Efferding

Einwohner: Im Dorf Efferding leben etwa 365 Einwohner

Herrschaft: Edler Storko von Gernatsborn-Mersingen ä.H. 

Garnison: Eine bewaffnete Dorfbüttelin. Das Dorf wird selbst nur von einem Weidenzaun befestigt.

Tempel: Efferd-Schrein, Praios-Schrein

Gasthäuser: Schänke "Zum alten Hecht" an einem Steg am See (Wirt Firondrian Muhler fährt noch jeden Tag selbst hinaus); Schänke "Zur vollen Reuse" (Wirtin Efferdiane Welsfang, trotz des eigenen Namens und dem der Schenke ein wasserscheues "Bauernkind")

Beschreibung:

Das Dorf Efferding ist ein beschauliches, wenn auch abgelegenes Stück Heimat an einem Vorgebirgssee (Orkensauffe) in der Baronie Friedwang. Würden die Wolken nicht gar so tief über dem Gewässer hängen und wäre dieses weniger tief und unergründlich, könnte es hier richtig gemütlich zugehen.  

Im Dorf an der Orkensauffe - benannt nach dem Ergebnis einer Schlacht des Praiosheiligen Alboran von Baliho gegen eine Horde Schwarzpelze - lebt man zu einem Gutteil von Fischfang und wenn man sich einmal die den glucksenden graublauen See umgebenden Nadelwälder und Berge wegdenkt, könnte hier am Fuße der Schwarzen Sichel einen Augenblick lang so etwas wie "Dergelmund-Stimmung" aufkommen.

Der kleine Efferdschrein in unmittelbarer Nähe zum See war lange Jahre verwaist (der ehemalige Efferdgeweihte Myrion Seerufer ist samt Novizin vor ein paar Jahren ausgewandert). Obschon dieser aus Holz ertrunkener Bäume besteht, gelang es Borbaradianern bei einem Überfall 1027 BF nicht, ihn in Brand zu stecken. Mittlerweile steht ihm der junge Priester Manegold von Salmfang vor, der aus dem Tempel der Rauschenden Wasser bei Albenhus in die Mark entsandt worden ist (geb. 1023 BF). Derzeit sammelt er Spenden für den Bau eines Heiligtums auf der Insel Fischermanns Freund. Der Praiosschrein am Dorfplatz wird exakt alle zwölf Tage durch den glaubensstrengen Luminifer Ucurian Lansborn aus Friedwang besucht.

Die Orkensauffe und ihre Sagen:

Gnitze, Forelle, Barsch und Karpfen, aber auch Darpathecht und Wels tummeln sich reichlich in der Orkensauffe; dass es hier Neunaugen oder gar einen Zwergkrakenmolch geben soll ist ebenso wenig bewiesen wie das Gerede von einem  "Ungeheuer" in der Orkensauffe, das mal als eher drachenartig mal als gewaltiger Raubfisch, dann wieder als eine Art Seeschlange oder Riesengrottenolm und schließlich als Mischung aus allem beschrieben wird.

Berühmt ist die Orkensauffe für das Echo der Felswände. Am Nordufer - einige Fischer behaupten steif und fest gelegentlich eine unverständliche Antwort gehört zu haben, als sie zu den grauen Felswänden hinauf gerufen haben. Die Schiefermahre sollen es sein, vielleicht aber auch die schöne Lula, eine Wassernixe, deren Begegnungen mit jungen Fischern gelegentlich recht "gießenbornisch" ablaufen.

Sicher ist, dass es am felsigen Nordufer zahlreiche Höhlen gibt, von denen die meisten überflutet sind und sich einige tief ins Gebirge hinein erstrecken. Der hauptsächlich durch Grundquellen gespeiste See dürfte hier oben der tiefste der Baronie Friedwang sein; Messungen haben nahe den Felsen Tiefen von bis zu 150 Schritt ergeben. Nassloch nennen die Einheimischen diesen dunklen Abgrund im Norden und Nordosten des Sees. In der Mitte des Sees werden hingegen selten einmal zwanzig Schritt Abstand bis zum Grund erreicht. Der südliche und westliche Uferbereich ist auf mehrere hundert Schritt Breite sehr flach und Untiefen eine stete Unbill für den Schiffer. Der "ertrunkene Wald" im Südosten gilt als besonders gefährlich - und sei es nur weil er Boote dazu zwingt, ihm großräumig auszuweichen und dabei weit auf den See hinauszufahren. In den Namenlosen Tagen soll sich die Wassertiefe manchmal auch im Flachwasserbereich erhöhen - wohlgemerkt an den Stellen wo kurz zuvor noch wenige Schritt gemessen wurden färbt sich das Nassloch in ein blutiges Purpurrot, öffnet sich ein Tor das geradewegs ins Unterwasserreich der Feen und Nixen führt heißt es, ein Mahlstrom entsteht und verschlingt den Fischer, der so verrückt war sich in der unheiligen Zeit auf den See zu wagen. Aber auch unter dem Jahr ist die "Sauffe" ein gefährlicher Ort. Oft steigt überraschend Nebel auf. Stürme sind zwar selten kommen meist aber überraschend und sind dann ob der steilen Ufer nicht zu unterschätzen. Gleiches gilt für die tückischen völlig unberechenbaren Strömungen.

Die höchste Erhebung am Seeufer ist ein beliebter aber nicht ungefährlicher Ort für Rahjaschwüre. Zweimal so heißt es, erscheint der Geist der "Klippenfrau" einem eidbrüchigen Liebhaber oder einer ungetreuen Geliebten um ihn oder sie zu mahnen auf den Weg der Treue zurück zu kehren. Beim dritten Mal nimmt sie das Opfer mit ins Wasser. Einen dämonischen Hintergrund scheint die  grünhaarige "Ulcho" zu haben, die Gegenspielerin der schönen Lula, die Fischer auf den See hinaus lockt, um sie hernach ins Wasser zu stoßen, mit ihrem algenteppichartigen Haar zu umgarnen und darin zu ertränken. Vor allem bei nebligen Vollmondnächten soll man ihren leisen traurigen und überderisch schönen Gesang hören können. Der "sprechende Wels" und der  Netzflicker sind weitere Sagengestalten - wobei letzterer eine Art hilfreicher Klabauter sein soll. Über Nacht bessert er die schadhaften Netze der Fischer aus, aber es kommt auch vor, dass er "Bösewichtern" unter Wasser das Fanggerät zerreißt. Dann gibt es noch die Seemutter oder "See-Seele", angeblich soll die Orkensauffe selbst ein beseeltes Wesen sein, wie der große Fluß oder Väterchen Darpat, ja an seinem tiefsten Grund umgeben von Wassergeistern und Nixen Hof halten. Selbst manch alteingesessenen Efferdingern geht dieser "sokramorische Aberglaube" dann doch zu weit, zumal dann wenn dem See "als Tochter der Berggöttin" alle möglichen Opfergaben dargebracht werden.

Im See finden sich noch mehrere kleinere Sandbänke und eine mehrere hundert Schritt durchmessende Insel, letztere als beliebter Rastort "Fischermanns Freund" genannt, liegt anderthalb Meilen vom Dorf entfernt im See. Hierher haben sich während der Besetzung durch die Borbaradianer die meisten Efferdinger auf Fischerbooten geflüchtet. Der Westteil der Insel, der Alde Kopp, ist sehr felsig, die Mitte bewaldet, der Osten Schwemmland mit Büschen und Weiden bedeckt. Von der richtigen Perspektive aus betrachtet, erinnert die Insel an einen riesigen Schwimmer mit einem Dreizack aus kleineren Felsen an der Seite, so dass der Name womöglich den Unergründlichen selbst meint. Im Nordwesten unterhalb der Klippe gibt es eine Grotte, die früher Effardsmund genannt und heute als verflucht gemieden wird. Hier wurde durch Anhänger der Unbarmherzigen Ersäuferin ein Insanctuarium errichtet, Anfang Travia 1034 BF aber durch die Schatzgarde unter Hauptmann Storko von Gernatsborn-Mersingen zerstört. 

Die Schlacht gegen die Schwarzpelze dürfte im Schilfgürtel am Südwestufer ausgefochten worden sein, denn bis heute findet sich dort immer wieder einmal ein Orkschädel oder die rostigen Überreste eines Krummsäbels. Längst legendär ist der Fund eines kleinen goldenen Rings durch den Bauern Golo Dappert beim Angeln auf dem See, der mit einem bosparanischen Adler verziert war. Niemand zweifelt daran, dass es sich dabei um den Siegelring des Praiosheiligen Alboran Haldorin handelt. Dieser Fund im Jahr 12 vor Hal war auch der Grund für den Bau des  Praiosschreins  in dem "Alborans Ring" seither verwahrt wird (34 Hal im Jahr des Feuers zerstört, wurde die Kapelle am Dorfplatz mittlerweile wieder aufgebaut). Ein großes Ehrenbild erinnert in ihr an die 8 "Efferdinger Blutzeugen", die beim Überfall durch die Galottaanhänger und ihre rotpelzigen Schergen verschleppt und wahrscheinlich ermordet wurden. Das von Maler Menzel Pulverberger geschaffene Gemälde zeigt die Märtyrer, wie sie auf Greifen in Richtung Alveran fliegen - wo sie bereits der Heilige Alboran von Baliho erwartet. 

Am 18. Phex, dem Tag der Schlacht gegen die Schwarzpelze, sollen die Geister der ersäuften Orken als flackernde fahle Totenlichtlein über dem See schweben. Ein vergleichsweise harmloser Spuk ist da der "Geist in der Bucht", der einem das eigene Spiegelbild im Wasser Fratzen schneiden lässt - wobei nicht klar ist wo sich diese ominöse Bucht genau befindet. Sm Nordwestufer des Sees hat sich einmal eine geschwängerte und sitzengelassene Fischertochter fünfzig Schritt mitsamt ihrem "Bankert" in die Tiefe gestürzt.

Am Ostrand der Orkensauffe wächst, so sagt man, die seltene magische pflanze Kairan in dichten wogenden Gürteln knapp unter der Wasseroberfläche. "Flüsterwasser" nennen die Eingeborenen diesen Teil des Sees. Jeder der so mutig oder verzweifelt ist hier nach dem wertvollen Schachtelhalm zu tauchen erlebt seltsame Dinge - wenn er seinen Wagemut überlebt, von leisen Stimmen, tiefem Seufzen, betörender Musik und bunten Visionen ist die Rede. Oft verlor der Taucher ob solcher Trugbilder Verstand und Orientierung gleichermaßen und ertrank jämmerlich.

Bewohner:

Etwa die Hälfe der Dörfler sind Fischer mit zum Teil erstaunlich großen Kähnen und Schelchen.

Xavert Wolpjan ist der Dorfschulze des Ortes (tatsächlich ist es eher seine kluge Gemahlin Girte, die für den braven aber einfältigen Xavert die Amtsgeschäfte führt). Die bewaffnete Dorfbüttelin Hildelind Donfanger kümmert sich um Recht und Ordnung im Ort.

Häufige Familiennamen: Orkenschläger, Muhler, Welsfang, Nöcking, Dappert, Wutzenwalder, Holzenschuh.

Geschichte:

Das Dorf befand sich lange Jahre im Besitz der Edlen Duridanya von Meining-Sichelhofen, die jedoch lange als vermisst gilt. Im Jahre 1034 BF wurde daher Storko von Gernatsborn-Mersingen ä.H. zum Edlen des Dorfes ernannt, zur Belohnung für seine Heldentaten. Dem damaligen Hauptmann der Schatzgarde war es gelungen auf der Insel Fischermanns Freund ein Unheiligtum der Tiefen Tochter auszuheben sowie eine Bande frevlerischer See-Räuber zu besiegen. 

Schratenwald

Der Schratenwald ist weitgehend unerschlossener wilder Wald im westen der Baronie Friedwang, der auch ins Zweimühlener Land und die Baronie Gallys ragt. Er geht weiter gen Efferd nahtlos in den Wutzenwald und im Norden in den Drachenwald über. Im Süden, Baronie Gallys, wird er auch schwarzer Wald geheißen. Der Name Scratus meint im Bosparano ursprünglich wohl einfach Waldgeist, Schratenwald soviel wie Geisterwald. Einst ein Teil des mächtigen mittelaventurischen Urwalds, teilt der Schratenwald viel von dem schlechten Ruf seines "berühmten Vetters", dem garethischen Reichsforst. Uralte Steineichen knarren hier, feuchtes Schratmoos streicht durch das Gesicht des einsamen Wanderers, bizarre Schieferformationen, Sumpflöcher und Tobel erschweren neben Wurzeln, Ranken und Dickicht das Fortkommen; auch im Hochsommer wallt hier morgens und abends oft dichter Nebel.

"Verflucht" soll er sein, der Schwarze Wald wie er auch genannt wird - und die Zauberer wissen, dass "widir arc", der elfische Name des Erzdämonen widharcal eben dies bedeutet "schwarzer Wald". Anders als bei seinen "Namensvettern" in Tobrien halten sich Dämonenmanifestationen und die Pervertierung der Natur hier allerdings in Grenzen - auch wenn Anhänger des Schänders der Elemente in der Vergangenheit mehrmals versucht haben sollen, dies zu ändern. "Verwunschen" ist der Wald auf jeden Fall. Der Karnmann geht hier um und haust in der Irminsumûl, einer hohlen Eiche, die tausend Jahre alt sein mag oder älter. Ein alter Waldschrat späht tief im Inneren des Waldes nach denen, die sich an seinen Bäumen zu vergreifen wagen. Die silberrückige Waldlöwin vom Schratenwald reißt gelegentlich im Dorf Schneiß oder in Kunibaldshofen ein Schaf oder eine Ziege. An den Namenlosen Tagen soll im grauen Dunst noch das Bellen des "Hunds vom Schratenwald zu hören sein - als Wiederhall aus den Niederhöllen, in die der Inquisitionsrat Parinor Rukus von Oppstein die Bestie geworfen hat.

Manch Weg führt einen hier zu von grünen Wasserlinsen bedeckten Tümpeln, Bächlein, die auf keiner Karte verzeichnet sind, in Felsspalten, tannichtes Unterholz, auf mit Hexenpilzen bestandene Lichtungen zu archaischen Kultstätten - oder geradewegs in die Feenwelt. Der majestätische eiskalte Waldensee, ein Gewässer von mehreren Meilen Durchmesser, war früher Heimat eines Auelfenstammes; aber deren Dorf Loskarn wurde 1020 BF durch Schergen des Barons Gernot von Friedwang-Glimmerdieck niedergebrannt. Nach dem Krieg haben sich im heutigen Kunibaldshofen Waldbauern aus dem Osten angesiedelt; die letzte Zählung ergab eine Bevölkerung von 60 Seelen. Heute mögen es bereits deutlich mehr sein.

Die Wasserburg Loskarnossa, dreieinhalb Meilen weiter Firunwärts durch eine Brücke mit dem Festland verbunden, ist in der ganzen Baronie Friedwang als Spukschloss verschrieen. Der Vogt Tiro von Friedwang-Glimmerdieck-Havensgaard wird sowohl bewundert als auch ein wenig eigen angesehen. Das Schloß gehört seit 1021 BF hochoffiziell dem Bund der Schwarzen Sichel. Über ein fallgattergesichertes Wassertor kann man auch vom See her in die Burg gelangen - eine Erinnerung daran, dass die heute so trutzig-abweisende blutblattüberwucherte Anlage in der späten Eslamidenzeit vor allem dem Vergnügen der friedwanger Barone gedient hat, die von hier aus zu Bootsausflügen auf den See aufgebrochen sind. Dessen in Ufernähe von grünen Wasserlinsen, Binsen, Schilf und Seerosen bedeckte Oberfläche hat aber auch etwas sehr Romantisches an sich - gäbe es da nicht den einen oder anderen Zwergkrakenmolch in seinen kühlen Tiefen.

Das Gut Loskarnossa erstreckt sich auf das Gebiet um das Dörfchen Kunibaldshofen - auf der Karte noch unter seinem alten Namen Loskarn eingezeichnet. Das von Tiro verwaltete Gebiet umfasst den gesamten Waldensee sowie dessen Ostufer bis einschließlich der Hügelkette im Nordwesten, dem "schwarzen Jargel" gen Süden und dem "weißen Jargel" im Südosten. Der westlich gelegene schwarze Jargel verdankt seinem Namen den Umstand, dass er ein ruhiges, trübes, von bäumen beschattetes Gewässer ist, während der weiße Jargel im Osten recht schnell und über zahlreiche Steine schäumend dahinfließt. Das westliche Seeufer ist im Grunde Niemandsland. Irgendwo da drüben zwischen den legionen knorriger baumriesen beginnt die Baronie Wutzenwald - wo genau wissen die götter.

Im Umkreis der Loskarner Höhen, die den See im Norden begrenzen und einen guten Überblick über den Schratenwald erlauben, wird heute verstärkt Holzfällerei betrieben. Die gefällten Stämme gelangen über eine hölzerne Rutsche zum Waldensee, werden dort zu Flößen zusammen gebunden und nach Kunibaldshofen verschifft. Dort bringt man sie mit Karren zur Sägemühle am Jargel unweit Nordenheim. Langsam aber sicher kehrt damit so etwas wie Zivilisation in die einst so verrufene gegend am Waldensee ein. Jenseits der Loskarner Höhen wagt sich allerdings kein Holzknecht, Jäger oder Waldbauer in das ewige sattgrüne Halbdunkel des Waldes hinein. In letzter Zeit wurden dort wieder verstärkt die Lagerfeuer herumstreifender Orkbanden gesichtet die man seit dem Krieg gegen die Schwarzpelze eigentlich aus der Baronie vertrieben wähnte. Der Weg zwischen Nordenheim und Loskarnossa gilt heute als einigermaßen sicher. Wo noch vor einigen Jahren Gefahren durch Waldwölfe, Orks, dem bereits erwähnten "Hund vom Schratenwald" oder Wegelagerern drohte. Berüchtigt war die Bande des "Schwarzen Müllers Grome, der unter Umgehung des Mühlenbanns irgendwo am Bach ohne Namen, wie der "schwarze Jargel" sinnigerweise auch genannt wird, zwischen See und Jargel das Korn mahlte und in seiner "Blutmühle" einigen der übelsten Halsabschneidern der Gegend Freistatt bot. Besagte Schwarzmühle wurde unter Baronin Tsalinde zerstört. Mögen sich auch hartnäckig Gerüchte halten dass sie in den Wirren der letzten Jahre stillschweigend wieder aufgebaut wurde. Heute vermengen sich die Sagen über die Schwarze Mühle zunehmend mit Schauermärchen über die Seelenmühle, wie das Sägewerk der Karrers zur Zeit der Schreckensherrschaft genannt wurde. Seit dem Jahr des Feuers steht das Bauwerk am Jargelbogen westlich Nordenheim an einem nebelverhangenen Sumpf, in dem "etwas haust". Ortskundige umgehen den Pfuhl weiträumig - zumindest sollte man vermeiden, etwas in das blubbernde Loch hineinzuwerfen, auch wenn es geradezu dazu einlädt. Was in ihm schlafende Mächte wecken oder gar als Opfergabe dienen könnte.

Die warunker, die das Sägewerk als Vorposten gegen Loskarnossa besetzt gehalten hatten, sollen hier mehrere Gefangene grausig zu Tode gebracht haben. Ans Mühlrad zum Knochenbrechen gebunden, aufgeschlitzt und mit Sägemehl ausgestopft oder bei lebendigen Leib zersägt, wie es in der "schauerlichen Moritat von der Seelenmühle" heißt. "Ritsch-Ratsch, denn die Säge, die hat Zähne hat sie nicht allein zur Zier. Ritsch-Ratsch sägt die Arme sägt die Beene. Ritsch-Ratsch liegen draußen vor der Tür, denn die Säge, die hat Zähne, warte warte nur ein Weilchen, bis Merwans Messer kommt zu Dir.

Da Friedwang auf die Produktion von Baumaterialien angewiesen ist, werden in der Mühle noch immer Baumstämme zu Brettern und Balken weiter verarbeitet. Die Sägemeisterin Traviane Fuxfell und ihre beiden Gehilfen gelten in der Baronie darob als "Knüppelhartes Gespann", denen es einfach vor nichts graut. Was Wunder, hat Traviane doch in der dritten Dämonenschlacht mitgekämpft - und bei einigermaßen klarem Verstand überlebt. Besitzer der Mühle ist übrigens der der Orden des heiligen Golgari in der nahen Rabenmark - was ihren Ruf bei der abergläubischen Bevölkerung nur wenig aufgehellt hat. Gelegentlich wird hier der eine oder andere große Schröter gesichtet - wohl Nachkommen des "Junker Jupp", eines halbzahmen Riesenhirschkäfers, der von den Dreckigen erschlagen wurde. Die "Hirschköppe" gelten als Glücksboten und "Gesandte" des Karnmanns, der bekanntlich ebenfalls ein stattliches Geweih trägt.

11. Kapitel

11. Kapitel

Das Unwetter vom Kurgasberg

 

Sanft knisterten die Flammen der Pechfackel, die Korwid entfacht hatte.

Der Medicus duckte sich und betrat den Stollen. Alte Spinnweben strichen ihm durchs Gesicht, ebenso Wurzelwerk. Grüner Farn hatte den Eingang zur Mine fast zu gewuchert. Ein paar verrottete Bretter mit rostigen Nägeln lagen im hüfthohen Gras: eine Erinnerung daran, dass der Zugang einmal verrammelt gewesen war. Auf einer der durchgemorschten, graubraunen Bohlen war sogar noch die Farbe zu erahnen. Irgendein verirrter Geweihter hatte einmal Bannzeichen hinterlassen, an diesem vermeintlichen Zugang zu den Niederhöllen.

Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren. Doctor Alfengrund kam das Zitat eines horasischen Poeten in den Sinn. Der Rommilyser lächelte spöttisch. Volkstümlicher Aberglauben, nichts weiter. Ein Pestmännchen sollte tief im Inneren des Berges hausen, und die Bergleute vertrieben haben, aus Zorn, dass sie in ihrer Gier nach Silber immer weiter in sein Reich vorgedrungen waren. Angeblich hatte der Kobold eine große, grüne Wolke aufsteigen lassen, die Sieche und Tod brachte. Vielleicht saß dort unten auch das Pechmanderl, das den Kindern die Augen verklebte, mit Zirbenpech, um sie zum Schlafen zu bringen. Wer wusste das schon?

Einen Moment lang starrte er tatsächlich in vollkommene Schwärze, bis sich seine Augen an das Wechselspiel von flackerndem Fackelschein, Schatten und Dunkelheit gewohnt hatten. Der Gang roch muffig, das Regenwasser war, auf leicht abschüssiger Strecke, tief in den Stollen hineingelaufen. Dahinter war es im Berg angenehm trocken, sogar warm, jedenfalls im Vergleich zur feuchten Höhenluft draußen. Eine Ratte ergriff die Flucht. Rötlich spiegelte sich der Fackelschein an den Wänden.

Im Boden waren verrottete Holzschienen zu erahnen, die nur noch Stolperfallen waren. Vorsichtig und gebeugt folgte Korwid dem Verlauf des nicht ganz mannshohen Tunnels. Die Stützbalken wirkten morsch, waren krumm und hie und da umgestürzt, so dass man sie übersteigen musste. Einsturzgefährdet schien der Stollen aber nicht zu sein. Der Medicus musste nur darauf achten, nicht gegen die niedrige Decke zu stoßen. Wann immer er das graubraune Gestein streife, bröckelte sacht Steinstaub herab, manchmal auch das eine oder andere Steinchen.

Er blickte zurück, zum Eingang, wo der wolkenverhangene Bergwald der Trollzacken noch zu erahnen war. Irgendwo in der Ferne heulten Wölfe, gefolgt vom Grollen eines Gewitters. Vielleicht war es auch ein schwerer Steinschlag, der gerade ins Tal donnerte.

Die Silbermine vom Kurgasberg. Alfengrund hätte sich schon unter Tage unwohl gefühlt. Aber das einstige Bergwerk befand sich auch noch inmitten götterverlassener Wildnis. Das Geisterdorf zu Füßen des Kurgas- oder Kurgansbergs, es war kaum mehr als eine armselige Ansammlung von Ruinen und Steinhaufen, überwuchert von Gestrüpp. Die Pecher, die in der Gegend verstreut das Baumharz ernteten - sie waren der Meinung, dass der Berg wie ein geduckter, buntbemalter Trollzacker aussah, auf seinem Reittier: ein Kurga eben, zumindest wenn das Sonnenlicht merkwürdige gezackte Muster auf die Flanken zeichnete. Beilfels wurde der Ausläufer genannt, an dessen Fuß sich der Eingang zur Unterwelt befand.

Niemand wusste mehr zu sagen, ob das Geisterdorf da unten, neben dem Geröllfeld des türkisfarbenen Loderbachs, wirklich einmal Kurgasberg (oder Kurgansberg) geheißen hatte. Die Pechhacker, in ihren abgelegenen Berghütten, waren froh, mit dem einstigen Dorfplatz überhaupt so etwas wie einen Lebensmittelpunkt zu besitzen. Wo sie ihr Pech verkaufen konnten, das sie manchmal in Butten zu Tal trugen, auf dem eigenen Rücken, gelegentlich auch mit einem Schlitten oder auf einen Esel gepackt. Drei bis vier Ernten gab es im Jahr. Ein, zwei Mal kamen die Händler aus Rommilys und füllten die klebrige Ware um. Dann herrschte Festtagsstimmung in der Bergeinsamkeit.

Korwid kannte diese Welt zur Genüge. Eines Tages, er war noch keine zehn Götterläufe alt gewesen, hatten sie ihn nach Rommilys mitgenommen, die Pechhändler. Seinen Eltern abgekauft, um genau zu sein, diesen armen Hungerleidern. Mutter war krank gewesen, der Winter hart und ein Heiler teuer. Sein Opfer war nicht umsonst gewesen, hatte er später erfahren.

Billige Arbeitskräfte waren in der Fürstenstadt begehrt. Niemand war billiger als die schmutzigen, zotteligen, in Lumpen gehüllten "Trollkinder" aus den Bergen. Rommilys war groß und prachtvoll, eine Stadt mit vielen Kaminen.

Als Schornsteinfeger hatte er seine steile Karriere begonnen, gerade klein und schmächtig genug, um für die hohen Herren in den Kamin zu klettern und ihnen aufs Dach zu steigen.

Es gab jede Menge Schläge und Fußtritte vom Meister. Staub und Asche legten sich auf die Lungen, wenn man sich kein Tuch vor Mund und Nase band. Der Blick über die Dächer von Rommilys, bis zum Schloss und zu den Darpatfällen, entschädigte für einiges. Es war ein Anblick, der Ehrgeiz in einem Trollkind wecken konnte, das mit seinem rußverschmierten Gesicht einem kleinen Schwarzpelz fast noch ähnlicher sah als einem jungen Bergschrat.

Korwid konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als er seinem Wohltäter begegnet war. Im Adelspalais in der Bockengasse war das gewesen, wo er öfters die Aschekruste von der Innenwand des Kamins kratzte. Der hohe Herr und seine Gemahlin hatten ihn sofort gemocht, aus jenen unerfindlichen Gründen heraus, die vom ersten Augenblick an ein Band der Sympathie zwischen Menschen zu knüpfen vermochte. Eines Tages hatte sich Wolpert, der junge, unerfahrene Teckel des Herrn, in einen Dachsbau verirrt, vor den Toren der Fürstenstadt. War steckengeblieben, jaulte und winselte zum Göttererbarmen. Alles Graben war vergeblich. Seine Wohlgeboren hatte Korwid herbeiholen lassen, wohl wissend, dass der sich vor Schmutz, Dunkelheit und Enge nicht fürchtete. Als er in den Schlund der Erde gekrochen war, Wolpert gerettet und dessen Blessuren verarztet hatte, Dachsbisse gingen tief - da war das Eis zwischen ihm und seinem Wohltäter endgültig gebrochen.

"Wir beide haben vieles gemeinsam", hatte der Edelmann zu ihm gesagt. Einen Moment lang hatte sich Gerrich an seinem Erstaunen geweidet, als er, der hohe Herr, ihm, den armen, erdverschmierten Trollbergbub, begütigend die Hand auf die Schulter gelegt hatte: eine blasse, vornehme, zarte Hand mit einem silbernen Siegelring, den ein Steinbockwappen geziert hatte. "Du musst wissen, ich beschäftige mich ebenfalls mit der Schwarzen Kunst - zumindest sagen mir übelmeinende Leute das nach. In Wahrheit möchte ich einfach nur hoch hinaus. So wie du. Das sehe ich dir an. Denn ich sehe vieles, was andere Menschen nicht sehen. Auch diese Gabe haben wir gemeinsam."

Gerrich Praionald von Friedwang, Edler zu Rommilys. Ein Magier, der aufgrund von Madas Gabe, die immer auch ein Fluch war in den praiosfürchtigen Landen, auf sämtliche Güter und Lehen hatte verzichten müssen, wie es ein altes Gesetz aus der Rohalszeit verlangte. Niemand wusste so recht, woher Gerrichs glänzenden Golddukaten kamen, nur dass er reichlich davon hatte, im Friedwanger Haus in der Bockengasse.

Eine Ausbildung, ein anständiges Leben, hatte ihm der Herr zur Belohnung versprochen, welchen Beruf - welchen wahren Beruf er auch immer ergreifen wolle. "Medicus" hatte Korwid wie aus der Armbrust geschossen gesagt und sich über sich selbst gewundert.

Korwid ging tiefer ins Dunkle hinein, das im Lichtschein immer mehr zurückwich.

Ganz von ungefähr kam sein Interesse an Körpersäften, am verborgenen Innenleben von Mensch oder Tier nicht.

Er war ja der Sohn eines Pechers, und hatte von Kindesbeinen an erlebt, wie Vater tiefe Wunden in die Stämme von Fichten, Kiefern und Föhren geschlagen hatte, mit seiner Dechsel und anderen Werkzeugen, die mehr an Foltergeräte erinnerten. Von den Scharten aus war das gelbbräunliche Blut der Bäume in die Pechbecher getropft. Gerade so viel, dass der alte Baum am Leben blieb. Als Kind war ihm das ungemein grausam und eigennützig vorgekommen. Fast schon ein wenig perainelästerlich. Aber es hatte ihn auch - fasziniert. Es gab viele Methoden, Pech zu gewinnen: manchmal musste man dazu mit einer Leiter den Stamm hinaufsteigen. Manchmal wurde unten einfach nur ein "Schrott" ins Holz geschlagen, um dort das Harz zu sammeln.

Der spitze Stab, mit dem der aufgehackte Stamm geputzt wurde, er wurde zugleich als Kerbholz genutzt, das anzeigte, aus wie vielen Bäumen das künftige Pech bereits tropfte. Rowisch, nannten die Pechhacker das Werkzeug, eines von vielen. Wie ein mächtiger Zauberstab war ihm dieser Holzstab vorgekommen, damals, in seinen Kindertagen. Gerrichs fein gedrechselter Stab hatte ihn auf Anhieb daran erinnert. Etwas auf dem Kerbholz haben: Das Sprichwort hatte er nie richtig verstanden. Was anderen als Makel erschien, war für ihn ein Maßstab für Erfolg.

Kerbholz, das Wort klang für ihn wie Kerbhold: Der Ketzer, der im Goldenen Wald die Menschen zum Unglauben an den Namenlosen verführt hatte und zur Strafe auf einen Fliegenden Felsen verbannt worden war. Schon als Jüngling hatte er über die Sage eher gelächelt. Kerbhold, der Name wirkte eher trollig als bedrohlich. Kein Wald war golden, außer das klebrige, übelriechende Harz. Aus dem auch der Bernstein entstand, der angeblich PRAios, dem Herrn, heilig sein sollte. Wie konnte Harz dem Götterfürsten heilig sein, wenn es kleine, unschuldige Ameisen, Fliegen und andere Insekten umfloss, erstickte und für immer in einem goldenen Kerker einschloss, wie er es selbst schon gesehen hatte? Ein durch die Lüfte fliegender Fels, die Vorstellung war ohnehin lächerlich gewesen (nun, diesbezüglich war er eines Besseren belehrt worden, damals in Wehrheim).

Wie auch immer. Die Sache mit dem Kerbholz hatte ihn nie ganz losgelassen. Er trug noch immer so einen Rowisch bei sich, auch jetzt, im Gürtel, neben dem Dolch. Eine feste Tradition, vielleicht auch eine Marotte. Nach jeder Sünde, nein, nach jeder vermeintlichen Missetat, hinterließ er dort eine weitere Kerbe, nach jedem echten Frevel ein Sternchen. Es war, als würde damit die Sünde auf das Holz übergehen. Die erste Kerbe hatte er sich erworben, als er seiner dummen, kleinen Schwester beinahe das Auge ausgestochen hatte, beim Ritterspielen. Ein Versehen.

Nun ja, vielleicht nicht ganz ein Versehen.

Die Accademia Magica Curativa, die Anatomische Akademie zu Vinsalt. Dort hatte Korwid seinen "Dottore" erworben, an der "weltlichen" Fakultät, mit Mühsal und Fleiß. Und dabei reichlich Gelegenheit gehabt, Menschen die "Rinde" abzuziehen. Die anders als die Bäume von Kurgasberg nicht mehr der Sphäre der Lebenden angehörten. Getreu dem Wahlspruch des Instituts: Hic gaudet mors succurrere vitae. Hier ist der Ort, wo der Tod dem Leben freudig zur Hilfe eilt.

Es war eine wunderbare Zeit gewesen, vor den Toren des horaskaiserlichen Palasts, in der Tausendtürmigen Stadt. Der Unterschied zur erstickenden Enge und Finsternis, die zuhause, im Raulschen Reich herrschte - nicht nur in den Kaminschächten, sondern auch in den Köpfen ihrer Besitzer - hätte kaum größer sein können. Ganz abgesehen von den vielen anderen Reizen des Lieblichen Feldes: Amore, Vino, Lautenklang und Opernsang. Der laue Sommerwind, das Zirpen der Zikaden, die prachtvollen Gewänder, die vornehme Lebensart. Die Erinnerung an die verschneiten Trollzacken war damals so unwirklich gewesen wie eine Moritat über die Zwölfgöttliche Verdammnis.

