2. Kapitel - Kutschfahrt nach Schlotz

2. Kapitel

Kutschfahrt nach Schlotz



Burg Gernatsborn,  1. Praios 1043 BF
Die Mersinger Ritterin blickte durch die rauchige Luft als sie diesen schwülen Praiosnachmittag aus den kühlen Burgmauern heraus trat. Efferd sei Dank kommt der Wind hier nur ganz selten aus dem Gernatstal heraus aus östlicher Richtung, sodass der Rauch und Ruß von Hochofen und Schmiede sogar bis zur Terrasse weht. Auch war der Lärm fast ohrenbetäubend. Aus der Schmiede hämmerte und zischte es den ganzen Tag über, die Spitzhacken aus der Kupfergrube und die Sägen im Sägewerk klangen fast wie im Chor, wenn nicht auch noch das Hämmern und das Rufen der Bauarbeiter dazu kam. Und dann noch das Rauschen des Gernats vom Fuße des Hügels.
Jadvige ließ ihren Blick schweifen. Von der Terrasse der Burg aus hatte man eine ausgezeichnete Sicht, zumindest in den Norden ins Hallingsche und Osten ins Gernatstal und in den Wutzenwald. Im Westen wurde die Sicht durch den bereits errichteten Burgfried versperrt. Im heißen Sommer war dies jedoch ein Segen, denn der hohe Turm hielt auch die Praiosscheibe ab am Nachmittag ihre Hitzestrahlen hierher zu senden.
Ihr Blick richtete sich wieder gegen Firun, denn die Wacht am Gernat sollte gerade in diese Richtung gelten. Weiter nordwestlich flussabwärts ging es in die feuchten Gernatsauen über, welche mit dem Fluss nach der Schlotzer Baroniegrenze nach Südosten weiter gingen, und östlich ging es in das engere Gernatstal und den tiefen Wutzenwald. Direkt gegenüber des Flusses bis zu Hügelkamm und Wäldchen nach Hallingen hinein prägten die Gernatsauen eine weitgehend abgeholzte und aufgrund der aktuellen Trockenheit karge Landschaft. Schon länger hatte es nicht geregnet, dass der Pfad durch die Gernatsauen aus dieser Richtung nach Gernatsborn eine kaum zu erkennende Staubpiste war. Und siehe, sie musste ihre Augen zusammenkneifen, eine Staubwolke passierte die derzeit trockene Aulandschaft. Was zunächst fast wie eine Windhose aussah, entpuppte sich bald als ein Wagenzug samt Reitern. “Händler, die ihre Waren den Fluss abwärts flößen wollen, oder neues Baugerät sicher” grummelte die leidgeprüfte Ritterin vor sich hin. Doch wenig später sah sie ein Banner, das kaum zu einem einfachten Wagenzug passte. “Das ist der Herr” fuhr sie hoch und schoss mit einem lauten “Der Türmer muss wohl schlafen!” nach.

Die Mersingerin küsste ihren Gemahl innig auf die Lippen und umarmte ihn dabei. Seit frühem Ingerimm, als Storko sie am Meidenstein kurz besuchen konnte, hatten sie einander nicht getroffen. Danach hatte er weiter Richtung Rommilys reisen müssen, um als Wehrvogt Grenzbefestigungen im Südosten der Mark zu begutachten. Glyrana vermisste die sommerlichen Wochen, die sie mit ihrer Familie in den letzten Jahren immer auf ihrem Gut in Zaberg in Friedwang verbrachte. Zur Sommerfrische in den Bergen war dort die Luft kühler und angenehmer. Doch nicht dieses Jahr, denn vor dem Herbst musste der Stammsitz ihrer Familie fertig gebaut werden. Und eines der vier Kinder war bereits als Page an Adelshöfen entsandt und konnte nicht einfach wieder ein paar Wochen in die elterliche Obhut übergeben werden.
“Du bist spät, wir haben dich bereits seit mehreren Tagen erwartet” sagte sie fast vorwurfsvoll als sie nach dem Kuss seine Hand nahm. “Und du brauchst alsbald ein Bad” fügte sie in einem Befehlston hinzu. “Lass dir vor dem Abendmahl eines vorbereiten.”
“Wie so oft wurde ich aufgehalten, aber nicht umsonst” erwiderte Storko. “Ich blieb noch die letzten Namenlosen Tage in Hallingen, um zu sehen, ob unser Sohn als Page am Hofe zu Hallingen uns auch keine Schande bringt … aber Burggraf Gilborn Hal zu Hallingen hatte mir bereits zuletzt auf der Feste Hohenstein nur Bestes über unseren Sohn berichtet.”  
Langsam gewöhnten sich die Augen des Landjunkers an das gedämpfte Licht hier im Studierzimmer und er konnte seine Gattin erst richtig erblicken, auch wenn er ihren wohlig gewohnten Duft von Rosen- und Lavendelölen, die ihn auch immer in seinen Träumen über sie begleiteten, bereits vor der Türe gerochen hatte. Sie war in einer ritterlichen Tunika gewandet. Vom Schnitt her nichts außergewöhnliches, wären da nicht die verwendeten Stoffe, die in Goldbrokat, Schwarz und Blau schillerten und einer Baronin in der Darstellung kaum nachkamen. Ihre schwarzen, langen Haare waren kunstvoll zu einem Zopf geflochten, samt den Stirnfransen die kurz über ihren Augenbrauen geschnitten waren (zumindest etwas das sich seit ihren jüngsten Jungferjahren nicht geändert hatte). Seitdem die ehemalige Mersinger Jungfer zur Ritterin zu Barken geschlagen, ehrenhalber wohlgemerkt, und dann später bei den Stahlherzen aufgenommen wurde, gab sie sich recht ritterlich, zumindest sofern es der Situation angemessen war. Auch wenn sie sich meisterlich inszenieren konnte, war dies nicht gespielt. Die Kleidung war im Gegensatz zu Kleidern, Röcken und Miedern, die man an so manchem garetischen oder nordmärkischen Hofe trug, sehr bequem. Zumindest solange keine Rüstung darauf getragen wurde.
“Warum über Hallingen?” runzelte Glyrana die Stirn. “Ich bringe schwere Fracht mit.” sprach Storko, schlug sich in die Hände und nichte dabei. “Ich konnte es arrangieren, dass wir zur Wacht am Gernat eine Balliste erhalten haben. Sie soll auf unserem Turm montiert werden. Ich werde mich gleich morgen daran machen, wir müssen sie auch erst wieder zusammenbauen und dann adjustieren. Ich hoffe sie schließt bis über die Baroniegrenze hinaus…” Freudig lächelte er. Mit Belagerungsmaschinen und Verteidigungsgeräten konnte er schon seit seinen Kadettenjahren in Wehrheim recht gut umgehen.”
“Das hört sich gut an” merkte seine Gattin an und strich ihm sanft über die Schulter. “Da wird unserem Lehen und der Wacht am Gernat noch mehr Ausdruck und Macht verteilt. Ich freue mich die ersten Schießübungen zu sehen. Seit vorletztem Jahr haben wir ja auch Kürbisse angepflanzt. Die werden zwar hier nicht so groß wie in Garetien, aber wir könnten sie gut als Ziele nützen.”
Storko nickte und fuhr fort. “Und mit dem schweren Pferdewagen wäre ich kaum gut über die Schlotzer Pfade von Markt Wutzenwald bis hierher gekommen. Schon gar nicht, hätte es geregnet.” Tatsächlich war es in den letzten Wochen sehr trocken und auch nun auch schwül gewesen. “So reiste ich auch durch Schnayttach und bei der Burg Schlotz vorbei und stattete der Vögtin einen Besuch ab.”
“Hast du dort auch gleich das Haus der jungen Gö…” fragte sie rasch nach und wurde sogleich wieder unterbrochen. “Ja, habe ich. Die Tempelvorstehung freut sich, dass du deinem Glauben noch mehr Geltung verleihst und auch bei Gernatsborn einen Schrein stiftest. Sie werden gerne jemanden für die Weihe beim Einweihungsfest entsenden.”
“Die ewig Junge sei gepriesen” freute sie sich in ehrlichem Glaube. “Den Hain um den Schrein haben wir bereits im Frühling gepflanzt und die Statue für den Altar habe ich auch schon länger in Barken in Auftrag gegeben. Sie sollte auch bald einlagen.” Sie machte ein Tsagefällige Bewegung mit ihren Händen. “Überdies”, sie zeigte auf eine geschriebene Liste, die am Schreibtisch lag, “ich habe die Einladungsliste für die Burgeinweihung bereits fertig. Wir müssen und nur auf eine Zeit im Herbst einigen, zu der wir mit Sicherheit dafür bereit sind und sodann sollten die Reiter loseilen.”
Storko ignorierte das zunächst, da er noch etwas Wichtiges zu erzählen hatte. “Aber weißt du, Glyrana, als ich auf der Durchreise bei der Vögtin Gast war, da war ich ganz zufällig Zeuge wie die junge Baronin nach langer Zeit wieder nach Schlotz kam. Sie soll ihre Knappenzeit erst beendet haben und hat doch einiges erlebt. Und sie kam nicht alleine, sondern mit dem jungen Edelmann Alboran von Friedwang.”
“Der Junker von Gießenborn, vom Baron Alrik von Friedwang adoptiert” ergänze die Mersingern, die ja auch selbst Edle in Friedwang war und ihre Schwester Syrenia war die Erbvögtin der Baronie. “Was ist mit ihm?”
Storko fuhr etwas hastig fort. “Ich glaube die haben miteinander etwas der Rahja Zugetanes und wollen es auch der Travia gefällig machen. Zusammen haben sie viel erlebt und das schweißt zusammen. Er soll sie gar gerettet haben aus der Not.”
“Aha” die dunklen Augen der mittlerweile ambitionierten Ränkeschmiedin weiteten sich. “Wollen wir das aber? Ein Bund zwischen Friedwang und Schlotz.” Sie rieb sich die Wangen und überlegte. “Und dieser Junker Alboran hat einen Erbanspruch auf Friedwang, mit einer Hochzeit einer Baronin wäre er in einer noch besseren Position. Dabei wollen wir doch meinen Neffen Ravenhart am Steinbockthron sehen. Am besten dann gleich mit Morwyn, unserer Tochter, als Gemahlin, dann wäre Friedwang dem Hause Mersingen gesichert.”
Storko hatte die recht komplizierten Erbansprüche in Friedwang nie ganz verstanden. “Wie auch immer, ich denke nicht, dass wir da noch etwas werden machen können. Wenn ich an die Schlotzer Vögtin Agdinna denke, dann werden die beiden schneller einen Traviabund eingehen müssen, als ihnen selbst lieb ist.” Storko grinste etwas. “Adoptiert, gut, aber ansonsten doch für eine Baronin standesgemäß.”
“Ich muss diese Neuigkeit sogleich an meine Schwester schicken und sehen was sie sagt.” Glyrana setzte sich sofort an den Tisch und begann auf ein recht kleines Blatt Papier in filigranen Lettern zu schreiben.“ Nach wenigen Augenblicken fuhr sie mit dem Kopf hoch und rief in recht lautem Ton zur Tür “Holt mir eine Brieftaube!” Die schwere Holztür ging sogleich einen Spalt auf und einer ihrer Wachen erwiderte “Jawohl, Herrin.” “Und lasst nach meinem Pagen rufen, er sollte in den Stallungen sein.” Die Wache wiederholte wieder “Jawohl, Herrin” und schloss dann Tür. Glyrana neigte sich im Sitzen wieder ihrem Gatten zu, der gerade ihr zunickte, und kommentierte “Vielleicht kann uns auch gleich Ravenhart etwas näheres über diesen Alboran erzählen.”
Es dauerte nicht lange, und der junge Ravenhart von Suunkdal eilte herbei: Ein zierlicher Knabe, der gerade acht Götterläufe alt geworden war, und erst seit kurzem in Glyranas und Storkos Pagendienst stand. Er wirkte noch ein wenig scheu und verunsichert in der neuen Umgebung. Selbst für einen Edelknaben war er sehr blass und feingliedrig. Auf seiner schwarzen, etwas abstehenden Pagenfrisur trug er die Bundhaube, die ihn Syrenia mitgegeben hatte. Seine Gugel war dunkel, die Tunika weinrot gefärbt und ebenso wie die hellgraue Hose mit einzelnen Strohhalmen verziert. Der Junge blinzelte verlegen in Richtung der Herrschaften.
Das hohe, schmal geschnittene Gesicht verwies auf die Streitziger Abstammung seiner Großmutter, das dunkle Haar und der Blick waren eindeutig Mersingerisch. Dazu gesellten sich, wenn auch dezent, die Bocksnase und die Steinbock-Lippen des Hauses Friedwang, ebenso wie die markante Alboranskerbe: ein fehlendes Stück am Rand des rechten Ohres, die angeblich bereits auf Alboran Haldorin, den Gründer der Baronie Friedwang zurückging - den ein orkisches Krummschwert ein Stück vom Ohr abgesäbelt haben sollte. Die Verwundung des Heiligen war offenbar derart einschneidend gewesen, dass sie sich seit den Dunklen Zeiten von Generation zu Generation weitervererbt haben sollte, im Mannesstamm. So wollte es zumindest die Legende.
Der junge Senkenthaler war ein wenig aufgeregt. So ganz schien ihm noch nicht klar zu sein, was genau die Pflichten eines Pagen bedeuteten. Das Kind verneigte sich dienstbeflissen.
“Ihr habt mich rufen lassen, werte Tante, werter Onkel...ich meine, Herr Onkel...und Frau Tante.” Dunkle Rabenaugen musterten Storko und Glyrana. Glyrana lächelte begütigend, Storko nickte ernst, aber aufmunternd.
“Ich habe eine Neuigkeit erfahren, die dich sicher erfreuen wird, Ravenhart”, sagte die junge Mersingen. “Dein Vetter Alboran weilt derzeit auf Burg Schlotz. Er hält dort offenbar um die Hand Ihrer Hochgeboren Haldana an.”
Dem kleinen Räbling war nicht anzumerken, was er davon hielt. Er ist vorsichtig und abwartend, dachte Glyrana anerkennend.
Ravenhart nickte und kniff dabei seinen Mund etwas zusammen.
“Es ist ein heißer Tag heute”, sagte Storko, “du musst keine Kopfbedeckung tragen.”
Der Page nickte, öffnete gehorsam die Schnur unter dem Kinn und streifte die linnene Haube ab. Die Pagenfrisur, die ihm Glyrana hatte angedeihen lassen, kam nun voll zur Geltung. Ravenhart zupfte einen weiteren Strohhalm aus dem schönen, rabenschwarzen Haar (die Burgherrin vermutete, dass er gerade lieber mit anderen Kindern im Stroh gespielt hatte, statt seinen heutigen Pflichten als “Stallbursche” nachzukommen).
“Was heißt das -  um die Hand anhalten, Herrin?” fragte Ravenhart treuherzig.
 “Er möchte sie heiraten. Damit würde er Baron von Schlotz werden. So wie du, vielleicht, eines Tages Herr von Friedwang sein wirst. Natürlich erst, wenn du deine Knappenzeit hinter dich gebracht hast.”
 “Natürlich Herrin. Eines Tages...vielleicht...wenn es die Götter so fügen.” Das klang fast ein wenig altklug.
 “Nun, deinen Vetter Alboran kenne ich leider nur vom Hörensagen. Ich habe bislang gedacht, dass er auch Baron von Friedwang werden will. Versteht ihr beide euch denn?”
 “Er ist viel älter als ich”, sagte Ravenhart mit leicht “schwarzsichelnder” Knabenstimme. “Mutter hat mal gesagt, er hätte sich gleich ein paar Ohrfeigen verdient, nicht bloß eine.”
Glyrana und ihr Gemahl blickten erstaunt.
Der Junge lächelte verschmitzt. “Wer mal Baron von Friedwang werden soll, der kriegt eine Watsche, hat Vater gesagt. Wie beim Ritterschlag, vor allen Leuten. Damit er nie vergisst, wem er seinen Thron verdankt. Ich glaub nicht, dass ich sowas will...nicht, wenn alle zugucken.”
“Bist du denn auch der Meinung, dass dein Kousin Ohrfeigen verdient hat?”
“Ach, ich kenn den doch kaum. Ich glaub, Tsali, meine Kousine und er, die mögen sich nicht. Als sie mal bei uns auf dem Schloss waren, da haben sich ständig geknufft und gezwickt. Ich glaub, das war ernstlich gemeint. Obwohl sie keine kleinen Kinder mehr sind. Sie hat ihm die Zunge rausgestreckt, und da hat er sie ordentlich gezöbelt und gescholten. Jetzt ist er wohl schon Knappe, bei unserer guten Frau Markgräfin in Rommilys.” Ravenharts Stimme klang durchaus bewundernd. “Gesehen hab ich ihn seither nicht mehr.”

