, der Gespielin doch noch Freude und Gefallen zu bereiten, hielt in der Bewegung inne und sah der Bardin in das hübsche Gesicht. Es schien, als habe diese zu nahe am Wasser gebaut, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
„`S hett nit g`schehe derf`n. Ab´r die Bienenstich`, d`r Rausch des Tötens, i hen mi nit unt`r Kontrolle g`hebt.“
„Aber warum, Haldana? Meine Gefühle sind echt…“ fing Jodokus an.“ Jodokus vermutete, dass die Bardin störte, dass er verheiratet war. In der Sichel waren die Moralvorstellungen oft weit konservativer als in einer Großstadt wie Rommilys, mochte es hundertmal den Haupttempel der Travia beherbergen.
„Meine Ehe ist politischen Interessen geschuldet, das ist so, wenn man von Stand ist. Aber mein Herz ist bei…“ begann Jodokus. Dann bemerkte er das Blut auf dem Oberschenkel der Bardin. Er hatte in seiner Leidenschaft nicht gemerkt, dass es für die Bardin das erste Mal war. Er hätte auch nicht damit gerechnet. Haldana war sicher achtzehn oder neunzehn Lenze alt. „Verzeih… ich wusste nicht...“
Dann machte Jodokus einen Satz nach vorne und stolperte, da er sich mit seiner herunter gelassenen Hose nicht abfangen konnte. Er fiel über einige Strohballen. Sein Gesäß tat ihm weh, als hätte man ihn mit einem schweren Stiefel getreten.
„Hundsfott, liderlicher“ hörte Jodokus Tuvok rufen. „Dass du dich nicht schämst!“ herrschte der Jäger ihn an. „Ich hätte den Bogen nehmen sollen um dir in den Arsch zu schießen statt nur zu treten!“
Jodokus kroch, so gut das ging, tiefer in das Stroh hinein, um sich vor dem wütenden Nivesen in Sicherheit zu bringen. Erneut stolperte er über seine eigene Hose. Wieder trat Tuvok zu. Jodokus schrie und krümmte sich vor Schmerzen. Der Tritt hatte gesessen.
„Eifersüchtig?“ brachte Jodokus hervor, in einem kurzen Moment, in dem sein Stolz den Schmerz überwog.
„Halts Maul, Trottel.“
„Tuvok, nei, er kann nischt d`für“ unterbrach Haldana mit leiser Stimme. Aber der Jäger hörte sie und wandte sich Haldana zu. „Ich habe deiner Mutter versprochen, auf dich achtzugeben. Aber wie soll ich Dich vor Dir selbst schützen?“
Die Bardin schluchzte leise. „S`hett nit g`schehn dürf`n“
Jodokus verstand nicht recht, was der Nivese sagte. Ein Jäger, der eine entlaufene Leibeigene im Auftrag der Mutter beschützte? Rasch zog er seine Hose hoch und rappelte sich auf. Keinen Augenblick später fiel er, geschubst vom Tuvok, wieder ins Stroh.
„Hör auf, Steppenschleicher“ herrschte Jodokus den Nivesen an und rappelte sich wieder auf.
„Nein, du Gassencasanova. Du hörst auf. Und vor allem hörst du zu. Wenn bei Dir schon das Hirn aussetzt!“ Noch nie hatte ein Gemeiner es gewagt, so mit ihm zu reden. Jodokus lief zornweiß an im Gesicht.
„Du kennst die Sichel, Lustmolch. Du weißt, dass ein Mädchen besser heiraten kann, wenn es keusch bleibt. Aber rücksichtslos wie du bist ist dir das egal, Stadtmensch.“ Der Nivese schrie Jodokus nahezu ins Gesicht. „Und du weißt, dass ein Mädchen sich zum Gespött macht und sich der Übergriffe nicht erwehren kann, wenn sich herumspricht, dass sie… den Ehrbegriff nicht geachtet hat. Das hier ist Travias Land, und auch wenn man den Namen der Muttergöttin nicht so oft hört in der Sichel, so gelten ihre Regeln dort nicht minder!“
„Ach das hast du ihrer Mutter versprochen…“ stammelte Jodokus. „Das lässt sich regeln. Ich kann eine Morgengabe leisten, die eine entgangene Mitgift sicher mehr als ausgleicht, jedoch...“
Weiter kam er nicht. Tuvok versetzte dem verdutzten Jodokus eine schallende Ohrfeige. „Das war dafür weil du annimmst, Haldana wäre käuflich“ schalt der Jäger den Adeligen
Schritte waren auf der Leiter zum Tunnel zu hören. Alrik, ob des Lärms aufmerksam geworden, hatte sich aufgemacht, nachzusehen, was für ein Tumult im Stroh ausgebrochen war. Mit einem Blick erfasste er die Situation. Er hatte Mühe, nicht lauthals aufzulachen.
„I würd` mi nu gern wied´r anzieh`n.“ hauchte Haldana mit tränenerstickter Stimme. Aber weder Tuvok noch Jodokus nahmen Notiz von ihr. Lediglich Baron Alrik hatte den Anstand, sich umzudrehen. Erneut schallte eine Ohrfeige laut auf.
„Ihr arroganten Stadtschnösel, bildet euch wohl ein, euch alles gegenüber dem Landvolk heraus nehmen zu dürfen. Du lebst schon zu lang in Rommilys, du wirst die Menschen der Sichel nie verstehen.“
Das hörte sich seltsam an aus dem Mund eines Nivesen, dachte Alrik. Tuvok war Nivese, nicht Schwarzsichler.
„Hör` uf, Tuvok“ wiederholte Haldana. „Er kan nischts d`fir. Wohär hätt er wiss`n soll`n...“
„Man muss nichts wissen, um sich ritterlich zu verhalten“ erwiderte der Nivese.
Haldana hob ihre Bruche auf. Blutverschmiert. Was hatte sie erwartet. Achtlos warf sie den Leinenstoff wieder zu Boden. Dann eben ohne Bruche. Das war jetzt doch ohnehin egal.
Danach griff sich nach dem Mieder, zog es zurecht und schob ihre Brüste wieder darunter. Langsam schnürte sie die Bändsel zu.
Verdammt, es war ein schönes Gefühl vorhin gewesen, ihre Brüste so prall und straff zu spüren, als der Stadtgeck seine flinken Finger mit sanften Bewegungen… Die Bardin kämpfte den Gedanken nieder.
Auch Jodokus kämpfte mit sich. Klar, woher hätte er wissen sollen, dass die Bardin noch Jungmaid war. Wäre dieser wütende Nivese nicht gewesen, er hätte sich um Haldana bemühen können, mit ihr reden können. Schließlich… Haldana war ihm ans Herz gewachsen mit ihrer kessen und direkten Art, ihrer herzlichen schwarzsichler Natur und nicht zuletzt mit ihrer klangvollen Stimme, die so gut singen konnte. Seine Ehe mit Irmelinde war ohnehin arrangiert. Von Respekt und Sympathie geprägt, aber dass er als junger Mann sich deswegen nie verlieben würde, das würde auch seine Frau nicht von ihm erwarten.
„Haldana…“ begann er. „Ich mag vieles von Dir nicht wissen, aber ich habe nicht mit dir gespielt. Ich habe dir nichts vorgemacht und ich stehe zu Dir.“ In dem Augenblick, da Jodokus das sagte, wusste er selbst nicht, ob er sich taktisch äußerte um die Wogen zu glätten oder ob er für die Bardin tatsächlich mehr empfand, als für eines seiner früheren Abenteuer, die er neben seiner Ehe gehabt hatte. Aber mit dieser Aussage hatte er für sich eine Entscheidung getroffen. Er würde Haldana nicht im Stich lassen. Wenn nur dieser wütende Jäger endlich gehen würde. „Und ich habe, da mag Tuvok denken, was er will, dich nie für käuflich gehalten. Sondern für einen wunderbaren Menschen.“
„Schleimer“ konstatierte der Jäger grimmig.
„Still, Tuvok.“ murmelte Haldana leise. „S´isch g`schehn. `S war mei Fähl`r. Jodokus het nit gwisst, wer i bi od`r was mei Mutt`r dir auftrag`n het. Nun brauchsch`d mi nimmer b`schützn. Jedenfalls nit meh v`r mi selb`r, desch is nu nimmer meh nöt`g.“
Alrik reichte Haldana seinen Umhang. Anders als die beiden jungen Streithähne wusste er, dass er besser nichts sagte, sondern einfach nur da war. Während Jodokus und Tuvok weiter stritten, deutete der Mondschatten ihr an, mitzukommen. Er half Haldana die Leiter herauf. Es war ohnehin schon spät geworden. Er wusste, dass Haldana lange kein Auge zubringen würde, aufgewühlt und durcheinander, wie sie war, auch wenn sie sonst nach dem Ritt und dem Gefecht und der Verletzung völlig übermüdet und ausgelaugt sein musste. Aber er wusste auch, dass Ruhe und Stille der Bardin gut tun würden.
Es war sicher auch noch nicht alles gesprochen, was noch zu sagen war in dieser Sache. Haldana ebenso wie Jodokus waren Opfer ihres eigenen jugendlichen Ungestüms geworden. Nur zu gut konnte er das nachvollziehen, wenn er sich an seine eigenen jungen Jahre erinnerte, oder auch an seine Kinder dachte. Und im Sittenstrengen Sichler Land war es allzu oft nicht leicht, den Ansprüchen der Familie und der Dorfgemeinschaft gerecht zu werden, ohne dabei selbst seine eigenen Bedürfnisse aus den Augen zu verlieren. Vielleicht hätte er besser achtgeben sollen auf seine jungen Gefährten. Nicht umsonst achteten die Hauptleute einer jeden Truppe darauf, dass ihre jungen Soldaten und Soldatinnen sich nicht gehen ließen. Niemals die eigene Truppe, hieß es in der Armee, und das hatte seinen guten Grund, wenn man den Zusammenhalt in der Gemeinschaft junger Kämpfer nicht gefährden wollte. Vielleicht hätte er, wenn schon nicht Jodokus und Haldana, es besser wissen müssen. Er hatte den beiden Turteltäubchen bei ihrem Spiel ja schon eine Weile zugesehen. Er hatte es versäumt, rechtzeitig mit dem jungen Adeligen zu reden. Auch hatte er sich in der Bardin getäuscht, hatte er doch angenommen, sie würde nur mit dem eitlen Verehrer spielen und sich nicht darauf einlassen. Falsch gelegen. Aber auch sonst hätte er mit der Bardin früher reden können.
Nun, geschehen ist geschehen. In Marktfriedwang hätten erzürnte Eltern ihre ungehorsamen Kinder einfach vor den Traviaaltar geschleppt, damit alles der Form nach anständig bleiben würde. Ganz egal, ob die jungen Eheleute später miteinander glücklich werden oder nicht. Aber das war ja nun nicht möglich, auch wenn er dem jungen Rommilyser diese „Strafe“ sicher gegönnt hätte. Na sei es drum.
Er nahm die junge Sichlerin einfach nur väterlich in den Arm, ließ sie leicht schluchzend in seine Schulter weinen und hielt neben ihr aus bis sie, lange Zeit später, einschlief.
Behutsam ließ Alrik die schlafende Bardin ins Heu sinken. In diesem Moment war sie nichts weiter als ein schutzbedürftiges Mädchen, Abenteurerin hin oder her. Er deckte sie zu und schlich sich leise vor die Tür, um nach all der Aufregung des Tages seine Abendpfeife zu schmauchen. Draußen war es frisch geworden. Der Nachthimmel hatte sich bewölkt. Womöglich würde es in einigen Stunden regnen. Er fröstelte. Nur der brennende Bauernhof spendete unstetetes Licht. Das Unheiligtum draußen auf dem Acker war nur noch ein qualmender, glimmender Trümmerhaufen. Der Baron war froh, dass es im Inneren der Scheune dunkel geworden war.
Vermutlich hatte sich jeder in seine Ecke verzogen, schmollte, grollte oder schlief, je nachdem, wie es ihm gerade gefiel. Ab und an raschelte etwas Stroh, aber das konnten auch die Pferde an der Krippe sein. Oder Mäuse.
Alrik stopfte seine Fuchskopfpfeife mit der würzigen Tabaksmischung aus dem Beutel, der mit Mond und Sternen verziert war. Er hustete kehlig. Vermutlich rauchte er in letzter Zeit zu viel. Aber egal, er brauchte starken Stoff, um seine Nerven zu beruhigen. Zum Flachmann mit Trollzacker, den er unter dem Wams trug, wollte er lieber nicht greifen, der war für echte Notfälle.
Behutsam, wie bei einer maraskanischen Tee-Zeremonie, holte er Feuerstein, Stahlring und Zunder aus dem Kästchen. Dann breitete er die Utensilien auf einer umgedrehten Tonne aus und schlug Feuer. Bläuliche Funken sprühten umher. Diesmal dauerte es eine Weile, bis der Zunder glomm. Ein paarmal schrammte er sich übel die Finger auf. Heiliger Assaf, er konnte es spüren, wenn sein phexisches Glück irgendwo da draußen herum streunerte. Statt ihm, wie gewohnt, still und heimlich zur Seite zu stehen. Eigentlich waren sie aus Rommilys aufgebrochen, um einem Zirkel schurkischer Dämonenpaktierer das Handwerk zu legen. Nicht um sich zu zanken und zu streiten wie aufgekratzte Zöglinge einer Kriegerschule beim Ausflug (in den erstbesten Heustadel vor der Stadt)
Endlich strömte der vertraute Tabakrauch durch seine Kehle. Wo hatte er eigentlich seinen Federhut gelassen? Ah, da drüben hing er, am Haken. Die rote Feder war ganz zerknickt. Der Baron schlug seinen Streunerdeckel aus, setzte ihn sich auf und überlegte, wo er Wache halten sollte. Die Tonne war gar nicht mal so schlecht. Er stellte sie noch ein Stückchen nach draußen, unter ein windschiefes Vordach. Von dort aus hatte er alles gut im Blick, soweit es die karge Beleuchtung zuließ, ohne selbst aufzufallen. Sehen und nicht gesehen werden. Etwas besseres gibt es nicht, falls die Lage unübersichtlich ist. Einer der "Kaisersprüche" des guten alten Kedio, Herrscher der Ruinen von Brabak. Vielleicht sollte er sie eines Tages mal aufschreiben.
Der Freiherr von Friedwang nahm auf seinem improvisierten Thron Platz, in seinen schweren Reisemantel gehüllt.
Sein Blick ging hinüber zum Haupthaus, das ein ganz passables Lagerfeuer abgab und sogar etwas Wärme abstrahlte. Der Wind stand noch immer günstig. Der Rauch wehte von der Scheune weg.
Womöglich war es doch keine gute Idee die gewesen, soweit draußen zu übernachten, außerhalb der Stadtmauer. Andererseits, eine Rückkehr nach Rommilys, zusammen mit Halike und ihren Handlangern, hätte sicher einigen Rummel verursacht - schon allein wegen den Waffengesetzen. Eine Lanze Stadtgardisten, die spätabends von einen niedergebrannten Bauernhof zurückkehrte, war sicherlich weniger auffallend als eine bunt zusammen gewürfelte Halbschwadron, inklusive Brauereibesitzer, Baron, Zwerg, Jäger, Graumagier und Bänkelsängerin.
Ein Geräusch von halblinks lenkte ihn ab. Nervös griff Alrik nach seinem Rapier, entspannte sich aber sofort wieder. Wie erwartet, war es Hesindian, der seine Abendtoilette am Brunnen beendet hatte, mit Zahnpulver und Putzhölzchen. Zarter Kräutergeruch lag in der Luft, und vermischte sich nun mit dem Duft von Pfeifenrauch.
"Ich übernehme dann die zweite Wache", sagte Hesindian und verstaute sein Krimskrams in der Gürteltasche. "Rovik die Hundswache. War sein Vorschlag. Ich glaube, unsere beiden Turteltäubchen und Haldanas Anstandsdame lassen wir erst mal schlafen... bevor sie morgen noch gereizter sind. Tuvok scheint ziemlich verletzt zu sein."
"Nicht nur er", sagte der Streunerbaron und schlug die gestiefelten Beine übereinander, wie ein Svelltländer Kuhtreiber.
"Was hältst eigentlich du von dem Ganzen?"
Hesindian blickte ins Halbdunkel, zu den Feldern, Hecken und Baumreihen, die schemenhaft am Rand des Feuerscheins zu erahnen waren. Der Edle von Orweiler trocknete sich das Gesicht mit einem Handtuch und strich die weißen Haare zurück: "Da fragst du den Falschen. Falls es um Fragen der Moral gehen sollte." Der Magus lächelte spöttisch. "Du weißt ja, meine Mutter ist gebürtige Liebfelderin. Im Horasreich bekäme eine junge Frau Ärger mit der Familie, wenn sie mit 19 oder 20 Götterläufen noch immer reinweiß ist wie eine Traviagans."
Alrik brummelte etwas. Das Fass war hart und kippelte. Aber vielleicht war es ganz gut, dass er nicht allzu bequem saß. Damit war die Gefahr, einzuschlafen, geringer. Das Ganze erinnerte ihn an damals, die Flucht aus dem brennenden Rommilys. An Golgariella, die junge Borongeweihte. Ihre Begegnung mit einem wandernden Wirtshaus und schwankenden Untoten. Am Ende hatten sie sich ebenfalls in eine Scheune geflüchtet. Die noch in der gleichen Nacht in Flammen aufgegangen war.