Mit Dottore Corvidio Albigundi, pardon, Doctor Alfengrund war ein anderer Mensch nach Darpatien zurückgekehrt, in mehr als nur einer Hinsicht. Eine Zeitlang hatte das einstige Kaminfeger-Kind schon auf Dere wie in Peraines Paradies gelebt.

Auch wenn bei weitem nicht jeder im Spital oder Tempel Verständnis für horasische Heil- und Forschungsmethoden aufbrachte. Heiler, die unter einem Dach mit Magiern Peraines Kunst erlernten? Heiliger Therbûn, steh uns bei! Bücher mit Geheimwissen, aus dem Reich der Rastullah-Anbeter, einschließlich einem tiefen Blick in die Leiber der Sterblichen? Praios bewahre!

Hätten diese Frömmler geahnt, wie oft er selbst zum Seziermesser gegriffen und das aufgeschnittene tote Fleisch mit Haken offen gehalten hatte, damals in Vinsalt - wahrscheinlich hätten sie ihn sofort hinauf zum Greifenplatz gezerrt. Oder gleich lebend beerdigt, drüben auf dem Boronanger.

Doctor Alfengrund hatte sich beizeiten zu verstellen gelernt. Sich mit einem Schutzmantel und einer Storchenmaske umgeben, auch im übertragenen Wortsinn. Hatte sich gewappnet, gegen das Miasma der Krankheit ebenso wie gegen die Ausdünstungen falsch verstandener Götterfürchtigkeit. Dennoch, schon seine niedere Herkunft hatte an ihm geklebt wie unsichtbares Pech. Selbst wenn diese Neidhammel und Ignoranten nicht die ganze Geschichte kannten. Sie ahnten wohl, dass er nur durch einen mächtigen Förderer in die feinsten Kreise der Fürstenstadt aufgestiegen war. Die Großzügigkeit, mit denen er dabei den Armen und Ausgestoßenen half, eingedenk seines eigenen Schicksals, reizte seine Feinde fast noch mehr, als wenn er fürstlicher Leibarzt geworden wäre.

Natürlich hatte Korwids schwindelerregender Aufstieg vom Niemand zum geachteten Bürger seinen Preis gehabt, wie alles im Leben. Gerrich hatte sich die Originalformel des TRANSMUTARE ausbedungen, die damals noch in der Accademia verwahrt worden war - ein profaner Verschönerungszauber, mit dem man die menschliche Gestalt über längere Zeit verändern konnte. Der entsprechende Geschäftszweig der Akademie war damals aufgelöst worden, wegen "mangelnder Ernsthaftigkeit der Forschungen", wie es hieß. Die Beschaffung des Folianten war verblüffend einfach gewesen, in einer Zeit des Chaos, als sich mit der lukrativen Einnahmequelle der "Fakultät" auch deren Ordnung aufgelöst hatte: das erste, wohlverdiente Sternchen auf seinem Rowisch.

Gerrich, sein Förderer. Erst nach und nach hatte er begriffen, dass ihm nicht nur seine Adelsgüter verweigert worden waren. Vor vielen Jahren hatte er auch sein Zaubersiegel verloren und die sogenannte Expurgico erlitten, den Ausschluss aus der Gilde. Seitdem hatte der "Hexer von Rommilys" neue Wege gefunden, den Inhalt seines Dukatensäckels aufzubessern. Von Glücksspiel war die Rede und all zu guten Kontakten zur Unterwelt von Rommilys. Korwid war es gleich. Wohin moralische Gefallsucht den Menschen bringen konnte, das führten ihm die bornierten, engstirnigen Rommilyser Perainediener jeden Tag aufs Neue vor Augen.

Dann war der fürchterliche Bethanierkrieg über Darpatien und das Reich hereingebrochen. Gerrich hatte sich verändert, Korwid nicht, auch wenn einige das behaupteten. Ein Krieg war im Grunde nichts anderes als ein Skalpell, das alles Morsche, Verrottete und Schwache wegschnitt - und das Innerste des Menschen zeigte, wie er in Wirklichkeit war. Hässlich, stinkend, ekelerregend. In diesem Fall half nur nüchterner, kalter Verstand über die Abgründe hinweg.

Den musste sein Mentor aber irgendwann verloren haben, in den letzten, unseligen Götterläufen. Spätestens als Lorena, seine Gemahlin, umgekommen war, in einem der vielen Hunger- und Pestwinter. Sisa, dieses verruchte Hexenweib, hatte sicherlich ihren Anteil daran gehabt. Sogar von einem finsteren Pakt mit den Mächten der Anti-Peraine war die Rede. Korwid beurteilte selbst solche Dinge nicht moralisch. Wer so verzweifelt war, seine Seele den Niederhöllen zu verpfänden, der hatte seine Gründe. Aber Wahnsinn war noch einmal etwas völlig anderes, auch und gerade da, wo er schleichend in die Herzen der Menschen kroch.

Gerrich und Sisa waren verrückt, daran hegte er nicht den geringsten Zweifel. Das Schlimmste war, dass er, Korwid, Ihnen womöglich sogar die Ideen zu ihren wahnwitzigen Plänen eingeflößt hatte. Dieses groteske Fliegende Fass der Hexe: Was war es mehr als eine Nachäffung von Galottas Fliegender Festung, deren Zerstörungswerk er in Wehrheim selbst erlebt hatte? Erlebt und überlebt. Gerrich und seine Mätresse hatten seine Erzählung vom grauenhaften Untergang des "Stählernen Herz des Reiches" einfach nur - interessant gefunden.

Der Schmuggel dieses grünen kriechenden Schleims im Pech aus Kurgasberg: Letzten Endes war es Korwids Leben, sein altes Leben, in das sie sich nun immer mehr einmischten. Das Unheiligtum der Faulenden Monarchin des Ewigen Siechtums, das hatten sie ihm geradewegs vor den Gutshof gestellt. Schlussendlich der TRANSMUTARE: Die Thesis hatte er Gerrich beschafft, der damit vor allem sein Aussehen hatte verjüngen wollen.

Korwid hegte allerdings den Verdacht, dass Gerrichs vermeintlicher Enkel Golo nicht einmal der echte Junker von Gießenborn war. Der sollte schon vor vielen Jahren umgekommen sein, als Jünger des Namenlosen. Womöglich verbarg sich hinter dem Wiedergänger nur ein armer, ehrgeiziger Narr, der als Spielzeug in Gerrichs (oder Sisas) Klauen geraten war. So wie es ihm geschehen war, dem einstigen Pechvogel aus Kurgansberg. Ein neuer Jünger, den sie nun nach Belieben formen konnte, im Wortsinn. Einem Gerücht zufolge sollte es sich dabei um einen von Golos verflossenen Liebhabern handeln. Der wahrscheinlich auch noch stolz darauf war, nun mit schiefen Hals und selemitischer Visage über Dere zu schlurchen.

Das war alles nur noch Wahnwitz und Bosheit, ebenso wie die Räuberbande, die sich unten im Geisterdorf eingenistet hatte, und die armen Pecherdrangsalierte. Aber vielleicht hatte Gerrichs Wahnsinn auch Methode. Heiratsfähige Nachkommen waren das Kapital eines Edelmanns, ebenso wie dessen Güter. Anders als sein Großvater sollte Golo über Ländereien verfügen, irgendwo in der Sichel. Man munkelte, dass der Edle zu Rommilys seinen Enkel partout unter die Haube bringen wollte, natürlich lukrativ.

 

Korwid erreichte nun die Stelle, wo ein "Hunt" auf den Schienenreste ruhte, ein hölzerner Wagen, dessen eiserne Beschläge völlig verrostet waren. Im Inneren der primitiven Lore befand sich sogar noch etwas Abraumschutt.

Der Medicus zwängte sich vorsichtig durch die Engstelle hindurch. Nach einigen Schritten kam er zu einer Abzweigung, die nach links führte. Erschrocken duckte er sich, als scharrend ein schwarzer Schatten an der Decke entlang flatterte. Eine Fledermaus, nichts weiter. Unten in der Zweiten Sohle hatten sie ihre Kolonie, wo sie kopfüber hingen, als Geschöpfe der ewigen Nacht.

Korwid schluckte und hielt die Fackel höher, seine Waffe im Kampf gegen die Finsternis. Der Nebengang, dem er nun folgte, erinnerte ihn irgendwie an die Kamine von Rommilys, in die er damals hineingekrochen war. Ein kurzes Stück lang musste er sich auf allen Vieren fortbewegen.

Dort vorne war er auch schon: der Aufzug hinab in den Kerker, in den er Selina und die Kinder hinabgelassen hatte. In der unteren Sohle gab es keinen Ausgang. Natürlich hatte er den Gefangenen Talglichter, Wasser, Brot, Schinken und Käse mitgegeben. Sogar Decken. Aber Korwid musste zugeben, dass sein Vorgehen grausam gewesen war.

Die Seilwinde war in einem erstaunlich guten Zustand, ebenso wie das Seil selbst - vermutlich lag es an der trockenen Luft. In der Ecke lag sogar noch ein fast intaktes "Arschleder", mit dem die Bergleute einst in den schrägen Schächten nach unten gerutscht waren. Er griff nach dem kleinen Kerbholz in seinem Gürtel. Die Verschleppung der Familie des Braumeisters war die letzte Kerbe gewesen.

Die Handhaspel sah aus wie eine Brunnenwinde, der kreisrunde Schacht darunter führte senkrecht in die Tiefe. Am Seil war ein schlichter Holzkasten befestigt, der als Aufzug diente.

 

"Selina". Korwid rief lauter: "Selina!"

I-na. I-na-I-na.

"Selina Krummbacher?!"

Acher, acher, acher, seufzte das Echo. Nichts, keine Antwort. Nicht einmal Kinderweinen, wie beim letzten Mal.

Der Medicus nahm einen kleinen Stein und ließ in die Tiefe fallen. Klackernd prallte er von den Seitenwänden ab. Ein dumpfes Pocken zeigte den Aufschlag an. Besonders tief war der Schacht nicht. Immer noch keine Reaktion, kein Licht, keine Stimmen.

Der Medicus leckte sich über die trockenen Lippen. Was wollte er hier überhaupt?

Nach seinen Gefangenen sehen, sicher... und dann?

"Selina Krummbacher" sagte er halblaut und wartete, bis das matte Echo verklungen war.

"Versteht mich richtig...ich, also mir...es geht mir vor allem um Eure Sicherheit..."

Eit...eit...eit...

Befreien. Vielleicht wollte, sollte er seine Opfer ja befreien. Und dann selbst fliehen?! Seine Gedanken überschlugen sich.

Wie war er überhaupt so weit gekommen? Er war doch kein schlechter Mensch. Verlor er selber schon den Verstand? "Dottore Corvidio Albigundi" musste zugeben, dass er, der große Heilkundige aus dem Horasreich, sich wenig mit Krankheiten des Geistes auskannte. Die waren nun mal ein Fall für die Noioniten. Oder man schickte sie den Darpat hinunter, zur Halle der Austreibung nach Perricum. Dort wäre ein irrer Magier wie Gerrich sicher gut aufgehoben gewesen.

Sein "Gönner" hatte ihn beauftragt, Mutter und Kinder nach Kurgasberg zu bringen und sicher einzusperren, zu deren eigenen Sicherheit. Vielleicht machte das sogar Sinn. Wenn demnächst das Chaos in Rommilys losbrach, konnten die Krummbachers ihm sogar dankbar sein.

Vielleicht wusste der Magier ja doch noch, was er tat. Ihm verdankte sein Schüler doch alles. Natürlich würde Korwid sich niemals auf einen Pakt einlassen. Im Krieg hatte er oft genug erlebt, was Dämonenbündelei bedeutete. Aber dennoch, er hatte auch miterlebt, über welche Macht die Siebte Sphäre verfügte.

Wer heilt, hat Recht.

Wenn Peraines Macht begrenzt war, und das war sie nun mal, nach allem, was er die letzten Jahre erlebt hatte. Nun, da musste sich der wahre Heiler eben mit Mächten zusammentun, die selbst in ausweglos scheinenden Fällen noch helfen konnten. Ohne ihnen dabei zu verfallen. Wenn diesen Spießbürgern im Spital Borons Gebote wichtiger war als das Wohlergehen ihrer Patienten, wenn sie eine kalte, ausgebuddelte Leiche höher schätzten als das Leben ihrer Schutzbefohlenen, dann verdienten sie ein wenig Chaos und Geschrei.

Noch immer tat sich da unten nichts. Korwid begutachtete die Winde. Den beiden Kurbeln nach zu urteilen war sie wohl mal für zwei Bergleute gedacht gewesen. Der Medicus war sich keinesfalls sicher, ob er es schaffen würde, die stämmige Brauersgemahlin durch den Schacht wieder nach oben zu bekommen. Die Kinder, ja, die schon...

"Heee!" rief er nun nach unten, fast schon etwas zornig. "Wo seid Ihr?"

E-e-e. Ir...irr...irr....

"Ihr braucht keine Angst zu haben."

Aben. Aben. Aben.

Er warf sein Kerbholz hinab. Stille.

Klackernd schlug es auf.

Dann wieder Stille.

 

So wurde das nichts. Waren seine Schützlinge am Ende geflohen? So gut kannte er das alte Bergwerk auch wieder nicht. Es gab ein paar schräge Schächte, die runter auf die zweite Sohle führten - eben jene, für die die Bergleute ihren Lederschutz gebraucht hatten. Aber sie waren so steil, dass ein Mensch unmöglich wieder hinaufklettern konnte, ohne Hilfe von oben. Oder etwa doch?

Einen Moment lang wurde ihm heiß und kalt. Wenn die Drei fliehen konnten, und es bis nach Rommilys schaffen würden: sein Ruf wäre für immer ruiniert. Niemand würde seine wahren Beweggründe verstehen.

Es gab nur eine Möglichkeit, sich Klarheit zu verschaffen: Er musste da runter. Und danach musste er auch wieder hinauf. Nun, er kannte sich aus, mit dem Klettern in engen Schächten und Schlöten, aus der Zeit als Rommilyser Schornsteinfeger. Mit einem Seil und schrundigen Seitenwänden, so wie hier, war eine solche Kletterpartie zu schaffen.

Er stellte die Fackel in den "Aufzug" und kurbelte ihn hinab. Langsam sank das Licht in die Tiefe.

Dann prüfte er noch einmal die Festigkeit des Seils, das einen zuverlässigen Eindruck machte, und schwang sich hinüber, über den Schacht. Einen Moment lang hing er zitternd im Nichts, suchte mit den Füßen Halt. Ein bisschen war er doch aus der Übung. Das morsche Hanf ächzte. Wenn es jetzt riss. Korwid wollte gar nicht daran denken. Ebenso wenig wie an den Wiederaufstieg.

Langsam schwand seine Unsicherheit. Nach und nach hangelte er sich nach unten, auf den Fackelschein zu, und musste dabei nicht einmal seine Füße zu Hilfe nehmen.

Erstaunlich schnell kam er auf der unteren Sohle an und nahm die Fackel an sich. Wieder ein alter Stollen. Auf dem Boden lagen der Brotbeutel, der Wasserschlauch und die Decken. Von den Talglichtern war nichts zu sehen. Also hatten sie sich wirklich auf die Suche nach einem Ausgang begeben.

Im Fackelschein offenbarten sich immer mehr Abzweigungen nach links und rechts. Korwid wurde ein wenig nervös. Das war ein regelrechtes Labyrinth, in dem er sich auf keinen Fall verlaufen durfte. Als Kinder hatten sie öfters in der Mine gespielt, trotz des strengen Verbots, aber das war oben, auf der ersten Sohle gewesen, immer in der Nähe des Eingangs. Naja, gespielt - eigentlich waren es eher Mutproben gewesen. Viel zu sehen gab es oben nicht, der Hauptgang war ein paar Dutzend Schritt hinter dem "Hunt" eingestürzt. Die wenigen Seitengänge endeten an blankem Fels. Nur ein paar Schächte führten hie und da nach unten.

Er war zum ersten Mal so tief unten - und erstaunt wie weiträumig der untere Teil des Bergwerks war, ganz anders, als er es sich damals vorgestellt hatte. Das Licht der Fackel wurde ein wenig schwächer, und Korwid nervös. Ewig konnte er hier unten nicht herumsuchen. Und ja, die Fackel würde er auch nicht mehr den Schacht hinauf bringen. Das bedeutete, dass er sich in vollkommener Dunkelheit würde zurücktasten müssen. Keine besonders erfreuliche Vorstellung.

Noch ein paar Schritt, und der Medicus stellte fest, dass auch dieser Gang eingestürzt war. Felsbrocken und Stützbalken hatten ihn vollkommen verrammelt. Korwid schluckte. Lagen seine Gefangenen am Ende darunter begraben? Irgendwie war schwer abzuschätzen, wie lange der Einsturz her war, zumindest im Flackerlicht seiner Fackel. Besonders staubig wirkte die Luft nicht.

Er wollte erneut nach den Krummbachers rufen, war sich aber keinesfalls sicher, ob dann nicht der Rest der Decke herunterkommen würde. Lawinen konnte man mit Geschrei auslösen. Er leuchtete mal in diesen, mal in jenen Gang. Fast überall lagen schon Felsentrümmer herum, hie und da war ein Stützbalken umgesunken wie eine vorgereckte Hellebarde.

Peraineverflucht, er hatte sich auf die Vernunft der eingekerkerten Krummbachers verlassen. Er blickte nach Markierungen, Pfeilen, Kreuzen oder anderen Orientierungshilfen. Nichts.

 

Langsam wurde es hier unten gruselig. Fast schon konnte er die Quader an Felsgestein, die über ihm lagen, körperlich spüren. Die Fackel brannte immer mehr herunter. Eine Ahnung von Panik breitete sich in ihm aus.

Er blickte um sich. Die meisten Quergänge sahen wirklich nicht sehr einladend aus. Um nicht zu sagen lebensgefährlich. Das musste doch auch Selina sofort begriffen haben.

Dort, der große Durchgang. Das Tragwerk schien einigermaßen intakt zu sein. Er beschloss, den Gang auf gut Glück zu folgen. Er endete in einer Aufweitung und an einem schrägen Schacht, der in die Tiefe führte.

Es gab noch eine dritte Sohle? Waren diese Narren am Ende da hinunter gerutscht? Noch ehe Korwid einen weiteren Gedanken fassen konnte, flackerte die Fackel kurz auf und verglühte.

Schwer legte sich Schwärze vor seine Augen, so überraschend, dass er nicht einmal Furcht empfand. Die vollkommene Stille und Finsternis hatte fast schon etwas Angenehmes. Nur würde es nicht auf Dauer so sein. Es war, als hätte ihm das Pechmanderl tatsächlich die Augen zugeklebt. Blind. So fühlte es sich also an, blind zu sein.

Was jetzt? Er konnte immer noch zurück, in den unteren Hauptgang, sich zum Seil tasten und wieder hinaufhangeln... wobei Klettern in vollkommener Nacht nun wirklich ein Wagnis war. Ein Absturz, ein Knochenbruch, und sein Ende würde überaus qualvoll sein. Qualvoll und langwierig. Als Futter für die Ratten, noch vor seinem Ableben.

Er konnte auch in den Schacht hineinrutschen, aber was würde es ihm bringen? Außer dass er irgendwann endgültig in den Tiefen des Kurgasbergs verschwand.

Einen Moment lang bestand die Welt nur noch aus dem Geruch von verbranntem Pech und dem Geräusch seines Atems. Ebenso aus der Angst, die langsam in ihm hochkroch. Luft, er brauchte Luft. Frische Luft, nicht diesen ewigen Gruftodem hier unten.

Boron. Natürlich. Der Herr der rabenschwarzen Finsternis war gekommen, um ihn zu holen. Ihn zu bestrafen, für seine Sünden.

Ein mattes Wimmern entrang sich seiner Kehle.

Lebendig begraben. Die gerechte Strafe für Grabräuber und Leichendiebe. Oder für deren Anstifter.

Nur langsam beruhigte er sich. Feuerstein, Stahl und Zunder. Damit hatte er die Fackel entfacht, am Eingang. Er hatte das Kästchen bei sich, in der Hosentasche. Erst nachdenken, dann handeln, darauf kam es an. Sich gründlich besinnen. Nur keine Panik.

Ratschend schlug Stahl gegen Stein. Funken sprühten in der Schwärze. Nach einigen bangen Augenblicken brannte der Zunderschwamm. Vorsichtig spähte er im Lichtschein nach dem Rückweg. Nichts wie raus hier.

Eine bleiche, hasserfüllte Fratze starrte ihn, sofort gefolgt von einem wütenden Angriff.

Es war Selina, die ihn mit dem spitzen Kerbholz attackierte, mit flackernden Augen. Und sie war kräftig.

Der Zunder fiel zu Boden und erlosch. Auch das Kästchen verschwand in der Finsternis. Schmerzhaft schrammte das Holz über Korwids Gesicht. Er stieß die verrückte Brauersgattin zurück - und taumelte selbst nach hinten. Dann fiel er ins Bodenlose.

Die Rutschfahrt im Schacht wäre schon unter besten Bedingungen unangenehm gewesen. Nun schlitterte er rücklings in vollkommener Dunkelheit in die Tiefe, den Kopf voran. Schrammte mal gegen die Wand, ruckelte mal über einen Höcker im Boden. Irgendwie schaffte er es sich auf den Bauch zu drehen: Bei der Landung wollte er sich wenigstens abfangen können, mit den Händen.

Sein Höllensturz dauerte quälend lange. Dann verschwand die Felsröhre um ihn herum, und er flog hinaus ins Nichts, wie eine Balestrinakugel. Ehe er das durchaus faszinierende Gefühl auskosten konnte, packte in Sumu und warf ihn hart und mitleidlos auf blanken Stein.

Ein paar Steinchen klackerten noch hinterher, dann herrschte wieder Stille.

Stille und Schwärze, durchzuckt von grellen Lichtblitzen. Das war der Schmerz. Sein Kopf dröhnte, die Glieder schmerzten.

Korwid tastete sich ab. Seine Gewänder waren zerfetzt, die Hände zerschrammt, ebenso das Gesicht und die Beine. Gebrochen war nichts. Wo das Kerbholz ihn getroffen hatte, blutete seine Wange. Er hatte sehr viel Glück gehabt, trotz allem.

Langsam beruhigte sich das Lichterspiel vor seinen Augen. Bis auf ein grünliches Zwielicht, das partout nicht weichen wollte.

Einen Moment lang befürchtete Korwid, dass sein Hirn einen dauerhaften Schaden davon getragen hatte, aber da vorne war wirklich Licht. Ein sanftes Gluckern und Plätschern war zu hören.

Der Medicus schöpfte neue Hoffnung und kroch los, wie ein Verdurstender in der Wüste, der eine Oase (oder eine Fata Morgana) entdeckt hatte. Ein muffig riechender, rissiger Balken versperrte ihm den Weg. Vorsichtig ertastete er sich einen Durchgang und stieg über das Hindernis. Steinbrocken kollerten unter seinen Schritten umher und ließen ihn immer wieder straucheln.

Das grüne Licht wurde heller. Korwids Zuversicht kehrte zurück.

Tatsächlich, da vorne war ein Ausgang. Ein Durchbruch.

Der Bergwanderer schwankte hindurch, und stand im nächsten Moment in einer natürlichen Höhle. Eine unregelmäßig geformte Tropfsteinhöhle, durch die ein kleiner Bach floss. Wasser war gut, er hatte wirklich Durst. Korwid trank einige Schluck, wusch seine Schrammen und Kratzer. Das koboldsgrüne Licht war seltsam. War er am Ende in die Höhle des Pestmännchens geraten?

Er folgte dem Wasserlauf. Die Kaverne weitete sich zur Säulenhalle. Der Bach wurde zum Grottensee. Wie Drachenzähne hingen Stalagtiten herab oder ragten Stalagmiten um ihn herum auf. Fledermäuse flatterten die Decke entlang.

Wie merkwürdig die Felsen geformt waren. Der dort drüben sah aus wie ein riesiger Totenschädel, dessen Maul geradewegs ins Nichts zu führen schien. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihm breit, nicht Angst. Eher Traurigkeit. Mattigkeit. Unwohlsein. Als wäre der Dumpfschädel oder eine andere Krankheit im Anmarsch. Korwid hustete.

Seltsame Zeichen waren an die Höhlenwände geschmiert. Bilder von bärtigen Riesen, die zu einer Geflügelten Gottheit beteten. Ein Götze mit unzähligen Beinen und Insektenflügeln. Vielbeiner in allen Variationen. Eine Art Kessel, aus dem grüner Rauch dampfte.

Wo kam das Licht her? Der Bach schien hinter dem See weiter zu verlaufen. Vermutlich führte er zu dem Wasserfall, den man vom Geisterdorf aus sehen konnte. Der Loderbachfall. Von dort her drang wirklich etwas Zwielicht in die Höhle.

"Habt Ihr Euch verlaufen, Doctor?" Eine spöttische Stimme, die von überall her gleichzeitig zu hallen schien. Der gewaltige Schatten eines Gehörnten ragte an der Felswand auf. Korwid zuckte zusammen. Ein Schwarm Ratten nahm fiepend Reißaus.

Der Medicus merkte, wie sich ihm endgültig die Nackenhaare aufstellten. Reflexartig griff er zum Dolch.

Ein verschrumpelter Apfel rollte Korwid vor die Füße.

"Alrik und Gritta, verirrten sich im Wald. Es war so finster, und auch so bitter kalt"

Nein, es war kein Dämon, der hier grollte. Sisa Brundel stand neben dem See. Die Hörnerhaube und die dunklen Hexengewänder ließen sie tatsächlich wie ein Wesen aus einer anderen, grausameren Welt aussehen. Sie hatte das Obst mit ihrem Besen geschlagen, als wäre es ein Imman-Korkball.

"Ich habe euch etwas mitgebracht, von einer Hochzeitsfeier. Das Geschenk eines einfältigen Bauern."

Der Anatom hob den Apfel auf. Auf der einen Seite sah er recht lecker aus, rot und saftig. Aber Korwid musste ihn nur ein klein wenig drehen, um die faule, wurmstichige Seite zu entdecken.

"Nun, welche Seite gefällt Euch lieber, Leichenschnippler?" Sisa lachte auf. Ihren grünen Augen leuchteten, fast im selben Farbton wie die Höhle. "Vor allem, was macht Ihr hier? Wolltet Ihr nicht auf eure Gefangenen aufpassen?"

"Ich habe sie oben in der zweiten Sohle eingesperrt."

Sisa hatte ihren Kessel dabei und packte allerhand Zauberutensilien aus: Kreide, Kerzen, übelriechende Kräuter, Pilze, Edelsteine, ein Fläschchen. Ebenso eine große Schriftrolle.

"Eingesperrt? Ihr selbst steht inmitten des Allerunheiligsten. Also erzählt mir nichts von - eingesperrt, Dottore Corvidio Albigundi. Denn ich bin sicher, Ihr seid nicht auf die selbe Weise hierhergelangt wie ich. Könnte ich den Apfel bitte wieder haben? Wenn Ihr ihn nicht verspeisen wollt, benötige ich ihn als Paraphernalium. Bei der Fäulnis von Mishkara, wie seht Ihr denn aus?"

 

"Selina hat mich einen Schacht heruntergestoßen. Eine Verkettung unglücklicher Umstände, mehr nicht." Korwid rollte den Apfel zurück. Sisa hob ihn auf und ritzte mit dem Fingernagel irgendein finsteres Zeichen hinein.

"Wer? Ach so, das Weib des Braumeisters. Und nun ist sie geflohen, mitsamt ihren Bälgern? Korwid, ich bitte Euch - das war keine Kriegerin oder Geweihte. Nur eine dumme kleine Spießbürgerin aus Rommilys. "

"Ich glaube nicht, dass sie das Seil hinaufkommt, das ich verwendet habe. Man muss schon ein überaus geschickter Kletterer sein."

"Der sich nicht bei erstbester Gelegenheit übertölpeln lässt, gewiss. Es gibt noch einen weiteren Schacht, in dem man nach oben gelangt, mit einer Leiter. Nach ganz oben, hinauf zum zweiten Eingang. Ebenso führt von dort ein Aufzug herab, nach ganz unten."

"Zweiter Eingang? Davon weiß ich nichts. Und ich kenne mich in der Gegend wirklich aus."

"Glaubt mir, ich auch. Immerhin steht mein Haus gleich über dem Loch. Wie sagt man dazu noch gleich? Ich glaube Pinge. Ihr wisst schon, der Trichter, der entsteht, wenn eine Grube teilweise einstürzt. Das Bergwerk ist gewissermaßen mein Keller. Aber ich kann euch beruhigen. Am Riesenfass von Rommilys kommt so schnell niemand vorbei. Es sei denn, ich will es so."

"Diese Krummbacherin ist schlau. Ich muss zugeben, ich habe sie sträflich unterschätzt. "

"Wenn es Euch beruhigt: Ich werde einen Trollberger zum Beilfelsen schicken, der nachsieht und die Drei wieder einfängt. Am Ende verheddern sie sich noch im Netz meines kleinen Haustierchens. Sicherlich ein saftiger Happen für die vielbeinige Tempelwächterin. Wenn sie nicht schon vorher von den Gruftasseln gefressen werden. Es wäre schade um das schöne Blut."

Korwid schluckte. "So wollt Ihr das Ritual also wirklich vollführen? Ich wusste gar nicht, dass man dafür... dass es dafür Menschenopfer braucht."

"Nun, die Zeremonie fordert vor allem astrale Kraft - und dafür benötigen wir Blutmagie. Leider ist Gerrich ein wenig ausgebrannt, nach der letzten Begegnung mit Eurem Patienten. Er hat sich in den Kopf gesetzt, unbedingt seinen Enkel zu verheiraten...ach, das ist eine längere Geschichte. Es gab einen Kampf, am Darpat, mit Müh und Not konnten wir das Schiff retten. Wenn auch kaum mehr. Um ein Haar hätte dieser Jodokus auch noch meine arme Glibberta ertränkt." Sisas Augen loderten vor Hass, als sie die Kröte aus ihrem Körbchen holte, gefolgt von einem liebevollen Blick. Die Hexe drückte ihrem Vertrautentier einen dicken Kuss aufs Maul - ohne sich dabei die eigenen, bläulichen Lippen zu verbrennen.

"Dieser herzlose Schurke. Wenn sich Glibba nicht auf einen vorbeitreibenden Ast gerettet hätte... wer weiß, wie das ausgegangen wäre... das wird mir Jodokus büßen, dafür werde ich sorgen...ich werde ihn persönlich den Loderbachfall hinunterstoßen. Ihm vorher die Haare herausreißen, jedes einzeln, die Fingernägel ziehen, die Zehen zerquetschen, die Augen herauskratzen. Von den Flüchen ganz zu schweigen. Leiden soll er, leiden. Ich werde..."

"Wolltet Ihr nicht sein Bier mit diesen Hektabeloiden vergiften?"

"Sicher, das wäre die sanftere Variante gewesen, um die Rommilyser zur Unterwerfung zu zwingen. Aber der Wind steht heute Nacht günstig, um die Grüne Wolke geradewegs in die Grafenstadt zu treiben. Der Sieche Regen wird der Herrin gefälliger sein als diese umständliche Vergifterei. Ihr wisst, was ich von allzu langen Incubationszeiten halte. Auf diese Art lässt sich am besten Angst und Panik erzeugen: Wenn es aussieht, als ob sie alle gleichzeitig die Zorganpocken bekommen. Zu Tode trampeln wird sich das Pack, es wird ein wundervolles Heulen und Wehklagen geben."

Korwid wich ein wenig zurück. "Die Rede war nur von einer Lektion, nicht dem Untergang von ganz Rommilys, im Schleimregen."

"Oh, das habe ich ganz vergessen, werter Herr Medicus. Euer Haus ist zwischenzeitlich in Flammen aufgegangen, ebenso wie der Schrein der Bienenkönigin. Die Häscher haben sich längst auf Eure Fersen geheftet. Ihr könnt nicht mehr allzu wählerisch sein - und nicht mehr allzu zimperlich."

 

Alrik hatte den Gefährten nur eine kurze Ruhephase gegönnt. Gerrich hatte einen Vorsprung, und seine Gefangenen waren in Gefahr. Nachdem er von Haldana erfahren hatte, wie diese den Hexer mit ihrer Taktik des Zeitverzugs geschwächt hatte, und nach dem, was er in all den Jahren von Hesindian über das Wirken schwarzer Magie - zumindest theoretisch - erfahren hatte, befürchtete der Friedwange, dass die Gefangenen Wanderprediger in Lebensgefahr sein könnten. Er wusste nicht, ob sein schurkischer Verwandter Blutmagie beherrschte oder gar darauf zurückgriff. Ausschließen konnte er es jedoch nicht, dass ein geschwächter Schwarzhexer in der Not sich auch der Blutmagie bediente, und so sah er, anders als am Vorabend, Grund zur besonderen Eile. Nun, am Vorabend, bei Dunkelheit und erschöpft vom langen Ritt, wäre eine Verfolgung letztlich nicht möglich gewesen, beim besten Willen nicht. Nun aber wollte Alrik keinen längeren Aufschub dulden.

Eine halbe Tagesreise stromabwärts sollte dieses Kurgasberg liegen. Bis dahin würden jedenfalls ihre Kleider nach dem abermaligen Durchreiten der Furt durch den Darpat wieder trocken sein. Immerhin, ausgerüstet war die Schar für eine mehrtägige Unternehmung in den Trollzacken. Proviant, Seile, Decken und einiges mehr hatte Rovik, der emsige Zwerg, am Vorabend trotz der späten Stunde noch aufgetrieben. Und so ritten die Gefährten in den ersten wärmenden Praiosstrahlen am rahjawärtigen Darpatufer entlang.