Ein paar Stunden später, bereits nach dem Abendmahl als Glyrana und Storko bereits in ihren Gemächern waren, kam eine Brieftaube zurück, mit einem zusammengerollten Zettelchen in der Lederkapsel am Fuß. Glyrana öffnete die Botschaft ihrer Schwester: Sehr gute Nachrichten. Er kann nicht Herr über zwei Baronien sein.  Sollten  Heiratspläne unterstützen.  Vielleicht bald Lösung in Friedwang. Es grüßt Dich und Storko, Deine Syri! P.S.  Sehen uns auf der Hochzeitsfeier. Daneben hatte Syri ein kleines lachendes “Praiosgesicht” gemalt.  
“Gut. Na dann sollen sie auch unseren Segen haben und wir wollen den zukünftigen Baronsgatten in den Schlotzer Landen willkommen heißen” kommentierte die Mersinger Schwester trocken und schob ihrem Gatten den Zettel hinüber. Der blicke darauf und nickte nur stumm.
Von draußen war ein Donnergrollen zu hören. Der Wind hatte gedreht und nach den trockenen und zunehmend schwülen Tagen einen Wetterumschwung zum Wutzenwald mitgebracht.


Im Wutzenwald, 2. Praios 1043
Schwer fiel grauer Landregen auf die Schlammpiste, die die Karte überaus großzügig den “Wutzenwalder Weg” genannt hatte. Wie eine Karracke in schwerer See kämpfte sich der Kobelwagen durch die wassergefüllten Schlaglöcher und den allgegenwärtigen Matsch, während der Vorreiter auf seinem Sattelpferd wieder mal einem besonders tief hängenden Ast auswich.
Baron Alrik von Friedwang blickte durch die Tür seiner Kutsche, die eigentlich nur aus einer geöffneten, triefenden Plane bestand. Der Mann mit dem Spitzbart lüpfte seine schwarzsamtene Augenklappe ein wenig, die er aus einer Marotte heraus über dem rechten Auge trug.
Im Regen waren die Steinbock-Gardisten nur dunkle Schemen, die jeweils zu zweit die Vorhut und die Nachhut bildeten. Alriks Waffenknechte und -Mägde hatten die Visiere ihrer Schallern geschlossen, um sich gegen die Unbilden des Wetters zu schützen, und sich verdrossen in ihre schlammbespritzten Mäntel gehüllt. Das Banner mit dem blau-rot-silbernen Steinbockwappen hing schlaff herab. Sattgrün leuchtete der Urwald durch die Regenfahnen, die Herr Efferd dem Rosenbuscher Land schickte. Oder fuhren sie noch immer durch die Baronie Wutzenwald? Den zerklüfteten, dicht bewaldeten Anhöhen zur Linken wie zur Rechten schienen von Menschenhand gezogene Grenzen vollkommen gleichgültig zu sein.  
Der Wagen ruckelte und schaukelte zum Göttererbarmen, über Wurzelwerk, Schiefersteine, Matschlöcher und morsche Äste hinweg. Um ein Haar wäre Alrik aus seinem Stuhl gefallen und auf Ismena gestürzt, die mit scheinbar Rohalscher Gelassenheit die Mühsal der Reise ertrug.
Der Gedanke, in den wohlgeformten Rahjahügeln der Oppsteinerin zu landen und zu versinken, ließ Alrik Tsalind schmunzeln, trotz seines fortgeschrittenen Alters. Seine einstige Mätresse war immer noch von der Schönen Göttin gesegnet. Alrik ermahnte sich zur Contenance. Dennoch, an der Gießenbornerin war eine Rahjageweihte verloren gegangen – und Satinavs Gehörn vollkommen abgeprallt, all dem Unheil zum Trotz, dass die darpatischen Lande in den letzten Jahren und Jahrzehnten heimgesucht hatte. “Isi” duftete nach feinstem Rosenwasser, das sogar den Geruch nach feuchtem Waldboden und Regen überflügelte, der von draußen hereinwehte. Vermischt mit einem leichten, aber hartnäckigen Hauch von Stinkmorchel, einem Gestank, den Alrik irgendwie mit den Wäldern des Raulschen Kaiserreichs verband.
Der Regenwald des Tiefen Südens mochte gefährlicher sein, aber er duftete wenigstens honigsüß und leuchtete bunt wie das Gefieder eines Avesvogels. Francesco vermisste das muntere Schwatzen der Papageien, das Keckern der Affen, das muntere Schwirren der Kolibris. Es war ein schwüler Praiostag gewesen, und schon das Gewitter, das gerade am Vorgebirge der Schwarzen Sichel festhing, erinnerte ihn an einen prasselnden Efferdsgruß in der Wildnis Meridianas.
Alrik Tsalind Halreto von Friedwang-Baernfarn-Glimmerdieck schüttelte unwirsch den Gedanken an seinen alten Namen und das frühere Leben ab. Der Dschungel hätte ihn, den Brabaker Streuner, um Haaresbreite umgebracht, auf der Flucht aus der Al´Anfanischen Sklaverei. Ihn und seinen Bruder Alrik, dessen Namen er damals sich ausgeliehen und bislang noch nicht wieder zurückgegeben hatte.
Alrik, der entführte Friedwanger Baronieerbe, nannte sich nun Bishdarielon und büßte als Golgarit für seine echten wie eingebildeten Untaten, im Dienste des Patriarchen zu Al´Anfa. Sein Bruder Francesco, der gleich nach der Geburt unter aberwitzigen Umständen in den Brabaker Elendsquartieren verschollen war, nannte sich jetzt Alrik. Ein gerechter Tausch, wie der Mondschatten fand. Ein Wechselhandel, wie ihn der Unfassbare Schleicher liebte.
Heimlichkeit, List und Täuschung waren für Alrik kein Selbstzweck, sondern religiöse Gebote seines Gottes.  Darauf hatte er Swantje Rahjandrael hingewiesen, als sie ihm die angekokelte Akte auf den Tisch gelegt hatte, die auf verschlungenen Wegen aus dem Archiv Dexter Nemrods in den Markgräflichen Palast zu Rommilys gelangt war. Graf Dexter Nemrod. Einige hatten den verblichenen Reichsgroßgeheimrat sogar mit “dem Mond” in Verbindung gebracht, dem obersten, wenn auch unbekannten Phexgeweihten Aventuriens. Mit gemischten Gefühlen hatte Alrik den Rotweinflecken entdeckt, den sein einstiger Lehnsherr auf Seite XII hinterlassen hatte. Ein wenig Wehmut, aber auch Besorgnis. Das leinengebundene Büchlein war an vielen Stellen angesengt und unleserlich gewesen, zum Glück. Der Grund dafür war vermutlich Galottas Magnum Opum des Weltuntergangs, das mit dem Jahr des Feuers über die Grafenstadt Wehrheim hereingebrochen war. Trotz allem war immer noch sehr viel von dem lesbar, was Hochwohlgeboren Dexter über das Doppel- und sonstige Leben seines Vasallen gesammelt hatte. Viel zu viel.
Erlaucht Swantje, die junge Markgräfin, hatte Alrik (dem Falschen) nahegelegt, den Friedwanger Thron baldmöglichst in weniger phexgefällige Hände zu legen. Ihm zugleich aber den Titel eines Geheimen Kammerherrn in Aussicht gestellt – ein Titel, der so nebulös war wie die Aufgaben, die sich der Mondschatten darunter vorstellte. Sein kleines Abenteuer in den Trollzacken, im Frühling, hatte ihm wohl zusätzliche Referenzen für ein solch diskretes Amt verschafft.  
“Wutzenwald, wer ist dort jetzt Baron?” wollte Ismena wissen, um das Gespräch am Laufen zu halten, das auf der holprigen Straße erlahmt war.  “Ein überaus perainefrommer Mann, nach allem, was man so hört...”
Ächzend versuchte Alrik die Abfolge von Stößen aufzufangen, die  an der Kutsche rüttelten. Ebenso wie sein Federbarett, das ihm von seinen ergrauten, schulterlangen Locken gerutscht war. Es half nichts, die Kopfbedeckung verschwand unter dem Sitz.
“Gewiss. Sogar seine Straßen gleichen einem frisch gepflügten Acker.” Der Baron klammerte sich regelrecht an den Stuhl. “Ich glaube, du verwechselst den Kerl mit dem Pfleger des Landes, der hier residiert. Mit dem Wutzenwalder Weg sollte er mal anfangen, bei der Landespflege.”
Ismena gewährte Alrik ein amüsiertes Lächeln. Wenn seine ehemalige Geliebte noch das Geringste für ihn empfand, so ließ sie es sich zumindest nicht anmerken.
“Hast du vorhin nicht gesagt, wir wären schon in Rosenbusch?”
“Ich sehe in diesem furchtbaren Wald keine Rosen”, ächzte Alrik. “Höchstens Dornen.”
Dumpf ratschte ein einzelner Ast über die Plane, die das halbrunde, stoffbedeckte Dach des Kobelwagens schützte. Zum Glück war sie aus bestem Schlotzer Wildleder zusammengenäht, vielleicht auch aus der Haut eines Darpatbullen. Wer in der ehemaligen Wildermark unterwegs war, der brauchte nach wie vor ein dickes Fell.