Golgariella… auch diese Liebelei war höchst unerfreulich ausgegangen. Der Tod ist das beste Rahjaikum. Hatte er das damals behauptet oder seine schwarzgewandete Gespielin? Wahrscheinlich war es wirklich nur die Furcht vor der eigenen Vergänglichkeit, die Männer und Frauen zusammenführte. Ein verzweifeltes, gegenseitiges Festklammern ans Leben, ans Hier und Jetzt. Manchmal mit dem Zweck, Kinder in die Welt zu setzen, um Boron ein Schnippchen zu schlagen. Weitaus öfter mit dem Ziel, Tsa ein Schnippchen zu schlagen. Der Preis bestand all zu oft in Schuldgefühlen, nach der Trennung. Alrik bewunderte Rahjajünger, die aus reinem Vergnügen der Göttin der Liebe huldigten. Und am nächsten Tag völlig unbeeindruckt ihres Weges gingen, ohne sich mit derart komplizierten Dingen wie Liebe, Ehe, Traviabünden, Sitte und Moral befassen zu müssen. Oder mit Elternschaft...
"Die Liebe und der Flinke Difar, bereiten beide Schmerzen. Das eine kommt vom Arscherl her, das andere kommt vom Herzen. Alte Schwarzsichler Bauernweisheit". Alrik hatte ein Hölzchen entdeckt und schob es unter die Tonne. Ah, schon besser. Oder?
Hesindian unterdrückte ein Lachen. "Gibt es im Sichelhag nicht das Jus primae noctis? Vielleicht sollte sich der edle Nachkomme des Hauses Baernfarn auf sein Recht der ersten Nacht berufen?"
Alrik drehte einen Weidenkorb als Fußstütze um und nahm wieder Platz. So langsam passte es. In seinem Alter sollte man sich das Leben so bequem machen wie möglich. "Nicht so laut, nicht so laut. Sonst macht der junge Herr da drinnen noch von seinem Duellrecht Gebrauch." Auch Alrik grinste und deutete mit der Pfeife auf das Scheunentor.
"Ich versteh das Problem nicht" Hesindian griff nach dem Zauberstab, den er an die Scheune gelehnt hatte. "Haldana hat diesen bärtigen Kerl heute abgestochen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Da drüben am Weg, da klebt noch sein Blut. Eine riesige Blutlache. Nun macht sie wegen einem winzig kleinen Stich ein Geschrei wie eine entjungferte Badilakanerin? Versteh einer die Frauen. Oder die Darpaten..."
"So kann nur ein frivoler Halbhorasier reden" sagte Alrik flapsig. Nun merkte er, dass die Tonne in die andere Richtung kippelte. So wurde das nichts. Er versetzte sein Werk Richtung Wand, als Stütze. "Wir Schwarzsichler sind nun mal ein überaus traviafürchtiges Volk."
"Außer wenn gerade wieder mal Hexennacht ist."
"Die ist nur einmal im Jahr. Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Alten Kulte wären nur halb so beliebt, wenn meine Friedwangen jede Nacht nackt und berauscht ums Lagerfeuer tanzen müssten. Der Reiz des Verbotenen halt. Überhaupt, das Recht der Ersten Nacht ist doch nur eine adelsfeindliche Legende. Nichts als eine yesatanische Fantasie. Sowas gibts vielleicht im Bornischen, oder in Oron...aber ganz sicher nicht bei uns in der Rommilyser Mark."
"Gernot hat damals das Recht der Ersten Nacht wieder eingeführt, in Friedwang."
"Ja, weil er an den Stechtaler ran wollte, der alte Gierschlund"
"Den was?"
"Den Schürzenzins. Die Mitgiftsteuer bei jedem Traviabund. Die Traviageweihten sind damals auf die Barrikaden gegangen, nach allem, was man so hört."
Hesindian nickte. "Das Friedwanger Gänsestechen. Die Mädchen mussten oben im Schloss vorstellig werden - je nach Wert wurde dann die Steuer fällig. Ich kann mich aber nur an Naturalien erinnern, eine Kuh, eine Ziege oder eben Gänse und Hühner. Für die armen unfreien Bauernmädchen war das kaum weniger demütigend, als wenn sie wirklich zu diesem Lustmolch ins Bett hätten steigen müssen. Um ihm sein Herrenrecht zu gewähren."
"Kühe, Gänse, Ziegen...? Man muss kein Baron sein, bei uns in der Sichel, um so was ins Bett zu bekommen" Alrik hatte einen Scherz versucht, merkte aber, dass Hesindian eher zerknirscht als erheitert blickte.
"Du warst ja damals Gernots Hofmagier. Apropos - gibt es nicht magische Möglichkeiten… ich meine, einen Heilzauber, um Haldanas... kleines Missgeschick zu kurieren?"
"Dazu müsste ich ihr die Hand auflegen. Am besten noch in dieser Nacht. Könnte leicht missverstanden werden. Außerdem geht es in dem Fall wohl mehr um seelische Verletzungen."
"Natürlich." Alrik wurde wieder ernst. "Das ist ja gerade das, was mir Sorgen macht. Auchn Zug?"
Hesindian nickte, und Alrik reichte ihm die Pfeife. Hesindian paffte, hustete etwas. Immer, wenn Alrik das Gefühl hatte, er könnte gegenüber einem Rangniederen als arroganter Aristokrat rüberkommen, teilte er seinen Tabak. Dabei war der Magus eigentlich Nichtraucher (und selber von Stand).
"Ich meine, ein bisschen kann ich Jodokus ja verstehen", sagte der Baron. "Wegen der tollen Liebesnächte hat er diese Irmelinde sicherlich nicht geheiratet. Aber er ist ein Baernfarn. Die sind manchmal vielleicht ein wenig tappsig und zudringlich, wie ihr Wappentier. Aber ein Bär ist kein Bock, wie mein schurkischer Vetter einer war. Irgendwie passt das Verhalten nicht zu Rauls Sohn...diese Lüsterne...Rücksichtslose..."
"Worauf willst du hinaus?"
"Nun ja. Findest du nicht auch, dass das Abfackeln des unheiligen Schreins ein wenig zu leicht ging?"
Hesindian hustete wieder, und gab die "Friedenspfeife" wieder zurück. "Soll mir recht sein, wenn es mit einer Austreibung so einfach geht..."
"Was ist mit diesen Hornissen, die uns gestochen haben? Müssen wir jetzt mit irgendwelchen Krankheiten rechnen...?"
"Das waren doch nur Halluzinationen, um uns zu peinigen. Übertragen Hornissen Pestilenzen?"
"Vielleicht rauben sie jungen Männern den Verstand?"
"Hmmm. Gewagte Theorie. Ich dachte eigentlich, die Hornisse wäre die heilige Kreatur des Shinxir..."
"Shinxir...wer ist das jetzt gleich nochmal? Meinst du den Götzen aus den Dunklen Zeiten?"
"Ja. Im Horasreich soll es wieder Anhänger dieses Kriegsgottes geben, seit dem Sternenfall von Arivor. Den Geheimbund der Myrmidonen. Shinxir steht für absolute Disziplin, Kameradschaft und Pflichterfüllung, für Loyalität und Treue zur Gemeinschaft. Du bist nichts, dein Schwarm ist alles. Passt nicht so ganz zu Jodokus´ Verhalten."
"Da ist aber jemand gut informiert. Über finstere Götzen, die mal vor Urzeiten dem Silem-Horas-Edikt zum Opfer gefallen sind. Kein Wunder, dass du eine Vorladung ins Informations-Institut bekommen hast." Alrik war schon wieder zum Spotten aufgelegt.
"Es war Jel-Horas, der die Verehrung von Insektengöttern verboten hat, lange vor Silem...Götter wie Mokosha oder die Herrin des Siechtums, deren Namen ich nicht nennen möchte. Oder eben Shinxir. Die entscheidende Schlacht fand bei uns in Almada statt, gar nicht so weit weg von Brig-Lo, auf den Bluthügeln von Caldaia. Damals haben die Rondrianer die Shinxir-Anhänger besiegt und in den Untergrund gezwungen. Ich glaube, im 3. Jahrhundert vor Bosparans Fall. Seitdem verehren wir Rondra als Herrin des ehrenvollen Zweikampfes. Nicht Shinxir, der für den Kampf in der Gruppe steht...den Kampf bis zum Sieg, notfalls auch mit Gift und Dolch."
"Den guten Zwölfen von Alveran sei Dank. So eine Löwin ist ja auch prachtvoller anzuschauen als ein Schwarm kleiner hässlicher Hornissen" Alrik wedelte schon wieder mit der Hand, um mit dem Rauch seine Lästerung zu vertreiben. Der Sternenfall von Arivor. Natürlich hatte er davon gehört. Ganze Sternbilder sollten sich seither verändert haben. Manche behaupteten, das Phex gerade den Nachthimmel neu zusammen fügte. Da fiel schon mal was runter?!
Nein, der Mondschatten mochte nicht glauben, dass der Heimliche mal eben so tausende Menschen vom Antlitz Deres tilgte. Das wäre ziemlich, nun ja, unheimlich gewesen. Alrik wusste nicht viel vom Schicksal Arivors. Wehrheim war ebenfalls untergegangen, oder das alte Gareth...was zu Kaiser Hals Zeiten viele Jahre lang für Grauen und Entsetzen gesorgt hätte, war heutzutage kaum mehr als eine Meldung im Aventurischen Boten.
"Arivor wurde doch, glaube ich, durch einen fallenden Stern zerstört. Oder sind da riesige Hornissen vom Himmel geplumpst?"
"Nun, es gibt Gerüchte, wonach bei dem Erdbeben geheime Kulträume freigelegt worden sind. Uralte Kulträume des Shinxir...mit krabbelnden Dienern des Vielleibigen..."
"Die findest du in jeder zweiten Herberge zwischen hier und Arivor. Und was sollen nun Shinxirs Hornissen mit unserer angeblichen Bienenkönigin zu tun haben?"
"Nun, wie es heißt, sind alle insektenähnlichen Götzen ursprünglich in der Zeit der Vielbeinigen Völker angebetet worden. Dem Siebten Zeitalter. Sie sind sich also ziemlich ähnlich...Die Hornissen könnten auf eine Pervertierung der Prinzipien des Shinxir hinweisen. Wenn ich es richtig gesehen habe, waren sie pechschwarz..."
"Das klingt für mich wie eine typische Magierspekulation" Alrik reckte sich auf dem Fass. So richtig bequem war sein Sitzplatz immer noch nicht. "Nach Hesindian eben. Ziemlich weit hergeholt..."
"Denk dran, was damals in den Schwarzen Landen geschehen ist, auf unserer Schatzsuche. Diese ständigen dämonischen Einflüsterungen, die unsere Gemeinschaft zerstören wollten, durch Streit und Hader...heimlich, still und leise. Von innen heraus. Gut möglich, dass heute etwas ähnliches geschehen ist."
"Nun, eigentlich sind sich die beiden doch ziemlich nahe gekommen, Jodokus und sein Schwarm..." Der Mondschatten gähnte und überlegte, ob er sich nicht lieber auf den Boden setzen sollte. Verstohlen kratzte er sich an den kleinen Pusteln auf den Händen und am Hals, dort wo ihn die Hornissen gepiesackt hatten. Angeblich reichten sieben Hornissenbisse, um einen Tralloper Riesen zu töten, und drei, um einen Menschen in Borons Reich zu schicken. Aber der Unbill hielt sich in Grenzen, bis auf ein leichtes Jucken. Obwohl er mindestens vier Einstiche zählte. Man sollte wirklich nicht zu viel auf Gerüchte und Legenden hören.
"Ah, jetzt ist auch noch die Pfeife aus" Alrik verzog den Mund, als er auf den erkalteten Fuchskopf blickte.
Hesindian deutete eine Verbeugung an und ließ Nasrûlgin, seinen Zauberstab, aufflammen. Der Baron zuckte kurz zusammen: Er würde sich nie ganz an Hesinderei in seiner Nähe gewöhnen. Dennoch war es scheinbar normales Feuer, in das er nun seinen Zunder hielt. Nach wenigen Augenblicken brannte die Pfeife wieder. "Danke", nuschelte der Friedwanger zwischen dem Mundstück hervor.
Hesindian runzelte die Augenbrauen und linste zur Scheunentür. War da gerade eben ein Schatten gewesen? Hatte jemand ihr Gespräch belauscht? Oder litt er schon an Verfolgungswahn? Er sollte nicht zu viel von Dämonenwerk und halb vergessenen Göttern aus finsteren Zeiten reden, kurz vor dem Schlafengehen.
Irgendwie gefiel ihm das Nachtlager nicht. Man holte sich leicht Flöhe und Rattenbisse, auf Heu oder Stroh. Womöglich hatte wirklich die Einflüsterung der Erzdämonin sie dazu verlockt, in einer halbverfallenen Scheuer zu nächtigen. Statt traviagefällig und sicher in einem weichen, bequemen Rommilyser Federbett zu schlummern. Neben den marbiden Überresten von Helbers Hof stank es zudem nach Rauch und Tod. Jeder Schatten erinnerte den Magier an das Grauen, dass sie im Keller entdeckt hatten. Genauso gut hätten sie auf dem Boronanger der Litzelstadt übernachten können, mit seinen Ghulen und Spukgestalten.
Hesindian war wohl anzumerken, was er von der Umgebung hielt. "Na komm schon", versuchte ihn Alrik von Friedwang aufzumuntern. "Wie in den alten Zeiten...Wache schieben am Lagerfeuer, auf Heu schlafen...da fühlt man sich doch gleich zehn Jahre jünger...."
"Ich fürchte, ich werde mich morgen zehn Götterläufe älter fühlen", murrte der Magier. "Sollte mich jetzt schlafen legen. Aber irgendwie fehlt mir die richtige Bettschwere." Er tastete nach seiner Gürteltasche. "Lust auf eine kleine Boltanpartie?"
"Natürlich, Boltan und Würfel spielen. Auch das zählt zum echten Abenteurerleben." Alrik stand auf und lüpfte seinen Hut. "Um welchen Einsatz soll es gehen, Taler oder Kreuzer und Heller?"
"So abgebrannt wie unser Schlafplatz ist, würde ich sagen, Kreuzer und Heller."
"Also gut. Wer gibt?"
"Immer der, der fragt."
Das muntere Zwitschern einer Feldlerche weckte Alrik aus seinen Träumen. Die Nacht war irgendwie unruhig gewesen, aber nicht unangenehm. Irgendwann in den frühen Morgenstunden hatte es geregnet, daran konnte er sich erinnern, und an sein lautes Schnarchen. Ebenso, dass er beim Boltan gewonnen hatte. Am Ende hatte er Hesindian sogar mit einer Akademie besiegt, einem "Fünfling" aus Magiern, ausgerechnet. Wenn das kein gutes Omen war...
Er hatte wirklich gut geschlafen. Alrik schob den Hut nach oben, und blinzelte ins helle Morgenlicht. Ah, er hatte sich Flockes Sattel unter den Kopf geschoben, eine gute Idee. Aber das es dermaßen hell war, inmitten der Scheune?
Er ruckte erschrocken hoch, unter seiner Decke. Langsam kehrte die vollständige Erinnerung zurück. Neben ihm lag die Pfeife, und war längst erkaltet. Was hatte er getan? Der Sattel lag an der Scheunenwand, unter dem Vordach, aber ansonsten im Freien. Ver...dammt. Er musste es sich hier draußen gemütlich gemacht haben. Ein wenig zu gemütlich. Offenbar war er dann beim Pfeife rauchen eingeschlafen. Beim Wacheschieben. Nicht sehr shinxirgefällig.
Alrik kratzte sich am Kopf, setzte sich auf. Die qualmenden Trümmer des Bauernhofs hatten fast schon etwas Malerisches. Es versprach ein schöner Frühlingstag zu werden. Das Wolkenspiel am Himmel war atemberaubend. Das Land sah wieder perainegefällig aus, mit seinen fruchtbaren Äckern und Wiesen. Es war, als wäre ein schlimmer Alpdruck von ihm gewichen. Bienen summten umher. Sie hatten nicht alles falsch gemacht, gestern. Alrik langte sich an den Hals. Der war unrasiert und stoppelig, aber nicht durchschnitten. Offenbar hatte ihm der kleine Schlummer nicht geschadet.
Plötzlich stand Tuvok vor ihm, der Jäger. Das personifizierte schlechte Gewissen der Gruppe.
"Morgen" brummte Alrik, und schlug die Decke zur Seite.
"Wo ist Haldana?" Der Waidmann war totenbleich.
"Was?"
"Haldana ist verschwunden", ächzte der Jäger und sah verstört um sich.
"Wird mal austreten gegangen sein". Alrik reckte die Arme und gähnte genießerisch. "Da drüben steht eine Latrine"
"Sie hat ihre Laute mitgenommen" sagte Tuvok tonlos. "Wer...wer hat Wache gehalten? Es sollte doch jemand Wache halten."
"Das war ich", sagte der Baron und musste zugeben, dass das nicht allzu heldenhaft klang. Er rieb sich die Augen. "Muss irgendwie eingeschlafen sein. Verstehe ich nicht."
Tuvok sagte nichts, sondern musterte nur kühl den barönlichen Schlafplatz.
"Was ist mit ihrem Pferd?" fragte der Friedwanger.
"Ist noch da...aber sie ist ja auch keine Pferdediebin..." Der Jäger machte eine hilflose, fast schon verzweifelte Handbewegung.
"Na komm, Tuvok. Du glaubst doch nicht wirklich...dass sie...also, dass sie einfach auf und davon ist. Nur wegen...also wegen..."
Zu allem Überfluss tauchte auch noch Jodokus auf. Oder zu Alriks Glück, den der Jäger wirkte auf ihn wie ein brodelnder Feuerberg kurz vor dem Ausbruch.
"Haldana ist weg" grollte er in Richtung des Edelmanns.
"Wie weg?" sagte Jodokus lahm und trottete verschlafen zum nächsten Gebüsch.
Tuvoks Hand verirrte sich zum Messer.
Alrik stand schwankend auf und spürte nun jeden einzelnen Knochen. Vielleicht auch die Gicht in den Fingern.
Auf der Tonne lagen noch immer die Boltankarten und sein Gewinn. Klirrend strich er die kleinen Münzen ein.
Erst jetzt realisierte er, was sich da gerade zwischen dem Jäger und dem Rommilyser anbahnte. Der junge Baernfarn drehte sich um.