Für Alrik war es immer noch ein seltsames Gefühl, in der jungen Haldana nicht mehr eine abenteuerlustige Bardin, sondern eine angehende Baronin zu sehen. Anfangs hatte er sich gefragt, warum Haldana und ihre Gefährten sich dann für einige Silberlinge Sold der Queste angeschlossen hatten. Aber dass die junge Adelige nach ihrer Abschlussprüfung an der Markgräflichen Knappenschule ein Rohalsjahr eingelegt hatte, nun ja, sicher nicht das Alltäglichste für eine angehende Baronin, aber auch nicht gänzlich ungewöhnlich. Vermutlich wollte Haldana auch einfach ein Jahr lang frei von allen sonstigen Verpflichtungen sein. Wenn er sich da an seine Brabaker Zeit erinnerte - sicher, er hatte sich sein „Rohalsjahr“ nicht freiwillig ausgesucht. Aber er mochte die Erinnerungen daran und vor allem auch die Erfahrungen daraus nicht missen. Sich damals in den Gassen behauptet und durchgesetzt zu haben, dagegen waren manchmal die Verhandlungen mit den Dorfschulzen und Edlen in Friedwang das reinste Ogermethschlecken. Die Erfahrungen damals hatten ihn durchaus fit gemacht für seine Aufgabe als Baron. Warum also sollte eine ähnliche Erfahrung Haldana nicht gleichermaßen nützlich sein? Wobei er, wie er den Erzählungen der Bardin - in Gedanken war sie für ihn immer noch mehr Bardin als Baronin - ihr Rohalsjahr vor allem auch dazu nutzen wollte, ein Jahr lang sie selbst sein zu können. Als Baronin erwartete sie - das wusste er nicht zuletzt aus eigener Erfahrung - ein Leben, das an den Anforderungen des Amtes und den Erwartungen der Bevölkerung wie auch anderer Adeliger orientiert war. Alles im Leben eines Adeligen war fremdbestimmt und an den Erwartungen anderer ausgerichtet. Eigene Wünsche zu haben war ein Luxus, den sich eine Baronin oft nicht leisten konnte. Zuerst würde Haldana damit konfrontiert werden, einen Mann heiraten zu müssen, den ihre Familie für sie aussuchte und der ihre Hausmachtposition stärkte. Egal, ob dieser Mann ihr nun irgendwie sympathisch war oder auch nicht. Alrik konnte verstehen, dass das für eine Baronieerbin mitunter mehr eine Belastung war. Nicht zuletzt da sie in einer konservativen Umgebung wie dem ländlichen Wehrheimer Land oder dem Sichelhag - die traviagefällige Frömmigkeit einhalten musste. Da hatte er selbst noch Glück gehabt mit der ihm angetrauten Serwa, mit der er sich immerhin gut vertrug und die - auch wenn seine Serwa ebenso wie er mitunter ihre eigenen Wege ging, ihm Respekt und Freundschaft entgegen brachte. Serwa hatte sich nicht daran gestört, dass Alrik Liebschaften nebenher und sogar Bastardkinder hatte. Natürlich hatte er seiner Gemahlin das gleiche Recht eingeräumt und auch nie die Frage gestellt, ob er tatsächlich der Vater von Serwas Kindern war. So gesehen, Serwa und er hatten miteinander durchaus Glück gehabt. Ein Glück, das aber nicht jeder Baron oder jede Baronin hatte. Und wie er wusste war Golo nicht der erste, der Haldana allein des Erbes wegen heiraten wollte, ohne nach ihrem Willen zu fragen. In den Kriegswirren der Wildermark hatte sich schon einmal ein Edler darum bemüht, die damals noch kindliche Haldana als Verlobte zugesprochen zu bekommen. Nichts ungewöhnliches, manche Adelsfamilien verlobten ihre Kinder miteinander, noch ehe sie von der Mutterbrust entwöhnt waren.

Nun, vielleicht war es da irgendwie sogar vom Schicksal nicht schlecht gemeint, dass Haldana nunmehr… Alrik dachte nach. War Golo tot? Oder lebte er noch. Als Witwe würde Haldana jedenfalls bei einer späteren Eheschließung keiner mehr fragen, warum sie nicht unkeusch geblieben war. Der Schicksalsschlag, den die junge Adelige erlitten hatte, konnte sich vielleicht gar als befreiend für sie erweisen. Langfristig jedenfalls.

Und… wenn Golo tatsächlich tot war, und in Gießenborn der Erbfall anstand… Alrik dachte schon wieder strategisch. Würde eine Edle von Schnayttach-Binsböckel zu Gießenborn, in Personalunion Baronin zu Schlotz, ihm etwas nützen? War sie eine wertvolle Verbündete in seiner Hausmachtpolitik gegenüber Bishdarielon, seinem Bruder, der den Norden Friedwangs beherrschte? Nutzte ihm das, um seine Position zwischen den alten Baernfarns in der reichen Stadt Gallys und dem aufstrebenden Haus Oppstein besser behaupten zu können? Oder würde er sich damit nur eine dritte Partei in die Baronie holen, die das fragile Gleichgewicht der Mächtegruppen gefährdete? Ließe sich hier ein Stein im Spiel der Throne setzen, der ihm zum Vorteil gereichen würde? Immerhin war davon auszugehen, dass eine künftige Baronin Haldana zu Schlotz, nach den gemeinsamen Ereignissen, eher seine Verbündete als die Bishdarielons werden würde. Gegenwärtig stand er in Friedwang seinem Bruder Bishdarielon gegenüber, seinerseits gestärkt durch das Bündnis mit den Baernfarns aus dem südlichen Gallys. Bishdarielon hatte seine Position durch die Ehe mit dem einflussreichen Haus Mersingen gestärkt. Wenn nun Alrik auch die Baronie Schlotz auf seine Seite zog und damit das Haus Binsböckel… Dann konnte er sich vielleicht gegenüber seinem Bruder durchsetzen bei der Regelung der Erbfolge in Friedwang. Alrik dachte schon wieder weit in die Zukunft, den möglichen dritten Schritt vor dem tatsächlichen ersten tuend. Aber nur wer klug voraus zu planen und zu denken in der Lage war, konnte sich so lange wie er auf dem Thron halten. Zunächst einmal hatte er hier eine Aufgabe. Eine Aufgabe, die, erfolgreich beendet, ihm das Wohlwollen der Markgräfin sichern konnte. Und wenn dabei zugleich mit Golo ein Adeliger Friedwangs, der sich nie mit ihm verbünden würde - und den er auch nie als Verbündeten akzeptieren würde - über das Nirgendmeer ziehen würde, dann wäre das sicher von Vorteil. Und das noch nicht einmal allein aus machttaktischen Erwägungen, sondern weil Golos Tod die immer noch bestehende Gefahr von den Anhängern des Namenlosen, sie auch nach dem Ende der Wildermarkära noch nicht gänzlich besiegt waren, nachhaltig schwächen würde.

Nur eines wusste Alrik. Wenn Golo tot war, dann stand es in seiner Macht dafür zu sorgen, dass die, wenn auch zwangsweise, erfolgte Eheschließung Haldanas und Golos rechtlich Bestand haben würde. Er konnte Haldana damit den Skandal der Unkeuschheit ersparen. Und er konnte sich damit in einem wichtigen Edlengut seiner Baronie eine treue Gefolgsfrau sichern. Wie es unter Phexdienern hieß: eine Hand wäscht die andere. Nun, man würde sehen. Alrik würde das jedenfalls im Blick behalten. Wenn Golo tatsächlich tot war, dann würde er in einem geeigneten Moment unter vier Augen (der einäugige Baron sollte vielleicht besser unter drei Augen sagen) über die Ränke der Politik reden. Aber jetzt galt es erst einmal, Gerrich zu finden und zu besiegen.

Was Alrik unter seinen Gefährten am meisten überraschte war, dass Haldana und Jodokus nunmehr, da Jodokus um Haldanas wahre Identität wusste, miteinander völlig offen und unbefangen umgehen konnten. Wie eben Verwandte, die sich einfach länger nicht mehr gesehen haben, aber die sich ungezwungen über alle Tanten und Onkels, Großkusinen und Oheime und Großmütter und alle anderen Angehörigen der weitläufigen Familien Baernfarn und Binsböckel austauschten, als hätten sie nie etwas anderes getan. Irgendwie fast - wie Geschwister. Jodokus war nicht mehr der zurückgewiesene Liebhaber, auch nicht mögliche reiche Verehrer einer entlaufenen leibeigenen Musikantin, und Haldana war nicht mehr in der selbst gewählten Verpflichtung, dem Cousin ihre Herkunft zu verschweigen, ständig darauf achtend, nicht zu viel über sich Preis zu geben. Und damit hatte sich jede Spannung zwischen den beiden in Luft aufgelöst. Beide schienen sich in der neuen Rolle zueinander wohler zu fühlen. Der missglückte gemeinsame Abend, der gerade zwei Tage zurück lag, schien völlig vergessen zu sein.

Das ganze schien den „Anstandsnivesen“ Tuvok ein wenig zu verwirren, der ´seine´ Haldana fröhlich und unbefangen mit dem Stadtgeck, wie er das sagen würde, plaudern sah. Vermutlich war der sonst eher schweigsame Waldläufer keiner, der Gefühle bei seinen Mitmenschen verstehen oder deuten konnte. Das wäre auch nicht zu erwarten gewesen. Tuvok war Jäger, nicht Seelsorger. Aber er schien sich damit zu arrangieren.

Und Rovik, der gesellige Gemütsmensch (nein, Gemütszwerg) war ohnehin eine immer fröhliche Seele, der ungezwungen und optimistisch in die Zukunft blickte. Irgendwie mochte Alrik den kleinen bärtigen Gesellen, der wenig Fragen stellte und immer mit der Hand oder der Axt den Gefährten hilfreich zur Seite stand.

Nun, auch das war für Alrik eine gute Entwicklung. Nichts konnte er weniger gebrauchen als Zwist unter den Leuten, mit denen er vielleicht bald einem gefährlichen Schwarzmagier gegenüber treten würde.

Nach drei Stunden - Alrik hatte während des Rittes so viel über die Angehörigen der Familien Baernfarn und Binsböckel gehört, wie sonst in einem halben Jahr nicht - machte Tuvok, der von allen die schärfsten Augen hatte, ihn aufmerksam auf ein knappes Dutzend Menschen, die ihnen, einige Meilen entfernt, auf der Straße entgegen kamen.

Ja… Wanderer, Reisende. Das ist eine Handelsstraße. Natürlich werden wir auch anderen Reisenden begegnen. Aber Danke. Siehst du Grund zur Besorgnis?“ Alrik dachte sich nichts dabei, andere Reisende zu sehen. Dass sie bislang noch niemandem begegnet waren, mochte an der frühen Aufbruchszeit liegen, jedoch sicher nicht an der Route. Erst nach dem Abzweig nach Kurgasberg waren weniger Reisende zu erwarten.

Es… Nun… sie sind noch zu weit weg, als dass ich sie erkennen könnte. Aber… der vorderste hat eine auffällige rote Hose an. So wie einer der Matrosen auf der Flusshexe. Es könnten Matrosen von der Flusshexe sein.“

Alrik zog die Augenbraue hoch. „Könnte sein“ brummte er. „Neun oder zehn, kannst du sie genauer zählen?“

Neun. Wenn sich keiner versteckt hat“

Sieht nicht so aus. Sie gehen auf der Straße, in unsere Richtung. Wer einen Hinterhalt vorbereitet, zeigt sich nicht so offen. Aber, du hast Recht. Wir müssen vorsichtig sein.“

Sollen wir uns vorsichtshalber verstecken?“ hakte Rovik ein.

Nein“ beschied Alrik. „Wenn sie es sind… dann sind wir immer noch im Auftrag des Grafenhofs unterwegs. Sie haben uns gestern nicht angegriffen. Warum sollten sie es heute tun. Gestern waren es eher Zwanzig gegen uns fünf, mit Hexer und Hexe und Gefangenen, auf ihrem vertrauten Schiff. Heute sind es neun gegen sechs und ohne Hexer im Hintergrund. Überraschen können sie uns ohnehin nicht. Wenn sie sich von der Straße entfernen, kriegen wir das hier im offenen Gelände mit. Und selbst wenn sie jetzt feindlich eingestellt sind… Wenn ein Bogenschütze, ein Axtkämpfer, drei in der Fechtkunst ausgebildete Adelige und ein Magier mit ein paar Matrosen nicht fertig werden, dann weiß ich auch nicht mehr! Wenn es tatsächlich Matrosen von der Flusshexe sind, dann sollten wir ihnen besser auf den Zahn fühlen. Die werden vor der Obrigkeit schon kuschen. Haben sie gestern ja auch getan.“

Ja, du magst Recht haben“ stimmte Jodokus zu. „Besser, wir bleiben in der Rolle von gestern. Wir sind zudem beritten, selbst im Schlimmsten Fall könnte das Fußvolk uns gar nicht aufhalten.“

Inzwischen waren die wärmenden Strahlen Praios kräftiger geworden, und die Kleidung der Gefährten war getrocknet. Anders als am Vortag war Haldana nicht mehr im Hochzeitsgewand gekleidet - das hatte sie der Besitzerin zurück gegeben, zusammen mit einigen Münzen als Entschädigung für den erheblichen Reinigungsaufwand - sondern hatte wieder die lederne Reisegewandung angelegt, die sich in ihrem Bündel befand, das Tuvok seit der Entführung mitgenommen hatte. Auch das Rapier steckte jetzt wieder in der Schulterscheide.

Tuvok hatte vorsorglich die Sehne auf den Bogen aufgezogen und war die Pfeile in seinem Köcher durchgegangen - einen Teil der Pfeile, die er beim vergangenen Gefecht verschossen hatte, hatte er wieder gefunden. Nur nicht die, die auf dem Schiff oder im Fluss verblieben sind. Allerdings hatte Tuvok zwei Dutzend Pfeile in Hausen erstanden. So war er für kommende Gefechte gut ausgerüstet.

Für Jodokus hatte Rovik in Hausen noch eine lederne Rüstung erstanden. Der Patrizier hatte Rommilys mit standesgemäßer Kleidung verlassen, sich aber nicht auf ein wirkliches Gefecht vorbereitet. Das gerüschte und bestickte Hemd ließ ihn sicher gut aussehen, aber für ein Gefecht war es wohl nicht das Richtige. Da bot der lederne, mit Schnallen und Nieten besetzte Kittel doch deutlich mehr Schutz. Und Jodokus mochte ein Händler sein. Ein wenig Umgang mit der Klinge zu erlernen war dennoch üblich in seiner Familie, selbst wenn er nicht wie seine Schwester als Baronin der Markgräfin Heeresfolge leisten musste.

Im Näherkommen erkannten die Gefährten, dass die zu Fuß auf dem Karrenweg dahin ziehenden Männer und Frauen tatsächlich Matrosen der Flusshexe waren - die ihrerseits aber keine feindselige Haltung zeigten, sondern sich respektvoll ganz auf die rechte Seite der Straße zusammen drückten und im Gänsemarsch hinter einander liefen, um den Reitern keinesfalls in die Quere zu kommen. Aha, dachte Alrik. Hat der Auftritt gestern Abend also Eindruck gemacht. Immerhin. Alrik setzte sich im Sattel aufrecht und mit Respekt heischender Körperhaltung hin und setzte sich mit einem kurzen Galopp an die Spitze der Gefährten. Dann hob er die linke Hand, um seine Gefährten ebenso wie die Matrosen zum Halten zu bewegen, während er lässig die Zügel in der rechten Hand hielt und sein Ross elegant zum Stehen brachte. Selbstsicher und souverän im Auftritt, wie man sich einen gräflichen Abgesandten eben vorstellte.

Seid gegrüßt in Praios Namen!“ Alrik verwendete die Grußformel mit Praios üblicherweise nicht, aber hier schien der Bezug auf den Götterfürsten ihm angebracht, und blickte dem Vordersten der Flussschiffer in die Augen. „Ihr seid von Bord gegangen? Was ist vorgefallen? Was kann er rapportieren?“ Alriks Stimme klang ruhig und befehlsgewohnt.

Der angesehene Flussschiffer senkte den Blick. Gut, dachte Alrik. Klappt also weiterhin. „Herr“ begann der Angesprochene „Verzeiht, Herr, aber… nach dem wir gestern gesehen haben, wer der Schiffseigner…“ stammelte er.

Wir sind einfache Flussschiffer“ erklärte ein anderer, etwas weniger eingeschüchtert. „Wir steuern, stakten oder treideln das Schiff, wir beladen und entladen die Ware, aber was gestern geschehen ist… wir halten unseren Kopf nicht hin, wenn der Eigner sich mit… mit schwarzer Magie einlässt. Oder mit Dämo… mit was auch immer.“

Da habt ihr Recht gehandelt“ stellte Alrik lobend fest. „Ihr habt also die Heuer gekündigt?“

Ja.“ Raunten einige der Schiffersleute.

Gut so. Aber gestern waren mehr Matrosen auf der Flusshexe. Also haben nicht alle den Kahn verlassen?“ Alrik nutzte die Gelegenheit, Informationen über die Flusshexe und die verbleibende Besatzung zu erlangen. Fragend und zum Reden auffordernd blickte er in die Runde der Matrosen.

Ähm, nein. Wie stellt ihr Euch das vor, Herr. Mit einem Hexer verhandeln? Der hätte uns vielleicht verwandelt, vielleicht verhext. Nein. Wir neun sind… einfach über Bord gesprungen und an Land geschwommen. Getürmt. Den Abgang gemacht. Wir sind einfache Leute Herr. Wir stellen auch keine Fragen an den Kapitän oder Eigner, aber mit den unheiligen… nein, damit haben wir nichts zu tun.“

Aha. Ja. Ihr habt wohl klug gehandelt. Ihr hättet kaum etwas ausrichten können gegen Gerrich. Aber sprecht, wie viele Matrosen sind noch an Bord? Diese haben wohl keine Probleme mit einem Schurken als Befehliger?“ insistierte Alrik.

Das weiß ich nicht… nicht jeder kann schwimmen. Vielleicht haben manche der Mannschaft auch einfach Angst?“ stammelte ein rothaariger dicker Mann.

Noch acht Matrosen waren an Bord. Jedenfalls als wir getürmt sind.“ Ergänzte ein anderer.

Und die Traviapilger?“ forschte Alrik nach.

Die hat Gerrich gleich zu Anfang unter Deck gebracht. Gleich nach dem, ähm, Ablegen. Hat sie eingesperrt in einem Lagerraum.“

Acht Matrosen, sieben Pilger. Und die fünf Barbaren. Sonst noch jemand an Bord der Flusshexe?“

Einhelliges Schulterzucken war die Antwort.

Hmm. Und jetzt? Seid ihr auf dem Weg nach Rommilys?“

Ja, Herr. Wir suchen eine neue Heuer, irgend ein Flusskahn braucht uns hoffentlich. Oder vielleicht gibt es im Hafen Arbeit.“

Recht so. Gut. Wenn ihr nach Rommilys kommt, dann berichtet im Kontor des Hafenmeisters über die Vorfälle an Bord, und alles was ihr sonst über die Flusshexe wisst. Dort soll man erfahren, was für einen finsteren Schurken man hat anlegen lassen.“

Einhelliges Nicken.

Wo befindet sich die Flusshexe jetzt? Kurgasberg?“

Ja, vermutlich. Jedenfalls hat Gerrich das Schiff dorthin lenken lassen. Aber natürlich wissen wir das nicht genau.“

Alrik nickte. Viel mehr würde er aus den Matrosen wohl nicht heraus holen können an Informationen.

Gut. Dann soll es das jetzt sein. Wie schon gesagt, man weiß Bescheid und kann sehr gut unterscheiden zwischen einem Schurken und einem einfachen Flussschiffer. Ihr habt also nichts zu befürchten. Dass der eine oder andere seine Seele in einem Tempel der Zwölf erleichtert, kann aber dennoch nicht schaden.“ Die richtige Mischung von herrschaftlicher Strenge und verständnisvoller Milde in der Stimme des Friedwangers war beabsichtigt. „Ich werde mich aber erkundigen, ob ihr in Rommilys beim Hafenmeister vorgesprochen habt.“ Alrik wollte sicher gehen, dass die Matrosen tatsächlich in die Markgrafenstadt weiter zogen.

 

"Wie, Knoppsberg? Was hat sie da gerade gesagt?"

Alriks Kopf tauchte hinter dem mächtigen Rad des Fuhrwerks auf. Gerade eben hatte er mit Hilfe seiner Gefährten den Wagen zurück auf die Landstraße gewuchtet. Zusammen mit der Fuhrfrau und ihrem Begleiter, die vom Weg abgekommen und in einem tückischen Schlammloch gelandet waren. Die beiden mächtigen Darpatrinder, die den Karren zogen, wären sicherlich kräftig genug gewesen, ihn aus der Falle zu befreien - aber das Rad hatte sich immer tiefer eingewühlt.

Sattgrün ragten Bäume und Hecken auf beiden Seiten des Weges auf.

Die Fuhrfrau, eine kräftige, bäuerlich wirkende Frau mit struppigen braunen Haaren, Sommersprossen und wettergegerbten Gesicht, tippte sich mit der Peitsche an den Hut.

"Ich sagte: Seid bedankt für Eure Hilfe. Mögen Euch die Götter dafür entlohnen."

"Keine Umstände" Der Friedwanger zückte wieder mal seine Pfeife und begann sie zu stopfen.

"Aber ich meinte etwas anderes. Sie sagte gerade, sie käme von Knoppsberg rauf?!"

"Jau, is nicht mehr weit bis dorthin. In zwei, drei Stunden seid Ihr dort. "

Alrik zündete einen Span an, versenkte die Flamme im Fuchskopf und begann zu paffen. Knoppsberg, lag bereits in der Markgrafschaft Perricum.

"Wir wollten eigentlich nach Kurgasberg." Jodokus wischte sich die schlammigen Hände mit einem Büschel Gras sauber.

Die Fuhrfrau zuckte mit den breiten Schultern. "Nie gehört...Komm aber auch ausm Süden. Gluckenhang. Muss wieder weiter, tutmirleid. Kurgasberg, nee, nie gehört. Fahr aber auch meistens die Südroute, Richtung Dergelmund und Perricum."

"Was habt Ihr denn geladen?" fragte der Baron, um das Gespräch am Laufen zu halten.

"Wolle. Nachschub für die Spinnräder in Rommilys."

"Aber der Efferdgeweihte hat doch gesagt..." Der Einwand kam von Haldana. "Es hieß doch, bis nach Kurgasberg sei es eine halbe Tagesreise die Handelstraße runter. Und dann gibt es eine Abzweigung in die Berge. Ein alter, verlassener Bergwerksort… Ein Geisterdorf..."

Die Fuhrfrau schüttelte ratlos den Kopf: "Markt Knoppsberg, da gibts eine Burg, wo der Herr Leomir residiert, der Vogt. Aber von nem Bergwerk hab ich noch nie gehört...Und verlassen ist Knoppsberg auch nicht. Netter Marktflecken...Die ham dort die allerbeste Räucherwurst."

"Falswegen, ein sprechender Name..." Alrik tätschelte eines der braune Rinder und ließ einige Rauchkringel aufsteigen.

Hatte der Efferdgeweihte am Ende Kurgasberg mit Knoppsberg verwechselt? Sah fast so aus.

Ritten sie hier die ganze Zeit in die Irre? Der Darpat zur Rechten war in weite Ferne gerückt, stattdessen schimmerten dort Sümpfe, Tümpel und die Altarme des Hauptstroms, zwischen lockerem Auenwald. Zur Linken ragten steile Felsenhänge auf: die erstaunlich hohen Ausläufer der Trollzacken. Vor etwa einer halben Stunde hatten sie einen dichten Wald hinter sich gelassen. Dann waren sie den Flussschiffern begegnet, und kurz darauf dem "gestrandeten" Fuhrwerk. Die Gegend sah eigentlich ganz manierlich aus: eine Landstraße, begrenzt mit Hecken, Bäumen, Steinmäuerchen. Dahinter erstreckten sich Äcker und Hangweiden. Ab und zu läutete eine Kuhglocke. Wäre das Felsgestein, das hie und da emprragte, schwarzgrau gewesen und nicht grauweiß, man sich leicht in der Sichel wähnen können.

Waren sie auf dem richtigen Weg? Auch Flarion war keine Hilfe gewesen: Angeblich war der Käpt´n noch nie selbst in Kurgasberg gewesen. Er wusste nur, dass das Geisterdorf in den Bergen auf der Ostseite des Darpat lag, und es zumindest zwei Wege dorthin gab. Ein Karrenweg, irgendwo von Neuborn aus, und eine Abzweigung weiter südlich, wo der Weg schlechter wäre. Die einzige Abzweigung, an der sie vorbeigeritten waren, hatte in Richtung Darpat geführt - wo es sicherlich niemals ein Bergwerk gegeben hatte.

"Nun, edle Herren und Dame" Der Begleiter der Fuhrfrau, ein bärtiger, drahtiger Zackenländer deutete eine Verbeugung an. "Wenn Ihr uns vielleicht sagen könntet, was Ihr in diesem Krugsberg..."

"Kurgasberg..."

"....an diesem Ort anzutreffen erhofft."

Alrik wechselte einen Blick mit Jodokus und nickte.

"Wir sind einer Räuberbande auf den Fersen", sagte der junge Baernfarn. "Die im Geisterdorf ihr Versteck haben sollen. Ein Haufen buntbemalter Trollberger..."

Der Bärtige blickte versonnen: "Trollzacker? Klingt eher nach Gorbingen...ebenso wie dieses...Kurgasberg."

Seine Begleiterin kicherte, ein wenig verschroben. "Gorbingen? Jau, das passt. Das gibt es nämlich auch nicht."

Alrik konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Von dem augenzwinkernden Sprichwort hatte er mal gehört. Die Baronie Gorbingen galt als derart abgelegen, dass sie angeblich gar nicht existierte. "Es sind Trollberger, keine Wilden, auch wenn sie offenbar diesen Eindruck erwecken wollen. Sie sind wohl beritten, und..."

Dumpfes Pferdegetrappel lenkte ihn ab. Die Hand des Einäugigen ging zum Rapier: Wenn man vom Namenlosen sprach !? Auch die Darpatbullen schnaubten und blicken mit großen, dunklen Augen über ihre höckrige Schulter.

Alriks Gefährten gingen links und recht des Weges in Kampfstellung. Tuvok stellte sich hinter eine halb eingesunkene Steinmauer und legte einen Pfeil auf die Sehne. Der Mondschatten warf einen Blick auf die Ladefläche, mit den wollgefüllten Säcken. Das Fuhrwerk auf der Straße würde den Ansturm von Reitern sofort bremsen, als Wellenbrecher. Notfalls konnten sie sich hinter die hohe Ladefläche zurückziehen - auch wenn die Wollladung und die hohe Plane sicherlich lichterloh brennen würden, bei einem Angriff mit Feuer. Aber momentan waren sie im Vorteil.

Ihre eigenen Pferde, die an einem Gatter festgebunden waren, stampften nervös auf und hoben bockend die Köpfe.

Der Bärtige zog eine Armbrust aus dem Fuhrwerk, die Fuhrfrau griff zum Kurzschwert und entrollte ihre Peitsche (was sie ein wenig wie ein weiblicher Heshthoth aussehen ließ).

Dann trabten die Reiter auch schon heran. Es war fast eine ganze Lanze, acht Männer und Frauen, in blauen und roten Waffenröcken, wippende Federbüsche auf den Helmen. Erdbrocken flogen von den Hufen ihrer Rösser: edle Reittiere, die Alrik schmerzhaft an Ruß erinnerten, sein schwarzes Shadif, das in der Schlacht am Arvepass geblieben war.

Der spitzbärtige Anführer hob die behandschuhte Rechte, und die Kavalkade stoppte. Wie Strauchdiebe oder Marodeure sahen die Neuankömmlinge nicht aus: Die Haltung war tadellos und kerzengerade, die rondrianischen Blicke hätten jedem Schlachtengemälde Ehre bereitet. Alrik stellte fest, dass er den Anblick disziplinierter, regulärer Soldaten irgendwie nicht mehr gewohnt war.

Streng genommen sah eher seine, nun ja, Halblanze aus wie eine Rudel heruntergekommener Strolche. Alrik klopfte die Pfeife aus und verstaute sie an seinem Gürtel.

Der Befehliger lenkte sein Pferd zur Seite, seine Hand ging zum Säbel. "Was ist hier los, in Rondras Namen?"

Es schien einige Herzschläge zu dauern, bis der junge Spitzbart merkte, dass er nicht Zeuge eines Überfalls auf der Zackenberger Landstraße wurde

Der Phexgeweihte lüpfte formvollendet seinen Federhut. "Alrik Tsalind von Friedwang-Baernfarn-Glimmerdieck, Baron zu Friedwang", sagte er freundlich, buchstäblich entgegenkommend. "Das Fuhrwerk hier ist vom Weg abgekommen, wir haben geholfen."

Einen Moment lang kämpfte Misstrauen mit Verstehen, im Gesicht des Unteroffiziers. Als die beiden Fuhrleute die Geschichte bestätigten, nickte er knapp.

"Serdan Noris Burgschall, Weibel II. Lanze, 6.Schwadron Markgräflich Perricumer Grenzreiter" schnarrte er formvollendet, schlug mit der Faust gegen seine Brust und verneigte sich. "Euer Hochgeboren…"

Nun vermochte Alrik das Wappen auf dem Waffenrock zu erkennen: Auf der Herzseite zeigte es ein steigendes silbernes Pferd auf rotem Grund. Die heraldisch linke Seite zierte der gekrönte, silberne Delphinkopf über gekreuzten Säbeln, auf meerblauem Grund. Das Wappen der Markgrafschaft Perricum.

Einen Moment lang verzog Alrik das Gesicht. Immerhin war er der Enkel Sangive von Gluckenhangs. Somit Abkömmling einer Baronie, die mal tiefstes Süddarpatien gewesen war, und nun den Besitz Markgraf Rondrigan Paligans mehrte: Kaiserlicher Gemahl, Nachfahre Al´Anfanischer Granden, Reichsgroßgeheimrat. Alle drei Punkte schmerzten den altdarpatischen Edelmann: Primo, dass ein Herzstück des stolzen, Jahrhunderte alten Fürstentums wie eine Morgengabe den Besitzer gewechselt hatte. Secundo, dass es nun zu den Ländereien eines "Paligan" zählte - ein Name, den er, der in die Sklaverei verkaufte "Nachtfuchs" aus Brabak, kennen und fürchten gelernt hatte. Tertio, dass Rondrigan als Reichsgroßgeheimrat in die Fußstapfen eines Dexter Nemrod getreten war, seines einstigen Grafen und stillschweigenden, überaus stillschweigenden Gönners.

"Perricumer Grenzreiter? Seid Ihr nicht ein wenig arg weit nach Norden geraten?" entschlüpfte es dem Schwarzsichler Baron.

Wenn Burgschall die Stichelei erahnte, ließ er es sich nicht anmerken. "Serdan Noris Burgschall" sah wirklich aus, wie Alrik sich einen Perricumer "Fischkopp" vorstellte: Glatt und stromlinienförmig wie ein Delphin, schneidig wie die Klingen im Markgräflichen Wappen. Zugleich aber gutherzig, aufrecht, edel und idealistisch. Ein Fischkopp war der Weibel eigentlich auch nicht, sondern ziemlich gutaussehend, zumindest für einen Unteroffizier. Außerdem schien er zwei Vornamen zu haben, womit er sicher ebenfalls Eindruck schinden konnte, bei den Damen.

"Ich entsinne mich, gehört zu haben, dass die Grenzreiter tief im Süden stationiert sind, um unsere Grenze nach Aranien zu behüten", fügte Alrik mit charmanten Lächeln hinzu, nicht ohne seinen Siegelring in der Sonne blinken zu lassen. Nein, er hegte keinen echten Groll gegen die Perricumer. Rondrigan Paligan hatte kaum mehr als den Namen mit der verruchten Al´Anfaner Grandensippe gemein, nach allem, was man vom Gemahl der Kaiserin Rohaja so hörte.

Weibel Burgschall schien nun überzeugt zu sein, dass er es hier mit einem echten Adeligen zu tun hatte.

"Friedwang? Liegt das nicht weit oben in der Rommilyser Mark?"

"So ist es. Ich hoffe, wir haben keine Grenzstation und keinen Schlagbaum verpasst", meinte Alrik, und klang schon wieder spitz. "Besondere Umstände haben uns dazu gezwungen, durch den Darpat zu reiten. Wir haben jedenfalls nichts zu verzollen, werter Herr Grenzreiter."

"Ihr missversteht uns, Euer Hochgeboren. Wie Ihr schon sagtet, eigentlich obliegt uns die Grenzwacht am Barun-Ulah, rund um Burg Ferkina. Wir sind auf der Suche nach einem Deserteur, der einen guten Kamerade gemeuchelt hat. Feige von hinten erschlagen, am hellichten Tag in Darrenfurt. Ein Halbblut, das uns eigentlich im Kampf gegen die Barbaren des Raschtullswalls beistehen sollte, als Späher. Vor kurzem haben wir erfahren, dass er sich einer Räuberbande in den Trollzacken angeschlossen haben soll, seiner alten Heimat. Obristin Doranthe von Zwickenfell war so großzügig, uns die Jagd auf den Verräter zu gestatten, fern der aranischen Grenze. Eine Frage der Regimentsehre - die Geschichte hat sich schon etwas herumgesprochen. Diese Wilden respektieren einen nur, wenn man bereit ist, die Bestrafung für ein Verbrechen selbst zu vollziehen. Die Barbaren würden es Blutrache nennen. Wir nennen es Genugtuung."

"Natürlich" Alrik nickte verständnisvoll.

Jodokus war der Erste, bei dem der Heller fiel. "Es könnte sein, dass Ihr zu spät gekommen seid, Weibel Burgschall. Wir hatten gestern eine Begegnung mit einem riesigen Räuber, auf dem Eure Beschreibung ganz gut passen würde. Eine Begegnung, die für den verrückten Burschen tödlich geendet ist." Ein stolzer Blick zu Haldana, die eher melancholisch als stolz drein sah.

Weibel Burgschall wirkte regelrecht enttäuscht. "Drüben auf der garetischen Seite?"