“Ein Abstecher nach Dornach, zum Schrein der Liebholden, das wärs. Der Duft der Rosen soll betörend sein.”
“Nicht bei einem solchen Wetter.”
“Du warst doch früher so spontan, Alrik. Da hättest du mir Rosen auf den Weg gestreut, und wäre er noch so holprig gewesen. Na komm, gib deinem Vorreiter den Befehl, wir machen einen kleinen Abstecher ?!”
Alrik musterte seine Gegenüber. Ismenas dunklen, feingelockten, wieder mal nach neuester Rommilyser Mode frisierten Haare. Das Grübchen auf ihrem Kinn. Ihre makellose, vornehm blasse Haut, die rosigen Wangen und hellwachen, grün leuchtenden Augen. Die Edeldame von O.... sah immer noch verdammt gut aus. Dafür, dass sie auch schon 50 Götterläufe oder mehr zählen musste, wie der Friedwanger selbst.
“Liebe Ismena von Oppstein-Glimmerdieck. Unser gemeinsamer Sohn ist gerade erwachsen geworden. Ich meine, endgültig erwachsen. Vielleicht sollten wir uns ein Beispiel daran nehmen?”
Die Gießenbornerin klappte ihren Fächer auf und wedelte sich etwas frische Luft zu. Tatsächlich war es im Inneren der Kutsche ziemlich stickig, nach der Schwüle, die dem Sommergewitter vorangegangen war.
“Ach, ich vergaß, du bist ja nun Ritter des Travinianordens. Bruder Alrik, der fromme Ordensmann...”
“Den gibts nicht mehr.”
“Den Orden oder meinen frommen Alrik?”
“Den Traviniansorden. Fromm war dein Alrik nie.”
“Schade, ich hätte dich gerne einmal in voller Rüstung gesehen. So richtig mit, wie sagt man, Schamkapsel? So einem stahlharten Latz?” Ismena leckte sich neckisch über die weißen Zähne und spielte die lüsterne Landadelige. Mit der freien Hand deutete sie einen Griff an den Tiefenschutz einer Ritterrüstung an.
“Wir haben damals den züchtigen Gänsbauchharnisch getragen”, sagte Alrik, scheinbar gleichmütig. “Der Ritter, das war ein Titel ohne Mittel. Aber das Problem kennt ihr ja zur Genüge, im Hause Oppstein.”
Ismenas schönes Antlitz verdunkelte sich. Sie hatte die Anspielung auf ihren Bruder verstanden, den Titelsammler und Karrieristen Redenhardt. Der umtriebige Baron von Oppstein war zuletzt sogar zum Stadtvogt von Rommilys aufgestiegen. Träger des Goldenen Paddels hatte sein Nachbar sich ebenso genannt wie Ehrenbürger von Friedwang – ein zweifelhafter Titel, der ihm nach der Niederschlagung des sogenannten “Gleißeraufstands” angetragen worden war. Ein vortrefflicher Streich Serwas, für die Alrik seine Gemahlin insgeheim bewunderte. Redenhardt Cordovan Eugenius von Berlînghan-Oppstein, der Bürgerliche....