"Wahrscheinlich ist sie hinterm Haus", sagte Jodokus.
"Ich habe überall nach ihr gesucht" sagte Tuvok. "Sie ist weg." Seine Stimme klang jetzt nach einem Schneesturm in der Nivesensteppe. Eiskalt und fauchend. Seine Finger umschlossen noch immer den Griff des Messers.
Jodokus merkte, dass er gerade unbewaffnet war, und runzelte die Augenbrauen.
"Es ist alles nur deine Schuld". Der Schneesturm in Tuvoks Stimme wurde heftiger. Seine Augen blitzten.
"Was soll das jetzt werden, Steppenschleicher? Willst du mich niederstechen und ausweiden?" Jodokus blickte zu Alrik, wobei er eher Bestätigung als Hilfe zu suchen schien. "Ich warne dich, Jäger. Du bist es, der sich vergisst. Ich war gestern bereit, über deine...deine Unbeherrschtheit hinwegzusehen. Ich muss leider zugeben, dass ich mich zu einer Dummheit habe verleiten lassen, durch dieses...dieses verrückte Mädchen..."
"Gibst du nun auch noch Haldana die Schuld ??!" Tuvok schrie auf, zog sein Messer und ging auf Jodokus zu.
"Du hast sie entehrt! Wenn sie sich etwas angetan hat, bringe ich dich um!"
"Gemach, gemach" Alrik schob sich zwischen die beiden Streithähne. "Vielleicht sollten wir wirklich erst einmal schauen, wo sie ist. Aufeinander losgehen können wir nachher immer noch."
Nun bemerkte er Hesindian, der in der Tür aufgetaucht war und offenbar alles mitverfolgt hatte.
"Shinxir" sagte der Magier. Es klang wie ein Zauberwort.
"Maraskan", nickte Alrik. Dann wandte er sich wieder dem Jäger zu, der noch immer das Jagdmesser in der Hand hielt, zitternd vor Zorn.
"Tuvok, ich verstehe deine Aufregung. Aber wir sollten jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Und nichts tun, was wir nicht mehr rückgängig machen können..."
"Einen...ich soll...einen kühlen Kopf bewahren!? So wie dieser...dieser geile Hurenbock dort ?!"
"Ich verwahre mich gegen diesen impertinenten Ton" Jodokus Stimme klang schneidend, ganz nach arrogantem Aristokraten.
"Muss ich dich daran erinnern, dass ich von Stand bin? Und du nur ein dahergelaufener Gemeiner? Noch ein Wort, und ich werde mir Genugtuung verschaffen, für all die Schmähungen...das hätte ich gestern Abend schon tun sollen, du Flegel!"
"Deine Genugtuung...hast du doch bekommen, du...du hirnloser Ork...nur weil du Haldanas Eltern für unfreie Bauern hältst, hast du ...hast du noch lange kein Recht...ihr verdammten Pfeffersäcke denkt, ihr könnt auch alles erlauben, aber..." Der Nivese wollte sich endgültig auf Jodokus stürzen, aber Alrik hielt ihn auf.
Jetzt nicht auch noch einen Ständestreit, dachte er.
"Tuvok", sagte Alrik beschwörend, mit der Hand auf dem Arm des Jägers, der das Messer hielt. "Was auch immer das da gestern Abend war, Jodokus hat sie nicht vergewaltigt. Verführt, entehrt, das vielleicht... aber nicht geschändet. Ich möchte Haldana nicht erklären müssen, was geschehen ist, wenn sie im nächsten Moment um die Ecke kommt...und zwischen uns herrscht Mord und Totschlag..."
"Entehrt?" Jodokus Stimme klang schrill. "Zweifelt Ihr jetzt auch noch an meiner Ehre, Herr Alrik Tsalind von Friedwang? Lasst diesen Hundsfott ruhig los, damit ich ihn züchtigen kann, wie es ihm gebührt."
"Dann solltet Ihr Euch jetzt besser auf den Weg zu Eurer Klinge begeben."
Jodokus machte tatsächlich einen Schritt auf die Scheune zu - und wurde von Hesindian aufgehalten.
Alrik hielt derweil den Nivesen zurück.
"Lasst mich vorbei, Herr Magier" blaffte Jodokus seinen Gegenüber an.
"Sonst?" Hesindian klang aufreizend ruhig, während er lächelnd seine Arme verschränkte. "Ich dachte eigentlich, wir wären schon beim Du?"
"Haben sich eigentlich alle gegen mich verschworen? Vorbei, oder..."
"Nun beruhige dich erst mal, Jodokus. Du bist nicht bei Sinnen... wir alle sind ein bisschen durcheinander..."
"Ich...ich...bin GANZ RUHIIIG!"
"Offenbar nicht. Schon mal daran gedacht, dass hier auch schwarze Magie wirken könnte? Eine unheilige Beeinflussung durch den Schrein dort drüben? Es sollte dir doch klar sein, gegen welch finstere Macht wir hier kämpfen. Euch allen. Wir stehen hier gegen eine Macht, die Chaos und Zwietracht säen will...recht erfolgreich, wie mir scheint..."
"Der einzige, der ständig Streit und Zwietracht sät, ist dieser anmaßende Jägersbursche...aber das wird sich jetzt ändern...dafür sorge ich."
"Wir sollten jetzt besser nach Haldana suchen... du liebst sie doch, oder?"
Jodokus stutzte und sah verwirrt drein. Mit einem Mal war er kein herrischer Stadtadeliger mehr, sondern ein verstörter junger Mann, dessen Gefühle völlig durcheinander gewirbelt waren. Rot prangte der Hornissenstich an seinem Hals.
"Erinnere dich...der brennende Schrein...die schwarzen Hornissen, die uns gestochen haben...die Herrin der Fliegen, Würmer und Ratten ist listig. Sie steht gegen all das, was die gütige Peraine repräsentiert. Fruchtbares Handeln, Hilfsbereitschaft, Verantwortung für die Gemeinschaft. Es war eine dämonische Einflüsterung, fürchte ich, und du bist dieser Versuchung erlegen, gestern Abend. Das ist keine Schande. Aber es ist gefährlich. Du solltest es jetzt nicht noch schlimmer machen. Durch noch mehr unbeherrschtes Handeln. Wenn du Haldana wirklich liebst, dann müssen wir uns jetzt auf die Suche nach ihr begeben. Das gilt auch für dich, Tuvok. Spar dir deinen Zorn für den richtigen Gegner auf...ihr seid doch beide Firunsgläubige. Jagt euch nicht gegenseitig bis in die Niederhöllen."
"Dieser Schnösel liebt Haldana?" Tuvok riss sich von Alrik frei. "Das ich nicht lache. Geschwätz, nicht als eitles Geschwätz. Jeder läufige Hund hat mehr Liebe im Leib als...als dieser...Fatzke!"
Jodokus schob den Magier beiseite. "Lasst mich durch. Das muss ich mir nicht länger bieten lassen..."
Irgendwie schaffte es der Baernfarn an dem Magus vorbei. Nach ein paar Schritten prallte er gegen Rovik.
"Hab ich was verpasst?" brummte der Zwerg. "Was ist denn das für ein Geschrei am Morgen? Bei euch dröhnt es ja lauter als in Angroschs Schmiede."
"Haldana ist verschwunden", sagte Hesindian.
"Oh. Hm. Das ist nicht gut. Hat sie ihre Laute dabei?"
"Ja."
"Dann meint sie es wirklich ernst. War ja völlig durcheinander, das arme Mädchen..."
"Jetzt fängt dieser Zwerg jetzt auch noch an" schimpfte Jodokus.
"Wenn deine Axt am Drachen zerbricht, gib dem Schmied die Schuld - und nicht dem Drachen. Nom rogulrun Barobarraba. So war es schon immer."
"Was?"
"Altes zwergisches Sprichwort. Wenn nichts als Ärger bei etwas herauskommt, nun...dann deutet es darauf hin, dass es schon von Vorneherein zum Scheitern verurteilt war. Also, wie gehen wir jetzt vor? Noch eine Stunde rumschreien? Oder haben wir in der Zwischenzeit einen besseren Plan?"
"Rovik hat Recht", beeilte sich Alrik zu sagen, mit Blick auf den Jäger. "Wir sollten endlich was unternehmen. Etwas Vernünftiges. Tuvok, du bist doch ein hervorragender Fährtensucher. Sieh nach, ob du eine Spur von Haldana findest, ehe wir noch mehr Zeit verlieren. In der Zwischenzeit satteln wir die Pferde. Egal, wo sie hin möchte. Beritten holen wir sie wieder ein. Weit kann sie nicht gekommen sein."
Während der Jäger sich auf die Suche machte - er hatte eingesehen dass Rovik, Alrik und Hesindian recht hatten - fanden Alrik und Hesindian Zeit, durchzuatmen. Es war zu viel gewesen heute Vormittag. Das hatte der Gruppe nicht gut getan, dieser unnötige Streit.
So ganz hatte Hesindian das ohnehin nicht verstanden. Jedenfalls passte da einiges nicht ganz zusammen, was in den letzten Stunden vorgefallen war. Oder hatte er es einfach nur nicht begriffen? Sein Blick fiel auf Rovik, den bärtigen und grimmig-entschlossen dreinblickenden Zwerg.
„Wie sagtest du gleich noch einmal hieß dein Vater?“ Hesindian vermochte selbst nicht genau zu sagen, was ihn dazu bewog, jetzt die vermeintlich unpassende Frage zu stellen. Es war wohl auch, um vom Streitthema abzulenken und Jodokus dazu zu bringen, sich mehr mit den drei angeheuerten Gefährten zu befassen. Aber die Frage hatte ihm auch sonst schon beschäftigt. Es war mehr als eine Ahnung.
„Vulkanus“ sagte der Zwerg. „Rovik, Sohn des Vulkanus“ wiederholte der kleine Mann seinen Namen.
„Sag mal, Rovik… die Schwarze Sichel ist ja nicht so dicht bevölkert und es gibt nicht so viele Zwerge in den Bergen, aber dein Vater, Vulkanus, war der nicht mal Schmied in Gallys? Der Sohn des Gladiat?“
„Du kanntest ihn?“ Rovik war verblüfft.
„Ich mag aus Almada kommen, aber ich lebe auch schon seit mehreren Jahrzehnten in Friedwang. Und in der Sichel kennt jeder jeden über zwei oder drei Ecken. Ja, ich kannte Vulkanus, den Sohn des Gladiat. Nicht gut, aber ein paar Mal habe ich ihn gesehen. Er war ein guter Axtkämpfer.“
„Dann kanntest du ihn besser als ich“ brummte Rovik einsilbig. „Mein Vater ging auf Wanderschaft, wie alle jungen Zwerge. Zog mit einem Menschenkrieger durch die Lande. Und dann übernahm er eine Schmiede in Gallys. Aber bevor er sein Gesellenstück fertigen konnte, starb er, ehe er wieder heimkehrte.“
„Im Krieg gegen den Bethanier, das war nicht lange vor der Dämonenschlacht an der Trollpforte“ ergänzte Hesindian, und Alrik fragte sich, woher sein Hofmagier das wusste. „Habe ich da etwas nicht mitbekommen?“ fragte der Baron ihn? „Der Gallyser Schmied? Woher weißt du das, Hesindian“
„Na das solltest du aber auch wissen, Alrik.“
„Erzähl von meinem Vater…“ unterbrach der Zwerg. „Was weißt du von ihm?“
„Naja, ich habe ihn erst in seinen letzten Jahren kennen gelernt. Ihn und seinen Kampfgefährten der letzten Jahre. Die beiden gaben ein beeindruckendes Bild ab, meine ich. Also, das muss man sich bildlich vorstellen. Ein über zwei Schritt großer Thorwaler und ein Angroschim nebeneinander, beide mit schweren Äxten bewaffnet. Nannten sich Axtgespann, in Anlehnung an Spießgespann, was man ja auch bei den Angroschim kennt.“
Rovik nickte. „Ja, Axtgespann. So habe ich es auch gehört. Nur dass ich diesen Thorwaler nie gesehen habe…“
„Hjalf, so hieß er. Ich kannte ihn aber auch nur flüchtig. Er ist auch im Krieg gefallen.“
„Hjalf“ Alrik dachte nach. „Das war der Menschenkrieger, mit dem Roviks Vater durch die Lande zog?“
„Ja und nein… sag mal, Alrik, sitzt du gerade auf der Leitung, oder hat Dir Deine Gemahlin nie von den Geschichten erzählt? Von Odilons Reisen, bevor er damals das Gallyser Erbe antrat?“
So langsam sickerte es beim Streunerbaron durch. Er zog eine Augenbraue hoch. Die über dem unbedeckten Auge.
„Odilon und Vulkanus sind durch die Lande gezogen? Hatte ich das vergessen? Das muss während meiner Brabaker Zeit gewesen sein…“ stammelte Alrik.
„Oder noch davor. Damals muss Odilon ein junger Bursche gewesen sein. Noch bevor es ihn dann in den Norden zog und er bei den Elfen seine elfengleiche Schönheit fand“ ein wenig verklärte sich Hesindians Blick bei dem Gedanken an Jirka. „Also diese Waldelfe. Naja… jedenfalls als die beiden dann nach Gallys gekommen sind, ist Vulkanus mitgekommen und hat dort die Schmiede übernommen.“
Rovik nickte. „Du kanntest ihn wirklich. Ich habe ihn nie gesehen, meinen Vater. Ich war noch ein Säugling, als Vater fortziehen musste. Ich ging selbst gerade in die ersten Lehrjahre in eine Schmiede, als mein Vater in Gallys weilte. Ihr wisst, wie das bei uns ist. Man verlässt seine Schmiede nicht. Ich nicht die meines Lehrmeisters und er nicht die Seine, bevor er sein Meisterstück fertigen konnte und Meisterschmied werden konnte. Und dann kam der Krieg…“
Hesindian nickte. „Der Krieg, ja. Viele haben ihre Väter nie kennen gelernt in dieser furchtbaren Zeit.
„Das muss lange her sein…“ warf Jodokus ein, froh, ein wenig auf andere Gedanken zu kommen.
„Ja…“ erklärte Hesindian. „Vulkanus muss ungefähr gefallen sein, als du geboren wurdest. Alrik, damals warst du noch irgendwo bei Brabak. Ich war ja damals schon Hofmagier bei Gernot. Auch das ist so eine Sache… das erinnert mich fast an letzte Nacht. Citia von Baernfarn, durchgebrannt mit dem Immankapitän Ruwi ter Jaffon. Ein Skandal, den man in Gallys gerne unter der Decke hielt. Baron Gernot hingegen hat es gefreut, den südlichen Nachbarn als Gespött zu sehen. Ich werde den Verdacht bis heute nicht los, dass Gernot da seine Finger im Spiel hatte… Klar, lebenslustig bis unkeusch war Citia sicherlich schon immer. Aber dass sie ihre Kräutlein vergessen hatte und schwanger wurde. Naja wenn da mal nicht jemand seine Finger im Spiel hatte. Und damit meine ich nicht diesen Immanspieler. Und kurz nach der Geburt ist Citia gestorben.“
„Meine Tante“ brachte Jodokus hervor.
„Ja. Andererseits… wenn das damals eine Intrige Gernots war, ging das nach hinten los. Den Baernfarns hat es nicht wirklich geschadet, aber mit Raul gab es einen anerkannten Nachfolger und Ziehsohn, als Deggen dann den Rabenmundschen Intrigen zum Opfer fiel.“
„Heißt, das Leben meines Onkels, und damit auch meines und das meiner Ziehschwester, der Baronin von Gallys, haben wir den Intrigen dieses Gernot zu verdanken?“ Jodokus fasste das ganze banal und stark verkürzt zusammen.
„Naja, wäre möglich. Ich weiß noch ganz genau, dass Gernot sich damals mit einem Gallyser Alchimisten getroffen hat. Wäre doch möglich, das Citia bei diesem ihre Kräutlein bezogen hat, und dass ihr auf diese Weise unwirksame Gewürze statt der richtigen Pflanzen zugespielt worden sind.“
„Mag sein“ grinste Alrik. „Es könnte Phex gefallen haben, auf diese Weise seine eigene Intrige gegen den Urheber zu nutzen. Die Wege der Götter sind unergründlich.“
Tuvok hatte seinen Bogen und den Köcher an sich genommen - und der Versuchung widerstanden, Jodokus einfach einen Pfeil zwischen die Rippen zu jagen. Er biss seine Zähne zusammen, was nicht nur an den Wunden lag. Das Gerede von magischen Einflüsterungen und dergleichen beeindruckte ihn wenig. Auch er war gestochen worden - und dennoch war er nicht über Haldana hergefallen. Dieser Alrik hatte leicht reden. Wenn ihr Auftraggeber nicht auf Wache eingeschlafen wäre...richtig gemütlich hatte er es sich gemacht, der feine Pinkel. Diese Städter waren alle gleich: Blaues Blut, ha! Keine Woche würden die verweichlichten Schlossbewohner und Stadtmenschen in der Wildnis überstehen, die angeblich göttergegebenen Herren der Welt. Dekadent waren sie, und hochnäsig. Egal, Tuvok musste seinen Schützling wiederfinden. Was sollte er sonst ihrer Mutter erzählen? Am Ende würde Haldana noch in der Gosse enden, oder an einem schlimmeren Ort, als gefallenes, beschmutztes Mädchen.
Ein wenig schmerzte es Tuvok allerdings schon, dass sie ohne ihn aufgebrochen war. Ohne ihn und Rovik. Sich einfach fortgeschlichen hatte. Nein, eine Schändung war das wahrlich nicht gewesen. Wie konnte ein anständiges Mädchen wie Haldana sich nur derart gehen lassen?