"Ja. Die Bande hat einen Flusskahn überfallen und der Trollzacker dabei unsere Gefährtin in seine Gewalt gebracht. Sie hat sich mit dem Messer gewehrt. Erfolgreich, würde ich sagen"

"Nun, sie sind alle so riesig, wie sie verrückt sind, diese Barbaren. Hoffen wir, dass es den Richtigen erwischt hat. Der Tod durch die Klinge einer Gefangenen, noch dazu einer Blutlosen, wie sie sagen. Nun, das wäre ein überaus schimpfliches Ende, wie es dieser götterlose Schurke verdient hätte. Nicht in meinen Augen, versteht mich recht, da sei Frau Rondra vor. Aber in den Augen der Wilden zählt eine Frau weniger als ein Lastpony. Mein Kompliment, Frau, äh…"

Eine angedeutete Verbeugung in Richtung Haldana, die halblaut ihren Namen nannte.

"Wie es scheint, suchen wir alle die gleiche Bande?!" hakte Alrik ein.

"Gut möglich. Der Landvogt bat uns heute morgen um Amtshilfe. Vor ein paar Stunden hat ihn die Nachricht erreicht, dass ein Schiff am Perricumer Ufer des Darpat gestrandet ist. Menschenleer und geplündert."

"Ja, der Rest der Bande konnte mit dem Treidelkahn entkommen", sagte Alrik. "Eine etwas komplizierte Geschichte. Ich fürchte, dass es sich dabei nicht um gewöhnliche Strauchdiebe handelt. Ein abtrünniger Edler aus Rommilys führt sie an, namens Gerrich, und sein verkommener Sohn. Wir haben außerdem Grund zu der Annahme, dass sie mit einem Hexenweib unter einer Decke stecken. Sie haben sieben Traviapilger verschleppt, ich glaube sogar aus Knoppsberg. Vermutlich zu unheiligen Zwecken."

Weibel Burgschall wurde doch etwas blass um den Schnurrbart. "Eine Hexe? Praios steh uns bei!" Hastig schlug der Grenzreiter das Sonnenzeichen, und seine Fast-Lanze tat es ihm gleich.

"Ich denke, wir sollten in dieser Angelegenheit zusammenarbeiten. Selbst wenn der Verräter schon gerichtet sein sollte, harren die unglücklichen Gefangenen immer noch der Befreiung. Mein Hofmagier Hesindian kennt sich mit schwarzmagischen Ränken aus...des Gegners, meine ich. Sagt Euch der Name Kurgasberg etwas?"

"Wie? Nein...Das heißt, Kurgas, so nennen sich die Wilden der Trollzacken selbst, in ihrer fürchterlichen Sprache, oder?"

"Offenbar handelt es sich um ein lange verlassenes Dorf in den Bergen, wo die Bande ihr Versteck hat."

"Ich denke, es wird Zeit für eine ausführliche Lagebesprechung." Der Weibel drehte sich im Sattel um. "Absitzen. Korporal Flux, zwei Wachposten einteilen. Der Rest darf sich einen Moment die Beine vertreten." Dann glitt er selbst aus den Steigbügeln und zog eine Karte aus der Satteltasche hervor.

"Wir befinden uns einige Meilen vor der Grenze zur Rommilyser Mark, also Neuborn, denke ich. Wie gesagt. Heute früh kam ein Bote aus dem Hartsteenschen nach Knoppsberg und hat von dem gestrandeten Flusschiff berichtet. Es liegt ungefähr auf der Höhe dieses Sees dort, kurz vor der Flussbiegung. Die kaiserliche Feste Darpatwacht hat sofort ein Boot dorthin geschickt, zwecks Erkundung der Lage. Das Schiff, die Flusshexe, war allerdings schon verlassen. Die Patrouille hat sofort die Verfolgung aufgenommen, es gab Feindberührung. Angesichts der Gegenwehr und des sumpfigen Geländes, noch dazu auf Perricumer Gebiet, hat sich Burgvogt Brinidan darauf beschränkt, Vogt Leomir auf Burg Knoppsberg zu benachrichtigen. Wir vermuten, dass die Räuber zur Landstraße nach Neuborn unterwegs sind. Die Schurken wissen genau, dass es die Rabenmünd...die Rommilyser nicht gerne sehen, wenn wir die Grenze überschreiten, ungefragt und mit Waffen. Unsere Hoffnung ist, dass wir ihnen rechtzeitig den Weg abschneiden können. Das Spiel hat das Pack wohl schon ein paar Mal gespielt - aber nun verfügt Leomir über schlagkräftige Reiter. Meine tapferen Jungs und Mädels."

 

Alrik musterte die Karte. "Nun, was den Grenzübergang angeht, mag ich Euch Hilfe leisten. Immerhin bin ich Baron der Rommilyser Mark, und Herr von Baernfarn hier" - ein Blick zu Jodokus - "verfügt dort auch über einen guten Namen. Allerdings fürchte ich, dass es der Bande diesmal nicht ums Rauben und Plündern nebst anschließender Flucht geht. Jedenfalls nicht nur. Eine etwas komplizierte Geschichte, die mehr mit Schmuggel als mit Flusspiraterie zu tun hat. Sie wollen in dieses Kurgasberg, da bin ich mir sicher, und das liegt irgendwo in den Bergen. Die Betonung liegt auf irgendwo. Wir müssen sie unter allem Umständen aufhalten, denn sie planen ein finsteres Ritual, bei dem die Gefangenen geopfert werden sollen. Was nichts daran ändert, dass ich nicht weiß, wo dieses Geisterdorf liegt - und die Trollzacken groß sind." Der Mondschatten strich mit dem Pfeifenstil über die eingezeichneten Bergketten. "Vielleicht wollen sie wirklich über die Grenze nach Norden. Womöglich steuern sie geradewegs die Berge im Osten an, Richtung Hendweiler. Oder sie haben still und heimlich umgedreht, und sind schon wieder auf dem Weg nach Südosten. Wir könnten die Himmelsrichtung genauso gut auswürfeln."

Hesindian schlug sich an die Stirn, so dass sein spitzer Zauberhut verrutschte. "Natürlich, das ist die Lösung."

Der Magier strahlte in die Runde, und schob mit dem Stab die Kopfbedeckung wieder zurecht.

"Wir haben ja noch die gezinkten Glücksspiele des Hexers. Die Boltankarten, die Würfel, und das Chorhoper Glücksrad. Die deuten doch geradewegs in die Richtung, wo sich Gerrich aufhält?! Wie dumm von mir, dass ich da nicht früher dran gedacht habe. Oder besser gesagt, dass ich schon lange nicht mehr daran gedacht habe."

"Mein Hofmagus und arkaner Berater Hesindian von Orweiler - hesindial wie immer", brummte Alrik mehrdeutig.

"Ich verstehe nicht ganz?" Weibel Burgschall faltete die Karte wieder zusammen.

"Wir haben die Möglichkeit, den Hexer von Rommilys magisch aufzuspüren, den Anführer der Bande."

Der Edle von Orweiler eilte zu seinem Packpferd, und holte einen in Tuch eingeschlagenen Kasten heraus.

Einige neugierige Blicke der Grenzreiter trafen den Magier, über geöffnete Feldflaschen oder angezündete Pfeifen hinweg.

Selbst die Darpatbullen schienen beeindruckt zu sein - ebenso wie die Fuhrleute.

Hesindian achtete nicht darauf, sondern enthüllte das Glücksrad. Es bestand aus einer Drehscheibe, das kesselartig in ein rundes Ebenholztischchen eingelassen war, das wiederum auf sechs kleinen Füßen stand. Die Scheibe war in zwölf Fächer unterteilt, die jeweils die Symbole der Götter zeigte, wie bei einer Sonnenuhr. Hesindian platzierte das Glücksrad so, dass der Praiosgreif nach Norden zeigte, ungefähr dem Verlauf des Weges entsprechend.

Nun "zauberte" der Arkane Berater eine kleine Elfenbeinkugel hervor: "Noch werden Wetten angenommen, meine Herren und Damen. Nein? Na gut..." Hesindian betätigte das Drehkreuz und warf die Kugel ins rotierende Rad. "Nichts geht mehr."

Ein kullerndes Geräusch wetteiferte mit dem Zwitschern der Vögel. Am Ende lag die Kugel im Fach mit der Löwin, Rondras Zeichen. Der "Hexer von Rommilys" trieb sich demnach nordöstlich von ihnen herum.

Weibel Burgschall zwirbelte sich verlegen den Spitzbart. "Wie zuverlässig, sagtet Ihr, ist diese Methode?"

"Nun, wir können das ganze nochmal überprüfen", sagte Hesindian und warf drei knöcherne Würfel.

"Ne 6, ne 2 und ne 1" stellte die Fuhrfrau fest. "Hat das jetzt was zu bedeuten?"

"Ja, das ergibt 9" Der Magier deutete auf die Würfel, die vor die Glücksrad-Kugel gerollt waren, mit merkwürdig eckigen, unnatürlichen Bewegungen. "Ebenfalls Nordost, würde ich sagen. Die Würfel zeigen fast in die gleiche Richtung wie die Elfenbeinkugel "

"Ist die Kugel magisch, weil die aus Elfenknochen geschnitzt ist?", wollte der bärtige Ochsentreiber wissen.

"Elfenbein besteht nicht aus Elfenknochen" murmelte der Magier. "Sondern aus den Zähnen eines Tieres, das im Tulamidenland lebt...fern im Süden. Egal. Allzuviel Vorsprung kann Gerrich nicht haben, mit seinen Gefangenen. Zu Pferde holen wir ihn schnell ein. "

 

Fluchend brach Alrik durch das dichte Unterholz, hackte einen Farn beiseite und führte Flocke um einen umgestürzten Baumstamm herum. Irgendwie erinnerte ihn der Knoppsberger (oder war es der Neuborner) Hangwald an unschöne Erlebnisse im dampfenden Dschungel Meridianas.

Irgendwo schnarrte ein Specht. Ein Eichhörnchen protestierte zirpend gegen die Störenfriede. Goldenes Sonnenlicht fiel durch die Walddecke.

"Es ist ja schön, dass wir jetzt wissen, wo sich Gerrich befindet...oder er sich vielleicht befinden könnte." Auch Jodokus prallte zurück, in diesem Fall vor einem Netz, von dem sich gerade ein kleines Spinnchen abseilte. "Wenn diese kleine Kugel Recht hat. Aber ein richtiger Weg nach Kurgasberg wäre auch nicht schlecht."

Schon seit geraumer Zeit führten sie ihre Pferde am Halfter, und stolperten zwischen Bergwald und felsigen Abhängen umher. "Wo ist überhaupt Nordost?" Der Baernfarn pflückte einige Kletten aus seinem Umhang - ebenso wie eine Dornenranke aus seiner Rüstung, die sich tief ins Leder gebohrt hatte. Auch Haldana fluchte, als sie zum hundertsten Mal stolperte und ihr Pferd beruhigen musste.

"Tuvok würde es wissen" brummte der Zwerg und starrte geradewegs auf einen dicht bemoosten Baumstamm. "Wo ist nochmal diese Wetterseite?"

"Da wos Miesch wächst" keuchte Haldana.

"Das Zeug wächst auf allen Seiten prächtig", stellte Rovik fest. Er blinzelte nach der Sonne, aber die schien sich gerade zu bewölken

Alrik hielt nach dem Jäger Ausschau, der ihrem stattlichen Trupp tatsächlich vorausgeeilt war, als Kundschafter.

Die Grenzreiter sahen ebenfalls schon aus wie eine geschlagene Armee auf dem Rückzug.

"Es sollte doch eine Abzweigung nach Kurgasberg geben" schimpfte Jodokus.

"Such dir einen Zweig aus" Alrik verschnaufte für einen Moment und erschlug eine lästige Mücke. "Ich glaub langsam wirklich, dieser Efferdi Falswegen hat irgendwie Knoppsberg und Kurgasberg durcheinander gebracht."

"Kein Wunder, dass sie ihn vom offenen Perlenmeer an den Arsch von Väterchen Darpat versetzt haben" lästerte Jodokus.

Alrik sah den Patrizier erstaunt an. Der "Schnösel" konnte in der Wildnis ja ein richtiger Kumpeltyp sein. Firun war halt doch der Schutzgott des Hauses Baernfarn. Der Friedwanger bot ihm einen Schluck aus seinem "Flachen Valpo" an. Dankbar nahm der Rommilyser einen tiefen Schluck. "Ah, Trollbirne."

"Unser Tuvok kehrt wieder heim" stellte Alrik fest, nachdem er sich ebenfalls etwas aufgemuntert hatte. "Mal sehn, ob er Jagdbeute dabei hat".

Der Jäger eilte leichtfüßig herbei, und schien nicht im mindesten müde oder abgespannt zu sein. Der kleine Ausflug in den Wald bereitete ihm offenkundig Spaß.

"Da vorne sind jede Menge Fußspuren" berichtete Tuvok. "Eine alte Waldlöwenfährte gäbe es auch noch. Und das hier habe ich auch gefunden, neben einem Ameisenhaufen."

Der Waidmann öffnete seine Handfläche, in der eine kleine Bronzebrosche lag, in Gänseform.

"Domarian, der Travialieb", sagte Haldana sofort.

Mit der Hand wies Tuvok die Richtung. "Da vorne ist ein kleiner Bach. Den sind sie entlang gezogen."

Tatsächlich erreichten sie nach einigen Mühen den Bachlauf, der durch eine tief eingekerbte Schlucht plätscherte. Das Wasser war durch die Trockenheit ziemlich geschwunden, so dass sie am breiten Ufer gut vorankamen. Auch die Spuren waren auf feuchtem Grund leicht zu verfolgen. Der Trupp ihrer Gegner hatte hier wohl kurz gerastet. Auch die Verfolger erfrischten sich und tränkten die Pferde.

Etwa eine Stunde lang verlief der Weg äußerst windungsreich, aber ohne größeres Hindernis. Nur der zunehmend bewölkte Himmel erschwerte die Orientierung. So langsam hatten die Wanderer das Gefühl, in eine andere Welt einzudringen.

Immer höher ragten die Felsen zur Linken und zur Rechten auf, deren Abhänge nur noch von Nadelbäumen bewachsen waren.

Der Gedanke, dass diese Einöde hier nur das Vorgebirge der "Zacken" sein sollten, war fast beunruhigender, als wenn sie sich schon ins Hochgebirge begeben hätten. Das Bächlein mündete in einen weiteren, laut plätschernden Wasserlauf, der schon deutlich mehr Wasser führte. Die Felswände erhoben sich zu einer großen, von windschiefen Tannen und Fichten bewachsenen Schlucht.

"Ist der Gipfel da hinten der Wolfenkopf?" wollte Jodokus wissen.

Alrik musste passen. Hatte er vorhin noch das Gefühl gehabt, nicht voranzukommen, stießen sie nun erschreckend schnell ins Reich der "Königin der Berge" vor. Die Sichel wuchs nicht derart steil aus dem Flachland empor wie die Trollzacken. "Ist der Wolfenkopf überhaupt ein Berg? Ich dachte, das wäre ein Kloster. Wo ist Tuvok schon wieder?"

Der Jäger war tatsächlich mit Spurenlesen beschäftigt, ebenso wie einige der Grenzreiter. Aus irgendeinem Grund schienen sie damit nicht voranzukommen.

"Die Räuber sind womöglich durchs Wasser gewatet" vermutete Jodokus. "Unsere Spürhunde scheinen die Fährte jedenfalls verloren zu haben. Was für eine Wildnis..."

"Das? Das ist noch keine Wildnis", flachste Alrik. "Das ist gerade mal Firuns Vorgarten. Hesindian, die Karten?"

Der Magier hatte die magischen Boltankarten bereits ausgepackt und warf sie auf eine Felsplatte. Wie von Geisterhand bewegt, schienen sich die bunten Karten selbst auf dem steinernen Tisch auszurichten. Sie wiesen eindeutig"fluss"aufwärts.

Nun war es an Haldana, Tuvok die Richtung anzuzeigen.

"Laut unserem Magier gehts da lang" verkündete auch Rovik. "Keine Spur gefunden?"

"Zu viele Spuren" sagte Tuvok, etwas einsilbig. "In beide Richtungen. Und dazu noch schlechtes Licht."

"Die haben sich geteilt?" wollte Jodokus wissen.

"Ich denke eher, der Pfad hier wird öfters benutzt. Manche Fährten sind schon älter. Da hinten liegt ein völlig verrostetes Hufeisen."

"Ah, unsere Abzweigung", sagte Alrik, ein wenig sarkastisch.

Der Weg entfernte sich etwas vom Bachlauf, wurde steiler und folgte der Anhöhe. Unten, im Tal, weitete sich das Flüsschen zum blauschimmernden See, hinter einem Biberdamm, halb verborgen hinter Fichten, Tannen, Lärchen und Zirbelkiefern. Jodokus nutzte die Gelegenheit für einen Rundblick mit seinem "Zauberglas".

"Und?" wollte Rovik wissen.

"Ich glaube, das da hinten sind schon Gemsen" sagte der Patrizier fasziniert. "Was ist denn das? Das gibt´s doch nicht. Ein Troll? Nein, nur ein Felsen. Schade. Oh, putzig, auf der Alm sitzen Biber und grasen."

"Grasende Biber?" fragte Alrik erstaunt.

"Des sin Mistbellerli" meinte Haldana, leicht genervt.

"Mistwas?"

"Murmeltiere" grinste Tuvok.

Sie ritten den Pfad weiter, der eine hohe, dicht bewaldete Bergflanke entlang führte. Auf einer Hochebene ragte ein Turm aus Felsbrocken auf, jeder größer, als dass sie ein Mensch hätte umfassen können. Aufgetürmt von Trollen?

Selbst im Dämmerlicht war die Aussicht gigantisch, über die schattenverhüllten Täler und Schluchten hinweg. Die Luft war frisch, klar und duftete nach Blumen und Frühlingskräutern. Tuvok erspähte einen Bergadler, der über ihm seine Kreise zog, im Reich der Wolken.

Der gleiche Adler wie er ihn am Darpat gesichtet hatte? Einen Moment lang gab sich der Jäger dem Gefühl hin, einen treuen Begleiter und ein gutes Omen gefunden zu haben. Es war unglaublich, wie abrupt die Berge begannen, nur wenige Meilen von Rommilys entfernt: Zerklüftete, bizarre, gezackte Felsformationen. Womöglich stimmten die alten Legenden, dass die Trollzacken aus ihren versteinerten Namensgebern entstanden waren. Hier und dort schienen bärtige Gesichter und klobige Nasen aus den Felswänden zu starren.

Der Weg führte nun wieder nach unten, tiefer in den Nadelwald hinein. Wie ein Tor ragte der Überrest eines alten Gefluders vor ihnen auf: eine Wasserrinne für die Holzschwemme, die auf Pfeilern über den Pfad geführt hatte, und nun größtenteils eingestürzt war. Die Gegend schien früher einmal dichter besiedelt gewesen zu sein. Oder überhaupt einmal besiedelt gewesen zu sein.

Nach einer Weile ritten sie wieder durchs Tal, den Bach entlang, der an dieser Stelle bereits ein rauschendes Wildwasser war, zu Füßen der Pferde. Die Felsen rückten näher und näher an den Gebirgspfad heran. In der Ferne grollte ein Gewitter.

Die Reiter erblickten eine Höhle, deren finsterer Eingang sich zur Rechten öffnete, groß wie ein Burgtor, unter einem vorkragenden Felsen.

Der Himmel wurde dunkler und dunkler. Dann, ohne weitere Vorwarnung, zischte ein Blitz herab und setzte mit funkensprühender Flamme eine alte Kiefer in Brand, hoch über ihren Köpfen. Die Pferde wieherten, scheuten, wichen zur Seite aus oder stiegen. Ein Grenzreiter stürzte fluchend aus dem Sattel.

Toktoktok. Nun prasselte Hagel herunter, erst in der Größe von Kies, dann nussgroß, hart und schmerzhaft. Firuns Gruß knallte laut gegen die Helme und Rüstungen.

"Zurück zur Höhle", brüllte Weibel Burgschall gegen das Toben der Elemente an. Es wurde stockfinstere, eiskalte Nacht, durchzuckt vom grellen Lichtschein der Blitze, in dem schneeweißer Hagel und grauer Regen flirrte. Das erste Pferd ging durch, in Richtung Höhle, ein weiteres stürzte, mitsamt Reiterin. Ihre Gefährten halfen ihr auf.

Alrik fluchte, wie ein Brabaker Gassenjunge, der er ja auch mal gewesen war. Sein Federhut flog einfach davon, und damit der letzte Schutz gegen den Hagelschlag. War das Hexenwerk? Die eisigen Geschosse wurden immer größer. Es half alles nichts, der Weibel hatte Recht. Nur in der Höhle waren sie einigermaßen sicher. Insofern dort kein Höhlenbär saß...

Durch die Nachtschwärze kämpften sie sich zurück, trafen nach und nach an der Höhle ein, wo sie Hesindian schon erwartete, im orangefarbenen Schein einer magischen Lichtkugel. Erschöpft stolperten sie hinein, vor Regen und teilweise auch vor Blut triefend. Immerhin, die Grotte war groß genug, um ein Dutzend Reiter mit Pferden aufzunehmen.

Drei Gefährten fehlten beim Durchzählen - zwei Grenzreiter. Und Haldana.

 

Ein Pfeil trifft niemals zweimal die gleiche Stelle. Ein Pfeil trifft niemals zweimal die gleiche Stelle. Ein Pfeil trifft niemals zweimal die gleiche Stelle.

Die alte Söldnerweisheit echote in Haldanas Kopf, während sie mit dem Rest ihres Bewusstseins versuchte, dass durchgehende Pferd unter Kontrolle zu bekommen. Es konnte einfach nicht sein, dass sie nach so kurzer Zeit schon wieder entführt wurde. Diesmal von ihrem eigenen Pferd. Ein Missverständnis. Die Götter mussten doch endlich mal ein Einsehen mit ihr haben.

Es war alles wie in einem verrückten Traum. Ihr Warunker flog über den Pfad hinweg, der längst rutschig war von den unzähligen Eiskörnern. Dass sie nicht schon längst gestürzt war, ins Wildwasser, das im Licht der zuckenden Blitze neben ihr, nein, unter ihr schäumte, war das eigentlich Verrückte.

Die guten Götter waren gnädig. Die Schlucht weitete sich wieder. Als Haldana im prasselnden Hagelschauer die Zügel aus der Hand glitten, fiel sie nur auf eine nasskalte Bergwiese. Eine junge Tanne bremste ihren Sturz ebenfalls.

Sie rollte sich einigermaßen geschickt ab und stand wenig später schon wieder auf beiden Beinen. So dass sie ihrem Reittier hinterher blicken konnte, das mit schleifenden Zügeln und wehenden Steigbügeln im Unwetter verschwand - hinaus in dunkelste Nacht, die gerade eben noch ein freundlicher Frühlingstag gewesen war.

Der majestätische Hangrutsch, der polternd und krachend einsetzte, sah im ersten Moment sogar faszinierend aus, im Flackern der Blitze.

Dann rannte sie auch schon um ihr Leben, als sich Unmengen von Geröll, Erde, Baumstämmchen und Gestein in eine Lawine verwandelten. Die Mure landete im Bach, verstopfte die Engstelle, staute das Wasser in wahnsinniger Geschwindigkeit auf und schleuderte allerhand Trümmer in die Umgebung. Wieder hatte sie Glück, keines der Geschosse traf sie. Zumindest nicht diese Geschosse.

Was aus den Wolken prasselte, verfehlte sein Ziel nicht. Einige Hagelkörner waren nun fast taubeneigroß. Schläge, Schläge, Schläge. Instinktgetrieben taumelte sie auf einen großen, viereckigen Schatten zu. Eine alte Hütte, im Blockhausstil. Die Tür war offen oder besser gesagt, sie fehlte ganz.

Haldana taumelte hinein, kroch unter dem Teil des Holzschindeldachs in Deckung, das (gerade noch so) vorhanden war.

Hell. Dunkel. Hell. Dunkel. Blitz auf Blitz leuchtete ins Innere der Hütte, gefolgt vom Brüllen des Donners. Aus Hagel wurde prasselnder Regen und fauchender Sturmwind.

Sie fröstelte, bibberte, lag in einer immer größer werdenden Eiswasser-Lache, die mit hereingerollten Hagelkörnern angefüllt war. Stimmen umwisperten sie. Geisterhafte Fratzen starrten sie an, eine kalte Hand griff nach ihrem Herz.

Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, ließ das dämonische Toben nach. Es wurde sogar heller. Der Regen verrebbte zu einem sanften Plätschern. Hörte schließlich ganz auf. Nur in der Ferne rollte noch Donner.

Sie kroch aus ihrer Hütte, rappelte sich auf. Freundliche Abendstimmung lag in der Luft, fast so, als wäre nichts gewesen.

Verstört sah sie sich um. Der Erdrutsch war fast an der engsten Stelle des Tals herunter gegangen, und hatte den Wildbach völlig verstopft. Immerhin, das Gewässer war stark genug, um sich einen Weg hindurchzubahnen, staute sich dabei allerdings mächtig auf. Über das Geröll und die zersplitterten Nadelbäume konnte man vielleicht noch hinüberklettern. Aber der aufgewühlte Stausee sah wenig vertrauenswürdig aus. Ganz so, als würde der Wasserdruck den Damm jeden Moment einreißen - und alles mit sich fegen, was sich ihm sonst noch in den Weg stellte. Immer wieder kollerten neue Steine die Schneiße herunter, die von der Mure in den Bergwald geschlagen worden war. Vielleicht würde es noch einen weiteren Bergrutsch geben? Alles am Ort der Katastrophe schien sie warnen, nein, anschreien zu wollen: Bleib fern von hier.

Abgeschnitten. Sie war von ihren Freunden abgeschnitten.

Als Kind der Sichel wusste Haldana nur zu gut, wie launisch das Wetter in den Bergen sein konnte. Aber dieses Unwetter war irgendwie zu heftig und plötzlich über sie und ihre Gefährten hereingebrochen. War das Sisa Brundels Werk? Wieder mal ein Hexenfluch?

Sie sah nach ihrem Pferd, aber nicht einmal Hufgetrappel war zu hören. Die umliegenden Gipfel schimmerten sanft im Abendrot, fast schon wie beim Sichelglühen. Irgendwo in den Wäldern heulten Wölfe. Witterten sie Frischfleisch?

Der Rapier hing noch über ihrem Rücken, wie sich das gehörte. Zumindest spürte sie die Klinge dort.

Was nun? In den Packtaschen befanden sich ihr Proviant, eine warme Decke und einige andere Dinge, auf die sie hier draußen ungern verzichten wollte.

Nur war ihr Hab und Gut mit dem Braunen gerade Praiosweißwohin galoppiert. Also erst mal hinterher.

Das Tal hier sah eigentlich recht freundlich aus. Einige hundert Schritt vom Felssturz entfernt wirkte der Bach fast normal. Türkisfarben plätscherte er in einem großen Geröllfeld dahin. Keine Spur vom Pferd.

Sie folgte dem gut ausgetretenen, regennassen Pfad. Hagelkörner knirschten unter ihren Füßen. Ein besonders markanter Berg fiel ihr ins Auge, der ein wenig wie ein geduckter Reiter aussah, der von oben in das kleine Tal blickte. Wie ein Ferkina – oder ein Kurga? War das der berühmte Kurgasberg?

Die Schlucht beschrieb eine sanfte Biegung. Rasch wurde es dunkler. Die Nacht brach herein, diesmal die echte. Der eine oder andere Stern blinkte zwischen Wolkenresten. Das Madamal stieg auf und hüllte alles in silbriges Licht. Rauchfarbener Nebel wallte aus dem Schatten der Wälder.

Erstaunt sah Haldana weitere Lichter im Halbdunkel flackern. Schindeldächer, Natursteinmauern und Holzwände tauchten im Mondlicht auf, hinter einem Palisadenwall. Ein hölzerner Wachtturm ragte empor. Am Bach klapperte ein Mühlrad. Lautes Stimmengewirr war zu hören, vielleicht aus einer Taverne. Ein, nein, eher zwei Dutzend Häuser. Die meisten bestanden wohl aus Holz, einige wenige aus Stein. Ein kleiner Tempel stand in der Mitte der Siedlung, am Dorfplatz. Rauch stieg über den Kaminen auf. Einige hundert Schritt hinter dem Dorf rauschte ein Wasserfall einen steilen Felsen hinab, nicht weit vom "Reiterberg" entfernt.

Alles war unwirklich, wie in einem Traum, der noch kein Alptraum war - aber doch bedrückend. Das Dorf schien irgendwie aus Nacht und Nebel zu bestehen, nicht aus echten Holzbalken oder Steinblöcken. Angst stieg in Haldana auf, aber noch etwas anderes: Eine Art gespannte Erwartung lag in der Luft, wie auf einer nächtlichen Jagd, wenn sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten und Dinge sahen, die bislang im Verborgenen geblieben waren. Ihre ungemein geschärften Sinne sahen beides: Ein trostloses Ruinenfeld - und das Dorf. Beide Szenen schienen einen Moment lang ineinander zu verschwimmen, wie bei einer Fata Morgana in der Khomwüste (eine Luftspiegelung, von der ihr einmal ein reisender Händler erzählt hatte).

"Willkommen in Kurgasberg". Obwohl die Stimme vertraut war, zuckte Haldana innerlich zusammen. Ein zarter Geruch nach Bienenwachs drang in ihre Nase.

Sie drehte sich um und sah in das gütige, pummelige Gesicht von Nasdja, ihrer Ahnin. Ein himmelblaues Gewand, die Bienenkorb-Zöpfe, der kahl rasierte Schädel. Kein Zweifel, das war ihre Ururur… Großmutter.

"Nasdja, was machst du denn hier?"

"Geister heften sich gerne an, eine alte Untugend. " Die Zibilja hob ihr Pendel. "Entschuldige, ich musste dich schon wieder von deinem Körper trennen, in der Hütte. Dieses Tal ist bösartig. Verflucht. In deiner jetzigen Gestalt bist du sicher. Naja, etwas sicherer. Ich will nicht übertreiben."

"Du hast was?" Entsetzt sah Haldana auf ihre Hand, die tatsächlich durchsichtig wirkte. Das Mondlicht schien regelrecht hindurch zu scheinen. Da war wieder dieses schaurig-schöne Gefühl des Schwebens, des schwerelos Dahingleitens zwischen den Welten.

"Schau nicht auf die Ruinen, aus denen Kurgasberg heute besteht. Konzentriere dich auf die Häuser, wie sie früher einmal ausgesehen haben."

Verwirrt blickte Haldana zum Dorf. Runzelte die Stirn. Die Häuser gewannen tatsächlich wieder an Konturen, wurden "diesseitiger". Oder war sie es, Haldana von Schlotz, die tiefer ins Jenseits blickte? Tatsächlich schien das Tal mit einem mal ins Dunkle entrückt zu sein, während das Dorf klar und deutlich vor ihr aufragte.

"Was hat das alles zu bedeuten?"

"Kurgasberg ist ein Geisterdorf. Was glaubst du, könnte es mit diesem Namen auf sich haben, Kindchen?" Die Norbardin verstaute ihr Pendel wieder. "Du hast schon ein wenig über die Zwischenwelt gelernt, bei unserer letzten Begegnung. Aber ein ganzes Dorf voller Geister, das ist noch einmal etwas anderes. Heute ist der Jahrestag, musst du wissen."

"Der Jahreswas? Du sprichst in Rätseln."

"Natürlich tue ich das. Wir Norbarden sind schließlich ein hesindegefälliges Volk. Das Leben ist voller Rätsel. Eines davon ist der Tod. Während du in der Hütte gezittert hast, habe ich schon ein wenig von den Dingen erspürt, die in diesem Tal vor sich gehen. Es ist, als ob die Steine selbst zu einem sprechen würden, das Wasser, der Himmel und die Erde. Jedes Jahr im Frühling durchleben die Geister noch einmal das Ende von Kurgasberg. Das Ende im Giftregen einer Grünen Wolke, die um Mitternacht aus dem Bergwerk aufsteigen wird. Tief im Berg haben die Hauer etwas entdeckt, das besser unentdeckt geblieben wäre. Ungefähr dort, wo der Wasserfall entspringt. Vor etwas mehr als hundert Wintern muss an diesem Ort etwas Fürchterliches geschehen sein. Ich hatte leider nur eine kurze Vision davon. Leider, und Hesinde sei Dank. Der Regen, der aus der Grünen Wolke fällt, bringt Unheil. Rote Beulen und Pocken, die die Menschen in Windeseile in den Wahnsinn treiben. Sie müssen sich gegenseitig erschlagen haben: die einen, um sich vor dem Roten Tod zu schützen, die anderen, um ihr nacktes Leben zu retten. Sie haben manche der Kranken sogar in ihre Häuser gesperrt und diese angezündet. Die Gier nach dem Silber der Opfer hat wohl ebenfalls eine Rolle gespielt. Ein Teil hat sich gewehrt und wiederum die Angreifer erschlagen. Ein fürchterlicher Ort."

"Die Zorganpocken, ich verstehe." Haldana nickte. Hundert Götterläufe sollte das etwa her gewesen sein? Nun, dann war das wohl in der unseligen Kaiserlosen Zeit gewesen. Die Ära der Erbfolgekriege, als die grausamste aller derischen Pestilenzen ins Reich eingeschleppt worden war, durch aranische Kornschiffe.

"Gut zu wissen. Aber ich würde nun gerne wieder in meinen Körper zurückkehren. Die Trennung war das letzte Mal… nun ja, ziemlich gespenstisch."

"Nun, ich fand die Welt der Toten schon immer interessant. Schon zu Lebzeiten. Geister können überaus nützlich sein, nicht nur die irrlichternden Seelen der Menschen. Ich habe die Kurgasberger ein wenig belauscht. Wenn ich ihre Gespräche richtig deute, haben die Dorfbewohner damals einen mächtigen Luftgeist in ihre Dienste gezwungen."

"Einen Luftgeist?"