Kein Zweifel, Ismena hatte die Nachricht vom Tod ihres Bruders noch immer nicht überwunden, auch wenn der bereits mehrere Götterläufe zurück lag. Die Herrin von Gießenborn seufzte zart. Alrik überlegte gerade, welchen Titel sie eigentlich noch besaß. Altjungfer, das passte nun wirklich nicht. Er hatte gehört, dass Albo sie als Verwalterin eingesetzt hatte, über seine Güter in Rübenscholl ebenso wie im Gießental.
“Wir unternehmen besser keinen Abstecher nach Dornstyn”, fügte der Friedwanger hastig hinzu. “Ich glaube, die Vögtin würde eine solche Verzögerung gar nicht gutheißen. Eine überaus traviagefällige Frau, diese Adginna. Sie scheint sehr auf Formen und Konventionen bedacht zu sein.”
“Müssen wir Albo denn wirklich nach Schlotz verheiraten? Ich meine, ausgerechnet Schlotz? Allein der Name klingt doch fürchterlich. Wie Schlunz, Spatz – oder Latz. Diese Binsböckel heiraten jeden, der nicht laut und deutlich genug Nein sagt, auf dem Weg zum Haus der Travia. ”
“Lieber einen Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, meine teuerste Ismena. Ich muss zugeben, ich war all die Jahre ein wenig blauäugig, in Bezug auf Alborans Zukunft. In der Wildermark, da hätten ihn die Kriegsherren vielleicht als Baron geduldet. Wenn er stark genug aufgetreten wäre. Aber jetzt nicht mehr, wo sie die Schwerter und Streitkolben wieder mit ihren Siegelstempeln und Gänsefedern vertauscht haben. Ich kann ihm leider nicht die traditionelle Watsche geben und ihn damit zu meinem Nachfolger erheben. Nicht mit den Mersingens oder Baernfarns im Nacken. Glaub mir: In der Rommilyser Mark gilt jetzt wieder Praios Recht und Travias Ordnung. Sie dulden keine zweifelhafte Erbfolge mehr, nicht mal in Friedwang. Cui dolet, meminit. Gebranntes Kind scheut das Feuer. Der Wahlspruch unseres Hauses. ”
“Hat der Name Oppstein denn schon einen derart schlechten Klang… in der Rommilyser Mark? Wir haben es doch so gedreht, dass er Golos legitimer Sohn ist. Ich meine, Alboran ist doch kein Bastard wie jeder andere. Du hast ihn adoptiert, als Halbwaise. Ist das nicht praios- und traviagefällig genug, in den Augen der Markgräfin?”
Alrik hielt sich an beiden Seiten fest, während sich die “Karracke” zur Seite neigte, erst nach Backbord, dann stark nach Steuerbord.
“Du solltest Adginna von Binsböckel besser nicht unterschätzen. Schlotz mag vielleicht nicht Zwerch sein, oder Gallys, geschweige denn Rommilys...aber...es ist auch nicht das Orkland. Sie weiß, dass dein verschollener Ehemann nicht Albos leiblicher Vater war. Dass er in Wahrheit mein Bastard ist. Was soll ich sagen. Sie sind die einzige Adelsfamilie, die ich kenne, die sogar Wert darauf legt.”
Ismena blickte erstaunt.  
“Eine alte Geschichte. Als das Haus Binsböckel damals seine Anklageschrift geschickt hat, gegen meinen schurkischen Vetter Gernot, aufgrund des Mordes an Bannvogt Travin von Binsböckel. Da standen die Namen von 25 Binsböckeln darunter. Die letzte Unterschrift unter dem Brief stammte von Tsafried von Schnayttach zu Schlotz, dem boronseligen Gemahl Adginnas. Ich muss Ihrer Hochgeboren Recht geben. Es käme in der übrigen Familie nicht sehr gut an, wenn ihre Tochter nun ausgerechnet den Enkel des Erzverräters und Meuchelmörders Gernot heiraten würde.”
Die Gießenbornerin lächelte schnippisch. “Du weißt, dass ich allen Grund hatte, Gernot zu verabscheuen. Möge er in den Niederhöllen schmoren. Aber diesem Tsafried hat sein eigener Bastard den Kopf abgehackt, nach allem was man so hört. Dieser Unhold, oder, nein, wie hieß er noch gleich, Traviahold vom Schattenholz. Da habe ich Alboran doch zu ein klein wenig mehr Familiensinn und Vaterliebe erzogen. Wir hätten allen Grund, uns gegen eine derartige Verbindung zu stellen. Mein Albo, der hätte eine Liebfelderin verdient, eine Rabenmund oder Bregelsaum. Von mir aus ein Edelfräulein aus Garetien. Aber diese Holzfällerbaronin, die nur über ihre eigene Burg herrscht? Ich weiß nicht. Dann lieber gleich eine Krautjunkerin aus dem Bornland ?!”
“Vor einer Woche wolltest du noch partout, dass Alboran Baron von Friedwang wird, nach seinem Ritterschlag. Ohne Rücksicht auf Tsalinde oder Ravenhart.”
“Als ich darauf bestanden habe, wäre Serwa beinahe an die Kemenatendecke gesprungen.”
“Ist sie aber nicht. Sie hat nur den Zinnbecher an die Wand geworfen, und dabei den schönen alten Wandteppich ruiniert.”
“Gleich darauf hat dann deine famose Schwägerin mit ihrem Sirenengesang angefangen. Dabei ist Syrenia nicht einmal Erbvögtin von Friedwang. Dieses Amt gebührt nur ihrem Mann.”
“Bisch treibt sich halt lieber bei den Golgariten herum, statt sich um seine Ländereien zu kümmern. Aber mein Bruderherz hat ausdrücklich beurkundet, dass Syri in seiner Abwesenheit Frau Erbvögtin sein soll.”
“Was ist sie denn schon, die kleine Mersingen? Eine bessere Lehensvögtin. Dieser ganze gierige Wespenschwarm besteht doch nur aus Vögten und Pfalzgrafen, die sich auf fremden Honig stürzen.”
“Ja, aber die Schwarzgoldenen sind nun mal nahe Verwandte unserer geliebten Kaiserin. Gegen Mersinger Meisterpläne seid selbst ihr Oppsteins machtlos, glaub es mir. Entschuldigung, ihr Oppstein-Berlînghan-Mersingens. Dank Adran habt ihr sie ja selbst schon im Haus. Syrenia und Bishdarielon können die Erbvogtei jederzeit an ihren Sohn Ravenhart weitervererben, und so weiter. So war es der ausdrückliche Wunsch der Markgräfin. Immerhin war Bishdarielon mal der Knappe Graf Answins und gilt noch immer als getreuer Anhänger der Rabenmünder. Getreuer als ich. Wenn ich mich jetzt nicht mit den Senkenthalern einige, werden sie bis in alle Ewigkeit am Steinbockthron sägen. Nichts ist schlimmer als ein Großwesir, der in einem fort Sultan anstelle des Sultans werden will.”
“Serwas Idee, Tsalinde mit dem eigenen Vetter Ravenhart zu verheiraten, ist auch nicht gerade traviagefällig. Das wäre doch reine Inzucht. Möchtest du, dass deine Enkel eines Tages herumschlurchen wie die Goblins? Für einen Ehebund unter derart nahen Blutsverwandten werdet ihr einen Dispens des Heiligen Paars brauchen. Aber selbst wenn die Traviakirche bei so etwas mitspielt. Ich frage mich, warum Serwa ihrer Tochter das antut. Vielleicht sind Tsali und Ravenhart ja gar nicht so nahe verwandt, wie du denkst? Manche behaupten ja, dass ein gewisser Baron Adran von Oppstein...aber ich will nichts gesagt haben...Nimmst du mir mein Kamel, nehm ich dir dein Kamel, so lautet die Regel beim Spiel mit Roten und Weißen Kamelen. Wenn du dich schon mit dem Sultan von Unau vergleichst. Der echte Beherrscher der Ungläubigen soll wenigstens so schlau sein, seinen Harem von Eunuchen bewachen zu lassen. ”
“Ich danke dir für deine ehrlichen Worte, Ismena. Doch wirklich, ich weiß deine unverblümte Art zu schätzen. Aber du solltest mit deinen Steinen besser auf dem Teppich bleiben. Beim Kamelspiel zählt bekanntlich nicht das Erobern der Lasttiere, sondern allein der Wert der Ware, den man am Ende erhält. Ich möchte mein Haus bestellt haben, wenn ich mich demnächst in mein Rommilyser Palais zurückziehen werde. Zwei Baronien für die Familie Friedwang sind besser als eine. Ebenso ist Frieden besser als endloser Zwist und Hader in unseren Reihen.”
Die Fahrt beruhigte sich ein wenig, und Alrik schaffte es, sein Barett unter dem Stuhl hervor zu klauben. “So eine schlechte Partie sind die Schlotzer auch wieder nicht. Die Holzpreise haben ganz schön angezogen, in letzter Zeit. Salz und Kupfer soll es auch geben, am Oberlauf des Gernat. Adginna  und ich, wir haben schon ein wenig Korrespondenz geführt. Die Binsböckel ist eine Frau der klaren Worte. Eigentlich müsstest du dich ganz gut mit ihr verstehen. Ich denke, sie stört sich nicht wirklich daran, dass Alboran ein außereheliches Kind ist. Die Schlotzer leben ja nicht hinter dem Madamal. Aber sie hätte schon etwas dagegen, sich einen Enkel Gernots ins Haus zu holen. Wenn nicht Schlimmeres...
“Ein Enkel Gernots? Oder Schlimmeres?” Ismena schnaubte und ruckte vor. “Was macht dich eigentlich so sicher, dass du sein leiblicher Vater bist, und nicht Golo?”
Alrik lächelte frostig. Nun fiel ihm wieder ein, warum aus ihrer beider Beziehung doch nichts geworden war. Im Vergleich zu Ismena, seiner großen Liebe von einst, war Serwa immer nur eine gute Freundin und Verbündete gewesen, nicht mehr. Aber auch nicht weniger. Ismena war ihrem ganzen Wesen nach eine von Oppstein. Wahrlich eine rahjabegnadete Frau. Aber auch die Schwester Redenhardts, für den selbst göttliches Wirken nur ein Stein auf dem Kamelspielbrett der Macht gewesen war.
“So etwas spürt man”, sagte Alrik schmallippig. “In Kurgasberg war ich ihm so nahe wie schon lange nicht mehr. Allerdings, ich gebe dir Recht. Wirklich beweisen kann ich es nicht. Und ich habe das Gefühl, die Vögtin wünscht erst einen Beweis, dass ich wirklich Albos Vater bin, bevor sie einem Traviabund zustimmt. Deswegen nehme ich dich mit zur Trollburg.”
“Um Albo vor aller Welt zum Bastard zu erklären? Das ist nicht dein Ernst!” Ismena spielte mit ihrem Amulett, das einen Rahjakelch zeigte.
“Nun, in Schlotz können es Bastarde weit bringen. Die Vögtin möchte nur sicher gehen, dass Alboran nicht insgeheim doch Golos Sohn ist.”
“Der Sohn eines reumütigen Praiospilgers, der von einer Wallfahrt nach Balträa nicht zurückgekehrt ist. Was sollte daran verwerflich sein?”
“Ismena, halte mich nicht zum Narren. Vor allem, verkauf dich selbst nicht für dumm.  Du weißt, wer Golo wirklich war. Seit dem Tag, als er mit seinem schiefen Hals das Licht des Praios erblickt hat. Und der Götterfürst ihn vermutlich ebenso schief angesehen hat. Am Ende ist Golo dem Dreizehnten verfallen, dem finstersten aller Götter.  Ich muss den Binsböckels beweisen können, dass ich Alborans Vater bin. Du kannst es von allen Sterblichen am besten bezeugen. Du wirst es bezeugen, nicht wahr?”
“Vielleicht möchte ich einfach nur meinen geliebten Sohn wieder in die Arme schließen. Nach allem, was geschehen ist.” Ismenas Stimme zitterte. “Er ist doch noch auf der Burg, oder?”
“Ja, das habe ich so arrangiert.” Alrik lehnte sich zurück. “Was ist damals eigentlich geschehen? Damals, als Varenas Horden über Friedwang hergefallen sind? Es war mir nicht einerlei, dass du einfach so, mirnichtsdirnichts, aus meinem Leben verschwunden bist.  Wo warst du all die Jahre? Als Alboran, als deine Güter deinen Beistand am nötigsten gebraucht hätten? Doch nicht wirklich bei diesen verrückten Säbeltänzern im Raschtulswall?” Der Friedwanger klang verächtlicher, als er es beabsichtigt hätte.  
Die “Rahjajungfer” blickte noch immer hinaus auf die Straße, wo der Regen etwas nachließ und schließlich ganz verebbte. “Was weißt du schon von den Mysterien der Rahja? Du und die ignoranten Bauern in Gießenborn. Allein dieses ständige Gerede von Säbeltänzern...Die Brüder und Schwestern waren nur selten im Gießental zu Gast. Ihre Anmut und Eleganz war nichts für einen Ort des Chaos wie die Wildermark. Rahjas Kavaliere, die wurden uns später aus Belhanka geschickt, um den Tempel zu schützen. Das Volk hat auch sonst wenig begriffen. In ihren Augen waren die frommen Fechter nur schwerbewaffnete Lustknaben, ebenso wie die Säbeltänzer. In deinen Augen offenbar auch.” Die Adelige hatte sich ein wenig in Rage geredet.
Sie ist immer noch elfenschön, dachte Alrik. Kaum zu glauben, dass die Frau dort ungefähr so alt sein sollte wie er, der ergraute alte Fuchs.
Ismenas Augen blitzten ihn an. “Genauso gut könnte ich dich fragen, wo du warst, mit der Landwehr und der Steinbockgarde, als Gießenborn verbrannt ist, im Feuer des Drachen. Als Windstag, mein getreuer Diener, erschlagen worden ist... die Diener der Schönen Göttin abgeschlachtet worden sind wie Vieh....”
Die Gutsverwalterin stockte und wischte sich eine Locke aus der blassen Stirn. “Selbst ein Kampf  kann etwas Wunderschönes sein, das hat mich der Anblick der Säbeltänzer gelehrt. Es ist wie ein Rausch, haben sie mir gesagt. Man erfährt das Leben als ungeheuer intensiv, wie nur in wenigen Momenten unseres Daseins, spürt selbst den Schmerz kaum. Aber diese Art von Krieg...Varenas Horde war hässlich, einfach nur hässlich. Das Ende meines Gießenborn war ein erbärmliches Morden, Plünden, Brennen...und Vergewaltigen.” Die Stimme der Oppsteinerin bebte.
“Was ist danach geschehen? Alle haben geglaubt, du hättest dich in ein Kloster zurückgezogen, vor Trauer und Schmerz. Ich hätte das sogar verstanden. Aber zumindest hättest du ein Lebenszeichen  geben können. Wenn nicht mir, dann wenigstens Alboran...”
“Trauer und Schmerz, das habe ich wahrlich empfunden. In einem Kloster war ich sogar wirklich. Allerdings in einem Kloster der Travia.”
“Ein Traviakloster? Das muss eine schreckliche Strafe für dich gewesen sein.” Alrik versuchte scherzhaft zu klingen.
Ismena blickte ihn unergründlich an, aus smaragdgrünen, feucht schimmernden Augen. “Wenn du es genau wissen willst. Ich war eine Gefangene. Varenas Gefangene, in den Ruinen von Alveranskuppen. Mein Gesicht war im Drachenfeuer verbrannt, ein paar Hiebe und Stiche habe ich auch davongetragen. Auf diese Weise bin ich wenigstens der Schändung entgangen. Die Dreckigen waren so großzügig, mich wieder gesund zu pflegen. Sie wussten, dass mich die Narben am meisten schmerzen würden und der Blick in den Spiegel. Dass ich für sie lebend mehr wert sein würde als tot. Das Gesindel hat sich eine Zeitlang im Kloster eingenistet. Die Badilakaner waren geflohen, bis auf einen alten Heiler, Bruder Elmert. Der gute Elmert hat mich gerettet. Und ja, du hast schon Recht. Es war eine Strafe. Nicht für Hurerei und Unzucht, wie die ach so traviafrommen Friedwangen glauben. Sondern für die Frevel des Hauses Oppstein. Der Drache ist das Wappentier meiner Familie. Es hat Gießenborn ebenso den Untergang gebracht wie Rübenscholl.  Arlopir kam aus Drachweiler herangekrochen, dem ältesten Dorf unserer Baronie. Das hat mir die Augen geöffnet. Varenas Plünderzug war die Strafe für all die Sünden, die wir Oppsteiner an der Schönen Tochter begangen haben, der Vertrauten des glücklichen Zufalls.”
 “An Redenhardts Ränken trifft dich keine Schuld, meine Liebe.”
Ismena schlug mit dem zusammengefalteten Fächer gegen ihr Kinn. “Redenhardts Ränke? Ich verstehe nicht ganz, was du meinst.”
“Nehmen wir mal das angebliche göttliche Zeichen nach Alborans Geburt. Als Funken in allen Farben des Regenbogens um das Kind gesprüht sind und Redenhardt die friedwanger Bauern zum Aufstand anstacheln wollte. Alboran, der als Golos Erbe über Friedwang herrschen sollte, an Stelle Serwas. Hatte Redenhardt denn nie Angst, dass ihn Praios eines Tages zur Rechenschaft ziehen würde, für dieses unwürdige Schmierentheater ?”
“Nun, Parinor, der spätere Inquisitionsrat, hat darin ebenfalls ein Zeichen des Götterfürsten gesehen.”
“Warum hat euer Bruder das Geflimmer nicht als ein Zeichen der Tsa gedeutet? Immerhin hat mein Sohn am ersten Tag im Tsamond Geburtstag. Das Licht des Himmelskönigs leuchtet nicht in allen Farben des Regenbogens. Redenhardts sogenannter Berater, der mit den vielen Roben, stand genau neben ihm...”