Wie auch immer, er war froh, eine Aufgabe zu haben, die ihn von seinem Zorn ablenkte. Firun war ihm gewogen. Es hatte geregnet, in den frühen Morgenstunden. Die vielen verwirrenden Spuren des Vortags waren weitgehend ausgelöscht worden, während er Haldanas zierliche Schritte gut sehen konnte, im nassen Gras. Das bedeutete, dass sie nach dem Regen aufgebrochen war, vermutlich schon im ersten, rötlichen Morgenlicht, kurz vor Praiosaufgang. Viel Vorsprung hatte sie noch nicht, vielleicht ein, zwei Stunden.
Sie war zum Brunnen gegangen, offenbar, um sich zu säubern, verständlicherweise. Was tat sie nun? Ging geradewegs auf den Feldweg zu. Selbst dort, zwischen tiefen Huf- und Wagenspuren, war ihre Fährte noch zu erahnen.
Ah, sie hatte sich auf den Weg zu den Bienenstöcken begeben. Dort aber nur kurze Zeit gestanden. Er kannte sich mit Immen nicht so gut aus wie mit den Tieren des Waldes. Aber vermutlich schwärmten sie erst bei Tagesanbruch.
Wahrscheinlich hatte sie sich als nächstes auf den Weg Richtung Landstraße begeben. Auf dem Feldweg schimmerten einige Pfützen. Die Blutlache des Schwarzbärtigen war bis auf einige Reste weggespült worden. Obwohl der schlammige Boden ideal war, um Spuren zu lesen, konnte er Haldanas "Trittsiegel" nicht mehr entdecken. Sein Blick fiel auf ein Getreidefeld, auf dem halbhoch und grünlich der Winterroggen stand. Eine deutliche Spur führte hinein, geradewegs auf den Acker. Haldanas Spur?
Was war denn das? Dort, am Apfelbaum, lehnte die Laute, nicht weit weg von den "Beuten", wie die Bienenstöcke in der Imkersprache hießen (das wusste er von Haldana). Nun war Tuvok ernsthaft besorgt. Egal, wohin die junge Schwarzsichlerin sich auf den Weg gemacht hatte, sie würde immer ihr geliebtes Instrument mitnehmen.
Der Waldläufer nahm die Laute an sich. Eine Saite fehlte. Tatsächlich, dort lagen die beiden Hälften, auf einem Steinmäuerchen am Wegesrand, wahrscheinlich gerissen. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? Der Jäger war sich nicht ganz sicher, aber als er Haldana das letzte Mal mit der Laute gesehen hatte, war tatsächlich eine Saite heruntergehangen. Ein beunruhigender Verdacht kam in ihm auf. Womöglich war Haldana gar nicht davongelaufen. Hatte sich die junge Frau in der Dämmerung nach draußen begeben, weil sie einfach nicht (mehr) schlafen konnte? Hatte sie sich ablenken wollen, in dem sie ihre geliebte Laute reparierte? War hier draußen etwas ganz anderes vorgefallen, als sie alle vermutet hatten?
Erneut blickte er zu der Schneise aus niedergetretenem Roggen, die dunkel ins Getreide führte.
Alrik hatte aufgesattelt und band Flocke am Vordach fest. Er schämte sich noch immer, wegen seines Versagens auf der Wache. Shinxir, der Götze der bosparanischen Legionen. Irgendwo hatte er mal gehört, dass auf Wache einschlafen mit dem Tod bestraft worden war, bei den alten Bosparaniern. Verständlich. In Kriegszeiten, an vorderster Front, konnte das einem auch in der Reichsarmee passieren...Wenn man nicht gleich mit einem zweiten Mund aufwachte.
Hesindian kam mit zwei Pferden aus der Scheune.
"Immerhin haben wir jetzt ein Packpferd übrig, für unsere süße Honigmumie."
"Die Kiste hat Haldana also nicht mitgenommen?"
"Wäre ein bisschen schwer gewesen..."
"Keine Frauen, kein Geschrei" Alrik setzte sich den Hut auf, und schob sich ein Stück Hartwurst in den Mund, als Frühstück. "Eins sage ich dir. Das nächste Mal werde ich Soldfrauen anheuern, keine Soldmädchen."
Sein Blick fiel auf die aufgedeckten Boltankarten, die noch immer auf der Tonne lagen, neben einer Stapel mit den übrigen Karten. Fünf Magier, fein säuberlich aufgereiht, von jedem Element einer: Erz, Humus, Eis, Wasser, Feuer, Luft.
"Vergiss deine Boltankarten nicht", sagte Alrik beiläufig.
"Sind nicht meine."
Der Baron sah zu Hesindian, der gerade die Höhe der Steigbügel neu einstellte.
"Sind die Boltankarten des Zinkers", meine der Magier und öffnete die Satteltasche (wo tatsächlich das Chorhoper Glücksrad zu sehen war).
Alrik trat ans Fässchen. Hesindian war genau gegenüber gesessen, auf einem Hackklotz. Alrik hatte zuletzt seine Gewinner-Hand aufgedeckt: die Akademie. Die Karten hatten dabei genau andersherum gelegen, so das der Magier seine Kollegen hatte sehen können, im Fackellicht. Nun drängten sie sich regelrecht am anderen Tonnenrand. Sein Freund hatte die übrigen Karten danach wieder zu einem Stapel sortiert. Das war alles gewesen. Der Mondschatten hätte bei Phex schwören können, dass sie sich danach zum Schlafen begeben hatten, oder eben auf "Wache", aber nichts mehr geändert hatten.
Der Baron folgte der "Blickrichtung" der Magier. Sie deuteten geradewegs in Tuvoks Richtung. Der Jäger war den Weg hinunter gegangen und schlug sich nun, am Wegesrand, in ein Roggenfeld, mit einer Laute über der Schulter. Haldanas Laute?
"Hesindian...das heißt also, das da sind Gerrichs Karten?" hörte sich Alrik fragen. "Seine magischen Karten?"
Halb geduckt huschte Tuvoks durchs nasse Getreide. Auch wenn das Feld unangenehm feucht war, fühlte er sich wie zuhause. Wie in einer Steppe. Er trug die Laute über der Schulter, gleich neben dem Köcher. Einen Pfeil hatte er herausgezogen und auf die Sehne seines Bogens gelegt. War Haldana vor etwas geflohen? Aber die Halme waren kaum beschädigt, nur niedergetreten. Teilweise hatten sie sich schon wieder aufgerichtet. Die Bardin hatte sich vorsichtig angeschlichen, so ähnlich wie er gerade selbst.
In der Nähe flatterte ein Rebhuhn auf, aber Tuvok blieb ruhig. Er ließ seinen Blick über die grünen Halme schweifen, die gerade erst Ähren ausbildeten. Irgendein Käferchen krabbelte auf einer Ackerwicke herum. Haldanas Pfad führte ungefähr in Richtung Unheiligtum, zumindest kam ihm das so vor. Hatte sie dort irgendetwas entdeckt?
Der Jäger zuckte zusammen, als ein schwarzer Schatten vor ihm auftauchte, spannte den Bogen und legte an...Im nächsten Moment ließ er seine Waffe wieder sinken. Es war nur eine windschiefe Vogelscheuche, die dort stand, eine Strohpuppe mit zerschlissenem Bauernkittel und löchrigem Hut. War es das, was seine Gefährtin beunruhigt hatte? Nun, Haldana war ihm seit dem Kampf um Helbers Hof irgendwie verwirrt vorgekommen...aber derart närrisch war sie nun auch wieder nicht gewesen.
Er folgte dem Weg und trat nach einigen Schritten auf einer Art Lichtung im Kornfeld. Das Getreide war überall ringsherum niedergedrückt. Ein Kampf? Nein, das sah alles zu regelmäßig aus. Ein Kreis, ein vollkommener Kreis von der Größe eines Wehrturms in der Rommilyser Stadtmauer. Keine Fußspuren, nichts. Die nassen Halme schienen mit großer Kraft auf den Boden gepresst worden zu sein, aber beschädigt waren sie kaum.
"Hexenringe", so nannte man die Kornkreise in der Sichel. Manche behaupteten, sie wären ein Tanzplatz für die Töchter Satuarias oder Feenkreise. Die Alten raunten, es wären Windgeister, die im Getreide spielten. Er als Firunsgeselle wusste es besser: Brünftige Rehe hinterließen bei ihrem Liebeswerben solche Spuren (einen Augenblick lang kehrte beim Gedanken an Böcke und Ricken der alte Groll in sein Herz zurück).
Es war ein großer und gleichmäßig runder Kornkreis, sicher acht Schritt im Durchmesser. Gleichzeitig endeten hier Haldanas Spuren. Sie war einfach in den Hexenring hineingegangen - und nicht wieder hinaus. Als wäre sie vom Erdboden verschluckt worden, durch die Halme hindurch in Sumus Reich hinabgesunken. Tuvok tastete nach seinem Amulett. Er war ein guter Fährtenleser. Aber diese Fährte ergab keinen Sinn. Zumindest keinen firungefälligen. So sehr er auch suchte und spähte, da war kein Hinweis mehr. Ein schmaler Pfad, und ein großer Kreis an seinem Ende. Ein Hase, der zwischen den Halmen davon hoppelte. Das war alles.
Tuvok hob den Bogen, als er vom Pfad her ein Geräusch hörte. Es war Hesindian. Auch wenn der Jäger überderische Kräfte verabscheute, konnte er den Rat des Zauberers jetzt gut gebrauchen. In einigen Schritt Abstand folgten Rovik und Alrik. Jodokus, der schurkische Mädchenschänder, traute sich nicht in seine Nähe. Gut so.
"Was hat das zu bedeuten?" fragte Hesindian.
"Das wollte ich dich gerade fragen" Tuvok reichte dem Magier die Laute. "Die stand am Apfelbaum, neben dem Weg zu Helbers Hof. Mir kommt es so vor, als wollte Haldana einfach nur eine Saite reparieren, die gerissen war. Als wäre sie gar nicht davon gelaufen."
Der Magier zupfte eine undeutliche Melodie. Es fehlte nicht viel, und die Erinnerung an Haldana hätte den Jäger übermannt.
Verzweifelt raufte er sich die Haare.
"Haldana! Wo bist du?"
Irgendwo in der Ferne antwortete ein mattes Echo.
Alrik öffnete seine Augenklappe und spähte ebenfalls um sich. "Moment...Haldana läuft mitten in der Nacht auf einen Acker...nur um dort ihre kaputte Laute zu flicken?"
"Nicht mitten in der Nacht. Es war wahrscheinlich schon dämmrig. Sie war aufgewühlt, durcheinander, konnte nicht mehr schlafen und wollte sich irgendwie ablenken...und hat vom Weg aus etwas entdeckt. Etwas im Kornfeld."
"Soll das heißen, sie wurde verschleppt?" Rovik stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte über die Halme blicken.
"Von wem?"
"Es gibt keinerlei Kampfspuren" sagte Tuvok. "Das ist alles sehr merkwürdig."
"Fürwahr." Hesindian reichte die Laute an Alrik, der sie genauer in Augenschein nahm. Eine kleine Kerbe am Lautenhals schien schon etwas älter zu sein. "Womöglich ein TRANSVERSALIS, oder eine Art Feentor...Ich hoffe inständig, es hängt nicht mit dem Unheiligtum dort drüben zusammen..."
Tuvoks Augen weiteten sich vor Entsetzen, während er sich hilflos um die eigene Achse drehte: "Haldana??!"
Der Magier kniete in der Mitte des Kornkreises nieder, murmelte etwas und schien einen Zauber zu wirken.
Nach einer Weile erwachte er aus seiner tiefen Konzentration.
"Hier hat Madas Kraft gewirkt", nickte der Zauberer. "Aber die Residual-Spuren sind ganz schwach, kaum noch wahrnehmbar. Was immer sich in diesem Kreis befunden hat, jetzt ist es wieder verschwunden. Seit einigen Stunden schon."
Der Blick des Magiers ging versonnen nach oben, zum Himmel.
5. Kapitel
5. Kapitel
Im Phexfinger
Alrik schob mit Verschwörermine die Schatulle über den Tisch und lehnte sich zurück: im Schlafgemach des "Flussschiffer", wo sich sein Hofmagus in der Zwischenzeit etwas erholt hatte. Hesindian wirkte völlig zerzaust - keine Spur mehr von dem geschniegelten Edelmann, den er noch bei seinem Besuch im Informations-Institut markiert hatte. Der Magier zog mit spitzen Fingern eine Phiole hervor, zückte seine Augengläser und musterte den grünlichen, schleimigen Inhalt.
"Mehr nicht?"
"Nun - um ehrlich zu sein, es war schon schwierig genug, einen einzigen Morfunello einzufangen." Wie zur Bestätigung rieb sich Alrik einen Pechspritzer aus dem Gesicht. Hoffentlich würde er sich nicht erneut anstecken. Der Weg zum Flussschiffer war merkwürdig genug gewesen. Hätten die Stadtwachen, das Trüppchen Badilakaner oder die grimmig blickende Bannstrahlerin auch nur im entferntesten geahnt, was er da in seiner Umhängetasche durchs schöne Rommilys spazieren getragen hatte, im dichtesten Menschengedränge: vermutlich würde er jetzt in einer echten Zelle sitzen.
Der Magus stellte die Phiole in einen Kerzenhalter, und wandte sich dem Zettel zu. Hesindian erschauerte, als er das Papier auseinander rollte, und ein verschlungenes Zeichen zum Vorschein kam.
"Zhayad" murmelte er
"Die Zauberschrift der Magier?"
"Davon gibt es einige. Manche würden sagen, Zhayad ist die Sprache der Dämonen". Ein trockenes Husten.
"B...L...Z."
Mit zittrigen Finger zeichnete Hesindian eine Hesindeschlange in die Luft. Eine einzelne Wanze rannte über den Tisch, stürzte von der Kante auf den Boden, landete auf dem Rücken, zappelte aufgeregt, drehte sich und war einen Herzschlag später in einer Ritze verschwunden. Hatte Alrik sich getäuscht - oder war das Krabbeltierchen geradewegs auf dem Zettel mit dem unheiligen Namen aufgetaucht?
"Der Name der Anti-Peraine, als Zhayad-Sigille. Den ich im Hier und Jetzt besser nicht nennen werde. Einer ihrer machtvollen Namen zumindest. Mögen die guten Götter uns beistehen."
Hesindian rollte den Zettel wieder zusammen. "Ich werde ihn verbrennen. Nachher. Dieser Meister Krummbacher hat das Dämonensiegel also auf die Fässer gemalt. Gar nicht so einfach, für einen Mogel."
"Mogel?"
"So haben wir Studiosi in Punin die Nichtzauberer genannt. Man kann sich auf der dritten Sphäre durchs Leben mogeln. Oder stolz und aufrecht zaubern..." Der Magus lächelte. "Man kann natürlich auch mit Magie schummeln. Gemalt hat der Bierbrauer die Zeichen mit dieser Kreide hier?"
Der Mondschatten nickte.
"Sieht nach Zauberkreide aus. Obwohl die meistens blutrot ist, nicht schimmelgrün. Womöglich eine Verhöhnung der heiligen Farbe der Göttin Peraine… Auf jeden Fall nicht billig. Ein Gemisch aus Kreide, Hahnenkamm, Alraune und Ochsenblut." Hesindian schnupperte vorsichtig daran. "Müffelt ein wenig nach Tlalucs Brodem, finde ich."
Der Zauberer wandte sich wieder der Phiole zu. Er tippte das Glas an: "ANALYS ARCANSTRUCTUR - ENTBLÖSSE DIE MAGIENATUR". Hesindian schien die Flüssigkeit ausgiebig zu betrachten, wenn auch mehr mit seinem geistigen Auge. Alrik wollte schon mit der Hand vor seinen Augen wedeln oder mit den Finger schnippen, da erwachte Hesindian auch schon wieder aus seiner Erstarrung.
"Das Gift ist eindeutig dämonischen Ursprungs", sagte er leise. "Bewirkt Magica Mutanda und Transformatorica, mit einer phantasmagorischen Komponente. Hektabeloid, aber selbst für einen Daemon Minor in einer zu infirmen Manifestation. Possibiliter stammt die Materia aus einer Invocatio Minima."
"Vielen Dank für den Fachvortrag, hochgelehrter Herr Magier. Aber könntet Ihr es vielleicht auch für einen Nicht-Bosparanier erklären?"
"Wie? Ach so. Nun, ich vermute, dass das Zeug aus einer minderen Beschwörung stammt. Bei der kein Dämon, sondern lediglich... Substanz aus der siebten Sphäre in unsere Welt geschleudert wird. Wobei `lediglich´ in diesem Fall relativ ist, wie Meister Nullstein sagen würde."
"Verstehe ich immer noch nicht."
"Nun, die Objektivitätstheorie von Emmeran Nullstein in drei Sätzen zu erklären, noch dazu einem Laien..."
"Das meine ich nicht. Was denn für Substanz? Substanz aus den Niederhöllen?"
"Gewiss. Säure, Schwefel, Staub, Dämpfe, Feuer - oder eben Schleim. Die Invocatio Minima ist eine, nun ja, Spielart des Manifesto, der rein derische Elemente herbeiruft. Eigentlich mehr eine Fingerübung für angehende Dämonologen als wirklich eine Beschwörung. Zumal das Ergebnis reichlich chaotisch sein soll. In dem Fall bewirkt Tlalucs Brodem, wie du das Gift nennst, eine eher harmlose Hautkrankheit. Die aber die perfekte Illusion der Zorganpocken erweckt. Was dann schon nicht mehr ganz so harmlos ist. Und es lässt unbelebte Materie verrotten."
Alrik nickte, und griff verstohlen nach dem Fuchsamulett unter seinem Kragen. Er hatte wahrlich schon oft genug mit solchen Dingen zu tun gehabt. Daran gewöhnen würde er sich nie, beim Unfassbaren Schleicher.
"Nicht, dass ich mich wirklich mit so was auskenne." Der Mondschatten deutete auf die Phiole. "Aber einen Moment lang hatte ich das Gefühl, dass der Morfunello und das Fasspech sich irgendwie, wie soll ich sagen - dass sie sich ziemlich ähnlich sind. Trotz der unterschiedlichen Farbe. Könnte es sein, dass schon das Pech aus...aus einer anderen Welt stammt...?"