"Ja, ich glaube, es war Sisas Werk. Die Kurgasberger haben geglaubt, dass die Zorganpocken durch schlechte Luft zu ihnen heran geweht werden könnte. Also haben sie einen Luftelementar gebannt, der sie vor den Ausdünstungen der Welt da draußen beschützen sollte. In dem er einen ständigen leichten Ostwind über das Tal wehen ließ, weg vom Dorf."

"Moment. Sisa stammt aus Kurgasberg? Und sie ist… über hundert Jahre alt?"

"Ich glaube schon, auch wenn sie damals noch ein Kind gewesen sein muss. Allerdings ein Kind, das mit Geistern gesprochen hat, so wie du" Nasdja lächelte, ein wenig stolz. "Die Tochter des Dorfschulzen, Wim Brundel. Er hat durch sie den Wahren Namen des Sylphen oder Luftelfen erfahren, wie sie ihn nennen. Wie auch immer, das ständige Lüften hat den Kurgasbergern wenig genutzt. Die Sieche, oder auch nur der Wahnsinn, kam aus dem Innersten ihren kleinen, abgeschotteten Welt. Nicht von außen. Wie so oft. Aber all das ist längst geschehen und lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Geister ändern sich nicht mehr, das ist der Unterschied zur Welt der Lebenden. Ihr könnt euch noch ändern, eure Seele weiterentwickeln, vielleicht sogar vervollkommnen. Aber ich schweife ab. Es ist der Sylph, der jetzt Sisas Hexenhütte durch die Lüfte tragen muss. Das Riesenfass von Rommilys, auf dem du an den Darpat verschleppt worden bist. Das Fass verschließt gerade den einzigen Eingang ins Bergwerk, der bis ganz nach unten führt. Die Räuber sind in diesem Moment dabei, die Gefangenen dorthin zu bringen, in der Gegenwart. Wenn deine Gefährten das Ritual verhindern wollen, musst du den Luftgeist aus Sisas Knechtschaft befreien, damit er das Fass für euch beiseite heben kann."

"Moment, ich soll jetzt in dieses Geisterdorf hinein schweben, das offenbar immer noch in der Zeit Pervals lebt...?"

"Lebt ist vielleicht der falsche Ausdruck."

"Egal. Ich soll also mir nichts, dir nichts hinein spazieren und diesen...untoten Dorfschulzen nach dem Namen des Sylphen fragen?"

"Du lernst schnell. Aber keine Angst, ich werde dich begleiten."

"Warum habe ich den Verdacht, dass sie uns selber für Spukgestalten aus einer anderen Welt halten werden? Was wir ja auch sind - Leute, die Gespenster sehen? Also zumindest ich...du bist ja schon tot."

"Nun, die meisten Geister wollen im Grunde ihrer Seele erlöst werden. Um dann ins wahre Jenseits zu gehen. Auch wenn sie anfangs oft nicht wahrhaben wollen, dass sie Geister sind. Du hast es ja selbst schon erlebt, bei der armen Mia. Kurgasberg ist noch immer restlos überzeugt, ein Ort der Lebenden zu sein, kein Geisterdorf. So kann man sich irren."

"Sie werden uns niemals glauben...die denken doch, wir sind Verrückte. Fremde, die ihnen die Pest ins Dorf bringen. Wenn sie sich am Ende sogar gegenseitig abgeschlachtet und verbrannt haben, aus Angst vor den Zorganpocken."

"Mag sein, aber der eine oder andere Umstand könnte uns nützlich sein. Am letzten Tag von Kurgasberg - ein Tag, der seit über hundert Jahren wiederkehrt - ist die kleine Sisa spurlos verschwunden. Da sie ja immer noch unter den Lebenden weilt, kann sie nicht in ihrem Heimatdorf herumspuken. Wim Brundel und seine Frau Kiara vermissen ihre Tochter, und wären dankbar für jeden Hinweis auf ihren Verbleib. Natürlich müssen wir vorsichtig sein und behutsam vorgehen. Auf keinen Fall dürfen wir zugeben, dass wir aus dem Tiefland oder gar Rommilys zu ihnen gekommen sind. Letztlich müssen wir erreichen, dass Brundel uns vertraut und den Namen des Luftgeists nennt".

"Da würde ich aber gerne noch ein paar andere Umstände hören, die uns nützen könnten."

"Nun, die Kurgasberger nehmen Lebende wahr, sobald sie in ihr Dorf kommen, wenn auch nur äußerst schemenhaft. Ähnlich wie Geister. Die Räuber haben sich im einzigen unzerstörten Gebäude niedergelassen, dem Tempel des Ingerimm, in der Dorfmitte. Für die Kurgasberger spukt es in ihrem Tempel, was sie natürlich außerordentlich beunruhigt. Vor allem ihren Schamanen, wie sagt ihr: Geweihten? Sein Name ist Ingram Sohn des Ingalf. Er ist zugleich der Schmied. Für ihn ist es vollkommen unerklärlich, das in seinem Tempel, also auf heiligem Grund, Gespenster umgehen sollen". Nasdja lächelte erneut.

"Schließlich gibt es noch diese Entdeckung im Bergwerk. Die Kurgasberger sind heute auf eine Höhle gestoßen, mit merkwürdigen Zeichnungen, die sie ebenfalls ängstigen. Nun sitzen sie im Wirtshaus und beratschlagen, ob sie den Zugang verschließen oder den Abgrund weiter erkunden sollen, auf der Suche nach Erz. Die Wirtin heißt übrigens Raulinde Alfengrund. Sie ist böse, soviel kann ich spüren. Ich glaube, sie heckt schon seit längerem einen Plan aus, um an das Silber der Bergleute zu kommen - und mit der Beute anderswo noch einmal neu anzufangen, fernab von diesem finsteren Tal. Sie scheint einige der Bauern und Handwerker, die in Kurgasberg wohnen, auf ihre Seite gebracht zu haben. Das war dann wohl der Hauptgrund für das Gemetzel, neben der Furcht vor der Seuche: Nackte Gier. Die Pocken waren auch ein Vorwand, um ungestraft zu stehlen, zu morden und zu plündern."

"Raulinde Alfengrund? Doch nicht etwa eine Vorfahrin unseres Medicus?"

"Gut möglich. In diesem Dorf herrscht sehr viel Neid - und Hass auf den Schulzen, der offenbar selbstherrlich bestimmt, wer nach Silber schürfen darf und wer nicht. Wobei es sich nicht wirklich um einen Schatz handelt, auf den diese Alfengrund aus ist. Das Bergwerk scheint ziemlich erschöpft zu sein. Deswegen haben sie tiefer und tiefer gegraben...irgendwann zu tief."

 

Tuvok brummte etwas unverständliches vor sich hin, während er in mit seinem Bogen und etwas Holz ein Feuer bohrte. Der Nivese verwendete, anders als die meisten anderen Jäger, keinen Feuerstein, um Feuer zu machen. Seinen Bogen hatte er ohnehin immer dabei. Und da er im Feuerbohren geübt war, war der Jäger dabei nicht langsamer als andere mit dem Feuerstein. Bald prasselte ein kleines Feuer in der Höhle, das den durchnässten und durchfrorenen Männern gut tat. Auch Serdan und seine verbliebenen Männer und Frauen drängten sich um das Feuer.

Auf ein Wort, Magier“ brummte Tuvok.

Hesindian zog die Augenbraue hoch. „Wie kann ich dir helfen. Das Feuer brennt schon, eine Feuerlanze wäre nun verschwendete Kraft“ Hesindian bemühte sich, mit einer humorvollen Bemerkung die gedrückte Stimmung – ob des Verschwindens von Haldana und zweier Soldaten – zu heben.

Hmm“ brummte Tuvok in seinem gewohnten Ernst. „Ich glaube nicht, dass der Hagelschauer zufällig kam. Was meinst du, Magier?“

Er kam schon sehr plötzlich. Und Sisa ist eine Hexe. Ja, ich hatte auch schon den Gedanken, dass da ein fauler Hexenzauber dahinter steckt. Wettermeisterschaft ist zwar allgemein eher druidisches Metier. Aber jedenfalls gibt es eine Formel, die den Hagelschauer verursacht haben könnte. Ich kann das aber nicht sicher feststellen.“ antwortete Hesindian sachlich.

Ich hatte auch schon an Magie gedacht.“ warf Jodokus ein. „Mein Großvater war Druide, das ist bekannt. Bei den Drudnern in der Sichel ist der Zauber nichts Ungewöhnliches. Und auch Gerrich beherrscht Magie. Er kann etwas von Druiden gelernt haben.“

Alrik nickte. „Denkbar. Es gibt genug schwarzmagische Umtriebe, auch in der Sichel. Wir wissen es nicht.“

Aber wenn das Unwetter von Sisa oder Gerrich gehext wurde,“ begann Tuvok, „dann wissen sie, wo wir sind. Mindestens ungefähr.“

Der Jäger sah ernst in die Runde, keiner der Mitstreiter wusste eine Antwort.

Dann bleibt die Frage, woher sie das wissen“ setzte Tuvok seine Analyse fort. Die Stimme des Jägers hörte sich jetzt fast an wie Hesindian, wenn er einen Fachvortrag rezitierte. „Von Kurgasberg aus hätten sie uns nicht beobachten können. Nicht mal mit so einem Zauberglas, wie du eines hast.“ Tuvok nickte in Richtung Jodokus. „Keine Sichtverbindung. Dann müsste ein Späher wo anders gewesen sein. In dem dichten Wald ist das aber kaum möglich, so weit zu schauen. Auch nicht an diesem Flusslauf. Und ein Späher wäre kaum so schnell wieder zurück nach Kurgasberg gelangt, um dort Meldung zu erstatten und die Hexe auf den Plan zu rufen.“

Was meinst du damit?“ wollte Jodokus wissen. „Und woher willst du wissen, dass Sisa und Gerrich in Kurgasberg sind? Sie könnten überall sein.“ Alrik hörte aus Jodokus Stimme dessen Unbehagen heraus. Sich mit Magie anzulegen war sicher nicht die Sache des Händlers.

Weiß ich auch nicht, wo sie sind.“ brummte Tuvok. „Aber ich meine, sie haben uns aus der Luft beobachtet.“

Nun, eine Hexe auf ihrem Besen hätten wir wohl gesehen“ warf Rovik ein. „Erst recht eine Hexe in einem großen Flugfass.“

Nein, kein Besen. Kein Fass.“ Tuvok flüsterte. „Adler sind scheue Tiere. Sie spähen nicht da nach Beute, wo ein Jäger pirscht. Und erst recht nicht dort, wo eine Horde gepanzerter durch den Wald zieht. Überdies, Adler jagen viel lieber über offenem Gelände. Im dichten Wald tun Adler sich viel schwerer, Beute zu greifen.“

Was meinst du mit Adler?“ wollte Jodokus wissen. „Welcher Adler?“

Hat ihn keiner gesehen? Keiner von Euch hat den Adler gesehen, der über uns gekreist ist, als wir durch den Bergwald geritten sind?“ Tuvok sah in die Runde, alle Gefährten schüttelten den Kopf. Niemand war der Adler aufgefallen. „Der gleiche Adler ist übrigens schon über dem Rabenkopf gekreist, als ich den Berg bestiegen habe und mit diesem Zauberglas die Flusshexe gesehen habe.“

Woher weißt du, dass das der gleiche Adler war?“ hakte Jodokus nach.

Stadtmensch. Kannst du einen Hund wieder erkennen, der durch die Gassen stromert, oder schauen für dich alle Hunde gleich aus. Ich erkenne einen Adler wieder, wenn ich ihn sehe. Es war der gleiche. Aber für den gleichen Adler wäre die Entfernung doch recht groß vom Rabenberg bis hier her. So große Jagdreviere haben Adler üblicherweise nicht. Außerdem… woher haben die Räuber gewusst, dass sie zur Flusshexe kommen sollen und dass wir sie mit dem Steig um den Rabenberg umgangen haben? Hast du vergessen, was Haldana an Bord belauscht hatte? Die Räuber hätten uns abfangen sollen. Woher hätten sie denn sonst wissen sollen, dass wir sie umgangen haben, wenn uns nicht irgendwer beobachtet hätte? Es war kein Adler, was ich sah. Es war ein Späher. Magier, was sagst du dazu?“

Hesindian legte den Finger an die Wange. „Es gibt da natürlich Zauber, mit denen man Tiergestalt annehmen kann. Ein Zauber der Elfen. Die Thesis kenne ich, ich habe sie damals von Jirka gelernt. Der Zauber ist aber auch unter Magiern, Druiden und Hexen durchaus verbreitet. Es kann also durchaus sein. Aber es bleibt eine Theorie. Wenn ich den Adler in der Nähe sehe, dann könnte ich das überprüfen...“

Wenn ich den Adler in der Nähe sehe, überprüfe ich das selbst“ unterbrach Tuvok und fasste nach seinem Bogen. „Ich schieße ihn einfach von Himmel. Einerlei ob das Sisa oder Gerrich ist.“

So kann man es natürlich auch überprüfen“ stimmte Hesindian lapidar zu. „Mit dem Tod würde ein verwandelter Magier seine ursprüngliche Gestalt annehmen. Ich erinnere mich da an einen Pfeilschuss von Odilon Wildgrimm, damals, Alrik, auf unserer Maraskanreise, du erinnerst Dich? Da hatte der feindliche Magier auch in Vogelgestalt versucht, uns auszukundschaften. Ist über der alten Kapelle gekreist, in der wir uns verschanzt hatten. Aber wenn die Ausgekundschafteten über einen guten Schützen verfügt, wie wir damals, ist das… ja, riskant für den Zauberer.“

Ja, ich erinnere mich.“ Alrik nickte. „Das ist eine Weile her, damals in Mylendijians Klause. Hat einen mächtigen Rumms gemacht, als statt eines Federviehs ein ausgewachsener Mann auf das Dach gefallen ist. Der Schuss von Odilon war nicht schlecht. Aus dem Liegen heraus geschossen, hinter einer Sanddüne in Deckung liegend. Damit hatte der Magier nicht gerechnet. Nun, Tuvok, wenn uns wirklich dieser Gerrich aus Adler auskundschaftet, ich kann mich mit deiner Methode zur Überprüfung wirklich anfreunden.“

12. Kapitel

12. Kapitel

Das Geisterdorf

 

Haldana rieb sich die schmerzende Stirn. Wo war Nasdja?

Richtig. Nasdja war… ein Geist, und Haldana war aus ihrer kurzen Ohnmacht nach dem Sturz vom Pferd erwacht. Ihr brummte immer noch der Schädel. So langsam reichte es mit den Entführungen, durchgehenden Pferden, Geistererscheinungen. Es war nun wirklich zu viel. Wo waren ihre Gefährten? In der Höhle. Haldana erinnerte sich, dass ihre Gefährten die rettende Höhle aufsuchen wollten. Sollte sie zurück gehen? Den Weg würde sie wohl finden. Auch wenn sie sich auf dem durchgegangenen Pferd nicht wirklich auf den Weg geachtet hatte, man musste kein Fährtenleser sein, um die Hufspuren im aufgeweichten Boden zurück zu verfolgen.

Wo war ihr Pferd? Jodokus Pferd? Sollte sie zuerst der Spur weiter folgen und den Warunker suchen, den Jodokus ihr geliehen hatte? Nein, das würde jetzt zu lange dauern. Die Bardin sah sich um. Das Ruinendorf. Nur ein Haus, der Ingerimmtempel, von dem Nasdja berichtet hatte, schien unbeschädigt zu sein. Von den anderen Hütten des Dorfes waren nur die Grundmauern und einige wenige Balken noch an ihrem Platz. Schutthaufen, zu Boden gefallene Dachziegel, zerbröckelte Mauersteine lagen umher.

So langsam hatte Haldana herausgefunden, wie sie ihre Augen auf das ungewohnte Nebeneinander von Geisterwelt und realer Welt einstellen konnte. Wenn sie durch die Ruinen hindurch sah, so als würde sie sich auf ein fernes Ziel konzentrieren, dann verschwammen die Ruinen vor ihren Augen und sie erkannte die Geisterwelt, die aussah, als wäre das Dorf noch so wie vor hundert Jahren. Konzentrierte sie ihren Blick auf die Mauern, so verblasste die unwirkliche Scheinwelt. Haldana schauderte. Aller Verstand riet ihr, die unheimliche Stätte sofort zu verlassen und zu ihren Gefährten zurück zu kehren.

Allein, ihre Füße bewegten sich nicht vom Dorf weg, sondern auf das Dorf zu. Die Neugier war stärker als die Angst und die Vernunft. Wie schon bei dem Fass im Kornfeld setzte die Vernunft schlicht aus. Es wäre normal gewesen, zu flüchten und Hilfe zu holen.

Aber Nasdja wirkte auf sie so vertraut, so als wäre sie mit der Ahnin schon seit Jahren bekannt. Nasdja würde nichts von ihr wollen, das ihr Schaden würde, das wirklich gefährlich würde. Und die alte Ahnin hatte sie um etwas gebeten, hatte ihr gesagt, was zu tun sei. Konnte sie das ignorieren?

Alles in Haldana schien ihr zu sagen, dass sie sich in Gefahr begab, dass sie Kurgasberg nicht betreten sollte. Aber die Warnungen drangen nicht an ihr Bewusstsein. Haldana schritt entschlossen auf das Ruinendorf zu, näherte sich den alten Hütten und Häusern. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, auf die fernen Berge hin. Die Ruinen verschwammen vor Haldanas Augen.

Haldana nahm schemenhafte Bewegungen aus dem Augenwinkel war. Sie drehte den Kopf. Ein Geist? Etwas bewegte sich. Es dauerte einen Moment, bis Haldanas Augen sich an die geisterhaften Erscheinungen gewöhnten.

Ein geisterhaftes Schild wackelte im Wind. Konnte ein geisterhaftes Schild eigentlich im Wind wackeln, oder wackelte es aus einem anderen Grund? Das musste das Wirtshaus sein. Gewesen sein, sollte Haldana wohl besser denken. Immerhin sahen ihre Augen die Dinge aus der Geisterwelt. Warum eigentlich? Die Bardin wusste noch immer keine Antwort, aber sie war nicht sicher, ob ihre Gefährten das Dorf ebenfalls sehen könnten, wären sie denn hier. Jedenfalls war es vielleicht besser, einen Bogen um die Geistertaverne zu machen. Wenn diese Wirtin böse war, wie Nasdja gesagt hatte. Zur Lore, so stand es nicht minder unwirklich auf dem Geisterschild. Ein passender Name für ein Wirtshaus in einer Bergarbeitersiedlung.

Vielleicht war es besser, zum Tempel zu gehen. Das Gebäude war intakt. War das Zufall, oder hatte das Unheil vor dem heiligen Haus Halt gemacht, vor hundert Jahren? Auch das würde sie vermutlich nie erfahren. Aber die Räuber hatten ihr Lager in dem alten Gemäuer. Nun, egal. Derzeit brachten sie ja gerade die Gefangenen in die Mine, hatte Nasdja gesagt. Vielleicht die beste Gelegenheit, sich gerade jetzt dort umzusehen. Vielleicht war das hilfreich. Bevor sie zum Dorfschulzen ging. Nein, was dachte sie da. Seit wann nahm sie Aufträge von Toten entgegen um Geister zu befragen? War sie jetzt völlig von Sinnen?

Offenbar schon, dachte Haldana und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. Wenigstens war es im Tempel warm. Ein warmer Lufthauch strömte ihr entgegen, als sie das gemauerte alte Gebäude betrat und die Tür hinter sich schloss. Ein Feuer brannte in der Esse. Ein Feuer, das die Räuber angemacht hatten? Oder war es ein Ingerimmsfeuer, wie es in den Tempeln des Herrn Ingerimm zu sehen war? Herrje, es war das erste mal in ihrem Leben, dass Haldana einen Tempel des Schmiedegottes betrat. In ihrer Heimat hielt man es mit Travia, Firun, Praios. Einige glaubten auch an Sokramur oder an die Wilde Jagd. Aber Ingerimm… bevor sie Rovik vor einem Jahr getroffen hatte, hatte sie sich nie näher mit der Ingerimmkirche befasst. Tempel des Ingerimm gab es in Zwerch und in Rankaralire, diese hatte sie aber auch nicht besucht. Brannten die heiligen Feuer des Ingerimm eigentlich von selbst, so lange der Tempel geweiht war? Oder musste man wie bei einem gewöhnlichen Feuer Brennstoff nachlegen? Die Bardin wusste es nicht zu sagen. Nun, sie würde es ja sehen, wenn sie länger im Tempel bliebe.

Zu lange durfte sie nicht bleiben. Die Räuber konnten zurück kommen. Die Räuber? Haldana versuchte sich, an die Halunken zu erinnern, die sie im Kampf um die Flusshexe gesehen hatte. Aber sie konnte sich nur an den einen Hünen erinnern, der sie als Geisel genommen hatte und den sie erstochen hatte.

Haldana sah sich im Tempel um. Mehrere Schlaflager, Rucksäcke, etwas Proviant in Kisten verpackt… Der Tempel war ein gutes Lager für eine Räuberbande, sicherlich. Hier würde sich kaum eine Menschenseele hin verirren. Der Weg war weit und beschwerlich zur Straße am Fluss, sicherlich, aber der Rückzugsort war gut.

Haldana stellte sich an das Feuer und wärmte sich etwas auf, während sie sich weiter umsah. An der Rückwand, hinter den Schlaflagern der Räuber, war noch das Relief erkennbar, das den Herrn Ingerimm mit Hammer und Amboss zeigte. Ein wenig verwittert, und Teile des Steinbildes waren abgebröckelt, aber es war in einem guten Zustand, trotz hundert Jahren, in denen das Bildnis Wind und Wetter ausgesetzt war und in denen der Tempel nicht gepflegt worden war.

Ein Durchgang führte vom Hauptraum des Tempels in weitere Räume – eine Tür, die dort wohl früher war, war längst vergangen. Aber zuerst sah sich Haldana die Habe der Räuber durch. Das war wenig ergiebig. Schmutzige Kleider, nichts von Wert. Nur eine Kiste mit Bolzen fand Haldana. Die Armbrustschützin. Haldana erinnerte sich an die Trollbergerin mit der Armbrust. Sie nahm die Bolzen und legte sie in das Feuer.

Ein plötzlicher Schauer durchfuhr Haldana. Sie fühlte sich beobachtet. Schnell drehte sie sich um.

Niemand war da. Nein. Haldana ließ ihre Augen wieder in die Ferne schweifen. Die alten Tempelmauern verschwommen vor ihren Augen. Nun erkannte sie, wer sie beobachtet hatte. Ein Geist. Schwach erkannte die Bardin die Robe eines Ingerimmgeweihten, einen Geist von zwergischem Aussehen, nicht größer als Rovik.

Hochwürden Ingram, Sohn des Ingalf?“ sprach Haldana den Geist an, der gerade Anstalten zu machen schien, selbst zu flüchten. Der Geist hielt inne, drehte sich langsam zu Haldana. Wenn Geister einen Gesichtsausdruck haben, so sah dieser gleichzeitig furchtsam wie auch entschlossen aus.

Hochwürden!“ rief Haldana erneut.

Der Geist schien überrascht. Aber er hörte Haldana, das zeigte die Reaktion eindeutig.

Welcher Geist sucht mich hier heim im Tempel?“ fragte der Geist. „Was sucht eine Spukgestalt an diesem heiligen Ort?“

Beinahe hätte Haldana gelacht. Aber ihr fiel ein, was Nasdja gesagt hatte. „Die Toten wissen nicht, dass sie tot sind“ murmelte die Bardin, zusammenfassend was sie aus der Erzählung ihrer Ahnin verstanden hatte.

Es schien, als würde der Geist lachen. Ein halb befreites, halb ängstliches Lachen.

Ich verstehe. Geister halten sich für lebend, deshalb fahren sie nicht übers Nirgendmeer. Ist es das, was du sagen willst, Spukgestalt? Diese sieben Gespenster, die seit einigen Wochen den Tempel heimsuchen? Die wissen nicht, dass sie Gespenster sind? Und du willst es ihnen sagen? Dann weißt du, dass du tot bist?“

Haldana bemühte sich, zu lächeln. Von einem Geist als Spukgestalt bezeichnet zu werden, das war mit dem Wort ungewohnt nicht mehr zu bezeichnen.

Das ist eine sehr interessante Frage. Die sieben Geister?“ Haldana kombinierte. „Du meinst diese Räuber, die hier im Tempel hausen? Nun… Dann lass Dir gesagt sein, zwei von Ihnen haben inzwischen erfahren, dass sie tot sind.“ Die junge Schlotzerin wusste nicht wirklich, was sie antworten sollte. Aber dass zwei der Räuber gefallen sind, das konnte sie bedenkenlos erzählen.

Zwei… ja. Zuletzt habe ich nur noch fünf Geister gesehen. Nein. Es waren mehr. Es waren zwölf…“ Der Geist schien verwirrt. Haldana war nicht weniger konfus. Immerhin, dank Nasdjas Erzählung und ihrem Wissen um die Geschehnisse außerhalb Kurgasbergs konnte sie sich einiges zusammen reimen.

Ihr habt Recht, Hochwürden. Von den sieben Räubergeistern habt ihr nur noch fünf gesehen. Die anderen Sieben, die sie begleiteten, waren von ihnen gefangen, nicht wahr?“ Das konnten nur die Traviaakoluthen sein, die Ingram gesehen hatte.

Der Geist nickte. „Aber du kannst mich sehen. Du kannst mit mir reden. Die anderen Geister reagieren nicht auf uns, sie sehen uns nicht. Warum?“

Auf diese Frage hatte Haldana keine Antwort. Lag es an Nasdja? War sie ein… ein Medium? Oder hatten die Räuber schlicht kein Interesse an den Geistern, die für sie harmlos und unbedeutend waren?

Die sieben, sie sahen wie Diener der Herrin Travia aus, nicht wahr?“ Haldana stellte eine Frage und ließ die Frage des Angroschim unbeantwortet. Wieder nickte dieser.

Gut, Hochwürden. Ich stelle Dir eine Frage. Wenn ein Geist also nicht weiß, dass er tot ist. Woher wisst Ihr dann, ob ihr lebt oder selbst ein Geist seid?“

Weil….“ begann der Zwergenpriester „das so ist.“

Haldana überlegte, dass es nichts bringen würde, Ingram zu erklären, wer nun ein Geist war und wer nicht.

Gut. Und genau so wie Ihr können auch die Räuber und die Traviadiener nicht wissen, ob sie Geister sind oder nicht. Wenn es selbst die Lebenden kaum begreifen, wie sollen es die Toten denn verstehen?“

Ingram sah Haldana fragend an. Das war nicht verwunderlich, konnte doch Haldana selbst kaum verstehen, was sie glaubte, von Nasdja erfahren zu haben.

Aber, Hochwürden, ihr könnt mir helfen, die Geister zu erlösen. Nun… wie Ihr wohl gesehen habt, haben die Räuber die Diener Travias entführt. Es spielt dabei keine Rolle, ob nun Ihr oder die Traviadiener die Geister sind. Es geht um rechtgläubige Seelen, gleichgültig ob diese noch bei ihrem Körper sind oder nicht. Auf Euch als Priester kann ich doch zählen, die Seelen der Rechtgläubigen zu retten?“

Der Geist des Ingerimmpriester nickte erneut, völlig überrumpelt von den für ihn unheimlichen Ereignissen.

Gut so.“ Haldana dachte einen Moment nach. Eigentlich spürte sie selbst eine panische Angst in sich hochsteigen. Sie unterhielt sich hier mit dem Geist eines vor hundert Jahren verstorbenen Zwergen, als wäre es das natürlichste auf der Welt. Aber wenn sie eines als Sängerin gelernt hatte, dann war es, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Jedes Lied, jede Ballade und jede Geschichte erforderten es, dass man die Stimmung der Geschichte transportierte und nicht die eigene. Ein Sänger, der in der fernen Oper von Vinsalt auftreten wollte oder auch nur beim Gallyser Culturspectaculum, der musste ein fröhliches Lied singen können, selbst wenn er selbst todtraurig war. Sie hatte das lange genug geübt, die Stimmung auszustrahlen, die sie wollte und nicht die, in der sie selbst war. Nein, schon zuvor, beim Tod ihres Vaters, hatte sie gelernt, Trauer und Wut in Zaum zu halten und zu verbergen. Manchmal war das überlebensnotwendig.

Um die Seelen der Traviadiener zu retten, muss ich sie befreien. Sie werden in der Höhle, in der Mine, gefangen gehalten. Deshalb bin ich hier.“

Der Zwergengeist antwortete nichts.

Aber ich kann das nicht allein schaffen. Ich bin allein gegen die fünf Räuber. Und das ist nicht alles. Es müssen noch mehr Schurken hier sein, die den Traviadienern Übles wollen. Ein ältlicher Mann und eine scheinbar ewig junge Hexe müssen hier sein, vielleicht auch Geister. Ich weiß es nicht. Von diesen geht die eigentliche Gefahr aus. Nicht für mich. Vielmehr für Euch. Diesem Dorf droht Unheil. Irgend etwas Schlimmes geht hier vor. Kennt Ihr Euch in der Mine aus?“

Natürlich. Wer, wenn nicht der Diener Ingerimms, wüsste über die Mine Bescheid? Ich leite die Grabungen.“

Gut… doch ich denke, du weißt nicht alles. Irgend etwas haben die Mineure im Berg gefunden. Irgend ein altes Unheil wurde geweckt. Du kannst mir helfen.“

Haldana hatte keine Ahnung, ob es richtig war, was sie tat. Sie hatte keinen Plan. Und dennoch fütterte sie den Zwergengeist mit Informationen. Nun, Nasdja hatte gesagt, dass diese Alfengrund Übles plante. Aber dem Priester, dem konnte sie doch wohl vertrauen? Er würde über den Tod hinaus auf der zwölfgöttlichen Seite stehen, oder? Nun, sie hatte angefangen und sie konnte jetzt keinen anderen Weg mehr einschlagen.

Es scheint mir so, als hätten manche der Mineure oder auch andere im Dorf nichts gutes vor. Die Gier ist es, die sie treibt. Gier lässt Vorsicht vergessen, Hochwürden. Gier lässt Menschen Schlimmes tun. Ihr müsst vorsichtig sein. Und ich bitte Euch, mir zu helfen.“

Ja… Aber… Wer bist Du eigentlich“

Die Frage war zu erwarten. Welcher Lebende – oder wer, der sich für einen Lebenden hielt – würde sich denn von einem Geist Anweisungen erteilen lassen. Und ein Geist war sie, jedenfalls in den Augen Ingrams. Aber was sollte sie sagen? Dass sie die Baronin von Schlotz war? Absurd. Eine Baronin, die mit Geistern sprach war lächerlich. Und ein Titel würde hier auch nichts nützen, weil er nichts erklärte.

Ich bin die Urenkelin einer längst verstorben Schamanin. Wie alt seid ihr, Hochwürden? Wie lange lebt ihr schon hier? Vielleicht schon Jahrzehnte oder gar hundert Jahre, wie das in Eurem Volk möglich ist. Meine Ahnin jedoch verstarb lange bevor hier eine Bergbausiedlung entstand. Das Unheil, das durch die Mineure freilegten, ist jedoch schon länger hier begraben.“

Eigentlich klappte das ganz gut, dachte Haldana. Sie musste auf den armen Priester ebenso geheimnisvoll wirken, wie Nasdja ihrerseits auf Haldana gewirkt hatte. Geheimnisvoll, aber durchaus vertrauenserweckend. Nur dass Nasdja wusste, was sie erzählte, wohingegen Haldana nicht viel wusste, sondern sich teils vage hielt, teils schlicht spekulierte. Jedenfalls hatte sie die Frage nach ihrem Namen noch nicht beantwortet. Nun, wenn der Priester nicht erneut danach fragte, würde sie es besser lassen.

Aber worauf sollte Haldana nun hinaus? Sollte sie den Geist ausschicken, ihre Gefährten zu verständigen? Hesindian als Magier würde vielleicht ebenso mit Geistern reden können. Oder sollte sie um Hilfe bitten, von Wim und Kiara den wahren Namen des Luftgeistes zu erfahren. Nun… Letzteres war vermutlich zielführender. Die Eltern Sisas würden dem Priester vielleicht vertrauen, wohingegen eine von einem Geist überbrachte Botschaft auch nach hinten losgehen konnte.

Nun, Hochwürden. Ich muss mit den anderen Dorfbewohnern reden. Ich bitte, dich, sage Ihnen, dass sie keine Angst vor mir haben müssen. Ich weiß, wie seltsam das alles scheint, wie viel Angst ihr haben müsst. Aber das Unheil, das über Eurem Dorf liegt, könnt ihr nicht allein bekämpfen. Ihr könnt es nicht mit den Räubern aufnehmen, die in Eurem Dorf spuken. Ich kann es, wenn ihr mir helft. Darum bitte ich Euch, Hochwürden, helft mir, dem Dorf zu helfen.“

"Tritt ersteinmal näher an das Heilige Feuer" sagte der Zwergenpriester, mit feierlichem Bass

in der Stimme. "Lass mich dich ein wenig genauer ansehen! In seinem Schein trennt sich das Unlautere vom Beständigen."

Haldana tat, wie ihr geheißen worden. Lag es am Feuer, oder an dem Gefühl von Hitze, das die glosenden Flammen verbreiteten: Einen Moment lang wurde ihr schwindlig.

Als ihre Seele vom Körper getrennt worden war, da hatte sie sich in einer Hütte befunden. Aber die stand einige hundert Schritt vom Dorf entfernt. Ihr letztes "Erwachen" war weitaus näher an Kurgasberg gewesen. Und was hatte Nasdja zu ihr gesagt? Es wäre sicherer für sie, wenn der Geist von ihrem Körper getrennt wäre. Warum war sie dann wieder in ihre derische Hülle zurückgekehrt?

War sie das überhaupt: in ihren vertrauten Leib zurück gekehrt? Sie spürte gerade keinerlei Müdigkeit, keine Erschöpfung und auch nicht die Folgen des Hagelschlags, der durchaus schmerzhaft gewesen war. Nur eine angenehme Mattigkeit, eine gelöste Stimmung, wie bei einem leichten Höhenrausch, als stünde sie hoch oben auf einem Gipfel der Schwarzen Sichel, über dem Wolkenmeer.