“Was soll das? Willst du damit andeuten, mein Bruder hätte ein göttliches Wunder gefälscht?”
“Das Gerede vom Gleißenden Kindlein zu Gießenborn hat unsere ganze Baronie in Aufruhr gestürzt. Am Ende wurden die unglücklichen Tobrier dann von Redenhardt niedergemetzelt. Als die Flüchtlinge den ganzen Wahnsinn zum Vorwand für eine Hungerrevolte genommen haben...”
“Die Schlacht an der Hohlen Gasse nach Gießenborn.” Ismena nickte stolz. “Deine  Serwa soll sich auch recht wacker geschlagen haben, gegen das Lumpenpack, das damals schon Rübenscholl den Roten Hahn aufs Dach gesetzt hat. Nach dem Sieg konnte die Baernfarn es eigentlich ganz gut mit meinem Bruder, allen vorangegangenen Differenzen zum Trotz. Was heißt da unglückliche Flüchtlinge? Dieses Räubergesindel war keinen Deut besser als die Tobrierbande in Gareth. Wenn sie nicht sogar von Schergen des Bethaniers angestiftet worden sind...”
“Aufgestachelt wurden die Gleißer allein durch dieses angebliche Mirakel in Gießenborn. Egal. Was geschehen ist, ist geschehen. Aber du selbst hast gerade gesagt, dass Varenas Feldzug für dich wie ein göttliches Strafgericht war.”
“Wer im Gewächshaus sitzt, soll besser nicht mit Steinen werfen. Altes Rosenbuscher Sprichwort. Mein Bruder war wenigstens immer er selbst. Nun, den Fehler den wir begangen haben, den ich begangen habe, war, zu glauben, dass man im Leben alles planen, lenken und steuern kann. Das Spiel jederzeit kontrollieren kann. Aber Rahja hat mich eines Besseren belehrt. Heißt es nicht, der Mensch denkt, Alveran lenkt? Der beste Weg, die Götter zum Lachen zu bringen, ist es, ihnen von unseren Plänen zu erzählen. Wir haben Alveran in unsere derischen Pläne mit einbezogen, statt uns allein dem Willen der Unsterblichen zu beugen. Das war unsere eigentliche Sünde.”
“Wie ist es dir gelungen, aus Alveranskuppen zu entkommen?”
“Nennen wir es einen glücklichen Zufall. Aber ich will jetzt nicht an damals denken, an all die Schmach und die Schmerzen. Du möchtest, dass ich beweise, dass Alboran wirklich dein Sohn ist? Du kennst das Zeichen ja bereits. Ein fehlendes Stück am oberen Rand des rechten Ohrs. Ein Erbfehler, der in deiner Familie bei allen männlichen Nachkommen vorkommen soll.”
“Ja, das weiß ich. Umso mehr wundert es mich, dass dieser Erbfehler bei Albo plötzlich verschwunden ist, von einen Tag auf den nächsten.”
“Ich musste diesen Makel beseitigen lassen, sonst wäre Alboran wirklich nur ein gewöhnlicher Bastard gewesen. Für alle, die Augen im Kopf haben, und hernach eins und eins zusammenzählen können. Albo wäre ehrlos geworden, in einer Welt, in der Titel und Güter alles sind. Ohne Anspruch auch nur auf das Erbe von Gießenborn.”
“Manche sagen, du wolltest bei der Gelegenheit gleich noch seine abstehenden Ohren kaschieren.”
“Alboran hatte keine abstehenden Ohren, niemals”, fauchte Ismena. “Sie waren halt ein bisschen markant.”
“Mit dieser...Schönheitszauberei hast du seine wahre Herkunft verleugnet. Wer hat seine Ohren behext? Ludwina? Oder dieser wispernde Schatten im Gefolge deines Bruders, mit Vorliebe für billige Jahrmarkszauberei und Taschenspielertricks...?”
“Nein. Es war Bruder Lacio, der Diener des Lebens aus Zaberg und Hofkaplan deiner Mutter. Dem übrigens auch ein Stückchen Ohr gefehlt hat. Von wegen, eins und eins zusammenzählen. Der Tsageweihte hat mir eine überaus potente Heil-und Schönheitssalbe beschafft, das wars. Genau genommen,  übelriechenden Schlamm.  Grolmensalbe hat er das Zeug genannt. Aber es hat wunderbar funktioniert. Albos Ohr war danach vollkommen rund und makellos. Der Preis war eine großzügige Spende fürs marode Tempeldach von Zaberg...”
“Oh ja. Die berühmte Grolmensalbe. Ich habe davon gehört. Sie soll stinken wie die Pest und nur in den Namenlosen Tagen wirken.”
“In den Graunächten, wie die Sokramorier sagen. Wenn man die Salbe zwischen Tsa- und Rosenstunde aufträgt, und im Mondlicht dreimal AIRUTASTA SATAITARU UTARATASI - Ast, Ei und Raute murmelt, dann wirkt es besonders gut. Einige Herzschläge lang hat Albos Ohr wirklich in allen Regenbogenfarben geschimmert, wie am Tag seiner Geburt. Danach war es vollkommen heil. Muss ich einem Anhänger des Heimlichen wirklich sagen, dass das Leben nicht schwarz oder weiß, purpur oder golden ist, sondern oft ziemlich grau? Neblig grau?”
Alrik schüttelte pikiert den Kopf. “Ismena, deine Volksnähe in allen Ehren. Aber du solltest besser nicht zu viel auf das abergläubische Geschwätz der Bauern geben. Ich möchte garnicht wissen, was da irgendeine `weise alte Frau´ zusammengerührt hat, in ihrem vergammelten Austragshäuschen.”
“Glimmerdieck”, sagte Ismena.
“So heiß ich, gewiss.” Nun war der Baron von Friedwang endgültig verwirrt.
“Hast du nie gefragt, was dein Name bedeutet?”
“Eine Baronie mit 3500 Einwohnern, ein geregeltes Einkommen - und mitunter sehr viel Verantwortung.”
“Sehr witzig. Der Name kommt aus dem Nordmärkischen und bedeutet soviel wie Glitzernder oder Schimmernder Teich.”
“Nordmarken, das kann schon sein. Zur Rohalszeit gab es mal ein großes Berggeschrei in der Sichel, das alle möglichen Abenteurer angelockt hat, aus sämtlichen Provinzen des Reiches. Bevorzugt aus den ärmeren Gegenden. Kein Goldrausch, aber schon ein Silberfieber. Gut möglich, dass Bastan Glimmerdieck, einer meiner Spitzenahnen, aus den Westprovinzen stammt, womöglich aus der Gegend von Gratenfels. Dort soll es mehr Glimmerdiecks geben als bei uns. Ich dachte früher immer, dass der Name mit dem Glimmerschiefer zu tun hat, der in den Bergen recht häufig ist. Also irgendwas mit Bergbau. Obwohl. Im Friedwängischen ist Glimmer ein anderes Wort für einen Mühlstein, der besonders hart ist, so dass er nicht ständig geschärft werden muss. Wer weiß, vielleicht stamme ich nicht nur von Gießenborner Junkern, sondern auch noch von einer Gratenfelser Müllerdynastie ab...”
“Ja, das passt. Müller gelten schließlich als die größten Diebe.” Ismena milderte ihre scharfen Worte mit einem entwaffnenden Lächeln. “Wie dem auch sei. Als Mutter eines Gleißenden Kindleins wurde ich immer hellhörig, wenn sich meine Gießenborner vom Glimmern erzählt haben, am Herdfeuer oder in der Spinnstube. Ich dachte lange Zeit, sie meinen damit das Sichelglühen im Abendrot oder das Glitzern von irgendwelchen Felsen. Die ganze Wahrheit habe ich erst von Bruder Elmert erfahren, während meiner Gefangenschaft. Bastan wusste wohl von den heiligen Orten, an denen sich zu bestimmten Zeiten Feentore öffnen, auch in der Schwarzen Sichel. Auf Lichtungen und in Höhlen, aber auch in  Zauberteichen. In schimmernden Teichen...Vermutlich muss es Bastan vom Glimmerdieck heißen, nicht von Glimmerdieck. Die heilende Grolmensalbe stammt womöglich vom Grund eines solchen Sees.”
Ismena zog eine kleine Schatulle hervor, die sie zwischen dem übrigen Reisegepäck verstaut hatte, und öffnete sie. Auf dunklem Samt lag ein silberner Ring. Sie nahm ihn heraus und reichte ihn Alrik, der ihn im Zwielicht musterte, so gut es ging. Ein wunderschönes Schmuckstück, verziert mit verschlungenen Schriftzeichen und einer zierlichen Blütenfee, die einen schwarzen Onyx in Händen hielt.
“Dein Verlobungsgeschenk für das junge Glück?”
“Ja, und mehr als das. Elmert hat ihn mir anvertraut. Er selbst hatte ihn von einem Totschläger aus Chaykas Wilder Horde, der schwer verwundet ins Kloster gebracht worden ist, zum Sterben. Vermutlich ein Beutestück.”  
“Wie romantisch.”
“Wahrscheinlich gehört er ohnehin deiner Familie. Elmert hat mir die Sage von Bastans Feenring erzählt. Ja, du hattest Recht. Dein Vorfahre soll ursprünglich ein Müllersohn gewesen sein, der das Schmuckstück in einem Sack Korn gefunden hat, irgendwo in den Ländern am Großen Fluss. Genauer gesagt im Mahlwerk der Mühle, das durch den Ring blockiert worden ist.”
Versonnen betrachtete Alrik das Schmuckstück, das trotz des Halbdunkels silbrig leuchtete. Regelrecht glimmte. Das Mahlwerk einer Mühle? Der Friedwanger konnte keinen einzigen Kratzer im Metall feststellen, ebensowenig am Schmuckstein.
Mit Juwelen kannte Alrik-Franceso sich dank seines früheren Broterwerbs in Brabak und Al´Anfa ganz gut aus. Onyx. Der schwarze Stein sollte Brücken in andere Sphären schlagen und den Kontakt zu Geistern und Dämonen erleichtern. Welch passendes Geschenk, nach Haldanas Erlebnissen in den Trollzacken. Immerhin sollte Onyx auch vor Vergiftungen schützen. Ismena hatte wieder einmal das richtige Gespür.
“Ich dachte eigentlich, mein Vorfahre Bastan wäre ein armer Ziegenhirte gewesen, der zufällig auf die Gießenborner Silberader gestoßen ist.”
 “Natürlich, und Junker Heldarn von Gießenborn war dann so großzügig, Ziegenbastan  zum Verwalter des Bergwerks und seines Gutshofs zu ernennen. Und ihm gleich noch seine älteste Tochter zur Frau zu geben. Das glaubst du doch nicht wirklich. Dieser Ring weist seinen Träger den Weg in die Feenwelt. Zumindest in Richtung der Grenzorte, wo sich mitunter Tore ins Land hinter dem Regenbogen öffnen. Heldarn Edarna, der, wie du weißt, ein Magier war, wollte diesen Ring unbedingt besitzen. So sehr, dass er sogar bereit war, seine Tochter im Gegenzug mit dem Sohn eines dahergelaufenen Nordmärkers zu verehelichen. ”
“Das Land hinter dem Regenbogen?” Alrik hatte sich den Ring bereits aufstecken wollen, hielt aber inne. “Willst du deine Schwiegertochter in die Feenwelt schicken? Glaub mir, wenn man Haldana näher kennt....die junge Baronin ist ein anständiges Mädchen. Meistens jedenfalls. Aber wirklich ein schöner Klunker. Sogar einer mit Geschichte. Das wird Adginna beeindrucken und daran erinnern, dass die Familie Friedwang mit fast einem Drittel der Kuxe an der Gießenborner Silbermine beteiligt ist.”
“Glaub mir, dieser Ring hat die Macht, einen Sterblichen an die Grenzen dieser Welt zu führen. Wann immer in seiner Nähe Feen- oder Koboldsmagie wirkt, schimmert der Onyx grün. Falls der Ring niederhöllisches Wirken spürt, leuchtet er rot wie Blut.”
Alrik hob die Augenbraue. “Hast du das etwa selbst schon ausprobiert?”
Ismena zögerte mit der Antwort.
Beim Friedwanger fiel der Heller. “Sag jetzt bitte nicht, dass du die letzten sieben...nein, acht Jahre in der Feenwelt zugebracht hast?”
Erneut ging ein heftiger Stoß durch den Wagen. So heftig, dass Alrik das Kleinod aus der Hand geschleudert wurde. Fast war es, als würde der Ring aus eigener Kraft davonschweben.
Pling.
Der Ring fiel draußen gegen einen Stein, prallte ab und hüpfte in das Grün des Wutzenwaldes davon.
“Uups.”  Alrik blickte ehrlich zerknirscht.
Ismena verzog das Gesicht und atmete erstmal tief durch. Dann steckte sie den Kopf durch das vordere Verdeck und befahl dem Vorreiter, anzuhalten.
Der Reisewagen hielt an und das Geräusch von hochspritzendem Schlamm verstummte. Ismena setzte bereits den Fuß auf das Trittbrett. Erst jetzt bemerkte sie die stattliche Pfütze, in der sie sich verschwommen spiegelte, ebenso wie der Wald um sie herum.
“Alrik, was bist du doch nur für ein hesindeverlassener Tolpatsch!”
“Ich glaube, die Götter fanden dieses Geschenk irgendwie unpassend...”
“Auf deine Wurstfinger passt der Ring sicherlich nicht. Aber ich habe gar nicht dich gemeint, sondern dich, Alrik Gerstenberg!” Der wütende Blick der Adeligen traf den Vorreiter. “Wie soll ich  hier  aussteigen, ohne meine Kleid zu ruinieren? Soll diese Adginna glauben, dass wir in Gießenborn herumlaufen wie die wilden Wutzen?
Der Kutscher wollte wieder anfahren, aber ein knapper Befehl hielt ihn zurück. “Ich komme so oder so nicht trockenen Fußes über diese Pfütze, du Tölpel. Du hättest einfach rechtzeitig anhalten sollen.”
Rottmeister Gutbrander, der Anführer der Eskorte, stieg von seinem Warunker und sah sich das Malheur an, die Hand am Schwertgriff.
Mit dem sperrigen Kobelwagen war ein Zurückstoßen riskant, an ein Wenden gar nicht zu denken. Ortwin Gutbrander betrat kurzentschlossen den Wald und hackte einige Zweige von Tannen, Büschen und Bäumchen. Damit baute er der ungnädig blickenden Oppstein eine Brücke über den Tümpel. Alrik folgte, betreten lächelnd, und half Ismena galant auf festen Boden.
Die übrigen Steinbock-Gardisten spähten nervös um sich, auch Alrik Gerstenberg schien die Situation nicht zu behagen. Ihre Pferde stampften und schnaubten leise. Der Wald war genau die Art von schauerlicher Einöde, die jeder Reisender schleunigst hinter sich lassen wollte.
Alrik blickte kurz auf seine Finger, die er eigentlich als schlank und wohlgeformt empfand. Dann sah er sich am Wegesrand um. Irgendwo da drüben musste der Ring aus dem Wagen gefallen sein. Der Stein dort, ja, da war er wohl dagegen geprallt. Schwere Regentropfen fielen von den knorrigen, verwachsenen Buchen und Eichen herab. Alrik schob einige nasse Farnblätter beiseite und betrat das dichte Unterholz. Der Baron von Friedwang hatte nach wenigen Schritt das Gefühl, beobachtet zu werden. Vermutlich lag das an den grotesken Baumgesichtern, die ihn aus dem ewigen Dämmerlicht des Wutzenwaldes heraus anstarrten. Holzaugen, Moosbärte, verkniffene Rindengesichter. Sein Blick ging nach oben, zu den Wipfeln und Tannenspitzen. Die Gewitterwolken waren weitergezogen, goldfarbenes Sonnenlicht flutete die Schattenwelt zwischen den Baumstämmen.
Ah, dort glänzte der Silberring, zwischen grotesk verdrehten Wurzeln, Moos, Nadeln, Laub und Tannenzapfen. Er hob ihn auf und betrachtete ihn genauer. Der Onyx war nicht mehr schwarz, sondern leuchtete in sanftem Grün. Das Schimmern wirkte nicht bedrohlich. Irgendwie fügte es sich sogar harmonisch in die allgegenwärtigen grünen, braunen, goldenen und schwarzen Farbtupfer um ihn herum ein. Alrik spähte über das Artefakt hinweg. Gab es irgendwo in der Nähe Feenwesen? Oder gar Tore in andere Welten, die sonst für das Auge eines Sterblichen verborgen waren?
Nein, es war weit und breit nichts Ungewöhnliches zu sehen. Nichts und niemand.
Ismena, Ismena, dachte Alrik. Nur weil dein Söhnchen mal geleuchtet hat wie Ilsurer Feuerschlick, ist nicht jedes Funkeln und Glitzern gleich ein Werk von Unsterblichen. In diesem Wald gab es auch so schon kaum ein Durchkommen, geschweige denn irgendwelche Pforten in fremde Sphären. Alrik stapfte zurück auf den Weg, wo Ismena schimpfend die Schlammspritzer auf ihrem Rock und den Schuhen begutachtete. Ihr Vorrat an spitzen Bemerkungen würde gut gefüllt sein, in den nächsten Tagen, soviel stand fest.
“Hab ihn, deinen Schatz! Wir können weiter, nach Schlotz.”
Ein zartes Nießen lenkte ihn ab.
“Tsas Segen!”
Die fragenden Gesichter seiner Bediensteten zeigten ihm, dass das Geräusch nicht von ihnen gekommen war. Der Baron von Friedwang blickte zurück in Richtung Waldesgrün. Eine kleines, erdfarbenes Männchen huschte zwischen Blumen, Farnen, Pilzen und Sträuchern davon. So schien es zumindest. Oder war es nur ein Hase, der erst Männchen gemacht und dann hoppelnd Reißaus genommen hatte? Konnten Langohren niesen?
“Mein Kleid...wie überaus ärgerlich!” Ismena hatte von diesem Zwischenfall nichts mitbekommen. “Ja, wir sollten uns sputen, damit wir vor Einbruch der Dunkelheit auf der Trollburg sind. Dieser Räuberwald ist mir nicht geheuer.”   