Hesindian schüttelte das Grünzeug vorsichtig durch, das für einen Moment in der Phiole zu brodeln schien. "Schade, dass mein Labor zuhause in Friedwang steht. Wenn es Ucurian Lansborn nicht schon längst kurz und klein geschlagen hat. Wie? Nun ja, ausschließen möchte ich es nicht. Du hast nicht zufällig auch noch etwas vom Pech dabei?"
"Leider nein... das heißt, eigentlich doch" Alrik hob seinen rechten Ärmel, der tatsächlich pechverschmiert war. "Das Ding war wirklich schwer zu fangen. Nicht allzu schnell, aber nahezu unsichtbar. Und ziemlich schlüpfrig. Wenn dir das ausreicht?"
Hesindian rieb etwas mit dem Finger ab und schnupperte daran: "Riecht eigentlich wie Pech... gewöhnliches, derisches Baumpech. Föhre oder Kiefer, würde ich sagen."
"Bist Du unter die Botaniker gegangen?"
"Nun, als Bewohner deines Schlosses bin ich öfters in den Bergen unterwegs. Pechbrenner gibt es auch bei uns einige." Hesindian stützte sein Kinn auf die Linke. Alrik kannte diese Geste: Dann war sein Magierfreund entweder "ausgebrannt" oder wollte Madas Kraft sparen. Zumindest würde er jetzt so schnell keinen Zauber mehr wirken.
"Die Pecherer ja". Alrik nickte. "Werden da nicht Bäume angeschnitten, die Beulen haben? Wucherungen, die mit Harz gefüllt sind? Womöglich lösen die Morfunellos ja zuerst Baumkrankheiten aus - von denen aus sie dann auf die Menschen überspringen?"
"Gewagte Theorie, College, überaus gewagte Theorie": Hesindian verstaute die Phiole sorgfältig wieder in der Schatulle, mit verschmitztem Lächeln. "Eine Kiefer oder Föhre als Pestbringer? Dann schon eher Ratten, Füchse oder Fledermäuse..."
"Lass Phexens heilige Tiere aus dem Spiel." Auch Alrik schmunzelte. "Hab mich mal mit einer alten Siederin unterhalten. Hat sogar was von Baumpocken erzählt."
"Ich weiß nicht". Hesindian schüttelte den Kopf. "Was mich schon wundert, ist, dass die Substanz längere Zeit auf Dere verweilen kann. Normalerweise müsste niederhöllischer Schleim überaus flüchtig sein. Aber wenn sich Tlalucs Brodem mit Bier vermischt, dann sicher auch mit Pech. In einem Pechfass ist er vor Praioslicht geschützt und verbirgt auch seinen Gestank. Das macht Sinn."
"Und das Dämonenzeichen?"
"Das irritiert mich am meisten. Als Namens-Sigill ist es eigentlich zu unspezifisch, für einen Zauber. Ich vermute mal, dass es eine Art Aktivierungsrune ist, die Tlalucs Brodem aus dem Pech herauslöst und wieder manifestiert. Aber für eine Conclusio ist es da noch zu früh. Man müsste vielleicht mal in Erfahrung bringen, woher die Pechfässer stammen."
Alrik nickte: "Das ist der nächste Punkt." In kurzen Worten berichtete er vom Plan des Hopfenkrämers.
"Aber... ich muss zurück nach Neurommilys. Die letzte Fähre geht bei Einbruch der Dämmerung. Wenn ich nicht im Flusschiffer bin, und die Informationsmagier wollen mich auf die Akademie zitieren, zum Abschlussgespräch."
Der Baron von Friedwang schüttelte den Kopf. Sein Hofmagier hatte wahrlich schon einige Abenteuer bestanden. Aber gegenüber diesen Zauberschnüfflern benahm er sich unterwürfig wie ein Scholar im ersten Lehrjahr. Ein wenig konnte er ihn sogar verstehen: Die Hüter von Ordnung und Gesetz (oder diejenigen, die sich dafür hielten), waren schon ohne arkane Künste lästig. Wenn sie einem auch noch in den Gedanken herumschnüffelten, wurde es endgültig unangenehm.
"Mir wäre es Recht, wenn Du heute Nacht in der Nähe der Schatulle sein könntest, von Rabertos Verhaftung ganz abgesehen. Du solltest schon in der Kneipe dabei sein. Ein einzelner Magier beeindruckt so ein Rudel mehr als drei Schwertkämpfer zusammen. Kenne dieses Gesocks zur Genüge." Alrik begann sich seine Pfeife zu stopfen, diesmal ohne Giftpfeil. Natürlich kannte er das Lumpenpack zur Genüge. Hatte lange genug selbst dazu gehört, unten am Mysob. Aber in Brabak besaßen selbst Rattenmenschen und Phexjünger noch eine gewisse südländische Eleganz und Würde. Im Katzloch nicht.
"Ich lass Dir ein Bett in die Kammer stellen, und schicke einen Dienstboten in den Fährmann, der deine Sachen abholt. Vor allem wird er dem Wirt sagen, dass Du nun unter dem Schutz des Barons von Friedwang stehst. Wer meinen Hofmagier angreift, greift mich an." Der Mondschatten klopfte sich ein wenig großspurig an die Brust.
"In der Zwischenzeit werde ich mir diesen Korwid Alfengrund vorknöpfen. Hast Du nicht gesagt, dass ihn diese Schwarzhexe ebenfalls erwähnt hat...? Den schau ich mir mal genauer an. Ach ja, wir müssen noch die Waffen der Abenteurer in den Finger bringen. Eigentlich ist Fremden das Waffentragen in der Stadt ja verboten. Die berühmten zwei Spann. Tuvoks Bogen haben die Wachen zum Glück als Jagdbogen durchgehen lassen. Phex ist uns auch sonst hold. Die Drei sind mit dem Flussschiff gekommen, da hat ihnen niemand ihre Klingen am Tor abnehmen können. Im Katzloch ist es wohl egal - aber irgendwie müssen wir den guten Stahl dorthin bringen."
"Also gut." Hesindian nickte. "Ich habe einen großen Rucksack. Da kann ich ein bisschen was verstauen. Einem Magier werden die Gardisten wohl nicht so schnell die Sachen durchwühlen."
"Klingt nach einem Plan. Im Zweifelsfall muss eben Jodokus ein gutes Wort für meine Leibwachen einlegen."
Dumpf knallte ein Stein gegen den Schild mit dem Rosenwappen, gefolgt von einer Tonflasche, die klirrend vor Marvins Füßen zersprang. Obwohl der Stadtgardist gut gepanzert war, sprang er zurück und hob drohend seine Klinge. Langsam wurde die Lage bedrohlich, unweit der Streunerkaschemme. Travis, sein Kamerad, schüttete einem aufdringlichen Katzlocher einen Eimer Leim ins Gesicht, als der ihm mit einem Messer zu nahe rückte. Die drei gräflichen Gardisten, mit ihren schmucken Federhelmen, blickten erschrocken und wichen mit gefällten Hellebarden zurück. Ein Mob von fast zwei Dutzend Gestalten hatte sich zusammengefunden, und versuchte die Streife zu umringen.
"Verdammte Darpatbullen-Schweine!" brüllte ein junger Randalierer und ballte in seiner Faust einen Dreckbatzen zusammen. Der Wurf galt einer jungen Soldatin der Markgräflichen, deren Waffenrock nun von Schlamm verunziert wurde. Auch der Gräfliche Ausrufer, den das Trio schützte, blickte blass und verstört aus seinem vornehmen, aber schon reichlich besudelten Gewand.
"Rupft die Rosen!" kreischte eine Katzlocherin und zeigte dabei faulige Zähne. Die Frau riss den Steckbrief von der Linde und zerriss ihn, als wäre sie damit persönlich geschmäht worden. "Wir sind Reichsbürger wie ihr! Wir haben auch Rechte!"
"Raberto ist ein Held!" schimpfte ein Dritter. "Er stiehlt den Reichen und gibt uns Armen! Und was macht Ihr? Lasst ihn in Ruhe!"
Aufgeregte Rufe schwirrten durch das abendliche Elendsviertel.
Die erste Brandfackel schwirrte heran, landete aber zum Glück in einer dreckigen Pfütze, wo sie zischende verlosch. Ein Gassenjunge nahm mit seiner Zwille Travis unter Beschuss, der sich gerade noch wegduckte.
Marvin schluckte und stieß einen pickligen Burschen, der gegen den Schild rempelte, zurück, gefolgt von einem Hieb mit der flachen Seite des Schwertes. Schade, dass sie keine Armbrüste mitgenommen hatten. "Kein Plan überlebt Feindkontakt", dachte das Mitglied der Stadtwache. Irgendjemand im Fürstenpalast war auf die Idee gekommen, dass der gestohlene Dukatenbeutel des Herrn Jodokus von Baernfarn einen Angriff auf die Autorität der Markgräfin darstellte - und hatte die drei "Gräflichen" zur Verstärkung geschickt. Die feinen, hochmütig blickenden Palastwachen hatten die Katzlocher aber erst recht provoziert. Dass ein reicher Edelmann fünf Goldstücke auslobte, nur um seine Geldbörse (mit Familienwappen) zurück zu bekommen, erschien dem Mob wohl als Gipfel aristokratischer Dekadenz. Immerhin, in den Nachbarstraßen hatten die Plakatierungsaktion eigentlich ganz gut geklappt.
Als hätten die Götter ein Einsehen, zog Abendnebel auf, vom Darpat her. Das schien die Gemüter etwas abzukühlen.
Raberto schlürfte grinsend einen Schnaps. Der aus seiner eigenen Schwarzbrennerei stammte, wie er zufrieden feststellte. Auch wenn das Mistzeug ganz schön in der Kehle brannte. Egal. Er kippte den Rest auf den dreckigen, von Messerstichen und Wurmfraß zerlöcherten Tisch und hauchte Krummbacher geradewegs ins Gesicht. Es tat gut, einen wohlgemästeten Bürgerlichen derart klein zu sehen, in seiner vornehmen, pelzbesetzten Schaube. Der Andergaster blickte sich in der schummrigen Kneipe um, wo der Geruch nach Schweiß, Warunker Knaster und eben billigem Schnaps in der Luft lag. Es wurde gebechert, gewürfelt, Boltan gezockt, getuschelt und manch dunkles Geschäft besprochen. Dinge, die sicherlich kaum praiosgefälliger waren als die Angelegenheit, die er gerade zu besprechen hatte. Dort drüben standen die Jungs der Mauerbande und warfen Messer auf eine Wurfscheibe. Ein Betrunkener tatschte gegen das Mieder der drallen Schankmaid: Ah, der glatzköpfige Ogerbarne war da. Ludolf der Lude ebenfalls, das Samtkätzlein, die Grüne Cordula, Schlagring-Bodo, der Kümmerling, Alrik Ohnekappe und Wahnfried der Stecher, aber auch einige Gestalten, die er nicht kannte.
Dort drüben saß ein Zwerg und palaverte mit irgendeinem schlitzäugigen Waldläufer sowie einem abgehalfterten Magierzausel. Der weißhaarige Kerl blickte nervös um sich, als wäre er geradewegs aus dem Haus der Noioniten entsprungen. Die Bardin am Tisch sah auch ziemlich schräg aus: die eine Seite ihres Kopfes hatte sie kahlrasiert, auf der anderen Seite trug sie das blonde Haar lang. Hübsches Ding, aber ziemlich hässliche Frisur. Die Frau spielte auf einer Laute und sang irgendwelche wehmütigen Lieder aus der Sichel. Normalerweise hätte Raberto der Singsang und das Gezupfe genervt. Aber im Moment war er froh, wenn die Geräuschkulisse sein Gespräch mit Meister Krummbacher übertönte. Ziemlich gut gefüllter Rucksack, der da unter dem Tisch der Fremden stand. Früher hätte er versucht, ihn zu klauen und mal reinzuschauen. Aber das hatte Raberto, der König des Katzloch, nicht mehr nötig.
Der eine oder andere finstere Blick traf den unglücklichen Braumeister, der in jedem Fall fehl am Platz wirkte, in seinem vornehmen Gewand. Sicherlich wäre der feiste Schwächling schon längst zusammengeschlagen und ausgeraubt worden. Wenn die Schnapphähne nicht Raberto erkannt hätten, Krummbachers, nun ja, Beschützer.
"Deiner Gemahlin geht es gut, keine Sorge", sagte der Rabe, kratzte sich mit seinem Stilett etwas Dreck aus den Fingernägeln und schnippte ihn gegen das Wams des Fettwanst. "Ebenso den Kindern. Den Umständen entsprechend, natürlich."
"Bitte, lass sie gehen. Ich habe doch alles getan, was du von mir verlangt hast."
"Hast du das?" Ein verächtliches Grinsen. "Das Zeichen, dass ich dir mitgegeben habe. Mals nochmal auf."
"Hier, im Finger?"
"Nein, oben im Palast, Schwachkopf."
Zitternd tat Krummbacher, wie ihm geheißen wurde.
"Sehr schön" Raberto verwischte die Schlieren wieder, mit dem Barrett seines Gegenübers.
"Ja, ich glaube dir. Aber du verstehst, dass ich deine Olle und die süßen Kleinen nicht laufen lassen kann. Noch nicht. Der Hexer von Rommilys will erst Ergebnisse sehen. Womöglich musst du dein Gesöff ja noch etwas nachwürzen."
"Ich..."
"Ich warne dich!" Raberto deutete mit der Spitze des Stiletts geradewegs auf sein Opfer: "Ich meins gut mit dir. Aber mit dem Hexer solltest du dich besser nicht anlegen. Vielleicht kann ich für dich sogar noch einen Anteil heraus handeln. Und wenn sie dich schnappen, was ich nicht hoffe, dann kannst du immer noch herum wimmern und sagen: Hilfe, hilfe, der böse Raberto hat meine Familie verschleppt." Raberto verzog das stoppelbärtige Gesicht zu einer Grimasse, als er den Braumeister nachäffte und strich sich eine einzelne, schmalzige Locke aus den Haaren.
"Du hast es mir versprochen", sagte Krummbacher. Er wirkte erschöpft, mit den Nerven am Ende. "Gib mir doch wenigstens ein Lebenszeichen von den Dreien."
"Krümmelchen, Krümmelchen." Der Rabe schob ihm den Becher zu. "Sehe ich aus wie ein gemeiner Meuchelmörder? Hältst du mich für einen Schuft, der sein Wort nicht hält? Nun beruhige dich erst mal. Du hast deinen Schnaps noch gar nicht getrunken. Wie gesagt: Geht auf mich... in diesem Fall...."
Schwungvoll goss sich der Dieb selbst nach, steckte das Stilett weg und betrachtete selbstzufrieden den Dukatenbeutel, mit dem Bärenwappen. Allein dafür hatte sich der kleine Spaß an der Reitbahn gelohnt. In dieser Stadt fühlte er sich langsam wie der Hecht im Karpfenteich. Oder der Fuchs im Gänsestall.
"Trink" sagte er drohend. "Wenn dir etwas an unserer kleinen Abmachung liegt, dann sollten wir sie auch begießen."
Er stieß kräftig an, und grinste höhnisch, als Krummbacher einen großen Teil vom Schwarzgebrannten verschüttete.
Der Braumeister schlürfte den Rest, rümpfte die Nase und verzog angewidert das Gesicht.
"Krummbacher, Krummbacher, ich verstehe dich nicht... wo kommen plötzlich deine Skrupel her? Haben wir nicht immer gute Geschäfte gemacht, wir beiden? Also spiel hier nicht die Heilige Lechmin von Weiseprein." Gustlfinger drehte den Becher versonnen in der Hand. "Waren doch herrliche Zeiten. Die ganze Brauerzunft hat gekuscht, vor uns... alle haben Krummbachers Bier gesoffen. Der Schnaps im Bier hat die Leute wenigstens ihr Elend vergessen lassen. Das Riesenfass von Rommilys - ich frag dich, bist du dabei schlecht weggekommen? Die Schwachköpfe in der Brauerei denken noch immer, dass es verbrannt ist. Und du, sitzt da und zitterst wie ein Goblin... Nein. Das ist nicht mehr der alte Krummbacher, den ich kenne. "
"Du hast meine Frau, den kleinen Travian und Ilara verschleppt" sagte der Brauer tonlos. "Wenn ihnen etwas zustößt."
"Dann? Was hast du dann vor?" Raberto schüttelte den Kopf. "Eine kleine Vorsichtsmaßnahme, mehr nicht. Ich muss mich schließlich auch absichern. Das verstehst du doch? Ich möchte wetten - wenn es losgeht, wirst du verdammt froh sein, wenn sie nicht mehr in Rommilys sind. Du wirst mir verdammt nochmal dankbar sein, glaubs mir." Gustlfingers Gesichtsausdruck war reine Heuchelei.
"Ich bin Rommilyser, wie mein Vater und Großvater", murmelte Krummbacher. "Ich will nicht der Verderber dieser Stadt werden. Jemand, der die heilige Traviastadt ins Chaos stürzt. In den Abgrund."
"Chaos ist kein Abgrund. Chaos ist eine Leiter." Raberto trank angeheitert aus der Flasche.
Von draußen drang wie zur Bestätigung Lärm herein, Geschrei und Geschimpfe. Vor der Kneipe schien irgendeine wüste Rauferei im Gange zu sein.