Haldana blickte wieder auf ihre Hand, die blaß wirkte, gräulich und leicht durchscheinend. Die Bardin keuchte.

Weißlicher Kälteatem stieg auf, gleich neben der Heiligen Esse. Ein Feuer, das eigentlich warm und freundlich war.

Zumindest warm und freundlich zu sein schien.

Sie war noch immer ein Gespenst?! Aber irgendwie war sie gerade...gesprungen, von einem Ort zum anderen. Auch ihre "Großmutter" war verschwunden. Alles fühlte sich unwirklich an, wie in einem Traum. Vermutlich wurde sie deswegen nicht vom Grauen überflutet. Hier wirkten Kräfte, die sie nicht verstand.

Der Zwerg stand immer noch vor ihr, in seiner Lederschürze und hatte mittlerweile zum Hammer gegriffen.

Sie musterte den kleinen Mann. Die rotbraunen Haare waren zu Zöpfen geflochten, auch der Bart. Anders als bei Rovik war das Gesicht nicht klobig, sondern scharf geschnitten, einschließlich der Nase. Ingram sah verschmitzt aus – oder verschlagen? Wie konnte es sein, dass ein Geweihter nach dem Tod dazu verurteilt war, als Spuk herumzuirren, in einem trostlosen Gebirgstal wie diesem? Hatte er sich am Ende von seinem Gott abgewandt? Oder Ingerimm von seinem Diener?

Erst jetzt, im flackernden Lichtschein des Tempelfeuers, nahm sie den zarten, grünlichen Schimmer wahr, der von der Gestalt des Priesters ausging: ein ungesunder, fahler Farbton, der Haldana an den giftgrünen Schleim im Pechfass erinnerte, damals in Jodokus Brauerei. Ein mattes Glühwürmchen-Grün...merkwürdig, dass das Ingram nicht auffiel. Sie sah an sich selbst herab. Nein, ihr Leib war zart-durchsichtig wie Laternenpapier, das man vor eine Kerze hielt, aber nicht grünlich.

Ob die Aura des Priesters mit dem verfluchten Regen zusammenhing, der aus der Grünen Wolke auf das Dorf gefallen war? Das Gift schien immerhin dämonischen Ursprungs zu sein. War das der Grund, warum die Seelen der Kurgasberger nicht Einzug in die Zwölfgöttlichen Paradiese halten konnten? Oder in die Verdammnis, je nachdem?

Haldana hätte sich jetzt gerne mit einem Geweihten unterhalten, über dieses Problem. Aber der einzige, der, mehr oder weniger, greifbar war - der schien Teil des Problems zu sein.

Ingram hob die mächtigen Augenbrauen, in scheinbarem Erkennen.

"Nein...Nein, du bist kein Gespenst", stellte er fest, und klang dennoch beunruhigt.

"Die Anderen...das sind nur Schemen...Geräusche...Stimmen...Gerüche. Manchmal widerliche Gerüche. Dich aber sehe ich ganz deutlich. Was bist du? Eine Zauberin? Hast Du diese Geister herab beschworen? Im Hause des Herrn des Feuers? Das wäre Frevel… Überhaupt, was trägst du für eine gar seltsame Haartracht?"

Die junge Adelige wusste für einen Moment nicht, was sie antworten sollte.

"Bist du eine Spionin? Sag an, auf welcher Seite im ewigen Thronstreit stehst du? Geldana? Oder Perval?"

Totenstille.

Perval, den Namen hatte Haldana natürlich schon gehört. Das war der grausame Kaiser, der siegreich aus den Erbfolgekriegen hervorgegangen war.

Der Sohn Bardurons von Mersingen, der in der Schlacht von....sie kam sich vor, als stünde sie gerade vor ihrem Hauslehrer, auf Burg Schlotz. In der Schlacht um Albernia gefallen war? Von Elenvina? Egal, in irgendeiner Schlacht im Westen war Barduron tödlich verwundet worden.

Das war sicherlich vor mehr als einem Jahrhundert gewesen. Geldana, der Name sagte ihr im Moment nichts, auch wenn er ihrem eigenen ähnelte. Sie war froh, diesen nicht genannt zu haben. Offenbar waren Geldana und Perval verfeindet, und das bedeutete, Partei ergreifen zu müssen.

Die Kaiserlose Zeit. Ein Menschenleben lang Krieg.

Diese unseligen Jahrzehnte kannte sie eigentlich nur aus ihren Balladen. Brennende Dörfer, entvölkerte Provinzen, aufgeknüpfte Elendsgestalten. Trommelwirbel, Federbüsche, flatternde Fahnen. Landsknechte und Söldner, die für ihren jeweiligen Kaiser kämpften, ebenso wie um das Gold fremder Königreiche. Oder einfach nur ums nackte Überleben. Mehr als siebzig Herrscher sollten es am Ende gewesen sein. Diese Zahl hatte sie irgendwo aufgeschnappt, ebenso ein paar Namen. Flanedrius, Tedesco. Oder eben Barduron und Perval…

Bet, Kindlein, bet. Morgen brennt Gareth. Ing´rimmskäfer flieg. Die Mutter ist im Krieg. Der Vater ist im Tobrierland. Tobrierland ist abgebrannt...

Unwilkürlich hatte sie die todtraurige Melodie gesummt, als "Pfeifen im Walde", um ihre Furcht zu überdecken.

Wenn Ingram das Lied kannte, ließ er es sich nicht anmerken. Er senkte seinen Hammer.

"Stehst du überhaupt noch auf irgendeiner Seite, armes Kindlein?" Der "grüne Zwerg" schüttelte den bärtigen Kopf, und klang ebenfalls traurig.

Vermutlich hielt er sie jetzt eher für eine Verrückte, eine Landstreicherin, der das Elend des Krieges den Verstand gekostet hatte.

Sich als Gespenst auszugeben war ja auch nicht gerade die beste Tarnung für eine Spionin.

Der Meister der Esse wich zurück. "Du siehst wirklich ein wenig wie ein Geist aus" sagte er. "Bist du krank? Kommst du aus dem...Süden? Von Praios her?"

"Aus dem Norden" sagte sie einsilbig.

"Fürwahr, du sprichst wie jemand aus den Sichellanden...?"

"Ja..."

"Hausen da oben immer noch die Tobrier?"

"Äh, ich denke, ja..."

"Stimmt es, was man sich erzählt - dass das tobrische Kriegsvolk sich bereits mit Geldanas Haufen vereint hat? Und sie nun gemeinsam gegen Perval marschieren, den Vatermörder?"

Geldana...Geldana...so langsam konnte sich Haldana wieder an ihren Geschichtsunterricht erinnern, nebst Einweisung in die Historie der bedeutenden Adelshäuser Aventuriens. Jetzt konnte sie das Wissen wenigstens einmal anwenden, das ihr damals höchst unnütz vorgekommen war. Nicht, dass sonderlich viel davon haften geblieben war...aber Geldana, ja, die "Kaiserin", die fast genauso hieß wie sie, und einen Nivesen geliebt hatte - bei diesem Namen dämmerte ihr so langsam doch etwas.

Geldana war eine nahe Verwandte Pervals gewesen, seine Base oder Schwägerin. Die Herrin in Garetien, die sich nach dem überraschenden Tod "Kaiser" Bardurons zur Reichsverweserin ausgerufen hatte. Perval "der Ritterliche" hatte seine aufsässige Verwandte aber rasch in die Flucht geschlagen. Geldana von Gareth hatte dann den Rückzug in den hohen Norden angetreten, dort einen Nivesenkrieger geehelicht und das Haus der Herzöge von Paavi gegründet. Ihre Herrschaft und ihr Sturz waren in einem einzigen Götterlauf über die Bühne gegangen - eine runde Zahl, auch daran konnte sich Haldana jetzt wieder erinnern. 920? Nein, später. Wahrscheinlich930 nach Bosparans Fall. Die "Jahre des Richtblocks" hatten in dieser Zeit begonnen, als Perval seine letzten Widersacher im Reich beseitigt hatte.

"Von solchen Dingen weiß ich nicht viel, Hochwürden."

Haldana musste trotz allem schmunzeln. Sie reiste ebenfalls mit einem Nivesen durch die Lande, und hatte fast den gleichen Namen wie diese Geldana. Eine grausameTyrannin, derman nachsagte, Feinde lebendig eingemauert zu haben. Das unterschied sie dann doch ein klein wenig, Geldana und Haldana.

Der Zwerg musterte sie ausgiebig. "Wie bist du über die Palisade gekommen? Die Kurgasberger dulden keine Fremden in ihrem Dorf. Wer hat dir die Haare abrasiert - und warum?"

"Die Darpaten wollten nachsehen, ob ich die Pocken habe", sagte Haldana geistesgegenwärtig. "Wie du siehst, haben sie nichts gefunden, nicht einmal auf dem Kopf."

"Die Aranische Seuche!" Ingrams Stimme bebte vor Grauen. "Das überhaupt noch jemand lebt, unten am Fluss?"

"Das ist schon einige Tage her, und seitdem habe ich keine Menschenseele mehr getroffen."

"Nun hältst du dich für einen Geist? Die anderen, waren das deine Gefährten, die an der Seuche gestorben sind?" Der Zwerg klang teils mitleidig, teils mißtrauisch und furchtsam. Haldana konnte förmlich spüren, wie er sich aus dem Gesagten eine Geschichte formen wollte, die mit der Welt zusammenpasste, die er kannte. Und in Wahrheit schon längst verloren hatte.

"Wahrscheinlich spricht aus dir das Fieber...Du hast doch nicht etwa vom Flusswasser getrunken? Ein Trunk, der einem wahrlich schlecht bekommt. Der Darpat ist verseucht, von den vielen Toten..."

"Du hast selbst gesagt, dass es stimmt, was ich dir von den Geistern erzählt habe. Sogar ihre Zahl. Ich muss sie erlösen!"

Jähes "Verstehen" flackerte im grünlichen Zwergengesicht auf.

"Du bist eine Zauberin ? Natürlich, ein Hexenweib...Ihr schneidet euch die Haare ab und bindet sie zu Knöten. Um Geister aus dem Totenreich herbeizurufen!" Ingram hob seinen Schmiedehammer. "Man sollte dich ins reinigende Feuer unseres Herrn Ingerimm werfen."

Haldana seufzte, begleitet von einem weißlichen Atemwölkchen. "Das war wirklich eine Zeit der Wirren damals" entschlüpfte es ihr.

Ein jähes Brüllen lenkte sie ab: "Selmiaaa! Selmiaaa!"

Als wären sie auf der Theaterbühne des Gallyser Culturspectaculums gelandet, stampfte plötzlich das Halbblut herein - ihr trollgroßer, zottelhaariger, buntbemalter Geißelnehmer vom Darpat. Die Hautgemälde waren allerdings schon verblasst, wie der ganze Räuber. Dafür hatte er nun ein großes, blutiges Loch im Hals. Seinen karierten Umhang zierte ein einziger großer, roter Blutfleck.

Trollings Augen irrten umher: "Wo bist du, verdammte Schlampe? Glaubst du, ich habe nicht gespürt, dass dich einer der Dreckskerle angegriffelt hat? Wer wars? Balrik - oder Roburn? Ich bin noch keinen Tag tot, und du gehst schon fremd, du Hure!"

Haldana überlegte, ob sie in Deckung gehen sollte oder sich verstecken sollte. Aber in ihrem Zustand war das wahrscheinlich schwierig. Oder konnte sie jetzt durch Wände laufen?

"Da ist das Miststück ja, das mich umgebracht hat!" brüllte der Räuber, mit hallender Stimme. Immerhin schien er keine Waffen bei sich zu haben - und zu wissen, dass er verblichen war. Nichtsdestotrotz stapfte er wütend auf Haldana zu.

"Im Namen des Allmächtigen Baumeisters der Welt!" Der Ingerimmgeweihte ging dazwischen. "Haltet ein! Das hier ist ein Haus des Ingerimm und damit Heiliger Grund! Wahret Frieden!"

Unbeherrscht schlug der Riese nach dem Zwerg, der durchaus geschickt auswich - und sich mit dem Hammer revanchierte.

Die Waffe prallte gegen das Bein des Störenfrieds und hinterließ eine merkwürdige leuchtende Wunde, die wie ein Blitz durch Trollings Leib zuckte. Ein weiterer Schlag, und Trolling zerstob wie eine Rauchschwade.

Ingram blickte triumphierend drein, aber auch ein wenig verwirrt, ob des unerwartet schnellen Sieges.

"Ah, entschuldige, Kindchen, er ist mir irgendwie entwischt" Nasdjas Stimme erklang, die nun ebenfalls in den Tempel schwirrte, mit wehenden Geisterzöpfen. Ein Duft nach Bienenwachs breitete sich aus.

"Nasdja, wo warst du?" Haldana war erleichtert, die Ahnin wieder an ihrer Seite zu wissen.

"Und-Ihr-seid?" fragte Ingram gedehnt.

"Nasdja Persanzeff. Ich diene Mokoscha, der Herrin der Bienen. Das, äh, ist meine Gehilfin..."

"Also doch Hexenwerk!"

"Nichts da. Mokoscha ist eine Tochter Ingerimms...zumindest behauptet ihr Diener der Zwölfe das von unserer Großen Mutter."

"Was hat das alles zu bedeuten? Norbarden? So weit im Süden? Steht ihr in tobrischen Diensten?"

"Nasdja, du bist einfach verschwunden...Das heißt, ich wurde irgendwie...zurückgeschleudert. Plötzlich war ich wieder im Tal. Was ist geschehen?"

"Ja, das ist mir am Anfang auch passiert. In diesem Geisterdorf sind wir Eindringlinge. Das Tal akzeptiert uns nicht als Teil von Kurgasberg, sobald es sich wieder an die Geschehnisse von damals erinnert...sozusagen...ach, es ist schwer zu erklären...mit Willenskraft kann man aber dagegen ankämpfen, gegen das Wegschleudern."

Ingram war nun völlig perplex. "Noch bin ich hier der Hausherr. Nach Ingerimm natürlich. Ich erheische eine Erklärung...und zwar eine, die mich überzeugt..."

Nasdja blickte zu Haldana. "Was hast du ihm erzählt? Hast du versucht, es ihm schonend beizubringen?"

"Moment", mischte sich wieder Ingram ein. "Sehe ich es Recht: Ihr seid die Schamanin, die seit vielen Jahrhundert verstorben ist?" Der Zwergenpriester versuchte ein amüsiertes Lächeln. "Ich zähle selber schon 120 Lebensjahre...aber Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass ich ihr diesen Unsinn abkaufe? Wahrlich, eure Gehilfin ist kein verirrter Geist. Mir dünkt, sie hat einen verirrten Geist!"

"Ich habe ihm gesagt, dass ich auf der Suche nach den Geistern von Traviapilgern bin, um sie zu erlösen", sagte Haldana. "Das war wohl nicht sehr....geistreich, oder?"

"Ach, Kindchen. Wie erklärt man das Unerklärliche? Aber uns läuft gerade die Zeit davon. Ich fürchte, wir müssen es ihm auf dem schnellen, harten Weg beibringen."

Nasdja wandte sich Ingram zu. "Hast du schon einmal vom Rasiermesser des Nandus gehört? Nandus, der Hüter der Einsicht und Erkenntnis? Ein Hesindediener hat mir einmal davon erzählt, vor ,äh, vielen Jahren."

"Ich rasiere mich selten" Der Geweihte versuchte spöttisch zu klingen, während er sich über seinen grünlich glimmenden Bart strich, gefolgt von einer auffordernden Geste.

"Nun. Wenn du alles ausschließt, was unmöglich ist. Dann muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unglaubwürdig sie dir auch erscheinen mag."

Haldana hob die Augenbrauen. Aha, eine solch hochphilosophische Herangehensweise war für Nasdja also der "schnelle, harte Weg" des Erklärens?

"Werte Dame, ich weiß nicht, ob wir von dem gleichen Sprichwort reden. Ich kenne die Weisheit, wonach einfache Erklärungen den komplizierten vorzuziehen sind."

"Nun denn. So spürst du noch die Gegenwart deines Gottes, in dieser Halle, und in dir selbst?"

Ingram schnaubte, eine Spur zu heftig. "Was für eine völlig unsinnige, nein, lästerliche Frage!"

Seinem Gesicht war allerdings anzumerken, dass die Zibilja einen wunden Punkt berührt hatte.

Die Norbardin lächelte milde. "Immerhin spukt es bereits, an diesem einstmals heiligen Ort..."

"Fürwahr, es sind unselige Zeiten, in denen wir leben. Das hier ist ein Haus des Ingerimm, kein Tempel des Götterfürsten, der jedwede Magie aus seinen Heiligtümern verbannt. Aber was heißt hier einstmals? Dieser Ort ist noch immer heilig! Auch der Schmiedegott schätzt zauberische Ränke nicht...die Welt des Handwerks und der Zivilisation ist wohlgefügt, so wie wir sie im Schweiße unseres Angesichts erschaffen, nach dem Vorbild des Großen Meisters. Mit Bedacht, Fleiß und Kunstfertigkeit. Nicht mit magischen Zeichen, Flüchen, Sprüchen, Gesten und anderen Absonderlichkeiten!"

Der Zwerg klang mahnend, wie ein Zunftmeister bei der Freisprechungsfeier.

"Aber du musst doch stumme Zwiesprache mit deinem Gott gehalten haben, was die merkwürdigen Ereignisse in seinem Tempel betrifft?"

"Gewiss."

"Was hat er dir geantwortet?"

Schweigen.

"Du hast ihn sicherlich auch gefragt, was es mit diesem Unheiligtum auf sich hat, in der Tiefe des Bergwerks?"

Ingram zwirbelte sich nervös die Bartzöpfe: "Ihr sprecht, als wüsstet Ihr bereits die Antwort?"

"Es ist ein Unheiligtum der erzdämonischen Feindin der Göttin Peraine" sagte Haldana und wunderte sich, wie ruhig sie klang.

"Verzeiht, dass ich Euch vorhin nicht die Wahrheit gesagt habe...nicht die ganze Wahrheit...ich verstehe, wie sehr Euch dies alles beunruhigen muss...Aber die...Erscheinungen hängen zweifelsohne mit dieser Höhle zusammen."

Die grünlich schimmernden Augen des Zwergs wanderten mal zu Nasdja, mal zu Haldana.

"Wer war der ungebetene Gast gerade eben?"

"Einer der Räuber, die die Traviapilger entführt haben" sagte Haldana. "Ich habe ihn getötet."

"Noch ein Geist also?" Der Geweihte lachte, eher nervös als wirklich unbeschwert. "Also gut, ich denke, ich beginne ein wenig zu verstehen. Der Eingang in die Höhle muss unbedingt verschlossen werden?! Vortrefflich, das war auch mein Ansinnen, gerade eben in der Dorfversammlung, in der Lore. Aber sie sind wie verrückt...einer hat behauptet, er hätte im Bach schon Silber gesehen. Man kann einfach nicht mehr mit ihnen reden. Und nun taucht ihr noch hier auf. Wenn ihr keine Hexen seid, keine Spione, keine Schurken: Was in Ingerimms Namen seid ihr dann?"

"Keine Verrückten", antwortete Haldana.

"Droht diesem Dorf eine Gefahr?" Ingrams Stimme wurde drängender.

"Nun, ich fürchte, das Unheil, um das es geht..ist schon längst geschehen...aber du kannst noch verhindern, dass Schlimmeres geschehen wird." Die Stimme der Zibilja klang ein wenig stockend.

"Ihr sprecht in einem fort in Rätseln."

"Kurgasberg...Das Dorf...Ich weiß, wie verstörend das klingen muss. Aber ich fürchte, ihr seid schon alle tot...tot und gestorben..."

Ingram schüttelte erneut den Kopf. "Wir sind schon so gut wie tot? Ich fürchte, ihr beide seid es, die den Ernst der Lage verkennt. Es gibt einige im Dorf, die keinerlei Skrupel haben, dahergelaufene Fremde zu erschlagen und irgendwo in den Bergen zu verscharren. Bevor sie den Roten Tod ins Kurgastal bringen oder irgendwelches plünderndes Söldnerpack anlocken".

"Dafür, dass ihr jeden Fremdling umbringt, seid ihr gut über die Ereignisse im Tiefland informiert", meinte Haldana. "Warum hört ihr dann nicht uns zu?"

"Nun, man kann sich auch auf Zuruf verständigen. Wir Kurgasberger sind keine Einsiedler. Wim Brundel vertraut mir - ab und an tausche ich Dinge ein, die wir selber nicht herstellen können. Natürlich halte ich dabei Abstand. Man legt die Ware in einiger Entfernung ab, oder das Silber. Eine Frage des Vertrauens. Ihr werdet mir nun endlich die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit. Oder ich muss euch beim Dorfschulzen melden."

Haldana war fast ein wenig enttäuscht. Irgendwie hatte sie erwartet, dass Nasdja, ihre allwissende Schamanen-Vorfahrin, die Sache mit wenigen Worten erklären würde. Stattdessen schien die Norbardin selbst nicht mehr weiter zu wissen. Rasiermesser des Nandus...? Sie hatte mal ein Bild des Hesindesohns gesehen, da war er ihr wirklich merkwürdig glattrasiert vorgekommen. Der Gott der Weisheit, den stellte sie sich irgendwie rauschebärtig vor, als einen ehrwürdigen alten Mann. War das der Weg zur Erkenntnis: Jeden Trugschluss weg zu schaben, bis nur noch die reine Wahrheit übrig blieb?

Was hatte Nasdja gesagt, bei ihrer ersten Begegnung? Es ist der Verstand, der euch den Blick versperrt. Oder so ähnlich...

Tatsächlich sah sie sich nun genauer in dem kleinen Tempel um, der nun wirklich wie ein Ingerimmtempelchen aussah: Das Relief mit dem Abbild INGerimms glänzte wie am ersten Tag, an den Wänden hing Bergmannsgerät, die bunten Glasfenster waren nicht zerbrochen und zeigten fleißige Bergleute, Zimmerer, Schuster oder Schmiede bei ihrem Tagwerk. Das Feuer brannte in voller Pracht.

Wohin war die Schlafstätte der Räuber verschwunden, mit den Kleidern, dem Plunder und den Vorräten? Sie konnte die Habseligkeiten der Bande nicht mehr sehen...so war es auch beim letzten Mal gewesen. Am Anfang war die Welt der Lebenden noch zum Greifen nahe gewesen, und dann irgendwie entrückt worden, bis...

Die summenden Bienen hatten sie ins Diesseits zurückgeholt, daran vermochte sie sich noch gut zu erinnern.

Sie blickte auf die Heilige Esse, in der noch immer die Armbrustbolzen lagen, als Feuerholz. Ohne zu verbrennen?

Erstaunt trat Nasdja näher. Eine der Pfeile ragte über den Rand der gemauerten Feuerstelle hinaus. Sie nahm das Geschoss an sich, das tatsächlich nicht einmal verkokelt war, sondern vollkommen unbeschädigt. Der Bolzen fühlte sich merkwürdig stofflich an, ebenso fremdartig...und schien eine Art Erinnerung zu wecken. Als sie über die Spitze hinweg blickte, verwandelte sich vor ihren Augen das stolze Landtempelchen wieder in eine traurige, halb überwucherte Ruine, mit leeren Fensteröffnungen, eingestürztem Dach, rissigen, bröckelnden Wänden. Dort an der Wand war auch wieder das Räuberlager zu erahnen. Von außen wallte Nebel herein. Nasdja und der Geweihte sahen merkwürdig schemenhaft aus, selbst ihre Umrisse waren kaum noch zu erahnen.

"Hochwürden Ingram? Hochwürden Ingram?"

Es dauerte eine Weile, bis der Ingerimmgeweihte sie überhaupt wahrzunehmen schien. Verwirrt glitt er näher.

Aus einem Gefühl heraus reichte Haldana ihm den Armbrustbolzen. Erstaunt taste der Zwerg über das Holz und die Fiederung...und sah entsetzt um sich. Zwinkernd stellte Haldana fest, dass sie selbst wieder im "Geistertempel" stand.

Mit merkwürdig hallendem Aufschrei ließ der Geist den Bolzen fallen. Er schien gerade das selbe gesehen zu haben wie sie.

"Kompliment, Haldana, du denkst schon fast wie eine Zibilja. Manche Gegenstände können tatsächlich eine Brücke zwischen den Welten der Lebenden und der Toten schaffen." Nasdja war neben ihre Nachfahrin getreten.

"Das ist alles nicht wahr", keuchte Ingram. "Das ist alles nur Hexenwerk...das sind alles nur Trugbilder...Zauberei..."

"Nein, es ist der Tempel, wie er wirklich aussieht: Eine Ruine. Was glaubst du eigentlich, woher dein grünes Leuchten kommt?"

Der Zwerg raufte seinen Bart. "Was wollt ihr von mir, warum behext ihr mich?"

"Ich bitte dich, du weißt selbst am besten, wie schwer Zwerge zu verzaubern sind...und dann noch Geweihte...Zeit, ein paar unangenehmen Tatsachen ins Auge zu blicken...In deinem Innersten hast du es doch längst schon geahnt."

"Ingerimm, O Ingerimm, steh mir bei."

"Hast du heute schon das Dorf verlassen?"

"Wie? Gewiss....zum Feuerholz holen...heute morgen, ja...."

"Und wie weit bist du dabei gekommen?"

"Ich bin nicht weit hinausgegangen...alles war voller Nebel...da war nichts...nur ein kleines Murmeltier...irgendwie...kam es mir bekannt vor...."

Ingram wirkte nun völlig verstört. Er setzte sich auf einen Schemel, der Hammer fiel ihm aus den Händen.

Entsetzt starrte er seine grünlich leuchtenden Finger an. "Wir haben den Rest der Steine mit bloßen Händen weggeräumt. Da ist dieses Licht, dieses Zwielicht...in der Grotte...ich, ich dachte...es hat mit dem Gestein zu tun...oder mit einem Leuchtpilz...aber, ihr habt recht....das grüne Glimmen ist schon da, seitdem ich heute morgen aufgewacht bin...es ist überall...irgendetwas stimmt mit diesem Dorf nicht mehr. Diese Narren! Sie halten es für ein glückliches Omen...wenn es sie überhaupt kümmert...wenn sie es überhaupt sehen wollen. Was-ist-das?"

"So genau wissen wir es auch noch nicht", sagte Haldana, und wunderte sich selbst, wie fest ihre Stimme dabei klang. "Nur, dass Eure Seelen von den guten Göttern getrennt sind. Unsere Feinde nennen es die Grüne Wolke. Es ist ein Gift aus den Niederhöllen, das Menschen geradewegs in den Wahnsinn treibt."

"So bin ich selbst vom Wahnsinn ergriffen - und sehe deshalb Gespenster ?!" Der Zwerg gluckste, scheinbar vergnügt. Endlich schien er eine tragfähige Erklärung für das Rätsel gefunden zu haben, das ihn umgab.

"Nein", sagte Nasdja. "Die Wesen, die ihr für Gespenster haltet, das sind die Lebenden...ich sagte es bereits. Es ist alles längst geschehen. Der Untergang von Kurgasberg wiederholt sich jedes Jahr aufs Neue, seit mehr als hundert Jahren schon. Um Mitternacht wird sich der Nebel da draußen in eine grüne Wolke verwandeln, euch alle durchtränken, mit dem Brodem des Chaos. Ich sehe es nun klarer. Es ist der Bach, der das Verderben bringt, erst sich selbst und dann den Nebel grün färbt. Ein Nebel, der in die letzten Ritzen eurer Häuser kriechen und alles verseuchen wird. Die Grüne Wolke ist in dieser Schreckensnacht entstanden. Wer das Miasma einatmet, wer es berührt, der erkrankt scheinbar an den Zorgan-Pocken, und schlimmer noch an der Furcht vor der Pestilenz. Ja, es ist eine Art von Wahnsinn. Es wird Mord und Totschlag geben, das Dorf brennen und Kurgasberg für immer untergehen..."

"Kurgasberg...wird....untergehen..." echote der Geweihte. Es war, als wolle er die Belen-Horas-Nachrichten, die ihn nun ereilten, und die er so lange von sich gewiesen hatte, nun in sich aufsaugen. "Aber...ich leuchte doch schon grün...und fühle mich leicht...wie ein Glühwürmchen im Wind..."

"Ich sage es noch einmal. Die Vergiftung ist schon passiert - eine Folge davon ist, dass es immer und immer wieder aufs Neue geschieht. Ingram, du bist ein aufrechter Diener deines Gottes. Wer wüsste besser als du, dass es am Ende eines Lebens nicht mehr auf das Leben ankommt? Sondern darauf, dass die Seele den Weg ins Licht findet. Dieser Weg aber wurde euch versperrt...man könnte auch sagen, er wurde euch gestohlen. Du kannst jetzt nichts mehr für Kurgasberg tun, wie du es kennst. Die Seelen der Bewohner wurden bereits verdorben, von ihren sterblichen Leibern getrennt und vom Pfad des Guten weggelockt. Deine Pflicht ist es, sie wieder zurück zu geleiten, zu den guten Göttern zu führen. All jene, bei denen eine Erlösung noch möglich ist. Auch deine Seele kannst du noch retten. Glaubst du mir, Ingram, glaubst du mir das?"

Der Geweihte nickte schwach: "Aber...wenn dieser niederhöllische Brodem so machtvoll ist...wie vermag ich da Kurgasberg zu erlösen?"

"Nun, in der Welt der Lebenden versucht die Tochter Wim Brundels heute nacht, die Grüne Wolke ein weiteres Mal zu beschwören. Diesmal, um Rommilys damit heimzusuchen. Ich vermute, mit Hilfe des Luftgeistes. Den Sylph, wie ihr ihn nennt".

"Rommilys? Die Fürstenstadt? Was will man da noch verderben?"

"In der Welt, die ihr schon vor langer Zeit verlassen habt, ist Rommilys wieder eine wohlhabende Stadt geworden. Ich brauche dir nicht zu sagen, was es bedeutet, wenn Sisas Plan Erfolg hat..."

"Sisa? Die kleine, süße Sisa?" Ingram brachte ein gequältes Lächeln zustande. "Das kleine Mädchen tut doch niemanden etwas zuleide. Sie ist ein wenig seltsam, gewiss, sieht Dinge, die andere nicht sehen...aber das tue ich gerade auch, haha..."

"Hast du sie heute schon im Dorf gesehen?"

"Nein. Ihre Eltern vermissen sie auch schon...aber sie ist nunmal überaus eigenwillig. Spricht mit den Krähen, den Schweinen, Hühnern oder den Fröschen am Bachufer. Wer weiß, auf was für närrische Gedanken sie heute wieder gekommen ist..."

"Aber sie weiß, wie der Luftgeist mit wahrem Namen heißt, nicht wahr? Ebenso wie ihr Vater..."

"Mag sein... ich habe diese Geschichte nie recht geglaubt....Unser Freund, der Luftelf, der Kurgasberg auf wundersame Weise vor der Sieche bewahrt. Ebenso unsichtbar wie wunderbar. Für mich ist das alles nur ein Luftschloss. Ein Trick, damit niemand auf die Idee kommt, Wim Brundels Machtstellung über dieses Dorf anzuzweifeln. Vielleicht wurde Sisa verschleppt, um an den Namen des Sylphen gelangen? Dieser Raulinde würde ich ein solches Schurkenstück zutrauen...dem geizigen Bauern Otmar, oder Firundar dem neunfingrigen Holzfäller. Sie sind jetzt schon verrückt. Der Glanz des Silbers hat sie schon lange vor dem grünen Leuchten verrückt gemacht. Womöglich halten sie das arme Mädel irgendwo gefangen..."

"Nein, Ingram. Sisa ist allein deswegen nicht mehr in Kurgasberg, weil sie die Grüne Wolke überlebt hat. Anders als ihr. Ein kleines, unschuldiges Kind findet manchmal ein Versteck, wo es vor dem Bösen sicher zu sein scheint. Aber ihr Herz ist nun auf eine andere Weise verseucht, denn sie hat die Macht einer Erzdämonin kennengelernt. Mittlerweile ist sie selbst den Mächten der Finsternis anheimgefallen. Ich bin sicher, wenn es uns gelingt, die Grüne Wolke zu vernichten, wird der Fluch gebrochen sein. Aber dafür brauchen wir den Namen des Luftgeistes. Er allein kann den Pestodem nach Rommilys treiben...oder die Grüne Wolke auflösen."

Nasdja pustet ein weißes Dampfwölkchen in die Luft und lächelte verschmitzt.

Haldana, die ihrer Ahnherrin die ganze Zeit zugehört hatte, bekam große Augen (und Ohren). Bislang hatte es geheißen, dass der "Luftikus", den sie ja schon kennengelernt hatte, in der Lage war, das monströse Riesen-Flugfass anzuheben. Aber offenbar verfügte er noch über weitere Rollen - in den Plänen sowohl Sisas als auch Nasdjas.

"Schamanin, hör zu." Ingrams Miene hellte sich wieder ein wenig auf: "Du hast vorhin am Fenster der Lore gelauscht, nicht wahr? Einen Moment lang habe ich dort deinen Schatten gesehen...das war der Grund, warum ich die Schenke verlassen habe. Sag mir, was du alles mitbekommen hast?"

"Nicht viel. Geister sehen noch schemenhafter aus, wenn man sie durch ein Butzenglasfenster beobachtet. Und sie sind noch schwerer zu verstehen. Es ging wohl um die Höhle. Um den Schutz, den der Sylph für Kurgasberg bedeutet, und dass sich die Dörfler vor nichts zu fürchten brauchen, da ihr Schulze seinen wahren Namen kennt. Dank seiner Tochter. Gestritten wurde auch, um das Recht, Silber abbauen zu dürfen."