Jetzt, im Praiosmond, war es lange hell, weswegen Alrik und Ismena trotz der Verzögerung noch deutlich vor Sonnenuntergang Schnayttach erreichten. Beide waren noch nie zuvor in der Ansiedlung, die seit der Zeit der Klugen Kaiser die Marktrechte hatte, gewesen. Obwohl Schnayttach nicht zur Stadt erhoben war, verfügte der Ort dennoch über eine Mauer. Müsste man dazu also Marktmauer sagen, sinnierte Alrik einen Moment lang. Aber dann dachte er mehr über die Mauer und den Ort als solches nach als über Begrifflichkeiten. Die Mauer war - ebenso wie die Burg Schlotz, die darüber thronte - aus auffallend großen Steinen gemauert. Steine, die nur mit der entsprechenden Technik an Kränen oder der unbändigen Kraft von Trollen errichtet worden sein konnten, was man ja von der Burg in den Sagen und Märchen erzählte hier in Schlotz.
Die Ansiedlung am Fuß des Schlotzberges lag ein einem südöstlich des Berges gelegenen Feld aus zahlreichen bis zu zehn Schritt hohen Felsbrocken, die, wenn man den Theorien des Magister Veneficus über die Entstehung der Sichellande Glauben schenken durfte, durch die Wirkung eines vorzeitlichen übergroßen Gletschers aus der Sichel in das Schlotzer Land geschoben worden waren und, nach dem Abschmelzen des Gletschers bis zu seiner jetzigen Größe, einfach hier liegen geblieben waren. Man mochte das glauben oder auch nicht, jedenfalls war es auffällig, dass zahlreiche übergroße Schieferfelsen in einem sonst Kalksteingeprägten Land lagen.
Verbunden waren die Felsen durch Mauerstücke, die zwischen diesen eingefasst waren und sich in eine Höhe von sechs Schritt erhoben. Die Mauer von Schnayttach bestand somit abwechselnd aus Schieferfelsen und mit übergroßen `Kalksteinziegeln` gefertigten Mauerstücken. Einlass in das so gut befestigt wirkende Schnayttach bekam man durch das im Praios der Mauer liegenden Tor, von dem aus ein Karrenweg zum Wutzenwalder Weg führte. Ein Weg, der, wie Ismena zutreffend bemerkte, durchaus etwas mehr Pflege vertragen konnte. Aber das war nicht Alriks Sorge. In Schnayttach waren die Häuser - Fachwerkhäuser wie in Marktfriedwang - zwischen die Felsen und teilweise darauf gebaut. Alrik konnte sich gut vorstellen, dass die ersten Siedler die windgeschützte Lage zwischen den Felsen nutzten und sich beim Bau nur zu gerne die Rückwand der Häuser ersparten, bis die doch begrenzten Flächen innerhalb der Burgmauer aufgebraucht waren. Später hatte man dann Stockwerke aufgesetzt oder auf den Felsen weitere Häuser errichtet. Breit genug, um mit einer Kutsche zur Burg zu gelangen, war nur die Hauptstraße, die über den Marktplatz, am Tsatempel vorbei, zum Berg Schlotz führte. An den weiteren, teils schmalen, teils sehr schmalen Gassen hätte er in seinem früheren Leben als Streuner seine Freude gehabt. Für Fassadenkletterer waren die eng beieinander stehenden Häuser ein Traum - nur zu leicht könnte man von Hausdach zu Hausdach springen oder in manchen engen Gassen, die Füße gegen die Mauern gespreizt, gleich einem Felskamin nach oben klettern. Und in dem kantenreichen Schieferfelsgestein war ebenfalls gut Halt zu finden. Fast bedauerte es Alrik, dass er als Baron und nicht als Phexdiener unterwegs war. Ergänzend, auch das fiel Alrik auf, gelangte nur wenig von Praios hellem Schein in die engen Gassen, die meist im Schatten lagen und vermutlich nur bei hoch stehender Sonne aus dem Schatten kamen. Doch jetzt, in der Abendstunde, war es in den Gassen von Schnayttach schattig und kühl.
Aus einer Gasse zur Linken war das vertraute Hämmern von Schmieden zu hören. Alrik wusste, dass das Handwerk Ingerimms in Schnayttach vertreten war. Sein Blick fiel auf den Ingerimmtempel, zur linken am Ende der Gasse, in einen Felsen hinein gegraben und am Eingang ein kunstvoll gestaltetes Portal aufgesetzt.
Doch Alrik widmete nur einen Teil seiner Aufmerksamkeit der stillen Schönheit der Stadt. In Gedanken war er schon bei der Vögtin Adginna, die er noch nie persönlich gesehen hatte, von der er aber schon einiges vernommen hatte. Natürlich hatte er sich Erkundigungen eingeholt - als Phexdiener hatte so seine Quellen. Die Vögtin war geschäftstüchtig und korrekt, einem Handelsherr gleich. Sie achtete auf ein ehrliches und zuverlässiges Handeln ihrer Geschäftspartner und stand im Ruf, ihre Zusagen auch einzuhalten. Allerdings, und darauf hatte man Alrik auch aufmerksam gemacht, würde die Vögtin einen Versuch, zu betrügen oder sie zu hintergehen, nicht verzeihen. Nicht zum ersten Mal hatte sie einen Handelspartner aus ihren Kontrakten gestrichen und die Geschäftsbeziehungen abgebrochen, wenn sie einen Betrugsversuch entdeckt hatte. Nun, Alrik würde sich darauf einstellen.
Alrik blickte aus dem Kutschenfenster, sah den Berg Schlotz vorne aufragen, auf dem gut fünfzig Schritt höher die Burg aufragte. Eine weitere, aus großen Steinen bestehende Burgmauer schloss einen großen Innenhof ein. Der Burgbereich musste wirklich groß sein, deutlich größer als seine Burg daheim auf dem Friedstein. Zumindest sah es so aus, als hätten auch Trolle sich in der Burg wohl fühlen können, ohne sich mit den Köpfen am Burgtor zu stoßen. Burgtor und Treppenstufen, Zinnen und Schießscharten waren von der Größe nicht an Menschen angepasst, soweit nicht nachträglich kleinere Mauersteine ergänzt worden waren. Die Mauern selbst waren von einer Höhe und Dicke, die einem Ogerlöffel standgehalten hätten. Beim Anblick der Feste musste sich der Eindruck aufdrängen, dass tatsächlich Trolle die Erbauer gewesen waren. Mit den richtigen Geschützen versehen und mit guten Kämpen bemannt, wäre es wohl schwer bis unmöglich gewesen, die Burg einzunehmen.
Im Hinaufrollen der Kutsche zum gut und gerne acht Schritte hohen Burgtor beobachtete Alrik, wie eine Fahne mit dem Wappen des Hauses Friedwang gehisst wurde. Richtig, nach alter Etikette war es üblich, das Wappen eines Gastes neben dem des Burgherren zu zeigen. Nicht überall wurde die alte Sitte noch hoch gehalten. Aber nach allem, was Alrik über die Burgherrin, Vögtin Adginna, gehört hatte, passte es zu ihr, diese alte Tradition zu wahren.