"Hörscht du das?" Rabertos Stimme klang schon etwas betrunken. "Musik in meinen Ohren... Du muscht zugeben, dass die Zeiten früher besser waren. Bessers fürsch Geschäft. Sachn wir, du bringst einfach nur ein wenig Würze ins langweilige Leben der Rommilyser. Dasch is ja noch nichma gelochn..." Mit schwitzigem, geröteten Gesicht stierte Gustlfinger Richtung Eingangstür, wo nun Marike hereinkam, sein Liebchen. Er griente. Die Kleine hatte sich neu eingekleidet, hauteng und auch sonst rahjagefällig, wie er es mochte. Das Florett baumelte wieder an ihrer Seite. Waffenrecht, dieses Wort kannte Marike gar nicht. Zufrieden stellte Raberto fest, dass niemand sie anzufingern wagte, nicht mal der strohdumme Oger-Barne. Sie alle wussten, dass sie sein Mädchen war. Respektieren ihn. Nur so funktionierte es: Mit Respekt. Versonnen spielte Raberto mit dem Ring, der dem Schmuckstück ähnelte, das er neulich für die Maraske geklaut hatte.
Die Streunerin wirkte nichtsdestotrotz besorgt. Statt ein wenig mit den Jungs an der Wurfscheibe zu schäkern oder den Boltanspielern in die Karten zu blicken, wie es sonst ihre Art war, steuerte sie geradewegs Rabertos Stammplatz an. Setzte sich auf seinen Schoss, kaute aufreizend und blickte verächtlich zum armen Krummbacher. Rabertos Hände tasteten vergnügt über ihre Rundungen, bis hinab zu ihrer schwarz glänzenden Elburumer Lederhose. Dennoch, irgendetwas beunruhigte die Kleine, das konnte Raberto spüren.
"Und, hat der Fettsack pariert?" Die Maraske klang, als wäre der Braumeister gar nicht anwesend.
"Die Lieferung isch angekommen, ja." Raberto griff nun wieder nach Marikes Brüsten. Die biss ihm neckisch ins Ohr, mit einem wollüstigen Gurren. Die Verlegenheit des traviafrommen Einfaltspinsels da auf seinem Stuhl gefiel ihr. Erregte sie sogar irgendwie. Gerne hätte sie das Spiel noch fortgesetzt. Leider gab es schlechte Nachrichten. "Sie hängen gerade Steckbriefe von dir auf, nä", flüsterte sie ihrem Verlobten ins Ohr, während sie eine seiner Locken um ihren Finger wickelte. "In der ganzen Stadt."
Raberto lächelte, ebenso schmierig wie ungläubig. "Kein Büttel lecht die Hand annen Raben", sagte er laut. "Zumindest keiner, von dem isch weiß, wo scheine Familie wohnt." Nun gut, das war geprahlt. Aber ganz sicher wagte ihn niemand zu verpfeifen, von dem er wusste, wo er ihn früher oder später finden würde.
"Zehn Duckern", tuschelte Marike, gefolgt von einem Kuss. "Dieser verrückte Bärenhäuter scheint unbedingt seinen Dukatenbeutel wiederhaben zu wollen. Ein Erbstück. Hab mir ein Plakat vorlesen lassen." Die Streuerin klang ehrlich beunruhigt. "Draußen gibt´s schon Ärger deswegen." Sie schnupperte, wich zurück. "Bah, du hast schon wieder getrunken. Hör auf damit und verschwinde, bis sich der Ärger etwas gelegt hat. Zehn Goldstücke, dafür würde mancher hier drin seine Mutter verkaufen."
"Ärcher? Läuf doch alles wunnerbar... Die Rotrosen wern es nich wagen, den Finger zu stürmen. So verrückt sind die nich, mein Schatz. Noch ein paar Tage, und die machn sich in die Hosn, wenn alles drunner und drüber geht. Drunner und drüber, hmhm, verschtest du?"
Raberto schloss genießerisch die Augen und drückte seinem Liebchen ebenfalls einen feuchten Kuss auf die vollen, sinnlichen Lippen. Die wich erneut aus, etwas angewidert. Verstohlen zog sie einen der Steckbriefe aus ihrem Mieder und zeigte ihn ihrem Verlobten. Dieser begann lauthals zu lachen und schlug mit der Hand gegen das Papier.
"Dasch soll isch sein? Unnur zehn Goldschtücke Belohnung? Mehr nicht... dasch isch ja lächlich." Er hatte ein klein wenig zu laut nachgedacht, wie er nun merkte. Plötzlich verebbten die Gespräche im Finger. Mehr als nur ein Augenpaar drehte sich in seine Richtung. Irgendwie erinnerten Raberto die Blicke an Wolfsaugen, die nachts neben einem Schafstall leuchteten.
"Na kommt schon" Gustlfinger blickte herausfordernd in die Runde. "Von eusch hat doch niemand n Mumm, wegen zehn lausichn Rohajas seie Zähne zu rischkirn..."
"Oder ein Loch im Bauch!" zischte die Maraske und klopfte auf ihr Florett. "Und du, nä, glotz nicht so wie ne Traviagans wenns donnert!" Sie packte den unglücklichen Krummbacher, zerrte ihn vom Stuhl hoch. "Hast du uns das Ganze eingebrockt?" Sie schlug ihm in den Magen, und deutete einen Hieb ins Gesicht an. Mehr zur Abschreckung der Übrigen. Allerdings hatte Marike wirklich das Gefühl hatte, dass der Spießbürger irgendwas mit der Sache zu tun haben könnte. Wimmernd brach der Braumeister zusammen, und erntete noch einen Fußtritt.
Tatsächlich wanderten die gierigen Augen rasch weiter. Die meisten von diesem Gesindel hier hatten selber genug auf dem Kerbholz. Die würden nicht mal eben so zur Stadtwache rennen. Dennoch war es höchste Zeit, von hier zu verschwinden. Trauen durfte man diesem habgierigen Pack nie.
"Bei Angrosch Bart, er ist es wirklich!"
Marike runzelte die Stirn und suchte den Mann, der diese Worte ausgerufen hatte.
Sie musste nach unten blicken: Dort stand ein Zwerg mit Lederschürze, die Hand an einer Axt. Leise pfiff er durch seinen großen, kräftigen Zwergenzähne: "Zehn Dukaten, sagtet Ihr? Kann ich das Bild nochmal sehen?"
Die Maraske wollte schon blankziehen. Ulfert kam ihr zu vor, ein schmächtiger Herumtreiber aus Perricum, der unbedingt Anschluss an die "Andergaster" finden wollte: wie Rabertos Rattenschwanz aus Schutzgelderpressern, Leichenausbuddlern und Laufburschen genannt wurde. Die er gerne seine "Bande" nannte. Nicht, dass Marike besonders viel von dem "Kümmerling" hielt, aber nun kam er ihr zur Abwechslung mal gelegen. Klirrend zerschlug der Perricumer einen tönernen Bierkrug auf dem Kopf des Zwergs. Brummend und schnaufend stand Rovik da, wie ein begossener Pudel. Den Hieb schien er mit seinem klobigen Schädel gar nicht bemerkt zu haben.
"Jetzt gibt es einen Satz heißer Ohren", brummte der Angroscho, drehte sich um und trat den heimtückischen Angreifer kräftig auf die Füße. Als dieser sich jammernd vorbeugte, traf ihn tatsächlich zwei wuchtige Ohrfeigen gleichzeitig von links und rechts.
Der Kümmerling schüttelte sich verdutzt, und zog ein Messer: "Das lass ich mir von nem Wichtel nicht gefallen!"
"Wichtel?" Rovik zog die Axt. "Ich kann dich auch ein Stück kürzer machen, Lulatsch, wenn du das willst."
Der Zwerg schlug zu, allerdings mit der stumpfen Seite. Ulfert ging erneut in die Knie, und wurde durch einen weiteren Hieb mit dem Axtstiel auf die Bretter geschickt. Nun sah Marike, dass sich noch drei weitere Gegner im Raum verteilt hatten, vor den beiden Türen: die Bänkelsängerin, die ihr gerade eben schon aufgefallen war. Irgend so ein schlitzäugiger Hinterwäldler mit Pfeil und Bogen sowie - was ihr doch ein wenig Sorgen bereitete - ein weißhaariger, zerzauster Magier, mit reichlich Flecken auf der grauen Robe.
Raberto schien buchstäblich wieder ernüchtert zu sein. So kannte sie ihn. Mit einem Ruck stand er auf, ohne auf den umkippenden Stuhl zu achten. "In diesem Dukatenbeutel befinden sich zwanzig Goldstücke", log er und ließ die Börse mit dem Bärenwappen ein wenig klimpern. "Die bekommt derjenige, der dem Gnom und seinen Spießgesellen zeigt, was wir im Katzloch von miesen, kleinen Kopfgeldjägern halten."
Immerhin, der glatzköpfige Ogerbarne war dumm genug, sein Kurzschwert zu ziehen.
"BLITZ DICH FIND - WERDE BLIND!" Hesindian deutete mit zwei Fingern der linken Hand auf den Kahlschädel.
Dieser schrie zum Göttererbarmen auf und hielt sich die Hände vors Gesicht, als wären seine Augen gerade von glühenden Brandeisen durchbohrt worden. Das Kurzschwert polterte zu Boden. Der Magier ließ drohend seinen Zauberstab kreisen
"Den nächsten, der sich einmischt, wenn sich Erwachsene unterhalten, verwandele ich in eine Steinstatue", knurrte der Edle von Orweiler. Tatsächlich fühlte sich Hesindian schon wieder ziemlich ausgebrannt (auch wenn er es selten erlebt hatte, dass ihm der Geist eines Menschen so wenig Widerstand entgegen gebracht hatte, wie beim Zauber gerade eben). "Macht sich bestimmt gut in der Ecke da." Tuvok legte einen Pfeil auf den Bogen und schoss ihn auf die Wurfscheibe: genau ins Schwarze. Der Strauchdieb, der gerade ein Messer hatte herausziehen wollen, hob mit schiefem Grinsen seine Hände. Auch der Wirt, der eine kleine Armbrust unter der Theke hervorziehen wollte, legte diese schnell wieder zurück. "Ich will keinen Ärger", japste er.
Die Augen des Jägers irrten umher, während er ein weiteres Geschoss auflegte. Gerne hätte er Haldana und Rovik geholfen, aber er spürte, dass er die Meute im Griff halten musste. Tuvok hob den Bogen etwas. Diese Geste und der Magier verfehlten ihre Wirkung nicht. Manch Messer und Schlagring verschwand wieder im Ärmel oder Stiefel.
Sein Blick fiel auf Krummbacher, der stöhnend in Deckung krabbelte. Eigentlich hatte er ihn niederschlagen sollen. Aber diese Aufgabe hatte bereits die verrückte Streunerin übernommen, warum auch immer.
Raberto hastete auf das Kurzschwert zu, das Barne fallen gelassen hatte, was nicht allzu elegant aussah. Er raffte es gerade rechtzeitig auf, um einen Axthieb des Zwergen abzuwehren. Funken sprühten. Der Andergaster deckte Rovik mit mehreren Hieben ein und stieß gleichzeitig mit dem Stilett zu. Er war zwar ein wenig aus der Übung, aber Zweikämpfe durchaus gewohnt. Aus dem Augenwinkel spähte er bereits nach dem Hinterausgang.
Wutschreiend gingen Haldana und Marike aufeinander los, der Inbegriff einer Stutenbeißerei. "Was hast du eigentlich für eine hässliche Frisur?" zischte die Maraske. "Kopfläuse?" Die Sängerin zog wortlos ihren Rapier vom Leder, ihre Gegnerin stach zu.
Haldana parierte den Stoß, schlug über Kopf zurück, blieb allerdings am Deckenbalken hängen. Marike griff erneut an, schlitzte ihr den Ärmel auf. Haldana ließ ihre Klinge um die Finger wirbeln, wie bei einem aranischen Säbeltanz und verwirrte die Streunerin, die nun wieder zurückwich. Erst ein umstürzender Tisch stoppte ihren Rückzug. Becher stürzten zu Boden, Karten wirbelten umher. Gefluche und Geschrei. "Dich mach ich kalt, nä! Finger weg von Raberto!"
Das Duell wurde grimmiger. Kling-pling-pläng. Als wären zwei horasische Stutzerinnen aneinander geraten, tänzelten die Damen durch den Schankraum. Einige Herzschläge lang band die Maraske Haldanas Rapier über Kreuz, stieß sie zurück, attackierte. Die Sichlerin wich aus. Das Florett bohrte sich in einen der Stützbalken. Haldana griff erneut über Kopf an. In der engen Taverne hatte ihre gewohnte Angriffsweise Schwächen. Erneut verhakelte sich die Klinge, diesmal im Radleuchter. Kerzenwachs tropfte herab.
Marike konnte ihre Waffe befreien.
Erneut klirrte Stahl gegen Stahl.
Gleichzeitig umschlichen sich Raberto und der Zwerg. Es war ein ungleicher Kampf - der Zwerg war dem Andergaster zwar durchaus gewachsen. Allerdings nur, was seine Waffenkunst anhing. Durch die unterschiedliche Körpergröße blieb dieser Kampf ansonsten eine merkwürdige Stolperei. Raberto versuchte, den schlanken Dolch in der Linken und das Kurzschwert in der Rechten, seinen Gegner von oben festzunageln. Rovik behalf sich mit wuchtigen Tiefschlägen, die den Dieb immer wieder zum Zurückweichen zwangen. Ein wenig rondrianischer Tanz. Das Kneipenvolk schien dennoch sein Vergnügen zu haben. Es johlte und brüllte, als würde es gerade Zeuge eines Armdrückens. "Fünf Taler auf den Wichtel! Der ist flink, hoho"
"Raberto, mach ihn fertig! Acht Taler auf den Gustlfinger!"
"Sechs Taler auf die Maraske!"
Rabertos Stilett bohrte sich in die Lederschürze des Zwergs und blieb dort hängen. Knurrend schlug es der Hügelzwerg beiseite. Die Waffe flog dem Dieb aus der Hand und bohrte sich in die Theke.
Tuvok überlegte, ob er eingreifen sollte. Aber die größte Stärke seines Bogens, die Durchschlagskraft, war nun ebenfalls eine Schwäche. Die vier Kämpfer wirbelten ständig durcheinander. Würde er einen der beiden Schurken verfehlen, konnte er leicht einen Freund treffen.
Haldana schlug erneut zu, Marike parierte über Kopf. Pling... im nächsten Moment flog die Klinge des Floretts mitsamt Korb davon. Die Katzlocherin hielt nur noch den hohlen Griff in der Hand.
"Gibscht d´auf?" fragte die Sichlerin und senkte drohend das Rapier.
Die Maraske schnaufte schwer. "Leck mich!" brüllte die Katzlocherin und warf den Griff auf Haldana. Diese duckte sich. Im nächsten Moment sprang Marike in Richtung Radleuchter, gewandt wie eine Meerkatze, pendelte und schwang ihre Stiefel gegen Haldana. Diese stürzte keuchend zu Boden, ließ ihr Rapier fallen. Im nächsten Moment hielt die Diebin ein Messer in der Hand und versuchte es der Bardin in den Hals zu rammen. Die Bardin bekam gerade noch das Handgelenk ihrer Gegnerin zu fassen.
Kurz und wuchtig schlug Hesindian zu. Der Zauberstab traf schwer den Hinterkopf der Streunerin. Mit einem Ächzen sank Marike zur Seite, und rührte sich nicht mehr.
"So ein Stabzauber wirkt manchmal Wunder" stellte der Magier fest.
"Marike!" rief Raberto entsetzt. Dann schrie er vor Schmerz auf. Roviks Axt hatte ihn am Bein getroffen. Allerdings zahlte der Zwerg einen Preis für den Treffer. Das Kurzschwert traf ihn an der Schulter. Stöhnend wich er zurück. Gustlfinger nutzte seinen Vorteil, und humpelte auf die Tür zu. Hesindian versuchte ihm den Weg abzuschneiden.
Der Dieb hob seine Waffe. Tschkk. Schnell und wuchtig traf Raberto etwas in die Schulter. Entsetzt starrte er auf die rote Pfeilspitze, die nun aus ihm herausragte. Dann kam auch schon der Schmerz, zusammen mit dem Blut. Das kleine Schwert fiel ihm aus der Hand. Wimmernd sank er auf die Knie. Der Schatten des Jägers fiel über ihn. "Gib mir einen Grund, nochmal zu schießen!"
Haldana fesselte bereits Marike, während sich Hesindian um Roviks Wunde kümmerte.
"Ist nur ein Kratzer", brummte der Zwerg. "Ich lass mich bestimmt nicht von einem Zauberer behexen. Du solltet lieber diesen Raberto verarzten."
Den hatte nun Meister Krummbacher am Kragen gepackt, und schüttelte ihn, wie von Sinnen: "Wo-sind-meine-Kinder?"
Raberto schrie und stöhnte, antwortete aber nicht. "Meine Frau, wo ist sie"
Draußen tönte eine Büttelpfeife. Hesindian öffnete die Tür nach draußen. Dichter Nebel lag über der Straße, wo es immer noch hoch her ging. Ein ganzes Rudel Gardisten fiel nun als Verstärkung über die Katzlocher her und jagte sie auseinander.
"Razzia!" rief der Magier in die Runde. "Jede Menge Stadtgardisten." In Windeseile stürmte das "Publikum" zum Hinterausgang.
"Ich bin verletzt!" ächzte Gustlfinger und biss die Zähne zusammen. Bleich versuchte er mit der einen Hand das hervor sprudelnde Blut an der Schulter zurückzuhalten, während er die andere Hand auf die klaffende Beinwunde presste.
"Krummbacher, lasst ihn in Ruhe". Hesindian schob den Braumeister beiseite.
"Euch hat dieser verfluchte Baron geschickt, nicht wahr?" schimpfe Raberto. "Dem, aaah, breche ich alle Knochen. Ich bring ihn um, uaaah, ah. Die Pockenfresse hat Marike misshandelt."
"Gute Idee. Daran habe ich noch gar nicht gedacht" nickte der Magier. "Haldana, reich mir doch mal die Schnapsflasche."
"Ihr müsst mich verarzten. Ich verblute."
"Natürlich müssen wir das" Der Magier zog mit den Zähnen den Korken aus der Flasche. "Erst mal die Wunden reinigen."
Der Streuner brüllte wie am Spieß, als der Schnaps über seine Verletzungen floss.