"Nun, Schamanin, ich dachte, ihr Geisteranbeter" - ein gequältes Zwergenlächeln - "glaubt mehr an die Macht der Elemente als an die Macht von Namen. Bevor ich mich als Brillantzwerg auf Wanderschaft begeben habe, bin ich selbst in einer Zwergenbinge aufgewachsen. Inmitten von Feuer, Fels und Erz. Ich frage dich, welchen wahren Namen könnest du diesen Elementen geben - außer Feuer, Fels und Erz?"

Nun war es an Nasdja, verständnislos zu blicken.

Dem Zwerg schien es zu gefallen, dass zur Abwechslung einmal er selbst der Eingeweihte war. "Was ich damit sagen möchte: Welchen wahren Namen sollte ein Luftelementar schon haben? Welchen Namen hat der Wind und der Sturm, der Schnee und der Regen über den Bergen? In der Vergangenheit haben ab und an Kobolde das Bergwerk heimgesucht. Angeblich kann man diese Plagegeister bannen, wenn man ihre Namen kennt. Die ohnehin unaussprechlich sein sollen. Aber bei so etwas schwer Greifbarem wie einem Luftgeist? Das wäre in den Wind gesprochen. Nein. Eher kann man die Geister der Berge mit bloßen Händen haschen und in eine Kiste sperren."

"Aber...Sisa hat es irgendwie geschafft, Macht über diesen Luftelfen zu erlangen. Wie hat sie das angestellt?"

Haldana kam sich immer mehr vor wie in einem fiebrigen Traum. Alles fühlte sich völlig unwirklich an. Der Zwerg, ihre "Großmutter", sie selbst.

In dem Moment, als der Zwergenpriester (wie hatte er sich genannt? Brillantzwerg?) sein Los akzeptiert hatte, war eine Veränderung mit ihm vor sich gegangen. Sein Gesicht wurde noch durchscheinender, die Andeutung eines Totenschädels war zu erahnen, ebenso wie Knochen hinter seinen Fingern. Die Schlotzerin schauderte. Der ganze Tempel wirkte jetzt beklemmend, eher wie eine Gruft als das Haus eines Gottes. Selbst das gerade noch so anheimelnde Feuer war nur noch ein gespenstisches Wabern.

Haldana spürte, dass sie wieder...weg zu treiben begann, in Gefilde, die nicht mehr schrecklich waren und faszinierend....sondern nur noch furchteinflössend.

"Ich bin Ingerimmpriester, kein Geisterbeschwörer. Zumindest war ich es bis zum heutigen Tag." Der Brillantzwerg lachte auf, ein hohles Skelettlachen. "Ach was, heutiger Tag. Wartet, wartet. Da fällt mir etwas ein. Wim Brundel ist Falkner. Zumindest behauptet er das von sich. Im letzten Sommer hat seine Tochter einen jungen Bergadler angeschleppt, durchbohrt von einem Pfeil. So ist Sisa. Sie haben ihn geheilt, beringt und wieder in die Freiheit entlassen. Ja, ja, ich erinnere mich. Wahrscheinlich ist Wim dadurch auf die verrückte Geschichte mit dem Luftelfen gekommen. "

"Ein Bergadler?" Nasdja legte den Zeigefinger ans wachsglänzende Kinn. "Luftgeister nehmen manchmal die Gestalt von Tieren an, die ihrem Element entstammen...womöglich genügt schon ein Ring aus Erz, um ein solches Wesen der Lüfte zu binden."

Nun war Stimmengewirr zu hören, von draußen - eigentlich nur ein dumpfes Wispern, Grollen, Flüstern und Raunen.

"Ingraaaam...Wir wissen, dass Freeemdeee in deinem Tempel sind!"

Sie gingen zum Eingang und sahen auf den Dorfplatz, wo grünlicher Nebel waberte. Merkwürdige Lichteffekte wechselten sich ab mit den Schatten von Häusern. Schemenhaft tauchten drei, nein, vier Dutzend Dörfler aus dem Dunst auf, mit Hacken, Dreschflegeln, Forken, die sie in knochigen, grünlich schimmernden Händen hielten. Zorn und Wut war in den totenschädeligen Gesichtern zu sehen und mehr noch zu spüren. Zorn, Wut - und Verderbtheit.

Vorneweg schritt ein hagerer Mann mit Schnauzbart, der ein klein wenig norbardisch aussah. Vor allem wirkte er untot, mit seinem Knochenleib, den nur noch die Ahnung eines menschlichen Körpers umgab. Sein Haupt schmückte ein altmodisches Federbarett, die Haare schienen zu wehen, obwohl überhaupt kein Wind spürbar war.

"Mein Tempel? Es ist unser aller Tempel", sagte Ingram feierlich, der nun wieder seinen Hammer in Händen hielt.

"Ein Tempel, in dem Geister umherschleichen. Geister und andere ungerufene Gäste." Die Stimme des Anführers klang drohend. "Wir wollten dich holen, Ingram. Deine Stimme fehlt in der Beratung. Stattdessen triffst du dich heimlich, still und leise mit Fremden. So stimmt es also doch, was Gerhelm berichtet hat."

"Seid Ihr endlich zu einem Ergebnis gekommen, Wim? Ihr habt meine Warnungen vor dem Abgrund gehört - und leider missachtet."

"Lenk nicht ab. Du weißt, dass wir keine Eindringlinge im Dorf dulden. Aus gutem Grund..."

"Sie wollen uns sicher bestehlen" keifte eine verschlagen blickende Frau, mit wirren, lockigen Haarsträhnen über einem mehr als nur eingefallenen Gesicht. Hinter einer großen Schürze lugten bereits Rippenknochen hervor. In ihrer untoten Linken hielt sie eine Schnapsflasche, gefüllt mit Branntwein, in dem sich eine große Made ringelte.

"Alle wollen nur unser Silber. Der Reichtum, der uns Kurgasbergern gehört, uns allen - und niemand sonst."

"Unser Silber, Raulinde?" Der Geist, der einmal Wim Brundel gewesen war, sah seiner Tochter tatsächlich ähnlich. Trotz seines grausigen Aussehens klang seine Stimme allerdings sanft und gutmütig.

"Dieses Gespräch führen wir lieber ein anderes Mal zu Ende. Wir sollten nun besser beratschlagen, wie wir unser neues Problem lösen...Deine Gäste haben womöglich die Seuche in den Tempel getragen, Ingram. Oder sogar schon ins Dorf, was die Götter verhüten mögen. Du kennst die Regeln. Fremde haben zwei Wochen in der Hütte vor dem Dorf zu warten, bis wir wissen, ob sie krank sind. Vor dem Dorf, Ingram. Was hast du dir dabei gedacht? Ausgerechnet du spielst mit dem Leben eines jeden einzelnen von uns?"

"Du bist viel zu nachsichtig, Wim Brundel", zischte die Wirtin. "Es sind die Fremden, die uns den Tod bringen. Also sind es unsere Feinde. Es ist nur gerecht, wenn wir sie auch so behandeln. Wie Todfeinde. Schaut sie euch doch an...selbst die Haare haben sie ihnen geschoren. Die Alte schaut aus, als käme sie geradewegs aus Aranien." Raulinde Alfengrund spuckte auf den Boden - die Geisterspucke verwehte im Nebel zu einem dampfenden Nichts.

Die dumpfen Laute der Schemen und Schatten um sie herum deuteten auf Zustimmung.

Wim Brundel hob seine Hand und gebot der Geisterschar Ruhe. Nur widerwillig beruhigte sich die Menge wieder. "Verstehe ich dich recht? Wir sollen diese Unbekannten einfach erschlagen, wie streunende Hunde? Dabei kommen wir ihnen aber sehr nahe. Womöglich zu nahe. Und das möchtest du doch nicht, oder, Raulinde? Man kann sich auch durch Blut an den Händen anstecken."

"Der Loderbach ist ebenfalls nahe", zischte Raulinde. "Blut lässt sich abwaschen. Die Pest nicht mehr."

Wim Brundel seufzte, und klang ein wenig resignierend. Der Knochenmann musterte die Frauen, die im Tempeleingang standen. Offenbar sah er die Welt schon mit anderen Augen. Sein marbides Äußeres schien ihm nicht im Geringsten bewusst zu sein, ebensowenig wie den übrigen Kurgasbergern. Spürte er dafür die Verwandtschaft, die ihn mit Nasdja und Haldana verband? Er schien einen Moment lang nachzusinnen.

"Die Fremden hatten mit niemandem Kontakt außer mit Ingram", sagte der Dorfschulze schließlich. "Auf das Urteil von Hochwürden Ingram ist, für gewöhnlich, Verlass. Vielleicht genügt es, wenn sich alle drei im Tempel einschließen, und wir sie die nächsten zwei Wochen versorgen. Aber zunächst möchte ich wissen, wer deine Gäste sind, Ingram, und was sie in unserem Dorf zu suchen haben."

Dieser Frage ging ich gerade auf dem Grund, Schulze. Ich habe schon viel erfahren. Bis ihr alle gekommen seid und hier alles durcheinander bringt. Im Übrigen: Da Geister nicht stofflich sind, können sie auch keine Krankheiten übertragen. So viel ist klar. “

Raulinde wollte auffahren, aber eine Handbewegung von Wim ließ sie schweigen. „Es ist besser, du gehst jetzt mit den anderen wieder ins Gasthaus. Ich kümmere mich hier um alles.“ Der Tonfall des Schulzen ließ keinen Widerspruch aufkommen. „Ihr habts gehört.“ brummte sie. „Trinken wir wieder einen.“

Haldana atmete innerlich auf, als die Meute an Geistern verschwunden war und nur die Geister von Ingram und Wim übrig blieben. Mit denen, so hatte sie das Gefühl, konnte man reden. Mit den anderen, nun, das schien bei den Lebenden nicht anders zu sein als bei den Toten, verhinderte die reine Anzahl ein ruhiges Gespräch.

Haldana war immer noch verwirrt. Ein großer Teil von ihr wollte nicht glauben, was sie hier sah. Redete sie wirklich mit Geistern?

Das tust du“ sagte Nasdja. „Du bist ein Medium. Auch wenn du es erst seit kurzem erlebst, so bist du schon immer ein Medium gewesen. Allein, es tat Not, dich zu erwecken, damit du mehr von der Welt siehst als nur die Oberfläche. Verzeih, Haldana. Ich sollte mir abgewöhnen, in deinen Gedanken zu lesen.“

Nun… die Frage ist noch offen“ erinnerte Wim. Was habt ihr hier im Dorf zu suchen?“

Wie ich Hochwürden Ingram schon erklärte… Ihr habt schon diese Räuber gesehen, die sich hier im Tempel nieder gelassen hatten.“ begann Haldana erneut. „Diese haben sich mit einer Hexe und einem Schwarzmagier verbündet, gemeinsam sind sie für all das Übel hier verantwortlich. Und sie haben die Seelen von sieben Pilger der Travia gefangen. Wir müssen sie befreien. So wie wir alle Seelen hier retten müssen.“

Haldana wusste nicht, was sie sagen sollte. Irgendwie fiel es ihr zunehmend schwerer, sich zu konzentrieren. Vielleicht – ganz sicher – war das alles einfach nur ungewohnt für sie.

Wir können die Traviapilger retten“ führte Haldana die Rede fort. Aber vieles hängt mit dem Adler zusammen, den Sisa ins Dorf gebracht hat. Wie hat Sisa diesen doch gleich genannt?“

Überrumpelung und Dreistheit siegen immer wieder, dachte Haldana

Aarmarian“ stammelte Wim.

 

Langsam beruhigte sich das Toben der Elemente wieder. Die beiden vermissten Kameraden von Serdans Truppe tauchten wieder auf. Die Grenzreiter hatten, wenn auch arg zerschrammt, im Bergwald Zuflucht gefunden. Haldana aber blieb vermisst.

Immerhin, die Sonne spendete noch etwas rötliches Licht, und der Abend war frühsommerlich warm. So würde die restliche Feuchte rasch aus den Kleidern weichen.

An der engsten Stelle der Schlucht war ein Erdrutsch niedergegangen, aber vom aufgestauten Loderbach rasch wieder weggespült worden. Das Wildwasser strömte nun in zahlreichen kleinen und großen Kaskaden über den eingestürzten Damm hinweg oder durch ihn hindurch. Überall türmten sich Schlammhalden, zersplitterte Baumstämme, Geröllhaufen. Tuvok war verzweifelt. Er fürchtete, sein Schützling könne irgendwo in dem Chaos verschüttet oder mitgerissen worden sein. Er beruhigte sich erst wieder ein wenig, als Haldanas Brauner antrabte - wenn auch ohne Herrin. Von der Bardin fehlte nach wie vor jede Spur. Allerdings, wenn das Pferd noch am Leben war, dann mochte auch die junge Adelige Glück gehabt haben.

Neben einer kleinen Tanne fanden sie Haldanas Dukatenbeutel. Im Bach verschwunden war sie schon mal nicht. Sie folgten dem Fußweg, die Pferde wurden am Zügel geführt. An einer eingestürzten Hütte entdeckte Tuvok Fußspuren, die weiter ins Tal führten. Rasch wurde es dunkel. Keine halbe Wegstunde später führte sie der Pfad zur alten Bergarbeitersiedlung.

Das ist schon ein trostloser Flecken“ murmelte Tuvok, als er im Schein der Lampen die verfallenen und eingestürzten Hütten sah.

Hättest du mal sehen sollen wie das hier früher aussah. Sogar einen Ingerimmtempel hat er hier einmal gegeben“ erzählte Rovik. Ein Priester aus meinem Volk war hier früher und hat seine Schäfchen angeleitet. Hier wurde einmal Silber abgebaut. Die Ader soll zeitweise recht ergiebig gewesen sein. Vor hundert Jahren, wie man so erzählt bei meinem Volk.“

War das eine Zwergenbinge?“ wollte Serdan wissen.

Nein, eine menschliche Mine. Aber dennoch, das kriegt man bei uns mit, wenn irgendwo eine Mine aufgemacht wird. Auch wenn ihr Großfüße mal zum buddeln anfangt.“

Jodokus lachte ansteckend über den Witz des Angroschim. Vorsorglich, nicht dass Serdan oder einer der Soldaten sich irgendwie provoziert fühlte bei den Worten des Zwergen. „Ja, Kurgasberger Silber, den Namen kennen die Alten noch in Rommilys. Das Silber war für seinen Reinheitsgrad bekannt. Man musste nicht so viel verhütten, naja, so ungefähr. Mir fehlt da jetzt die Fachkenntnis. Aber es war wohl ganz gut, das Silbererz hier.“

Hmm“ brummte Rovik zustimmend. Ob er der fehlenden Fachkenntnis des Brauereibesitzers oder dem guten Reinheitsgrad zustimmte, blieb offen.

Aber der Tempel scheint noch zu stehen. Das achteckige Gemäuer dort sieht doch aus wie ein Tempel, oder?“ warf Hesindian ein. „Zwar kenne ich achteckige Tempel eher von der Herrin Hesinde, aber warum nicht auch beim Herrn der Feuer.“

S´ gibt auch achteckigen Basalt. Ist meistens sechseckig, in Einzelfällen aber achteckig. Daher die Form.“ erläuterte der Zwerg.

Alrik nickte zustimmend, auch wenn ihm die Formen von Basalt im Augenblick nicht sehr interessierte. „Wir können die Pferde hier anpflocken, bevor wir in das Dorf gehen. In den Ruinen bringen uns die Reittieren nichts, und wenn wir uns die Mine anschauen wollen, müssen wir ohnehin einen Platz für die Tiere finden.“

Aber dann sollten wir unbedingt den Tempel anschauen“ befand Rovik. „Immerhin das einzige erhaltene Gebäude hier.“

Ist recht, Rovik.“ bestätigte Alrik. „Wir werden uns den Tempel ansehen. Irgendwo müssen wir ja anfangen.“

Serdan stellte zwei seiner Leute ab, um auf die Reittiere aufzupassen und den Weg zum Dorf im Auge zu behalten. Er befand es nicht für notwendig, mit seiner Halblanze in den Tempel oder in die Ruinen einzufallen. Wenn man später die Mine betrat, konnte er immer noch anders entscheiden.

 

Haldana!“ rief Jodokus aus, der als erster den Tempel betrat. „Bei Firun, bin ich froh, dass du lebst!“

Mit raschen Schritten folgte Tuvok in den Tempel, um sich zu überzeugen, dass es seinem Schützling gut ging. Die junge Schlotzerin brauchte aber keinen Schutz. Sie hatte es sich schlicht auf einem der Deckenlager im Hauptraum des Tempels bequem gemacht und schlief. Erst als Jodokus sie gerufen hatte, kam sie langsam wieder zu sich.

Zwölfgrüezi“ brachte sie verschlafen hervor. „Ihr wart uf enmal verschwund´n...“ murmelte sie. Wenn die Geister sich selbst für lebend hielten, konnte sie auch behaupten, die anderen und nicht sie selbst wären verschwunden gewesen. Alles war nur eine Frage der Betrachtungsweise.

Ich habe mir sorgen um Dich gemacht“ Tuvoks Stimme klang halb erleichtert, halb vorwurfsvoll.

I wo, des brauchts nit.“ Die Bardin stand auf. „S´war ganz intr´ssant hier. Ab´r s´isch guat, das ihr da sit. De Rüba hend die Pilg´r in da Mine g´fangen. Da wern´s itz alle si“

Meine liebe Schwester im Stand“ begann Alrik. „Wir haben Soldaten aus Perricum bei uns. Wäre schön, wenn diese dich auch verstehen würden. Sonst müssen wir nachher alles wiederholen.“

Ach so. ja. Stimmt. Entschuldigung“ brachte Haldana hervor, streckte sich und wechselte ins Garethi. Dann blickte sie in die Runde. „Ihr seid soweit wohlauf. Ich habe mir sorgen um Euch gemacht.“

Es war an uns, uns Sorgen zu machen. Ihr wart verschwunden.“ warf Weibel Serdan ein.

Gewiss. Aber genau das ist es, was ich gerade verdeutlichen wollte. Für mich wart ihr alle verschwunden. Das ist alles eine Frage der Betrachtung. Natürlich an sich ohne Bedeutung, aber ihr müsst verstehen, das Dorf und seine Bewohner zu verstehen.“

Das ist ein Geisterdorf. Hier wohnt niemand.“ stellte Alrik nüchtern fest.

Das ist ein Geisterdorf, tatsächlich.“ bestätigte Haldana. „Hier wohnen Geister“

Und du bist zu heftig auf den Kopf gefallen, als der Gaul mit Dir durchgegangen ist.“ brummte Jodokus.

Das auch, fürwahr. Aber Schlotzer Schädel halten einiges aus. Vielleicht liegt es am Trollblut unserer Vorfahren, das in unseren Adern fließt.“ Haldana lachte.

Ach hör auf und werde ernst, liebes Kind“ parierte Jodokus, den väterlichen Geschäftsmann mimend. Eine Rolle, die er gegenüber Haldana ja bislang nicht eingenommen hatte.

Gut, Jodokus. Das mit dem Trollblut ist natürlich nichts anderes als Schwarzsichler Käse.“ stimmte Haldana zu. „Aber Geister gibt es hier. Das solltet ihr mal tatsächlich wissen. Irgendwas ist hier vor hundert Jahren passiert, wobei fast das ganze Dorf ausgelöscht wurde. Und die Seelen der Dorfbewohner haben dabei keine Ruhe gefunden. Wer das nicht weiß, kann leicht Angst bekommen, wenn man einem Geist begegnet. Nicht alle übrigens sind uns wohlgesonnen. Mit manchen kann man aber ganz gut reden. Also der alte Ingram zum Beispiel, der Priester dieses Tempels...“

Du kannst dir Deine Geschichten für den nächsten Tavernenabend aufsparen“ knurrte Alrik. „Wenn du etwas zu berichten hast, dann sachlich. Wenn du aber nur einen Schwank für die Tavernen hast… gerne später, wenn wir wieder in Rommilys sind.“

Gut, ich sehe ein, ich muss euch das anders erklären.“ Haldana dachte nach. So wirklich leicht zu erklären war das nicht. Sie verstand ja selbst nicht alles. „Jedenfalls, soweit ich das mitbekommen habe, haben die Räuber – ihr seht ihre Lager hier im Tempel – die gefangenen Traviapilger in die Mine gebracht. Und da weder Räuber noch Pilger wieder zurück gekommen sind, sind sie vermutlich noch alle dort. Also wenn wir die Räuberbande besiegen und die Pilger befreien wollen, dann müssen wir da rein.“

Das hört sich schon mal logisch an“ kommentierte Hesindian. „Besser als die Geistergeschichte.“

Spektabilität, spottet nicht.“ Haldana sah Hesindian mit leicht vorwurfsvoller Miene an. „Ich weiß das von den Geistern. Ich habe mich eine Weile mit Ingram unterhalten. Also mit seiner Seele. Und mit Wim Brundel, dem Dorfschulzen. Das ist der Vater von Sisa Brundel. Ich weiß nicht, wie ich das Euch erklären soll.“

Du hast zu viele schlechte Geschichten gehört“ brummte Alrik.

Vermutlich hast du recht, ich habe schon viele schlechte Geschichten gehört. Und sicher auch erzählt. Aber diese hier ist wahr. Vor hundert Jahren ist die Katastrophe über das Dorf herein gebrochen. Das hat alle hier das Leben gekostet. Bei Praios, Alrik, du siehst doch die Ruinen hier. Und du glaubst doch nicht, dass der Hexer von Rommilys sich zufällig dieses Dorf und diese Mine hier ausgesucht hat, für seine Pläne. Du hast doch das Gift schon mal abbekommen, das von hier kommt. Dieses unheilige Miasma, dieses Pustelerregende dämonische Zeug. Das kommt von hier. Die Dörfler haben damals zu tief gegraben in ihrer Gier nach Silber. Irgendwas da unten haben sie entdeckt. Dabei sind alle Dorfbewohner ums Leben gekommen. Alle, bis auf eine. Die schwarze Hexe. Die weiß, was hier schlummert, und sie wird es wieder wecken, Alrik. Also hör mir zu, auch wenn du nicht alles verstehst, was ich sage. Ich kann es selbst nicht alles verstehen. Aber es ist so. Irgendwas ist in der Mine. Vergiss die Geister hier. Entweder du wirst sie selbst sehen, oder es ist belanglos, was ich gesagt habe. Aber wir müssen in die Mine. Wir müssen Gerrich und Sisa fassen, oder Rommilys wird untergehen. Was meinst du, was passiert, wenn die Hexe das unheilige aus der Tiefe der Stollen befreit und nach Rommilys wehen lässt? Dagegen ist die gepanschte Darpatperle doch bestenfalls ein kleiner Kater.“

Ist ja gut“ beschwichtigte Hesindian. „Soweit sind wir uns einig. Wir müssen in die Mine.“

Vergiss nicht, von dem Luftelementar zu erzählen“ erinnerte Nasdja Haldana.

Ja. Halt dich mal da raus, du verwirrst mich ganz.“ antwortete die Schlotzerin.“

Jetzt reiß Dich aber mal zusammen, Haldana. So musst du meinen Hofmagier auch nicht zurecht weisen.“ Alrik wurde ein wenig ungehalten.

Wie… ach ja. Nein, nicht Hesindian. Nasdja soll sich raushalten.“ versuchte Haldana zu erklären.

Wer?“ bohrte Rovik nach.

War das nicht der Name, mit dem du diese Norbardenleiche benannt hast?“ fragte Jodokus

Ihr habt nicht so viel Zeit, Haldana. Wenn Sisa das Ritual durchführt, ist es zu spät.“ erinnerte Nasdja erneut.

Mensch, Nasdja, ich kann nicht mit Lebenden und Toten gleichzeitig reden!“

Haldana, mit wem redest du?“ fragte Tuvok, sichtlich besorgt.

Haldana schnaufte einmal tief durch und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, um die wirre Pracht auf ihrer rechten Kopfseite halbwegs zu bändigen.

Nasdja sagt, das Sisa einen Luftelementar kontrolliert. Ein mächtiges Wesen muss dieser Luftgeist sein. Hesindian, hilf mir. Ich kann das nicht wirklich formulieren, weil ich das nicht verstehe. Aber dieser Luftgeist, er steht unter der Kontrolle der schwarzen Hexe, und man kann ihn nur aus dem Bann befreien, wenn man seinen Namen kennt.“

Luftelementar...“ wiederholte Hesindian. „Das kann sein. Das würde passen. Dann war es kein Elfenzauberer, der uns in Adlergestalt ausspioniert. Dann war das ein Luftelementar. Ja, so hört sich das plausibler an. Der Elfenzauber passt auch nicht recht zu Gerrich und Sisa. Und, ja, manche Wesen kann man tatsächlich nur kontrollieren, wenn man ihren wahren Namen kennt. Aber wenn das so ist, dann haben wir ein Problem. Wo sollen wir den Namen erfahren?“

Er heißt Aarmarian“ antwortete Haldana.

Hat das Nasdja auch gesagt?“ frage der Magier stirnrunzelnd.

Nein. Das war Wim. Wim Brundel. Sisas Vater.“ erzählte Haldana mit ruhiger Stimme, als würde sie über einen Nachbarn von daheim reden und nicht über einen Geist.

Also, Haldana, jetzt hör mal auf. Langsam reicht es aber mit den Geistergeschichten.“ Jodokus war sichtlich verwirrt.

"Hast du denn überhaupt keine Gespenster in deiner Rommilyser Villa?" Alrik lachte auf, vielleicht ein wenig zu laut. Der Friedwanger griff zu seinem "Flachen Valpo" und nahm einen tiefen Schluck. Nervös spähte der Mondschatten um sich. Das flackernde Laternenlicht zeichnete wandernde Schatten und rötliche Flecken auf die Mauerreste. Irgendwo in den Bergen heulte ein Wolf, und klang dabei selbst ängstlich. Der Baron versicherte sich der Gegenwart seinen Fuchsamuletts unter dem ergrauten Spitzbart.

"Die Hälfte meiner Verwandten sind Gespenster", sagte er und hustete. "Da ist schon mal Oswin, der Türmer...steht in dunklen Winternächten oben auf dem Bergfried, neben der Wache am Feuer. Zumindest behaupten das manche Büttel steif und fest. Dann gibts noch Olas Blutstropfen...angeblich hinterlässt die selige Baronin mitunter etwas von ihrem Lebenssaft im Schloss. Wann immer sie sich über ihre Nachfahren aufregt. Also uns."

"Die Geschichte kenne ich gar nicht" Hesindian warf einen Blick auf die gemauerte Feuerstelle des Tempels, wo mehrere Armbrustbolzen lagen. Darunter befanden sich Asche und Holzreste. Offenbar hatten die Räuber hier ein Feuerchen gemacht. Der Magier tupfte mit den Finger hinein und blies ein Staubwölkchen hoch. "Kalt wie eine Gruft."

"Oleana Schwanenhals. Die Schöne Baronin, die angeblich selbst Grafen und Fürsten heiraten wollten, von Weiden bis Almada. Ein Junker von Rabenmund hat ihr einen Liebesbrief geschickt, bei der Brautwerbung. Beinahe hätte sie seinem Ansinnen nachgegeben, aber dann hat sie sich im Garten an den Dornen einer Rose gestochen – und beim Anblick der Blutstropfen daran erinnert, dass die Fürstenfamilie ihren Großvater Barnhelm einen Kopf kürzer gemacht hat." Der Friedwanger deutete mit der Hand Halsabschneiden an. "Der Kopflose Barne. Der soll in Friedwang schon an den umöglichsten Stellen aufgetaucht sein, auf der Suche nach seinem davongekullerten Haupt. Völlig orientierungslos, wie schon zu Lebzeiten."

"Den Kopf haben sie ihm abgeschlagen? Warum denn das, in Praios Namen?" Jodokus schluckte.

"Angeblich wollte Barnhelm schon damals eine eigene Grafschaft Schwarze Sichel erreichen, zur Zeit der Gründung Darpatiens, unter Reichskanzler Randolph. Eine Geschichte, von der man in unserer Familie nur ungern spricht. Ebenso wie vom Begrabenen Büttel. Oder von Herdfriede, der Weißen Frau von..."

"Schon gut, schon gut" Der Patrizier begann zu frösteln. "Ich glaube eure Spukgeschichten fast schon ein wenig...aber nur fast...zumindest mehr als das wirre Gerede Haldanas."

"Baron Barnhelm von Friedwang? Der mit dem Cui dolet, meminit?" Hesindian spähte im magischen Fackelschein seines Zauberstabs hinaus in die Nacht. Der Blick des Magisters war ebenfalls unruhig. Sein scharfer Magierinstinkt schien es zumindest für möglich zu halten, dass sich in der Nähe underische Wesenheiten aufhielten.

Alrik nickte. "Wer Schmerz erleidet, erinnert sich daran. Oder auch: Gebranntes Kind scheut das Feuer." Der Friedwanger trank erneut und sah hinauf, zu einem Loch im Tempeldach, über dem das Madamal gespenstisch leuchtete. Schwarze Wolkenfetzen eilten am Nachthimmel vorbei. "Der Wahlspruch unseres Hauses. Ich fand den Spruch schon immer wehleidig. Es ist Nacht, wenn Friedwangs Sterne scheinen - das Motto gefällt mir weitaus besser. Vom Unfassbaren Schleicher an den Sternenhimmel versetzt zu werden, damit könnte ich mich anfreunden...aber nicht, die ganze Nacht mit Ketten herumzurasseln, zu heulen und zu wehklagen. Ja, ich denke ich werde es als Spruchband über mein Wappen stellen. Es ist Nacht, wenn Friedwangs Sterne scheinen...klingt richtig gut. "

"Ist ja auch von dir." Hesindian zuckte zusammen, als der Wolf erneut heulte. Es war mehr ein klägliches, kehliges Winseln als stolzer Wolfsgesang. Nervöses Wiehern und Stampfen antwortete, aus Richtung der Pferde. "Meister Isegrimm macht mich auch ganz verrückt."

"Wir sollten langsam wieder mal einen Plan für das Hier und Jetzt fassen." Jodokus kratzte sich am Kopf. "Wir sind hier nicht in Friedwang, und leider auch nicht in Rommilys. Sondern in der schlimmsten, zwölfgötterverlassensten Einöde, in die ich mich jemals verirrt habe."

Hesindian legte versonnen die Hand ans Kinn. "Das kann man so auch wieder nicht sagen."

"Ich weiß nicht, in welchen Wüsteneien du schon unterwegs warst, Magier. Ich finde es selbst im Katzloch gemütlicher oder auf dem Boronanger in der Litzelstadt..."

"Das meine ich nicht. Aber ganz sicher bin ich mir nicht. Dass das hier rein gar nichts mit Friedwang zu tun hat. Das Tal hier erinnert mich schon ein wenig an Gießenborn. Nicht ganz so lieblich und auch nicht weintragend. Die Felsen sind aus Kalk, nicht Schiefer, gewiss. Aber es gibt ein paar Übereinstimmungen. Das Silberbergwerk, der Wasserfall - und ein mächtiger Luftgeist. Wie beim Luftigen Lobesan im Gießental..."

"Der Luftige Lobesan?" Alrik wischte ein Spinnwebchen vom Ingerimmrelief. "Der Löbliche Luftgeist von Gießenborn...na, ich weiß nicht...das Gießental kommt schon ein wenig freundlicher daher als dieser... Trümmerhaufen mitten in der Wildnis."

"Aarmarian, so hat Haldana den Luftgeist genannt. Das klingt schwarzsichlerisch. Nicht nach den Trollzacken. Aarmar der Riese, ein Sohn der Sokramor...er hat das Land südlich der Sichel gepflügt..." Hesindian begutachtete ein geborstenes Fenster. "Eine typische Sage der Sichel".

"Die das arme Kind irgendwo aufgeschnappt hat, gewiss. Ich sag euch, Haldana ist völlig durch den Wind." Der Baernfarn sah auf die Bardin, die sich tatsächlich in die Decke gewickelt hatte und totenblass vor sich hinstarrte. "Ich bin ja froh, dass wir sie wiedergefunden haben. Aber bedenkt, was ihr in den letzten Tagen alles widerfahren ist. Der Schlag auf den Kopf in Helbers Hof war da noch das Wenigste..."

Tuvok atmete scharf durch. Du brauchst grad was sagen, stand ihm auf der gerunzelten Stirn geschrieben. Fast schon hilfesuchend sah er zu Rovik, aber der schien in eine Art Zwergenandacht verfallen zu sein, vor dem verwitterten Bildnis Ingerimms.

"Mit deiner Magie...ich meine, du könntest doch mal nachschauen, sozusagen...obs hier spukt...ob sich hier... was rumtreibt." Alrik spähte, noch immer unruhig, über seine Schulter, und tastete nach der Fuchskopf-Pfeife. "Ein wenig unheimlich ists mir schon zu Mute. Da ist so ein ständiger Eishauch. Als ob gerade jemand auf meinem künftigen Grab herumläuft...wie die Sichler sagen."

"Das hier ist ein Ingerimmtempel. Ein geweihter Ort. Zumindest die Ruine davon. Was soll sich hier schon herumtreiben?" Hesindian schritt leicht geistesabwesend auf und ab.

Alrik nickte. Natürlich, sein Freund geizte wieder mal mit seinen astralen Kräften. "Ausgebrannt, hm?"

"Nein, ich denke nach. Aarmarian. Aarmarian. Aarmar-Iama, der Name sagt mir etwas. Das soll der ältere Name des Luftigen Lobesans sein. Was auf Isdira, der Elfenzunge, soviel wie Freund des Aarmar heißt. Aarmar-Iama blickt mit seinen Adleraugen bis in die tiefsten Täler der Sichel und Herzen der Menschen. Er erspürt mit seinem Schnabel sogar Gold und Silber, tief unter den Bergen. Der Preis für diesen Dienst besteht in einem Stück des eigenen Fleisches, das man ihm als Atzung anbieten muss..."

"Kling eher dämonisch als nach einem freundlichen Luftgeist..."

"Du weißt wie die Friedwangen sind: Sie lassen es harmlos klingen, wenn sie zu den Alten beten. Die nicht gut sind oder böse, wie die Götter und Erzdämonen. Sondern einfach nur sind: Machtvoll und uralt. Lobesan wirkt für mich eher wie ein Titel als ein Name. Und was dieses angebliche Geisterdorf angeht. Auch da gibt es eine ähnliche Geschichte im Gießenbornschen. Weißenkohl, der Verwunschene Weiler, der von Orken niedergebrannt worden ist und alle 13 Jahre wiederkehren soll...in den Namenlosen Tagen."