1. Kapitel - Die Rückkehr von der Knappenschule

Erstes Kapitel

Haldanas Heimkehr




Burg Schlotz, 30. Rahja 1042 BF

Das Klappern der Hufe hallte auf dem gepflasterten Weg, der sich in engen Windungen von Schnayttach aus am Südhang des Burgberges nach oben schlängelte. Ein heißer Südwind strich von Praios her über den Wutzenwald, durch die Gassen von Schnayttach und den Schlotzberg hinauf zur Burg. In der nachmittäglichen Stunde war es warm, fast schon heiß. Haldana schwitzte und war froh, dass der lange Ritt von Rommilys her endlich ein Ende nahm. Eine gute Woche waren sie unterwegs gewesen nach ihrem Aufbruch. Sie und Alboran, Alrik und Hesindian. Rovik, der Sohn des Vulkanus und Tuvok, der treue Jäger. Über Zwerch und Gallys waren sie zuerst nach dem Friedstein geritten, wo Alrik und Hesindian sich verabschiedet hatten – der Friedwanger Baron hatte seiner Gemahlin Serwa tatsächlich viel zu erzählen. Haldana war neugierig gewesen, den Friedstein zu sehen und auch die Dörfer Gießenborn und Rübenscholl, in denen Alboran aufgewachsen war. Aber die Sehnsucht, ihre Heimat Schlotz wieder zu sehen, nach über einem Jahr, überwog. Und wenn sie rechtzeitig vor Beginn der Namenlosen Tage heimkehren wollte, wenn sie mit den Gefährten die unheilige Zeit nicht in der Wildnis verbringen wollte, sondern lieber den Schutz starker Burgmauern genießen wollte, dann blieb nicht viel Zeit.
Haldana wusste nicht, wovor sie sich mehr fürchten sollte. Vor der Vorstellung, die Zeit zwischen den Jahren in der Wildnis des Vorsichellandes zu verbringen, oder vor der Schelte ihrer Mutter, die sicher einiges anzumerken hatte, wenn sie erfuhr, was sich in den letzten zwei Monden ereignet hatte. Nun, eigentlich fürchtete sie den zu erwartenden Zornausbruch ihrer Mutter mehr als die Namenlosen Tage. Aber da sie diesen nicht vermeiden, allenfalls aufschieben konnte, wollte sie es einfach nur hinter sich bringen. Immerhin war Alboran mit ihr gekommen, anstatt auf der väterlichen Burg zu bleiben. Das würde manches sicher einfacher machen. Und ebenso freute sie sich, dass Rovik, der stets fröhliche Angroschim, bei ihr geblieben war.
„Bist du nervös, Haldana?“ fragte Rovik, der mit seinem Pferd zu dem jungen Friedwang aufschloss. Nach all den Ereignissen am Kurgasberg waren Tuvok und Rovik mit den jungen Adeligen einfach per Du geblieben. So wie während des ganzen letzten Jahres, da er nicht gewusst hatte, dass die mit ihm reisende Bardin ihm verschwiegen hatte, die Tochter der Baronin von Schlotz zu sein. Auch mit Alboran waren beide verblieben, es mit den förmlichen Etiketten nicht so genau zu nehmen. Sie waren alle gemeinsam im Kurgasberg dem Herrn Boron nur knapp von der Schaufel gesprungen. Es war eine Art Vertrauen zwischen ihnen allen entstanden, dass Form und Etikette dahinter einfach nicht mehr so wichtig erschienen. Nur wenn Fremde anwesend waren und die Form eingehalten musste, mühten der Zwerg und der Jäger sich um die Einhaltung der Etikette. Aber auf dem Ritt zum Friedstein war es wie zu Beginn ihrer gemeinsamen Fahrt durch die Raulschen Lande.
Die junge Baronin nickte. „Bei Travia, ja. Aber da haben sie schon recht auf der Knappenschule. Stelle dich der Gefahr, anstatt vor ihr davon zu laufen. Wer flieht, hat schon verloren. Das stimmt sicherlich, auch wenn die Gefahr eine liebende Mutter ist. Also… bringe ich es einfach hinter mich. Aber es ist gut, dass ihr alle dabei seid.“ Haldana lächelte ihre Gefährten an, wobei ihr Lächeln vor allem dem Junker aus Gießenborn galt.
„Was ist das für eine Flagge dort?“ wollte Alboran sein `Tanzgerät`, wie Haldana auf der Knappenschule mitunter genannt worden war, ablenken. Noch waren sie nicht auf der Burg. „Dort, neben der Schlotzer Fahne?“ Der Junker wies auf eine Fahne, die über dem Burgtor aufgezogen war.
„Wie würde ein Heraldiker das beschreiben?“ warf Rovik interessiert ein.
„Die Fahne dort… nun… horizontaler Wellenbalken in Blau über drei schwarzen vertikalen Balken auf Gold. Habe ich das jetzt richtig formuliert, oder würde mich der Heraldiklehrer der Knappenschule korrigieren? Ein Wappen der Mersingen. Das zeigt an, dass Besuch auf dem Schlotz weilt. Es muss der Gernatsborner sein, der ins Haus Mersingen eingeheiratet hat. Nun, vielleicht ein gutes Zeichen. Mutter wird nicht schimpfen können, wenn Gäste da sind. Jedenfalls nicht so sehr.“
„Nun, Haldana, wenn du auf mich gehört...“ begann Tuvok.
„Hat sie aber nicht“ bügelte Rovik gleich jeden Vorhalt des Jägers ab.
Der Jäger verstummte.
Haldana setzte sich mit einem kurzen Schenkeldruck an ihren Braunen an die Spitze der kleinen Schar. Hinter der nächsten Wegkurve würde schon das Burgtor erscheinen. Es war Zeit, wieder ein wenig auf die Form zu achten. An der Spitze der Truppe ließ sie ihr Pferd rhythmisch tänzeln, so wie sie es schon früh gelernt hatte. Lässig nahm sie die Zügel in die Linke und hob, als sie sich der Wache am Burgtor näherte, die rechte zum militärischen Gruß an die Stirn. Mit einem freundlichen und zugleich bestimmenden Blick musterte sie den Rekruten, der heute zum Tordienst eingeteilt war. Der Rekrut erwiderte den Gruß mechanisch, bevor er die junge Baronin, die seit einem Jahr nicht mehr auf der Burg gewesen war, wieder erkannte. Der Soldat strammte sich und verneigte sie in Richtung der Baronin, dann öffnete er das Burgtor.
Haldana gab ihrem Pferd die Schenkel und galoppierte auf den Burghof. Dabei gab sie die Zügel frei und streckte die Arme zu den Seiten. Sie war daheim. Daheim auf dem Schlotz, der trollischen Burg auf dem Berg neben dem Ort Schnayttach, wo sie aufgewachsen war. Die Burg, die sie aber seit sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die Burg, die mit ihren riesenhaften Felsen, aus denen sie errichtet war, so anders aussah als die Galbenburg, auf der sie Pagin gewesen war. Und so gänzlich anders als alles, was sie in Rommilys gesehen hatte.
„Ja, Euer Hochgeboren, ich denke, die Burg am Gernat ist wohl geraten. Die richtige Mischung aus Verteidigungs- und Repräsentativbau. Jeder, der von Hallingen her in die Schlotzer Lande und weiter in die Mark reitet, wird unser Land wehrhaft vorfinden, so er übles im Schilde führt. Oder er wird sich beschützt und behütet fühlen, wenn er als Gast und Freund kommt.“ Der Landjunker lächelte, und sein gepflegter, bereits grau melierter Vollbart rahmte seine Mundwinkel dabei in einer freundlich und verbindlich wirkenden Art ein.
„Gut, Gernatsborn. Ich hatte neulich schon einmal das Vergnügen, den Bau aus der Ferne zu bewundern. Ich bin neugierig, Eure Burg bald auch einmal von Innen ansehen zu dürfen. Lasst uns aber erst einmal auf den fertigen Bau trinken. Ich habe einen Gluckenhanger von 1040 bereitstellen lassen. Der lange warme Herbst Vierzig hat den Trauben eine schwere Süße verliehen. Ihr werdet den Wein schätzen, Storko.“
Der Angesprochene nickte, während seine Gastgeberin, die ergraute, schlanke und stets ernst wirkende Burgherrin die tönernen Becher füllte. Storko war ein wenig geblendet – die Vögtin Adginna, die aufgestanden war um den angekündigten Wein zu holen, hatte die Sonne im Rücken, während er selbst im wohl kühlenden Schatten saß. Storko griff nach dem Becher und wollte der Vögtin zuprosten, als Hufgetrappel auf den sonnenüberströmten Burghof erklang.
„Noch mehr Besuch?“ erkundigte sich Storko.
„Nun, niemand, der angemeldet wäre.“ Die Vögtin drehte sich um. „Dennoch ein sehr willkommener Besuch. Nein, kein Besuch. Aber ich sehe, meine liebe Tochter ist zurückgekehrt. Sie hat die Knappenschule in Rommilys absolviert, müsst Ihr wissen, geschätzter Storko. Wie es scheint, ist sie heimgekehrt. Ahh. Ich sehe auch Tuvok, meinen Jagdmeister. Ich hatte ihn ausgeschickt, meine Tochter abzuholen.“ Der Blick der Vögtin und des Landjunkers fiel auf zwei weitere Reiter, die der heimgekehrten Tochter folgten.
„Offenbar haben sie weitere Begleiter mitgebracht.“ stellte Storko nüchtern fest.
Die Vögtin nickte. „Verzeiht, Junker. Aber ich muss meine Tochter begrüßen.“
„Natürlich.“ Oft konnten Mutter und Tochter sich in den letzten Jahren nicht gesehen haben, wenn sie die Knappenschule in Rommilys besucht hatte. Der Gernatsborner hatte Verständnis für den Wunsch der Vögtin, nach der Tochter zu sehen. Auch er erhob sich, um die Neuankömmlinge zu begrüßen.
Haldana sprang von ihrem Pferd, kaum dass es zum Stehen gekommen war. „Mutter!“ rief sie und rannte auf die sich langsam und würdevoll bewegende Altbaronin zu. Hastig schlang sie die Arme um ihre Mutter und hob sie hoch.
Storko lächelte ob des ungewöhnlichen, aber impulsiven Wiedersehens der beiden Frauen.
„Haldana...“ Die Vögtin wollte sich ihre Überraschung angesichts der stürmischen Begrüßung ihrer Tochter nicht anmerken lassen. „Als du aufgebrochen bist nach Rommilys habe ich dich noch hochgehoben. Jetzt ist das also umgekehrt. Lass dich ansehen, Tochter! … Deine Frisur hat sich auch geändert. Als ich dich verabschiedet habe, hattest du einen Zopf auf jeder Seite.“
Storko meinte aus der Stimme der Vögtin heraus zu hören, dass sie keinen Gefallen an der Frisur ihrer Tochter fand. Zugegeben, diese war auch merkwürdig. Der Zopf aus den Haaren auf der rechten Hälfte des Kopfes war noch vorhanden. Nur die linke Kopfhälfte war gänzlich kahl rasiert. Der Junker hüstelte leicht. Wie würde er reagieren, wenn eines seiner Kinder sich eine so eigenwillige und sicher nicht höfische Haarpracht zulegen würde, die eher an einen Söldner denn an eine Adelige erinnerte – nun, ein Stück weit war er froh, sich darüber jetzt keine Gedanken machen zu müssen. Die Tochter der Vögtin, Storko dachte nach, müsste jetzt neunzehn oder zwanzig sein.
Als Haldana die Mutter wieder absetzte, umarmte diese ihre Tochter auf eher sittsam wirkende Weise. Die Vögtin war gut einen Kopf größer als Haldana, und auch ein wenig schlanker als ihre kräftig und ausdauernd wirkende Tochter.
„Aber sag, mein liebes Kind, du hast Gäste mitgebracht. Magst du sie uns nicht vorstellen? Ich  Loop habe ebenfalls gerade einen sehr geschätzten Gast hier. Den Landjunker Storko zu Gernatsborn. Du hast ihn auch schon mehrere Jahre nicht gesehen.“
Haldana ließ es sich nicht anmerken, dass sie von ihrer Mutter nicht gerne wie ein kleines Kind angeredet wurde, erst recht nicht vor Alboran.
„Ja, Mutter. Ich habe zwei Begleiter mitgebracht. Nun… wo fange ich an. Vielleicht erst einmal mit dem Angroschim an. Rovik, der Sohn des Vulkanus. Du hattest doch in deinen Briefen erwähnt, dass die Schmiede in der Burg verwaist ist. Nun, Rovik scheint sich auf sein Handwerk zu verstehen. Außerdem hat er sich in all den Ereignissen zuletzt als absolut zuverlässig erwiesen. Ich muss Dir das ohnehin noch erzählen. Ich bin noch gar nicht zum Briefschreiben gekommen. Da gibt es noch viel zu berichten, was ich alles erlebt habe. Mehr, als sich jetzt kurz schildern lässt. Nun… wie soll ich das berichten...“ Haldana stockte und war froh, dass eine aufmerksame Magd rasch noch weitere Gedecke für die vier Neuankömmlinge auftrug und Auch Wein und Brot, Speck, Schinken und Käse wurden aufgetischt.
„Sag ihr, dass es Du Dich um die Nachbarn im Sichelbund bemüht hast“ hörte Haldana Nasdjas Stimme. Die Stimme ihrer Ahnin, die sie seit zwei Götternamen immer wieder vernahm. Haldana hatte sich inzwischen daran gewöhnt, ein Medium zu sein und immer wieder Geister zu sehen und zu hören. Geister, die nur sie selbst sah, jedoch keiner ihrer Begleiter. Und Nasdja war ihr eine fast ständige Gesellschaft geworden, seit sie ihr damals auf Helbers Hof, in der Nähe von Rommilys, erstmals erschienen war. Fast wie eine gute Freundin, mit der sie über alles reden konnte. Nur dass sie niemandem von dieser Freundin erzählen durfte, wollte sie nicht als Fall für die Noioniten wahrgenommen werden. Wie viel hatte sich seit damals verändert. Aber die alte Seherin hatte vermutlich recht. Ihre Mutter hatte davon geschrieben, wie wichtig die Bande mit den Sichelbaronen für ihre Baronie geworden sind. Da war es sicher eine gute Idee, darauf abzuzielen bei der Vorstellung ihres Begleiters.
„Das ist Alboran. Der Sohn Baron Alriks von Friedwang. Er war mit mir auf der Knappenschule. Du weißt, Mutter. Friedwang ist eine der einflussreichsten Baronien im Trutzbund“ erläuterte Haldana.
Die Vögtin nickte. Dass ihre Tochter den Trutzbund so betonte, machte sie eher misstrauisch. Aber es stimmte, seit die Edlen ihrer Baronie zuerst den Schlotzer Schutzbund gegründet und sich dann dem Bund der Sichel angeschlossen hatten, war der Sichelbund zu einer einflussreichen Größe ihrer Baronie geworden. Und das, obwohl die Baronie selbst gar nicht Teil des Bundes war. Die Vögtin hatte ihrer Tochter in einem ihrer Briefe geschrieben, dass es sinnvoll für Schlotz wäre, die Nähe des Bundes zu suchen. Aber in einem war Adginna sich sicher. Sie wusste, dass ihre Tochter den Sohn des Friedwangs nicht aus politischem Kalkül mitgebracht hatte. Dafür kannte sie ihr impulsives Kind zu gut. Sie wusste auch, dass Alboran das uneheliche Lieblingskind des Friedwanger Barons war, ein möglicher Erbe des Friedwanger Steinbockthrons.
„Wohlgeboren Alboran, ich bin erfreut Euch kennen zu lernen.“ Die Altbaronin reichte dem jungen Adeligen die Hand.
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite“ antwortete Alboran galant und versuchte, mit einem charmanten Lächeln einen guten Eindruck zu machen. Wie er es auf der Knappenschule gelernt hatte verbeugte er sich mit Bückling und Kratzfuß und bedachte die Altbaronin mit einem Handkuss. Ein wenig ungewohnt und linkisch, sicherlich. Aber Haldanas Mutter schien nicht unerfreut zu sein.
Die Altbaronin bedachte ihn mit einigen freundlichen Worten, und erkundigte sich nach seinem Befinden und seinen Erfahrungen in der Knappenschule, worüber er höflich und sachlich, aber mit einer Verunsicherung angesichts der Schwiegermutter, die noch nichts von Haldanas und seinen Plänen wusste, Auskunft gab.
Adginna wandte sich nach einigen höflichen Sätzen mit Alboran Tuvok zu, dem Hofjäger. „Tuvok, schön, Dich wieder hier auf der Burg zu sehen. Ich sehe, du hast mir meine Tochter wohlbehalten wieder gebracht.“
„Ich habe mein Bestes gegeben.“ antwortete der Jäger mit der ihm typischen kurz angebundenen Art. Dennoch, Adginna beschlich endgültig das Gefühl, dass die Schar der Ankömmlinge ihr etwas zu erzählen hatte. Vielleicht war es der falsche Zeitpunkt. Daher würde sie jetzt auch nicht nachfragen, solange sie einen Gast auf der Burg hatte. Adginna sah erst ihre Tochter an, dann den Junker von Gießenborn und blickte ihm tief in die Augen. Alboran wich dem Blick Adginnas aus.
„Ach so ist das. Na, dann setzt Euch doch zu Landjunker Storko und mir. Ich bin sicher, auch der Herr zu Gernatsborn hört gerne Neuigkeiten aus der Capitale Rommilys.“ Die Vögtin fasste mit einem kurzen Blick auf die beiden jungen Edelleute die Situation auf. Allein, dass der Friedwanger Junker ihrem Blick nicht standhalten konnte, hatte ihr alles verraten, was sie wissen wollte.
Storko nickte. Ihn befiel das Gefühl, dass er hier mehr über die hochgeborene Familie auf dem Schlotz erfahren würde, als er es sich hätte träumen lassen. Nun, er würde seine Rolle als Gast weiter spielen und sich einfach überraschen lassen. Die junge Haldana, die irgendwann die ihrer Mutter als Landesherrin und Baronin von Schlotz nachfolgen würde, näher kennen zu lernen, war ohnehin wichtig und wenn sich hier Gelegenheit bot, warum nicht?
„Nun… Also setzt Euch. Gäste, die gute Geschichten erzählen können, sind im Land der Travia immer willkommen!“ Die Vögtin lächelte. Was immer Haldana ihr noch beichten würde, dazu war später immer noch Zeit. Die Knappenschule hat Euch also frei gesprochen, Herr Alboran? Also seid ihr jetzt ein Ritter?“
„Nun, ja, fast. Ich habe die Freisprechung noch nicht erhalten, aber das dürfte dieses Jahr noch geschehen. Ich war… nun, ich war von Schurken entführt worden, die meinen Vater damit unter Druck setzen wollten. Schlimme Geschichte, die da passiert ist. Hätte übel ausgehen können. Aber dank Eurer Tochter… Nun, sie hat mich da raus gehauen. Sie und Euer Jäger und der tapfere Angroschim.“
„Vergiss Deinen Vater nicht. Ohne ihn wäre das ganz anders geendet.“ Haldana war es nicht gewohnt, gegenüber ihrer Mutter die unerschrockene Kämpferin heraus zu kehren. Die sie so auch gar nicht war.
„Ja, und Vaters Hofmagier Hesindian, und dieser Stadtadelige aus Rommilys, dieser di Barnfani… ich weiß.“
„Das hört sich nach einer guten Geschichte an“ warf Storko ein. „Nun, wenn ihr nichts dagegen habt, Vögtin, ich bin nicht in Eile. Von Gernatsborn habe ich berichtet, was wichtig ist. Ich höre gerne zu. Aber dann, Baronin, solltet Ihr von vorne anfangen.
Adginna nickte zu dem Vorschlag des Junkers. Es war vielleicht das Beste. Ihre Tochter anhören und den Gast alleine lassen verbot sich ohnehin. Wissbegierig, mehr zu erfahren, war sie dennoch. Was sprach also dagegen? Außerdem wusste sie, dass ihre Tochter Geschichten und Gesang über alles liebte. Vielleicht war es da tatsächlich das Beste, einfach Zeit zu haben und zuzuhören.
„Gut… warum nicht“ stimmte Haldana zu. „Einen Moment“. Die Baroness holte ihre Laute, die sie noch in der Hülle geschultert hatte. Kurz stimmte sie die Saiten und begann zu erzählen, während sie leise Akkorde griff. Diese Art, die eigene Erzählung mit Akkorden zu begleiten, hatte sie in Rommilys kennengelernt, von einem reisenden Skalden von der Westküste aufgeschnappt. Und so begann sie zu erzählen, wie sie mit Tuvok und Rovik im Gasthaus zum Flussschiffer in Rommilys saß, sie gemeinsam speisten, sangen und musizierten und dabei den Friedwanger Baron trafen, der sie um Hilfe bei einer verworrenen Sache bat.
Während Haldana die Ereignisse um den Hexer von Rommilys erzählte und dabei sachte die Saiten schlug, lauschten die am Tisch versammelten Zuhörer aufmerksam der Geschichte, die sie alle in ihren Bann schlug.  Nur einige Episoden ließ Haldana aus. Stellen, die nur sie selbst etwas angingen und nicht ihre Mutter oder sonst jemanden und die sie selbst Alboran nicht erzählt hatte.
Rovik griff beherzt zu und ließ sich den würzigen Sichler Ziegenkäse schmecken, der zu Früchten und Brot gereicht wurde. Auch Alboran rollte sich einen Schinkenstreifen auf und spießte ihn auf die Gabel. Ab und zu stellten Adginna oder Storko die eine oder andere Zwischenfrage, des besseren Verständnisses wegen oder um etwas genauer zu erfahren. Rovik und Tuvok lauschten, obgleich sie die Ereignisse ja miterlebt hatten, dennoch gebannt der Erzählung der Bardin. Mit dem Abstand von einigen Wochen zum Vorgefallenen ließ sich doch deutlich entspannter darüber reden und nachdenken. Die unheimlichen Ereignisse vom Kurgasberg lagen wie in einer entfernten Vergangenheit.
Storko lauschte ebenfalls interessiert. Es war schwer zu glauben, was sich da, nur wenige Meilen von Rommilys entfernt, zugetragen hatte. Als neutraler Zuhörer hätte er nicht zu sagen vermocht, was Dichtung und was tatsächlich Geschehenes war. Aber dass zum Beispiel unlängst der Bruder von Ismena von Baernfarn, Jodokus von Baernfarn in Rommilys in den Magistrat berufen worden war, hatte er als Wehrvogt der Mark auch vernommen. Dennoch, er hatte keinen Grund, an der Geschichte zu zweifeln, auch wenn vielleicht manche Ausschmückung der Erzählkunst der jungen Baronin zuzurechnen war.