"So, und nun spucks lieber gleich aus, bevor du in der echten Folterkammer landest. Wo sind die Krummbachers?"
"Einen Orkscheiß werde ich... Marike, Marike, was ist mit dir? Was haben die verdammten Schweine mit dir gemacht, aaah. Sag doch was? Verdammt, verdammt, verdammt..."
"Keine Angst, die Garde kriegt sie schon wieder zum Sprechen. Und wir dich auch. Weißt du eigentlich, was für ungeheuer schmerzhafte Zauber es gibt, um Abschaum wie dir die Zunge zu lockern?"
Der Dieb schwieg verstockt. Und brüllte erneut auf, als Tuvok am Pfeil rüttelte.
"Steckt fest", sagte der Waldläufer. "Guter Pfeil. Will ihn wieder haben."
Der Jäger packte den Schaft fester, ohne jede Regung in seinen nivesischen Augen.
"AAAAAAHHHH!"
Hesindian schloss die Augen, als ihm Blut ins Gesicht sprenkelte. Einen Moment lang kam er sich vor wie ein Al´Anfaner Folterknecht. Aber bei einem derart gefährlichen Gegner durften sie nicht zimperlich sein.
"Isch glaub, des Beinli müscht runner", kommentierte Haldana. "Wäche de Wunfiebär. Rovik, her mit der Axt."
"Ihr...ihr...seid...völlig verrückt", keuchte Raberto. "Was seid ihr denn für welche?"
"Du hast es in der Hand, wie viel von dir wir der Garde ausliefern werden". Hesindian stocherte dem Streuner in die Seite.
"Wo ist die Familie von Meister Krummbacher? Wo kommen die Pechfässer her? Sind doch einfache Fragen?"
"Schon gut, schon gut. Die Alte und die Bälger sind nicht mehr in der Stadt. Ich hab sie nicht versteckt... hab nichts mit der Sache zu tun. Fast nichts."
"Gehts genauer?"
"Weiß nur, dass sie auf der anderen Seite vom Darpat sind... Richtung Neuborn. Irgendwo beim Steinbruch von Marelengrund, in den Bergen. Da kommen auch die Fässer her. Mehr weiß ich nicht."
"Wie? Mehr weißt du nicht? Der große Raberto Gustlfinger, der Schrecken vom Katzloch?"
"Ich schwöre es, ich schwöre es… Dieser Heiler hat ihnen ein Schlafmittel gegeben, in der Brennerei. Wir haben sie heimlich mit dem Karren zur Fähre gebracht, und das wars dann."
"Welcher Heiler?"
"Dieser Korwid...Korwid Alfengrund, der Storchenbruder."
"Aha, der hochehrsame Medicus. Und das Pech?"
"Das kam mit der Fähre, gestern Abend, von Neurommilys rüber. Mit zwei so komischen Gestalten, Waldbauern oder Holzfällern. Was weiß ich... aaah. Helft mir doch, ich verblute..."
"Wir wollen dich nicht unterbrechen, red weiter!"
"Aaah, verdammt. Wir haben die Fässer übernommen, und die Krummbachers übergeben. Korwid hat dem Fährmann irgendwas von ner Schlafkrankheit erzählt. Dass er die Frau und die Kinder möglichst schnell aus der Stadt schaffen muss. Wegen der Seuchengefahr. Ein paar Taler bekam der Fährmann auch, dafür, dass er niemanden was erzählt. Mehr weiß ich nicht. Ich schwöre es, ich schwöre es... Aaaah... ihr müsst mich verarzten. Ich brauche einen Heiler."
Ein paar Stunden zuvor
Wohlgemut lenkte Alrik seinen Elenviner durchs Reichskanzler – Randolph -Tor, hinaus auf die Landstraße, die in Richtung Zwerch führte.
Den Perainetempel und das Spital hatte er hinter sich gelassen, in jeder Hinsicht. Es tat gut, wieder mal aus der eigentlichen Stadt herauszukommen. Auch Flocke freute sich über den Ausritt.
Litzelstadt, so nannten sich die Bauernhöfe und Äcker: trotz des Namens ein ländlicher Vorort, der ihn ein wenig an Marktfriedwang erinnerte. Dort drüben drehte sich eine Windmühle, geradeaus ging es zur Wechselstation der Beilunker Reiter.
Es war gar nicht so einfach gewesen, die Spur von Meister Alfengrund aufzunehmen (im echten Spital hatte er nicht nachfragen wollen). Ein Bettler des Grisefux hatte ihm die beste Auskunft gegeben, gegen einen großzügigen Almosen.
"Das Schwarze Spital", hatte der Alte gekrächzt, der sich - zumindest für Alrik gut sichtbar - das linke Bein hochgebunden hatte, unterm Lumpenkittel. Um den Krüppel zu markieren. "Dort wohnt er. Am Boronanger in der Litzelstadt." Der Bettler hatte mit der Krücke gen Norden gedeutet. "Jedenfalls nicht weit weg."
"In der Nähe seiner Kundschaft?" Alrik hatte noch einmal Münzen klappern lassen, im Napf seines "Bruders in Phex".
Ein Grinsen war dem zahnlosen Mund des greisen Bettlers entschlüpft. "Boron allein heilt jede Krankheit und jedes Gebrechen, wusstest du das nicht? Das Schwarze Spital ist der Totenanger von Rommilys. Doctor Korwid. Man munkelt, dass er... verbotene Dinge erforscht. Leute untersucht, die sich nicht mehr wehren können. Wenn du verstehst, was ich meine. Er sucht Dinge, die sonst keines Menschen Auge zu sehen bekommt. Außer in der Schlacht, wo ich mein Bein verloren habe, im Krieg gegen die Horden der Dämonenknechte. Wer kann schon einem anderen Sterblichen ins Herz blicken? In die Lunge, den Magen, die Leber oder in die Galle? Unter den Schädel oder zwischen die Rippen? Das ist wahrlich gegen den Willen der Götter."
Alrik hatte verstanden. Anatomische Studien. Es gab sogar eine direkte Verbindung zu Raberto. Der Hehler, Dieb und Gauner beschaffte dem Medicus das Eis, um seine Untersuchungsobjekte frisch zu halten. Aus Jodokus Brauerei. Womöglich buddelte er für seinen Geschäftspartner sogar die Kalten Alriks aus oder kannte finstere Gestalten, die diesen Frevel für ihn übernahmen. So genau wusste der Bettler das nicht zu sagen. Dem Mondschatten fröstelte, inmitten des wunderschönen Frühlingstages. Immerhin hatte er sich vor kurzem noch selbst in Korwids Behandlung befunden.
Ein wenig verrückt hatte er schon gewirkt, der Zausel. Aber das Zeichen der Bettlergilde an seiner Schale war eindeutig gewesen. Womöglich konnte man auch in Rommilys über manche Dinge nur dann sprechen, wenn man über die nötige Narrenfreiheit verfügte.
Nun ritt er durch Litzelstadt, vorbei am riesigen Boronanger, mit seinen Grüften und Grabmälern. Jetzt, im Praiosschein, sah das "Schwarze Spital" fast schon freundlich aus. Hühner gackerten auf dem Weg. Ein Fuhrwerk kam ihm entgegen, gezogen von Darpatbullen. Der Baron fragte eine pausbäckige Dienstmagd, die Wasser aus einem Brunnen schöpfte, nach Korwid Alfengrund. Der wohne auf Helbers Hof, Richtung Zwerch, außerhalb der (neuen) Stadtmauer. Am Bienenschrein. Jawohl, ein überaus frommer und göttergefälliger Mann, der schon manches Bauernkind, aber auch Vieh geheilt habe. Fast schon ein Perainegeweihter, der sich rührend um die kleine Kapelle der "gütigen Bienenkönigin" kümmere.
"Bienenkönigin?"
"Gewiss, hoher Herr. Ein Edelmann aus Rommily hat Frau Peraine den Schrein gespendet. Man sagt, Helbers Honig hat ihn mal vor einer schweren Krankheit gerettet."
Alrik war nun doch froh, sein Pferd mitgenommen zu haben. Hinter der Äußeren Mauer, an der noch gebaut wurde, ritt er ein Stück die Straße entlang, vorbei an Kaiser Reto-Pappeln. Links und rechts erstreckten sich Äcker, Obstwiesen, Hecken, Viehweiden. Ein paar Traviapilger kamen ihm entgegen und ein wandernder Zimmermannsgesell. Schließlich zeigte ein Wegweiser Richtung "Helbers Hof". Ein Summen erfüllte die Luft. Neben der Abzweigung, ein besserer Feldweg, standen Bienenkörbe, an denen ein Imker zu Gange war. Das Gesicht war verschleiert, in der Hand qualmte eine Imkerpfeife.
Auch wenn Alrik (und Flocke) das Summen irritierte, brachte der Baron ein Gespräch mit dem Bienenzüchter zusammen. Dessen Name war Arve, er kam aus Helmbrechtstadt und hatte Helbers Bienen übernommen: nachdem der Hof im Krieg niedergebrannt und die Bauernfamilie weggezogen war. Das Haupthaus stand noch. Dort lebte nun Doctor Korwid und kümmerte sich aufopferungsvoll um die Bauernfamilien der Umgebung, die Darpaderos, die Torfstecher des Totenmuhr und die Rommilyser. Ein überaus perainegefälliger Mann. Allerdings sei er gerade nicht zu Hause, sondern in Richtung Berge aufgebrochen, um eine Kräuterhändlerin aufzusuchen. Der Schrein? Ja, der sei vor kurzem von einem wohlhabenden Städter wiederaufgebaut worden. Den Vorgängerbau hätten die Feinde des Rechten Glaubens zerstört, im letzten Krieg.
"Peraine seis geklagt".
Alrik zuckte zusammen, als ihn eine Biene in die Nase stach, wischte sich das Insekt aus dem Gesicht. Auch der Elenviner wurde immer unruhiger.
"Kann ich Herrn Alfengrund etwas ausrichten, wenn er aus den Trollzacken zurückkehrt?" fragte der Imker artig. "Das mag allerdings ein paar Tage dauern."
"Schon recht, ich bin einer seiner Patienten" Der Friedwanger rieb sich die schmerzende Nase, wo sich gerade eine Beule wölbte. "Und hätte da noch ein paar Nachfragen wegen meiner Behandlung."
"Ich hoffe doch, Eure Krankheit ist nichts Ernstes?"
"Sagen wir, die Zorganpocken sinds nicht." Alrik tippte zum Gruß an seinen Federhut. "Ich denke, ich werde ein kurzes Gebet im Peraineschrein sprechen und dann nach Rommilys zurückkehren."
"Möge die gütige Herrin Euch rasch genesen lassen, edler Herr."
"Seid bedankt. Auch Euch noch einen schönen Tag." Der Baron ritt weiter. Tatsächlich, dort vorne lag das Aussiedler-Gehöft, oder das, was davon noch übrig war. Die Nebengebäude waren bis auf einige Steintrümmer zerstört, ebenso die Außenmauer. Nur das Haupthaus stand noch, ein typisch darpatischer Fachwerkbau. Gediegen und freundlich, aber irgendwie zu abgelegen, um nicht das Misstrauen des Mondschatten zu wecken. Wer als Medicus vor den schützenden Mauern von Rommilys hauste: Der war entweder wirklich überaus perainegläubig oder hatte etwas zu verbergen.
Das da drüben war der Peraineschrein. Das Häuschen stand inmitten der Flur und war zur Wegseite hin offen.
Peraine, die gütige Bienenkönigin? Diesen Beinamen der Gütigen Göttin hatte er noch nie gehört. Waren die fleißigen Immen nicht die heiligen Tiere der Norbarden?
Alrik band seinen Braunen an einen Baum, vertrat sich etwas die Beine und ging in Richtung des Feldheiligtums.
Ein kleines, würfelförmiges Gebäude, frisch verputzt, mit Kuppeldach. Bsssrrr. Ein paar Hummeln und Käfer summten umher. Oder war das gerade eben eine Schmeißfliege gewesen? Da drüben, das Wintergetreide auf den Feldern wirkte irgendwie verdorrt, der eine Halm hatte sich schwarz verfärbt. Sah er bereits Gespenster, im Licht der langsam tiefer sinkenden Sonne?
Alrik trat näher. Im Inneren stand ein Altartisch, dahinter eine bemalte Holzstatue der Göttin. Ein großer, eisenbeschlagener Opferstock schien erst vor kurzem aufgestellt worden zu sein - der Größe nach fast schon eine Schatztruhe. Dazu kamen mehrere Wandgemälde. Die Bilder waren im Halbdunkel nur schwer zu deuten: Linkerhand schien eine dunkelblaue Wolke Kornfelder und Obstbäume zu beregnen. In der Mitte ragte eine Gestalt mit Stab und Storchenkopf auf, die Menschen wie Tiere segnete (oder sie heilte?). Zur Rechten knieten Gläubige vor einer Art Bienenstock, aus dem goldene Vielbeiner schwärmten, die zu klein waren, um sie wirklich zu erkennen.
Auf dem Podest stand eine zeitlos schöne, vornehm blasse Frau in grüngoldener Robe, die ihre linke Hand zur Segnung erhob und huldvoll lächelte. Ihr Haupt schmückte ein großer Blütenkranz, mehr eine Herrscherkrone als ein bloßer Kopfschmuck. In der Rechten hielt sie eine Art Topf oder Tiegel.
Alrik trat näher. Eine Schnur umspannte den "göttlichen" Bereich rund um die Statue, auch wenn der Geweihte im Moment keine karmale Kraft spüren konnte. Der Schrein schien nicht konsekriert zu sein, was für Heiligtümer in dieser geringen Größe nichts Ungewöhnliches war.
Die Statue segnete die Gläubigen mit der linken Hand? Tatsächlich. Noch eine andere Merkwürdigkeit fiel dem Mondschatten auf. Die Augen "Peraines" waren vielfach gespalten, wie bei einem Insekt. Eine Bienenkönigin in ihrem Nest.
SIE schien ihn zu mustern. Und dabei wissend (fordernd? herausfordernd?) zu lächeln. Wie kannst du daran zweifeln, dass Ich es wirklich bin? schien ihr facettenreicher Blick sagen zu wollen. Hast du überhaupt kein Vertrauen, Kleingläubiger?
Die Mehrdeutigkeit des Ganzen beunruhigte Alrik mehr, als es wimmelnde Fliegen oder Rattenschwärme vermocht hätten.
Auf den drei sichtbaren Seiten des Podests waren Worte eingraviert: Behüterin - Lebensherrin - Zartfüßige.
Alrik griff nach seinem Fuchsamulett. Zwischen den Großbuchstaben und dem übrigen Wort hatte der Steinmetz ein wenig Abstand gelassen: um das jeweils erste Kusliker Zeichen herauszuheben?
B-L-Z.
Zartfüßige? Er hatte erst Zartfühlende gelesen, aber dort stand wirklich Zartfüßige. Der Name passte eher auf Insekten, als auf eine Göttin des Zwölfer-Pantheons von Alveran.
SIE lächelte noch immer huldvoll. Ein Noionitenlächeln, wie Alrik mehr und mehr fand. Diese Lippen, und die gespaltenen Augen, sie brachten den schleichenden Wahnsinn, wahrlich auf zarten Füßchen. Kein Zweifel: B-L-Z.
"Phex, steh mir bei!" Alrik entflammte den Zunder, mit dem er sonst seine Pfeife ansteckte, und trat näher, ohne auf die Absperrung zu achten.
Das flackernde Licht enthüllte unzählige kleine Löcher, die in die Statue gebohrt worden waren. Holzwürmer? Das feine Bohrmehl auf dem Podest deutete darauf hin.
Ein klopfendes Geräusch drang an sein Ohr. Es kam aus dem Götzenbild. Dazu ein Scharren, Rascheln, Nagen, Schmatzen, das Huschen unzähliger Füßchen durch schleimige, matschige Fraßgänge. Ein fauliger Geruch trat an seine Nase. Der Priester ahnte, dass es im verrotteten Inneren der Statue von Würmern und Maden nur so wimmeln musste.
Der Deckel des Tiegels begann zu vibrieren, obwohl das eigentlich nicht möglich war, bei bloßem Schnitzwerk. Ein wütendes Summen erklang, wie von Myriaden Fliegen. Das Gefäß sollte keinen Topf mit Honig, Saatgut oder dergleichen darstellen... sondern eine Büchse der Pardona.
Der Mondschatten schlug das Phexzeichen und taumelte zurück. Im nächsten Moment hörten die Geräusche (die Visionen?) auf.
SIE lächelte wieder. Uralt. Ungreifbar. Unbesiegbar.
Erst jetzt merkte er, dass das Kupferamulett in seinen klammen Fingern eisig kalt war, niederhöllisch kalt. Fluchend ließ er es los.
Das hier also war der wunderwirkende Wallfahrtsort, zu dem die Rommilyser hätten pilgern sollen, um sich von der Pestilenz zu befreien.
Die Abendsonne fiel Jodokus in den Nacken, als er durch die Gassen zum Hafen ging. Seine Schritte waren beschwingt. Nicht deswegen, dass es leicht bergab ging. Er hatte von den Bütteln erfahren, dass zwei Diebe im Katzloch festgenommen wurden. Nicht nur der steckbrieflich gesuchte Raberto, auch dessen Mittäterin war überwältigt und verhaftet worden. Jodokus hatte nicht zu hoffen gewagt, dass ein Plan doch so reibungslos klappen würde. Nicht, nachdem sich die Gräflichen eingemischt hatten. Aber er hatte da wohl in ein Wespennest gestochen mit seiner Anzeige. Dass dieser Raberto in dem Ruf stand, mehr als nur ein Dieb zu sein, das hatte er nicht gewusst. Wohl aber die Büttel, bei denen Irmelinde ihre Meldung und Anzeige eingereicht hatte. Offenbar hatten Informanten der Obrigkeit zugetragen, dass dieser Raberto eine Bande Katzlocher Diebes- und Raubgesindel anführte. Nur, dass das bislang nicht wirklich belegt war und man dem Gustlfinger konkret nichts nachweisen konnte.