Alrik setzte sich auf das Bruchstück einer umgestürzten Säule, um seine Pfeife zu stopfen, und anzuzünden. "Jaja, die Sagen der Sichel. Oder auch nur Friedwangschen Geschichten. Die verrückten Gebrüder Trollgrimm kennen jede Menge davon, auf unserer Burg. Mein Kanzler Herdmund soll sogar aus diesem Verwunschenen Weiler gestammt haben. Glaub mir, ich war öfters zwischen Rübenscholl und Gießenborn unterwegs, wo das Dorf auf halbem Weg gestanden haben soll. Dort gibt es ein paar Mauerreste, aber bestenfalls von einem einsamen Gehöft...nicht von einer ganzen Wüstung."

"Und dennoch sind die Parallelen zu Kurgasberg bemerkenswert, findest du nicht."

"Wie? Nein, eigentlich nicht. Kurgasberg in den Trollzacken soll ein Zwillingsdorf von Gießenborn sein, in der Sichel? Wie das? Man könnte meinen, ihr Magier werdet für die Theorien bezahlt, die ihr in einem Moment aufstellt und im nächsten wieder verwerft." Alrik begann aufgeregt zu paffen. Er hustete und verwedelte die Rauchwolke, die leicht grünlich schimmerte.

Jodokus schüttelte den Kopf. "Genug mit diesen Spukgeschichten. Seht ihr nicht, dass Haldana völlig durch den Wind ist? Bei der Heiligen Noiona, merkt ihr denn nicht, dass es diese sprechende Honigmumie, die Geister und das alles nur in ihren Kopf gibt...sie hat einfach zu viel durchgemacht und braucht jetzt Ruhe. Wie wir alle."

Haldanas Kopf ruckte hoch, mit einem hohlen, tiefen Lachen.

"Seht Ihr!" Jodokus klang anklagend.

"Es stimmt also doch", sagte die Baronstochter dumpf. "Danke, Nasdja und Haldana, das ihr mir die Augen geöffnet habt, über mein wahres Dasein. Mein Nichtsein."

Mit merkwürdig starrem Blick sah Haldana in Richtung des Magiers und des Barons von Friedwang. Dann ging sie geistesabwesend im Tempel auf und ab und langte sich an den Kopf. "Wie das hier aussieht...Gütiger Herr des Feuers...Das darf doch nicht wahr sein. All die Jahre voller Mühe und Arbeit vergebens. Umsonst, alles umsonst!"

Abrupt blieb sie stehen, sah mit verschleierten Augen um sich.

"Hört...hört Ihr mich? Mein Name ist Ingram Sohn des Ingalf. Ich bin der Geweihte dieses Tempels."

Jodokus seufzte, und auch Tuvok blickte entsetzt. Rovik blinzelte irritiert, als er aus seinem Gebet erwachte. "Wie was?"

Der Baernfarn blickte um sich, als würde er nach einer Selemer Jacke suchen, und legte begütigend die Hand auf die Schulter der jungen Frau, mit Noionitenlächeln. "Haldana, du bist sehr verwirrt, was ich natürlich verstehe...aber...dein Name ist immer noch Haldana..."

Die Angesprochene sah ihn durchdringend an, so dass Jodokus schaudernd zurückwich.

"Eure Gefährtin war so liebenswürdig, mir ihren Körper zu leihen, um mich mit eigenen Augen zu überzeugen. Das heißt, eigentlich mit ihren Augen...Wen erblicke ich denn dort? Ein vertrautes Gesicht aus meinem Volk...?!"

Rovik runzelte die klobige Stirn. "Das ist...Zauberei...Weiche von mir!"

Haldana lächelte versonnen. "Ich habe euer Gespräch mit angehört. Sagt mir nur, wer hat den Krieg gewonnen? Perval? Oder Geldana?"

Die Männer im Tempel sahen sich verständnislos an.

"Egal. Sie sind beides Scheusale. Verzeiht. Es gibt wahrlich Wichtigeres zu tun, und die Zeit drängt. Barnhelm von Friedwang, der Name sagt mir etwas. Der Baron soll vor einem halben Zwergenleben unser Dorf gegründet haben, zusammen mit seiner Gemahlin, der Edlen Korgard von Alfengrund. Korgardsberg, ihr versteht? Nachdem sie und ihr Gemahl in Ungnade gefallen sind, wurde das Dorf in Kurgasberg umbenannt."

Alrik fiel die Pfeife aus dem Mund. "In Ungnade gefallen? Wie, in Ungnade gefallen?"

"Nun ist aber genug" Jodokus blickte zu Tuvok. "Sag doch auch mal was. Du bist doch immer so furchtbar besorgt um Haldana. Bring deine Gefährtin zur Vernunft...einigermaßen...das kann man ja nicht mehr mit anhören..."

Der Jäger zückte Pfeil und Bogen: "Was immer du bist...wer auch immer da aus Haldana spricht. Lass sie in Ruhe, oder..."

"Gemach, Gemach!" Alrik hatte seine Pfeife geschickt aufgefangen, aber seine Hände zitterten. "Niemand weiß, wie Barnhelms Gemahlin geheißen hat, oder was aus ihr nach seiner Hinrichtung geworden ist. Nur, dass sie aus der Gegend von Rommilys gestammt haben soll. Sogar der Adelstitel wurde ihr aberkannt, und der Name fortan nicht mehr genannt. Haldana kann ihn gar nicht kennen...Baronin Unbekannt. Noch so ein Gespenst aus unserer Familiengeschichte."

"Ach was, der Name klingt doch schon wie Korwid Alfengrund, der Doktor...Haldana fantasiert sich das alles bloß zusammen." Jodokus klang ein wenig unsicher. "Wenn du den Namen nicht kennst, woher willst du wissen, dass Haldana ihn kennt...?"

"Korgard und Barnhelm, jeder Kurgasberger kennt die Geschichte". Die junge Frau klang trotzig. "Die beiden Adeligen haben sich auf einem Feldzug gegen die Trollzacker kennen gelernt. Dabei sind sie in dieses Tal gekommen, das den Baron sofort an seine Heimat in der Schwarzen Sichel erinnert hat. Die Edle von Alfengrund ist über einen Stein gestolpert, und als sie ihn umgedreht hat - da funkelte er silbern. Korgard mit dem silbernen Fuß, so wird sie bei uns genannt. So ist unser Dorf entstanden, und sein Reichtum. Korgard wurde mit der Siedlung belehnt und die Gemahlin des Friedwangers. Allerdings war Korgards Glück nur von kurzer Dauer. Ihr Gemahl wurde eines Mordanschlags überführt. Ich glaube, auf seinen Vetter, der zuvor über Friedwang geherrscht hatte."

"Mordanschlag? Sigismund der Sänger wurde Opfer eines...Erdrutsches, auf dem Weg nach Rommilys...und Barnhelm dadurch Nachfolger. Sigismund, auch bekannt als der kleine Graf. Einer meiner Vorfahren." Alrik war nun hellwach.

"Soweit ich weiß, war der Steinschlag kein Unfall. Barnhelm wurde wegen Mordes an seinem eigenen Blut in Wehrheim enthauptet. Seine Gemahlin, deren Schuld man nie zur Gänze nachweisen konnte, verlor nur ihren Adelsstand und verbrachte den Rest ihres Lebens in Kurgasberg. Dort soll sie einige Kinder gehabt haben, unter anderem mit einem Luftgeist...der Silph, der unser Dorf beschützt. Es gibt noch immer einige Alfengrunds im Dorf...oder besser gesagt, gab." Haldana seufzte.

"Moment, das würde ja heißen, dass ich und dieser Medicus...das wir zu allem Überfluss auch noch miteinander verwandt sind." Alrik begann aufgeregt zu paffen. "Über ein paar Ecken zumindest. Das fände ich ehrlich gruseliger als jede Gespenstergeschichte."

"Es kommt noch besser", sagte Hesindian. "Der Silph? Emmeran Silpho, einer meiner entfernten Vorfahren, soll ein Dschinnengeborener gewesen sein. Das Kind einer Sterblichen und eines Elementarherren. Allerdings dachte ich bislang, die Geschichte hätte sich irgendwo im Raschtulswall ereignet. Am Konzil der Elemente..."

"Konzil der Elemente? Elementarherr? Jetzt prahlst du aber." Aus irgendeinem Grund schien Alrik gut gelaunt zu sein. Der Duft von Pfeifenkraut erfüllte die Luft und schien die Nerven tatsächlich ein wenig zu beruhigen. Ebenso lag der Geruch von Trollbirnenschnaps in der Luft - womöglich der eigentliche Grund für die beschwingte Stimmung des Friedwangers.

"Das reinste Familientreffen", brummte Rovik, der Haldana in gehörigem Abstand umschlich. "Fehlt nur noch, dass dieser angebliche Ingolf..."

"Ingram..." sagte Haldana freundlich und rieb sich das Kinn. Irgendwie schien sie zu merken, dass dort etwas fehlte, und strich sich stattdessen über den Hals.

"Ingram Sohn des Dingsbums einer meiner Verwandten ist..."

"Das ist doch alles kein Zufall." Auch Hesindian war ganz aus dem Häuschen. "Dass wir alle zu einem bestimmten Zeit an diesem Ort sind, und irgendwie schon immer mit ihm verbunden waren? Man könnte fast schon karmatischer Kausalknoten dazu sagen...Faszinierend."

Haldana begutachtete mittlerweile eingehend sich selbst.

"Wenn die Geschichte stimmt, würde das bedeuten, dass wir beide auch verwandt sind." Alrik grinste in Richtung seines Hofmagiers. "Das wäre ja eine kleine Sensation. Neben der Geistererscheinung dort, versteht sich."

Jodokus sah ein wenig bleich aus der Wäsche. Sein Bedarf an Abenteuern und Unheimlichen schien auf Jahre gedeckt zu sein. "Wunderbar… überaus geistreich, das Ganze. Haha. Sicher, sicher, ihr beide hattet schon mit dem Dämonenmeister zu tun und Heerscharen von Untoten. Rovik, Tuvok und Haldana sind auch schon etwas herumgekommen. Ich bin es einfach noch nicht gewohnt, mit Toten zu plaudern. Mal angenommen...das stimmt alles, was Haldana… Ingram… oder wer auch immer… uns gerade erzählt. Was fangen wir mit dieser Erkenntnis an?"

"Ihr müsst hinauf auf Korgards Berg, und dieses Ritual verhindern", sagte "Haldana" bestimmt. "Genauer gesagt in die Tiefen des Berg hinab. Die Zeit wird knapp und der Weg ist beschwerlich. Aber es gibt eine Abkürzung, dank meiner bahnbrechenden Erfindung." Die vermeintliche Bardin reckte stolz ihr bartloses Kinn.

"Was denn schon wieder für eine Abkürzung? Bitte nicht durch die Geisterwelt." Hesindian rümpfte die Nase, was auch dem Tabaksqualm galt.

"Eine mechanische Bergkunst. Mein Meisterwerk. Ich habe es Seilbahn getauft. Wir haben damit das Erz ins Tal geschafft. Folgt mir, ich zeige es euch...Na kommt schon. Habt keine Angst. Ich beiße nicht."

Haldana steuerte die Bresche an, die früher einmal der Eingang des Achtecks gewesen war, und starrte dabei mit verklärtem Gesichtsausdruck gerade aus. Sie wirkte steif und ungelenk, wie eine sprechende Schlafwandlerin.

Draußen schien der Mond auf die Trümmer von Kurgasberg.

Weibel Burgschall kam ihnen entgegen: "Die Pferde sind sehr nervös. Wahrscheinlich wegen dem Wolf. Aber einigen der Reiter ist die Gegend hier auch nicht geheuer..." Der Perricumer räusperte sich verlegen. "Ein paar Abergläubische sprechen sogar schon von Geistern".

Mit begütigendem Lächeln trat Alrik neben Haldana, deren Blick zunehmend entsetzt über das Ruinenfeld wanderte. "Wie lange bin ich schon tot?" seufzte sie. "Zehn Jahre? Zwanzig Jahre?"

"Wie meinen, werte Dame Haldana?" Mit angedeuteter Verbeugung blickte der junge Spitzbart in Richtung der Schwarzsichlerin.

"Oh, äh..." Alrik räusperte sich. "Fort, liebe Haldana, äh, fort warst du nur ein paar Stunden. Auch wenn es uns ebenfalls wie viele Jahre vorgekommen sein mag". Der Friedwanger tätschelte seiner Begleiterin die Schulter - und prallte zurück, als habe er gerade versehentlich eine Leiche berührt.

"Äh, ja, natürlich..." Seradan Noris Burgschall war anzumerken, dass er durchaus selbst zu den "Abergläubischen"" zählte. "Wir haben einen Pfad entdeckt, der wohl hinauf zu diesem Bergwerk führt. Ich würde vorschlagen, dass wir ihm folgen, auch wenn er ziemlich steil und gewunden zu sein scheint. Die Pferde würde ich unter Bewachung zurücklassen. Die Gemeinen Hensgar und Brinia wurden durch den Hagel doch schwerer verwundet, als ich dachte".

"Nun, es gibt einen Hinweis auf eine Abkürzung ins Bergwerk, vielleicht sollten wir zunächst dem nachgehen. Es kann sehr gut sein, dass die Räuber mit unserem Eintreffen rechnen, und dann wären sie oben am Berg im Vorteil. So hätten zumindest wir den Überraschungsmoment auf unserer Seite."

"Folgt mir", sagte Haldana steif.

"Gewiss." Weibel Burgschall räusperte sich. "Ich werde kurz meinen Leuten bescheid geben"

"Gut." Alrik nickte. "Wobei wir uns die Abkürzung erst einmal selber anschauen wollen. Sobald wir oben angekommen sind, und der Eingang zur Mine frei ist, geben wir euch ein Zeichen. Dann könnt ihr auf dem anderen Pfad heraufkommen".

Haldana ging bereits den Loderbach entlang, entgegen der Strömung. Trotz des hellen Mondlichts schien sie Probleme mit der Orientierung zu haben. An den Überresten eines Holzstegs blieb sie stehen. Kurz entschlossen watete sie durch das silbrig glänzende Wasser. Nebel wallte im Bergwald. Das Rauschen des nahen Wasserfalls war nun deutlich zu hören.

Die Gefährten folgten ihrem merkwürdigen Fremdenführer, und standen nach einigen Schritten vor einer halb eingefallenen Holzkonstruktion: Im Wesentlichen war es eine Art freistehender Stamm, der sich mitsamt einem großen Rad gedreht hatte.

"Das hier ist der Rundgöpel", sagte Ingram, mit Haldanas Stimme. "Besser gesagt, das war er einmal..." Die Entäuschung war ihm anzumerken.

"Was für ein Klöppel?" Die Frage hatte Tuvok gestellt.

"Eine Art Ankerspill", murmelte Jodokus.

"Ankerspill?" Rovik rieb sich über den Bart (den echten).

"Naja, eine Winde, oder eine Art Mühlwerk. Das von Pferden, nicht vom Wasser angetrieben wird. Zum Auf- und Abwickeln von Seilen." Der Rommilyser leuchtete mit der Lampe über den "Göpel". Der Stamm stand auf einer Bodenplatte. Das dazugehörige Rad war völlig vermodert: nicht borongefällig zerbrochen, eher skelettiert. Fast schon wie ein Symbol für Geisterunwesen.

In der Nähe lag noch der Überrest eines Tragkorbs. Der Mond kam nun in voller Pracht heraus, und die Gefährten konnten in seinem Lichtschein den Hang überblicken. Es dauerte eine Weile, bis sie begriffen, dass die mal umgestürzten, mal vermoderten Stämme, die dort über Felsen oder Gras aufragten, ebenfalls keine Bäume waren, sondern seitlich abgestützte Balken. Zumindest das, was von den Konstruktionen noch übrig war. Zumindest einer der Balken schien vom Blitz gespalten worden zu sein, in der Mitte.

Ein schnarrendes, sirrendes, leicht quietschendes Geräusch drang an ihre Ohren, und zerrte an ihren Nerven. Gespenstisch, der Begriff passte. Auf der Spitze eines Balkens, der noch intakt aufragte, drehte sich eine metallische, völlig verrostete Rolle, wie ein Windrädchen oder eine tulamidische Gebetsmühle.

Oben, am Berg, war ein weiteres Rad zu erahnen: ein zweites, besser erhaltenes Göpelwerk. Es sah aus wie ein Henkersrad, das auf einen Pfahl gesteckt worden war. Es dauerte eine Weile, bis Jodokus erahnte, wie diese sogenannte Seilbahn einmal funktioniert haben mochte.

"Hesindial" murmelte er. "Aber irgendwie auch ziemlich lidschäftig. Von Satinavs Hörnern zerstört..."

"Was hast du erwartet? Den Rommilyser Lastenaufzug? Voll funktionstüchtig, an diesem Spukort?" Alrik sah ein wenig ratlos drein. Auch wenn diese Seite des Bergs nicht allzu steil zu sein schein, wurde der Aufstieg immer wieder von Felskanten erschwert. Sicherlich 300, nein 400 Schritt ging es den Kurgasberg hinauf. In regelmäßigen Abständen waren die Überreste von Balkenkonstruktionen zu sehen.

"Sieht so aus, als müssten wir doch den Haupteingang nehmen."

Haldana/Ingram schien völlig verzweifelt zu sein. "Zerstört...mein Lebenswerk ist vernichtet....von mir wird nichts überdauern."

"Gibt es nicht irgendeinen Zauber, mit dem man dieses… Etwas aus Haldana vertreiben kann? Was muss dieses Mädchen denn noch alles mitmachen?" Halb zornig, halb furchtsam blickte Jodokus in Richtung der Besessenen. "Diese Spukgestalt führt uns in die Irre."

"Ich habe nicht gesagt, dass ihr damit hinauffahren könnt." Haldana hob abwehrend die Hand. "Meine Bergkunst war noch eher… experimentell. Das Seil ist ständig aus den Rollen gesprungen, oder ein Tragkorb hängen geblieben, mit dem Haken. Dann musste jemand hinauf, mit einer Stange, und das reparieren. Zu diesem Zweck gibt es einen eigenen Pfad, mit Treppenstufen und Krampen. Den meine ich als Schleichweg."

Sie stiegen nach oben, den Kurgasberg hinauf, was im Mondlicht erstaunlich einfach war. Tuvok eilte voran, flink wie eine Bergziege, den Bogen und den Rucksack auf den Rücken geschnallt. Tatsächlich führte ein schmaler Pfad den schroffen Abhang hinauf, der mal eine Bergwiese war, dann wieder massiver Fels. An einigen Abschnitten waren Treppenstufen in den Stein gemeißelt, an steileren Stellen krumme, verrostete Krampen eingeschlagen. Alrik, der Tuvok folgte, sandte ein Dankgebet zum Heimlichen. Wenn nicht der Heimliche, wer dann wies ihm hier gerade den Weg?

Es ist Nacht, wenn Friedwangs Sterne scheinen.

Jodokus folgte Haldana, während Hesindian und Rovik die Nachhut übernahmen. Der Baernfarn wusste nicht Recht, ob er auf seine einstige Flamme aufpassen oder sich vor ihr gruseln sollte. Sie kam gut voran, als wäre sie auf diesem Ziegenpfad schon hundertmal geschritten - und angeblich war "sie" das ja auch.

Schließlich erreichten sie den letzten Abschnitt, wo wieder rostige Klammern in den Fels geschlagen waren. Der Baernfarn wollte den Göttern schon für den leichten Aufstieg danken, als ihn ein Fluch Tuvoks eines Besseren belehrte, der vorgeklettert war. Mit metallischem "Pling" stürzte eine der Metallkrampen nach unten, und verfehlte Roviks Kopf nur um Fingerbreite. Selbst der schwere Zwergenschädel hätte dieses Geschoss nur schwer verkraftet.

"Tuvok… nicht so stürmisch!" brummte Rovik

Der Jäger hing, nur wenige Schritt unter einem Plateau, am Fels. Auch eine zweite Krampe löste sich unter seinem Griff, diesmal behielt der Waidmann sie aber noch in der Hand. Kopfschüttelnd schleuderte er sie weg, in die Dunkelheit. Dann kletterte er mit bloßen Händen und Füßen los, erstaunlich geschickt im Zwielicht des Madamals. Wenig später stand er oben, schlang ein Seil um eine einsame Tanne und lies das andere Ende nach unten ringeln, Alrik entgegen. Auch der Baron tat sich leicht. Fast schon wirkte er wie ein alter, erfahrener Fassadenkletter, wie er da "den Berg stürmte". Allerdings war er dabei ein wenig ungestüm.

Kleinere Brocken und Steine kollerten unter seinem schweren Tritt nach unten. Jodokus ging in Deckung, Haldana wurde getroffen, wieder mal am Kopf. Bevor sie in die Tiefe taumeln konnte, packte sie der Rommilyser und presste sie an den steilen Hang. Einen Augenblick lang waren sie eng umschlungen.

"Autsch." Haldana langte sich an den halbrasierten Kopf. Es schien nur ein besseres Steinchen gewesen zu sein, dass sie dort gestreift hatte.

"Verzeiht, Hochwürden", sagte Jodokus, etwas steif. Irgendwie hatte er das Gefühl, das im nächsten Moment auch noch ein wütender Pfeil folgen könnte, von Tuvok. Der zog aber gerade den Baron über die Felskante, der sich zuletzt etwas verklettert hatte.

"Danke, Jodokus", hauchte Haldana. "Du hast mich gerade gerettet."

Sie blickte verwirrt nach unten. "Ziemlich steil..."

"Ich sollte Euch nun besser wieder loslassen, Herr...äh, Ingram..."

"Haldana reicht." Das Gesicht der Schlotzerin war ein einziger Schatten, nur ihre Zähnen leuchteten hell im Mondlicht.

"So bist du endlich wieder normal?"

"Nasdja hat gesagt, ich soll den Zwerg in meinen Körper schlüpfen lassen...sonst würdet ihr mir niemals glauben… es fühlte sich irgendwie… seltsam an… aber auch faszinierend..."

"Du solltest keine Zwerge nachts in dich eindringen lassen." Jodokus wusste nicht recht, was er von allem halten sollte.

"Das sagt der Richtige." brummte Tuvok barsch.

"Wie meinst du das?" Jodokus wollte schon wieder aufbrausen.

"Egal. Sie hat etwas von Medium gesagt… ich wäre für solche Sachen begabt." Haldana unterband jedweden Streit der Gefährten.

"Medium? Ich esse mein Darpatrind am liebsten gut durchgebraten." Jodokus versuchte einen

Scherz. "Hauptsache nicht albernisch...oder orkisch...haha..."

Haldana blickte verständnislos. Einen Moment lang befürchtete Jodokus, Ingram könnte "zurückgekehrt" sein, und bewegte die Hand vor ihren Augen.

"Haldana?!"

"Schon gut. Wir müssen ganz nach oben. Da ist ein Loch… oben im Berg… Pinge heißt das glaube ich."

"Eine Zwergenbinge?"

"Nein, eine Art Krater, von einem Deckeneinsturz. Da liegt das Fass drauf, und verschließt den Zugang nach ganz unten. Wir müssen uns sputen. Mitternacht ist nicht mehr fern."

"Wunderbar. Haldana scheint wieder normal zu sein. So einigermaßen." Jodokus Worte galten Hesindian, der sich mühsam von unten heraufquälte, den Hut lüpfte und etwas Schweiß aus der Stirn wischte.

"Zumindest schon mal ein beruhigendes Gefühl." Der Magier deutete auf das herabpendelnde Seil. "Schaffen wir das, so eine waghalsige Klettertour?"

"Mich werdet ihr hinaufziehen müssen", brummte Rovik, der von unten folgte. "Bei Angroschs Bart, wenn der Weltenbaumeister gewollt hätte, das wir auf Bergen und Hügeln herumklettern, statt in ihnen zu wohnen. Dann hätte er uns nicht Schlägel, Eisen und Spitzhacke gegeben."

"Was ist los da unten?" Die Frage kam von Tuvok.

"Der Herr Zwerg will nach oben gezogen werden", sagte Jodokus halblaut.

"Sonst noch Wünsche, Rovik? Ich weiß, dass du schwer bist wie ein kleiner Amboss..."

"Da oben ist doch dieses Göpeldings, mit zwei Stangen. Wenn ihr das Seil dort rumlegt, und die Winde dreht, könnt ihr mich hochziehen wie einen Anker..."

"Hm. Gute Idee...vielleicht."

"Funktionieren muss es natürlich auch noch."

Es funktionierte besser, als es Tuvok vermutet hätte. Knarrend setzte sich die Winde in Bewegung. Schritt für Schritt wurde der Zwerg nach oben gewuchtet, der das andere Ende des Seils um seinen gedrungenen Oberkörper geschlungen hatte. Auf die gleiche Weise wurde auch Haldana nach oben befördert, ebenso Hesindian und Jodokus.

"Unser Stadtmensch", begrüßte Tuvok den Patrizier, etwas einsilbig.

Sie standen nun am Rande eines kleinen Felsplateaus, das dicht mit Nadelbäumen bestanden war. Völlig verrostete, halb überwucherte Schienen führten in den "Wald". Sie folgten dem angedeuteten Pfad, noch immer im sanften Schein des Mondlichts, wobei sie sich durch stachelige, feuchte, harzig duftende Zweige hindurch kämpfen mussten. Schließlich standen sie erneut vor einer Felswand, die deutlich steiler und felsiger wirkte als der Hang, den sie gerade bezwungen hatten. Eine dunkle Öffnung zeigte den Eingang der Mine an, neben einem Stapel vermoderter Bretter. Ein breiter Pfad führte von dort aus die Bergflanke hinunter, ins Tal.

"Warum haben wir nicht den genommen?" wollte Jodokus wissen. Zum Glück hatte er instinktiv geflüstert.

Tuvok deutete auf zwei Gestalten, die vor der Mine herumstanden, und sich halblaut unterhielten. Eine schien eine Armbrust zu halten - eine Frau?

Vor den beiden Schatten stand eine hölzerne, eisenbeschlagene Lore, bis zum Rand befüllt mit Steinbrocken. Der Rommilyser verstand. Würden die Wachen den Wagen in Bewegung setzen, würde jeder, der den Pfad im Gänsemarsch heraufkam, von diesem einfachen, aber wirkungsvollen Geschoss den Berg hinunter gefegt werden. Die Räuber rechneten offenbar mit Besuch.

Rovik griff schon zur Axt, auch Tuvok legte einen Pfeil auf. Alrik hob die Hand, um die beiden zu bremsen, und ging hinter einer Tanne in Deckung. Das Mondlicht, das ihnen bislang den Weg ausgeleuchtet hatte, war nun ihr größter Gegner: Sie waren bei einem Angriff gut zu sehen, und für die Trollberger wäre es ein leichtes, sich in den Tunnel zurückzuziehen und Alarm zu schlagen.

Der Mondschatten spähte nach oben, um eine Wolke zu suchen, auf dem Weg zum Madamal. Aber die war im Moment nicht in Sicht.

Im nächsten Augenblich schrie die Armbrusterin auch schon auf. Alrik dachte schon, Tuvoks Pfeil hätte sie durchbohrt. Dem Geräusch nach war sie aber von einem Stein getroffen worden.

"Was zum Namenlosen?" Die Räuberin hob die Armbrust - und schrie erneut auf, als ihr die Waffe aus der Hand gerissen wurde. Auch ihr Gefährte keuchte, als irgendetwas Unsichtbares gegen ihn prallte.

Klock-klock-Klock. Steine polterten von der Lore. Dann setzte sich das Gefährt in Bewegung.

Einen Herzschlag lang sah Alrik einen kleinen, bärtigen Mann mit Zöpfen hinter dem Wagen, fast von der gleichen Farbe wie das Mondlicht. War das Rovik? Nein, der stand neben ihm, ziemlich verwirrt.

Dann war die Erscheinung auch schon wieder verschwunden. Die Lore rutschte los, auch wenn die Räder nicht wirklich drehten. Einige Dutzend Schritt hielt sich das Ungetüm auf dem Pfad, dann kippte es seitlich um, schüttete seinen Inhalt heraus, überschlug sich und zerlegte sich in Windeseile selbst, auf dem Weg in den Bergwald.

Die Wachen schrie auf, fast schon panisch, und verschwanden im Tunnel. Der fremde Zwerg war verschwunden.

Tuvok wollte den Räubern noch einen Pfeil hinterherschicken, seine Hände bebten aber zu sehr.

"Habt Ihr...den Geist auch gesehen?" Jodokus war leichenblass.

"Wir haben uns sogar mit ihm unterhalten." Alrik versuchte kaltschnäuzig zu klingen.

Rovik stürmte bereits auf den Eingang der Mine zu, aber Haldana hielt ihn zurück.

"Wir müssen ganz nach oben."

"Sollten wir nicht besser auf die Grenzreiter warten?" Das kam von Jodokus.

"Hm… ich denke mal, das Gepolter gerade eben könnte man als Signal durchgehen lassen, dass sie raufkommen sollen." Alrik blickte in die Tiefe.

Im Inneren der Mine war Lichtschein zu sehen, gefolgt von erneutem Krachen, Rumpeln - und Schreien. Dann wurde es wieder dunkel, gefolgt von einem Staubwölkchen, das der Stollen ausblies. Ein Einsturz?

"Soweit zum Thema Tunnel", sagte Tuvok trocken. "Das Bergwerk scheint eine einzige Falle zu sein."

"Von oben kommt man leichter in die Höhle", wiederholte Haldana, klang aber selber nicht ganz überzeugt.

"Vielleicht sollten wir wirklich erst mal auf Verstärkung warten", versuchte es Jodokus erneut.

"Falls die Grenzreiter überhaupt Lust auf ne echte Grenzerfahrung haben..." Alrik klang schon wieder beschwingt, was auch am restlichen Birnenschnaps lag, den er sich gerade in die Kehle hatte laufen lassen.

Es wurde schlagartig finster. Eine Wolke hatte sich nun doch vor den Mond geschoben.

Hesindian ließ seinen Zauberstab aufflammen. Einen Moment lang sah die Gruppe selbst gespenstisch aus, wie sie im Widerschein des magischen Lichts vor dem Bergwerkseingang stand, in der Mitte von Nirgendwo. Nur das Pfeifen und Säuseln des Bergwindes war zu hören.

"Schön hier oben." Auch Jodokus versuchte es jetzt mit demonstrativer Gelassenheit. "Aber ich sehe kein Schild Hier entlang gehts zum Gipfel."

Hesindian ging auf und ab und versuchte die Umgebung auszuleuchten. Schroffe, braungraue Felsen, ab und zu ein paar Bäumchen, mehr war nicht zu sehen.

"Wir müssen nicht bis auf den Gipfel. Ingram sagt, dass die Pinge nicht sehr weit entfernt ist." Haldana wies unbestimmt ins Dunkle.

"Der Zwergengeweihte?" Jodokus fröstelte. Nervös blickte er um sich.

"Er steht genau neben dir" sagte Haldana.

Man konnte förmlich sehen, wie sich dem Baernfarn die Haare aufstellten.

Haldana marschierte schon wieder los, den Pfad nach unten, in Richtung Dorf. Nach einigen Dutzend Schritt, kurz vor der Stelle, wo die Lore umgekippt war, schlug sie sich seitlich in den Bergwald. Tatsächlich, dort führte eine Abzweigung wieder nach oben. Zunächst war dieser Weg unangenehm steil, wurde aber rasch erträglicher. Windungsreich schlängelte er sich Felswände und Baumreihen entlang. Zwischenzeitlich zeigte sogar "Frau Mada" wieder ihr Antlitz. Es wurde deutlich kühler.

Timoin von Binsböckel

 

Titel:  Timoin von Binsböckel
Lehen:  
Tsatag:  1028 BF
Eltern: Valyria von Baernfarn-Binsböckel (Adoptivmutter)
Geschwister:  Alrik Jodokus von Baernfarn, Adginna Alrike von Baernfarn
Familienstand:  ledig
Nachkommen:  
Kurzprofil:  trotz seiner Jugend ein guter Waldläufer und ausdauernder Kämpfer
Verwendung:  


• Name:
Timotheus von Binsböckel, jedoch allgemein Timoin genannt

• Wappen 

• Hauptgottheit Firun

• Beschreibung
: Schlanker, schwarzhaariger, sehniger junger Mann. Am rechten Ohr fehlt ein Stück vom Ohrläppchen.

• Aventurische Informationen

Im Winter 1028 wurde das neugeborene Kind von Unbekannten vor Gut Gernatsquell in der Baronie Schlotz ausgesetzt. Dort wurde der kleine aufgenommen und mit den eigenen Kindern der Gallyser Altbaronin erzogen. Schließlich adoptierte Valyria den Jungen.

Für die weitere Ausbildung wurde er dem Reichsritter Odilon Wildgrimm als Knappe anvertraut. Von diesem erlernte er nicht nur den Schwertkampf, sondern auch das Bogenschießen und die Kunst der Waldläufer.

• Besonderheiten

• Meisterinformationen

Timoin ist der Bastard des Bischdarielon von Friedwang und einer Vagantin mit Namen Phexlida. Die Herkunft ist der Adoptivmutter bekannt.

• Stärken 

• Schwächen 

• Hauszugehörigkeit 

Durch Adoption zum Haus Binsböckel

• Bedeutende lebende Verwandte 

Bischdarielon von Friedwang, Valyria von Baernfarn-Binsböckell, Haldana von Schnayttach-Binsböckel

• Zugehörigkeit zu Orden, Ritterschaften und politischen Gruppen 

• Freunde & Verbündete 
 
• Feinde & Konkurrenten 
 
• Kurzcharakteristik 

• Herausragende Eigenschaften 

Ausdauer, Gewandtheit

• Herausragende Talente 

Fährtensuche, Wildnisleben, Bogenschießen, Reiten, Schwertkampf

• Beziehungen 

• Finanzkraft 
 
• Zitate