Da war dem Hauptmann die Sache mit der gestohlenen Börse wohl gerade recht gekommen. Ein konkreter Diebstahl, mit einem adeligen Belastungszeugen, da würde jeder Richter mitziehen, und man konnte endlich gegen die Mauerbande vorgehen.
Frohgemut schritt Jodokus die Neuborner Gasse herunter zum Hafen und pfiff leise ein Liedchen vor sich hin. Ein wenig verwünschte er das Kopfsteinpflaster. Mit genagelten Schuhen ein Gefälle auf den runden Steinen zu laufen war unangenehm. Rutschig. Ständig musste man sich mit den Zehen in die Ritzen nahezu festkrallen, um nicht abzurutschen. In der Altstadt, auf ebenem Untergrund und besseren Steinen war das leichter. Er hätte daran denken müssen, besseres Schuhwerk anzulegen. Jodokus war nicht so oft unten am Hafen. Aber er rechnete sich aus, dort Baron Alrik und seinen Hofmagus zu finden. Er war zu neugierig zu erfahren, was es genau mit diesem grünen Gift auf sich hatte.
„Hopp`la“ vernahm er einen Ausruf von hinten, als Jodokus wieder einmal beinahe weggerutscht wäre. „Isch`es glatt?“
Jodokus drehte sich um. Ausgerechnet die Bardin. „Nein, alles in Ordnung. Die Zwölf zum Gruß, Haldana!“ Er verwünschte sich erneut, die falschen Schuhe angezogen zu haben. Mit den rutschigen Schleichern würde er sicher auf dem Parkett eines jeden Balles eine gute Figur machen, aber ein zupackendes Mädel aus der Sichel würde er mit diesen Galoschen sicher nicht beeindrucken. „Schon zurück vom Kampf? Ich freue mir, dass dir nichts passiert ist. Also nichts ernstes“ fügte der junge Adelige hinzu, als er die Schrammen und Kratzer sah, die Marike Haldana bei der Rauferei auf dem Boden des Fingers verpasst hatte.
„Ach, des isch nischts“ wiegelte Haldana ab.
„Wo sind deine Gefährten?“ hakte Jodokus nach, froh, dass nicht seine unpassenden Schuhe thematisiert wurden.
„Die sin` no uf da Wache, wo se die zwei Schurk`n abg`liefert hen. I bin v`rausganga, um B`ron Alrik zum treffa, d`r wollt` sich a weng umseha in d`r Umgebung. Denk` er wird bald in d`n Flussschiffa kumma.“
„Ah ja. Das war auch mein Weg. Dann lass Dich begleiten, Haldana!“ Jodokus lächelte die Bardin an. Einen Moment lang überlegte er, ob er ihr den Arm anbieten sollte. Aber dann unterließ er es. Bei höfischen Damen wäre das Galant angekommen. Bei einer Sängerin und Fechterin wohl eher nicht, da würde es als affektiert aufgefasst werden. Außerdem war er mit seinen rutschigen Schuhen auch niemand, der Halt bieten konnte. „Erzähl, wie war die Arretierung von diesem Schurken. Gab es eine größere Auseinandersetzung?“
„Na wie man`s nimmt. S´war scho viel G`sindl im Fing`r. D`r Raberto war ned alloi. S´scheint, als wär er da Kommandant von so e paar Gauner, di sich selb`r di Mau`rbande nennet. Un sei Gspusi, die Marike, von der da Alrik erzählt hat, war au do. Ziemlich giftig`s Biest. Aba loyal, hat sich mit mehr Mumm vor ihr`n Raberto g`stellt als da Rest von da Mau`rbande. Kräft`g is sie. Hat mir e heftig`s G`fecht g`liefert. Aba da Magus hat ihr nen Stock über`n Schäd`l zog`n.“
„Aha, daher die Blessuren. Ich werde sie mir nachher ansehen, im Flussschiffer. Sind nur Kleinigkeiten, klar. Aber auch kleine Wunden eitern, wenn man sie nicht sauber macht.“ Was sagte Jodokus da? Er war kein Heiler, aber dass die Kratzer und Schürfungen keinen Medicus bedurften, das war ihm klar. Aber sie lieferten einen Vorwand, sich um die Bardin zu bemühen und sich ihr zu nähern. „Und hattet ihr schon Gelegenheit, dem Schurken auf den Zahn zu fühlen? Oder müssen die Büttel ihn noch verhören?“
„N`ja, so viel hat er net g`wisst. Aba des mit der Frau und de Kind`r vom Braumeischta, des stimmt. Die hat`r in Richtung Nüborn bringa lassa. Also nit er. Schätze d`r Gliche, d`r au deine Fäss`r vergift` hat, hat au die Drü i`gsperrt. Aba wo, des hat d`r Raberto net so g`nau gwisst.“
„Neuborn“ wiederholte Jodokus nachdenklich. „Das ist ein gutes Stück entfernt. Richtung Trollzacken.“
Als Jodokus und Haldana den Flusschiffer erreichten, herrschte dort bereits abendliche Betriebsamkeit. Der Tisch für die eingemieteten Gäste war natürlich frei. Jodokus legte seinen Mantel über den Haken, und Haldana legte, sich dabei bückend, sorgfältig ihre Laute auf die Bank. Baron Alrik war offenbar noch nicht da. Also winkte der junge Baernfarn die Schankmagd heran und bestellte erst einmal zwei Krüge Bier.
„Ein Festnahmebier muss sein.“ Erläuterte Jodokus. „Diese Tradition gilt bei den Bütteln nicht ohne Grund, und für die gute Arbeit habe ich ein Fass Rommilyser auf die Wache bringen lassen. Samt Spanferkel. Aber auch Du und deine Mitstreiter haben sich das Bier redlich verdient. Schließlich habt ihr Euch um die Brauerei verdient gemacht. Na eigentlich mehr als das, auch die Stadt Rommilys kann froh sein, dass zwei Schurken weniger im Katzloch umherstreunern. Na denn Prost“
Jodokus hob seinen Krug. Haldana ebenfalls, auch wenn Bier nicht ihr Getränk war. Ablehnen konnte sie ja auch nicht, ohne unhöflich zu sein. Wie immer trank sie langsam und in kleinen Schlucken. Was sie aber nicht daran hinderte, zu reden wie ein Wasserfall - was sie ohnehin oft tat - und in ihrem teils schwer verständlichen Sichler Dialekt über dies und jenes zu erzählen. Jodokus hörte aufmerksam und mit einem Lächeln zu. Besser konnte es kaum gehen, dachte er. So würde er jedenfalls mehr über die hübsche Bardin erfahren und brauchte sich zudem wenig bemühen, ein Gespräch am Laufen zu halten. Nur ab und zu fragte er interessiert nach. Jedenfalls erfuhr er, dass die Sichlerin irgendwo am Rand des Wutzenwald aufgewachsen war. Ihre Eltern schienen auf einem Hof am Gernat zu leben. Aber ab einem gewissen Punkt blieb sie über ihre Familie und Herkunft immer im Ungefähren. Jodokus bohrte nicht nach. Aber er kam zu dem Eindruck, dass Haldana vermutlich eine entlaufene Leibeigene war, und deswegen manche Dinge aussparte. Zumindest drängte sich ihm der Verdacht so auf. Er würde es ja auch nicht offen erzählen, wenn er irgendwo geflohen wäre und vielleicht ein Handlanger seines Grundherren nach ihm suchen würde. Jedenfalls war sie, wie er ja schon wusste, ein echtes Schwarzsichler Original. Eigentlich ein Menschenschlag, der sich nur ungern abseits der heimischen Berge und Wälder bewegte. Warum die Bardin auf Wanderschaft gezogen war, das erzählte Haldana nicht, was Jodokus in seiner Einschätzung bestärkte. Stattdessen erfuhr Jodokus vieles über den Hof, auf dem Haldanas Eltern und Geschwister lebten. Vom Stall mit einigen Pferden, von Kühen und Schafen. Jodokus tat interessierter, als er tatsächlich war. Mehr als die anderen Tiere schien es der Bardin aber die Bienenzucht angetan zu haben. Gut zwei Dutzend Bienenvölker schien es dort zu geben, und anders als die übliche Bienenhaltung, die er von den Zeitlern kannte - immerhin beschäftigten sich einige in seiner Familie nicht nur mit Bierbrauen, sondern auch mit der Herstellung von Meth - hatte man bei Haldanas Leuten angefangen, für die Bienen gezielt Behausungen anzulegen, in denen man gut an den Honig heran kommen konnte. Praktischer als die Haltung in Körben war das allemal, wie Haldana versicherte. Auch hatten ihre Leute es geschafft, Bienen gezielt in den bereitgestellten Behausungen anzusiedeln – anstatt, wie das sonst gemacht wurde, einen leeren Bienenkorb neben einen bewohnten Korb zu stellen und darauf zu hoffen, dass sich nach der Schwarmbildung der Schwarm selbst die bereit gestellte Unterkunft bezog. Offenbar war es möglich, Bienenschwärme als ganzes einzufangen und gezielt in eine bereitgestellte Behausung zu führen. Jodokus hatte sich nie näher mit der Bienenzucht beschäftigt, also kannte er sich nur vom Hörensagen aus. Auch erst jetzt, bei näherem Hinsehen, fiel Jodokus die silberne Kette auf, die Haldana um den Hals trug. Ein Anhänger, der eine kleine Biene darstellte, hing daran. Der musste die letzten Male unter den Gewändern der Bardin verdeckt gewesen sein, sonst hätte er ihn bemerkt.
Jodokus beschloss, nach dem Bier eine Runde Meth zu bestellen. Das würde seiner Gesprächspartnerin vielleicht besser schmecken als Bier.
Haldana erzählte von der weiter von der zweiten Besonderheit auf dem elterlichen Hof. Auch etwas, was Jodokus schon gewusst hatte, dass es das gelegentlich in der Sichel gab. In Haldanas Herkunftshof hatte man auch Hundezucht betrieben. Hunde nicht nur zur Jagd, sondern auch als Schlitten- und Karrenhunde. Das unwegsame Gelände der Sichel und die schmalen Gebirgspfade waren für Pferdegespanne, wie Alrik wusste, oft nicht zu befahren. Hundegespanne jedoch waren schmaler, kleiner. Sicher auch mit weniger Ladekapazität, aber dennoch sicher praktisch. Vor allem da Hundehaltung in einem weidelandarmen, jedoch wildreichen bewaldetem Landstrich durchaus Vorteile bot und sicher auch günstiger war als Pferdehaltung.
Gerade als Jodokus den Meth bestellt hatte, kam Baron Alrik. Und kurz darauf auch Tuvok, Rovik und Hesindian. Fast ein wenig zu früh, bedauerte Jodokus. Aber dennoch lauschte er interessiert, was Baron Alrik heraus gefunden hatte über den seltsamen Peraineschrein, der keiner zu sein schien, wie auch den Berichten der Gefährten - der Angroschim musste sich ein gewaltiges Gefecht mit Raberto geliefert haben, wenn auch nur die Hälfte von dem stimmte, was Rovik in blumiger Ausschmückung zum Besten gab. Haldana hatte sich wieder ein wenig aus dem Gespräch zurück gezogen und spielte nebenher ein paar leise Akkorde auf der Laute, während Rovik seine Geschichte zum Besten gab. Die zwei waren ein eingespieltes Team, dachte Jodokus. Als Erzähler und Musikantin könnten die beiden in Tavernen und auf Märkten so machen Taler verdienen.
Danach war es wieder an Jodokus, etwas zu erzählen.
„Nun, wie es scheint ist uns mit diesem Raberto ein größerer Fisch an den Haken gegangen“ begann er. „Die Verhaftung des Schurken hat Wellen geschlagen. Ich wusste noch gar nicht, dass wir im Katzloch ein Problem mit der Mauerbande hatten. Erst recht nicht, dass Raberto im Verdacht steht, der Anführer dieses Gesindels zu sein. Aber um so besser. Jedenfalls wollten sich einige profilieren mit der Festnahme des Katzlocher Bandenführers. Nicht nur, dass die Palastgarde dabei war. Das geschah auf Eingreifen der Stadtvögtin. Naja, hohe Politik, ich will das nicht weiter ausführen. Es kam der Stadtvögtin zupass, ein strenges Eingreifen im Katzloch auf ihr Panier zu schreiben. Jedenfalls schaut es übel aus für diesen Raberto. Ich denke, der bleibt eine längere Zeit im Kerker… Es haben zu viele einflussreiche Leute von der Sache erfahren und mitgemischt. Und das alles, obwohl bislang nur ein Taschendiebstahl bewiesen ist. Das mit der Mauerbande, klar, er wird da schon mit drin hängen. Aber da ist zu viel Ungefähres und Vages dabei. Im Normalfall hätte sich die Palastwache jedenfalls nicht wegen eines Taschendiebstahls eingemischt. Aber jetzt… nun, der Druck, dass die Aktion auch erfolgreich ist, der ist immens. Wenn ihr versteht, was ich meine. Es ist damit zu rechnen, dass Raberto gestehen wird, der Kopf der Mauerbande zu sein. Selbst dann, wenn er es nicht gewesen sein sollte. Man wird ihn schon entsprechend befragen. Naja. Zur Aussage und zum Geständnis bringen. Und auch für seine Kumpanin, diese Marike, schaut es nicht besser aus. Sie wird eine wichtige Rolle in der Mauerbande gespielt haben. Versteht ihr. Etwas anderes kann kaum heraus kommen bei dem Prozess. Die Palastwache hat sich weit aus dem Fenster gelehnt, und sie wird einen Erfolg vorweisen wollen. Ich meine, wer sich mit den Dämonischen einlässt, der hat es auch nicht anders verdient. Aber formal geht es nur um einen Diebstahl.“
Baron Alrik verstand als erster, was der Stadtadelige meinte. „Also entweder das, oder die Stadtoberen haben vielleicht auf anderen Wegen Wind von der Sache bekommen, dem Giftanschlag meine ich. Aber das können wir ohnehin nicht beeinflussen. Wie du sagst, als Scherge der Verderbten hat er sich das selbst zuzuschreiben. Es wird also letztlich kurzer Prozess gemacht. Man wird ihn aufhängen? Nicht, dass ich jetzt Mitleid hätte. Andere Leute zu vergiften und eine Panik auslösen, mit Dämonenpaktieren gemeinsame Sache machen, dafür hat er den Tod verdient.“
„Ja, kann sein, dass er hängen wird. Nur dass außer uns niemand weiß, dass Raberto hinter dem Giftanschlag auf Dich steht, Alrik. Und vom Versuch, das Bier zu, ähm, panschen weiß überhaupt niemand Bescheid. Jedenfalls kann ich mir das nicht vorstellen. Nun, ich werde dafür sorgen, dass man ihn korrekt befragt. Die Büttel sollen auf jedem Fall von dem schurkenhaften Plan erfahren. Unabhängig davon, ob schon jemand anderes von der Sache weiß oder nicht. Schon allein, damit wir nicht allein auf uns gestellt sind, und dass die Ratsherren gewarnt sind. Es steht zu viel auf dem Spiel. Wir können Rommilys nicht einer solchen Gefahr ausgesetzt sehen.“
Alrik nickte. Mit Raberto hatte er kein Mitleid. Eher schon mit Marike. Um sie war es schade. Eine Streunerin wie er, nur halt mit weniger Glück. Und mit extremen Pech bei der Partnerwahl, wie sich zeigte. Man lässt sich nicht mein jemandem ein, der sich nicht von Dämonischem fernhalten kann. Nun… ein wenig Mitleid empfand Alrik. Aber auch nicht zu viel.
Endlich hatte die Schankmagd den Meth gebracht. Nicht nur zwei Krüge, sondern sechs. Aber Jodokus, so kostenbewusst er im Geschäftsleben war, es reute ihn dennoch nicht. Ohne die spontane Hilfe Baron Alriks und seiner Leibwache hätte seine Brauerei dicht machen können. Nicht auszudenken, wenn sein Bier eine solche Katastrophe ausgelöst hätte. Jodokus stellte zufrieden fest, dass Haldana mehr vom Meth nippte als zuvor vom Bier.
„Nun, ich möchte Euch jedenfalls danken für Eure Hilfe“ nickte Jodokus und hob seinen Krug. „Ohne Eure Warnung und Eure Mithilfe hätte es sowohl um die Brauerei wie auch um die Stadt schlimm ausgesehen.“
„Aber was machen wir nun? Auch wenn dieser Raberto erstmal dingfest gemacht ist… sein Auftraggeber, dieser Gerrich oder wie er sich nennt, ist auf freiem Fuß. Wir wissen weder, wo er sich aufhält noch was er weiter vor hat. Geschweige denn, was er sonst noch plant.“
„Aber wir wissen zumindest die Richtung, in der er die Gefangenen gebracht hat. Richtung Neuborn“ warf Tuvok ein. „Sollten wir in die Richtung nachforschen und herausfinden versuchen, wo die Braumeisterin und ihre Kinder eingesperrt sind?“
„Dass ist aber alles sehr vage. Neuborn ist ja auch nur eine grobe Richtungsangabe“ warf Alrik ein. Wir könnten auch der falschen Perainekapelle auf den Zahn fühlen. Die hat doch jemand errichtet, da gibt es doch sicher falsche Priester oder andere, die man finden könnte.“
„Oder wir forschen in Rommilys nach diesem Gerrich und der Hexe. Die müssen doch irgendwo zu finden sein“ ergänzte Hesindian.
Zu einer Entscheidung wollte sich keiner durchringen. Auch Alrik und Jodokus vermochten sich nicht auf die beste Strategie festzulegen, der der Hofmagus und die drei Abenteurer sicher gefolgt wären.
Stattdessen lauschten alle den Klängen der Laute, auf der Haldana die bekannte Sichler Weise `Vom Friedstein auf Gallys zu` zum Besten gab.