„Eine schöne Geschichte. Die hast du gut erzählt. Ich denke, deine Mutter hat nichts mehr vorzubringen.“
„Ja, das wird schon klappen.“ antwortete Haldana, ehe sie sich klar wurde, dass der Geist Nasdja zu ihr gesprochen hatte. Wieder einmal hatte sie Nasdja laut geantwortet und alle anderen Zuhörer mussten annehmen, dass sie mit sich selbst redete.
„Was wird klappen?“ Storko fragte überrascht nach. „Aber eine tolle Geschichte, die Ihr erzählt. Man könnte fast meinen, es handle sich um die Dichtung eines Barden und nicht um einen Erlebnisbericht.“
„Die G-Saite nachzuziehen.“ redete sich Haldanda heraus. „Die lässt immer wieder nach. Ihr habt Recht, ich habe das vorgetragen wie eine Geschichte, die ich selbst gehört habe. Nun, manchmal ist es leichter, die ganze Sache mit etwas mehr Abstand zu erzählen. Es war… nicht leicht, das alles.“
Storko nickte. „Das glaube ich gerne. Allein, dass nicht nur Alboran entführt wurde, dass auch Ihr zwischendurch in der Gewalt dieses Hexers wart. Auch dieser Golo… eine erschütternde Vorstellung.  Ich mag garnicht daran denken, was geschehen wäre, wenn Alrik von Friedwang Euch nicht befreit hätte.“
„Nun ja… am meisten Angst hatte ich im Dunklen in der Tiefe des Kurgasberges“ erzählte Haldana. „Als ich alleine und ohne eine Lichtquelle durch die Finsternis des Bergwerks irrte. Ich hatte Angst, dass ich da nie wieder raus komme. Und ohne Alboran wäre ich vielleicht immer dort unten geblieben.“
Haldana setzte sich etwas näher auf der Bank an Alboran heran, als es ihr von ihrer Mutter als schicklich beigebracht wurde. Aber sie hatte nicht noch einmal vor, sich zu verstecken. Ohne, dass sie etwas dazu sagen wollte, hatte sie das Bedürfnis, ihrer Mutter gleich zu verdeutlichen, dass sie sich da nicht hineinreden lassen wollte.
„Sich das Leben gegenseitig gerettet zu haben, das schweißt Menschen zusammen. Das habe ich bei der Armee oft genug erfahren.“ Storko hatte die Situation ebenfalls erfasst, auch ohne dass Haldana oder Alboran das näher ausführen mussten. Nun gut. Seine Kinder waren noch jünger. Aber auch ihm würde es irgendwann vielleicht ähnlich geschehen. Wie würde er reagieren, wenn sein Spross ihm irgendwann eröffnen würde, die Liebe des Lebens gefunden zu haben? Und würde sich das dann in die dynastischen Verpflichtungen einfügen lassen? Dabei hatte er, und seine Gattin Glyrana von Mersingen erst, ganz besondere dynastische Überlegungen der eigenen Kinder in Sachen der Heiratspolitik. Er konnte nur zu gut nachvollziehen, was nun in seiner Gastgeberin vorging. Der junge Friedwang war, wie er wusste, ein uneheliches Kind. Anerkannt von seinem Vater zwar, und somit auf alle Fälle nicht unstandesgemäß. Aber vielleicht nicht das, was die Vögtin sich für das Haus Binsböckel erhofft hatte. Nun, er würde es erfahren. So würde er aufmerksam beobachten, wie die Vögtin sich unverhofft mit ihrer Tochter und ihren Wünschen auseinander setzen würde. Der Landjunker lehnte sich zurück hob seinen Becher. Hier, im Schatten hinter der Burgmauer, war es angenehm kühl. Nun, in einem Punkt immerhin musste er der Vögtin recht geben. Der Vierziger Gluckenhang war tatsächlich ein guter Tropfen. Er hob die Flasche, lächelte und schaute die jungen Edelleute an, um ihnen ebenfalls Wein einzuschenken. Alboran hielt dankbar seinen Becher hin. Haldana lehnte ebenfalls mit einem Lächeln ab. Was sie aber nicht daran hinderte, mit den anderen anzustoßen, auch wenn sie sich in ihren Becher frisches Brunnenwasser füllte. Auch Tuvok und Rovik bekamen einen Schluck Wein angeboten, den sie dankbar annahmen.
Einen kurzen Moment herrschte Schweigen. Storko hatte das Gefühl, die Vögtin warte darauf, dass Haldana oder Alboran etwas sagten, wohingegen die beiden sich offenbar nicht getrauten. Aber vermutlich würden Mutter und Tochter nach dem Essen Zeit brauchen, sich auszutauschen. Eigentlich hätte er auch nichts anderes erwartet, als dass die Vögtin Familieninternes später mit ihrer Tochter besprach. Er hatte ohnehin genug mitbekommen. Also ergriff der Landjunker wieder das Wort. Er fragte interessiert nach zu den Ereignissen, die Haldana und Alboran widerfahren waren. Und nebenher erfuhr er auch viele Neuigkeiten aus Rommilys im Allgemeinen und vom Leben in der Knappenschule im Besonderen.

„Ihr müsst unbedingt noch einmal nach Gernatsborn kommen“ sagte Storko nach dem Mahl. „Die Burg, wie gesagt, ich würde sie Euch gerne zeigen, sobald sie fertig errichtet ist, Vögtin. Mit Ende dieses Sommers sollte sie vollendet sein, nachdem bereits zehn Götterläufe daran gearbeitet wird. Euch ebenso, Hochgeboren.“ Der Landjunker nickte der jungen Baronin zu. „Jedoch nun, wenn Ihr es erlaubt, dann würde ich mich heute noch zum Tempel der ewig jungen Göttin in Schnayttach aufmachen. Meine geliebte Gattin ist der jungen Göttin sehr zugetan und hat nicht nur einen Tempel in Zaberg im Friedwangschen gestiftet, sondern es ist ihr ausdrücklicher Wunsch auch einen Schrein bei uns in Gernatsborn weihen zu lassen. Eure Zustimmung vorausgesetz würde ich dies mit dem hiesigen Tempel gerne näher besprechen.“
Storko fühlte, dass es Zeit war sich als Gast zurück zu ziehen Nicht zuletzt, hatte er ja mitbekommen, dass die junge Baronin mit ihrer Mutter das eine oder andere besprechen musste. Das war nicht zu übersehen gewesen. Storko lächelte.
„Ich würde auch die Gelegenheit gerne nutzen, die Burg einzuweihen und da ist ein Segen Tsas wohl auch nicht verkehrt. Die neue Fähre über den Gernat wird auch nächsten Monat in Betrieb gehen, alle Materialien für den Seilzug sind eingetroffen, im Praios werden wir sie errichten, als erstes gleich im neuen Jahr. Nun, ein Fest zur Burgeinweihung, das würden wir wohl geben. Im Efferd oder Travia, nach der Ernte, dann muss die Burg errichtet sein, wenn es Euch Recht ist - auch wenn ich Genaueres mit meiner Gemahlin noch besprechen muss..“
„Das hört sich gut an“ bestätigte Vögtin Adginna. „Was haltet Ihr davon, Junker Storko, wenn ich Euch nach den unheiligen Tagen auf Eurer neuen Burg besuche, wie Ihr vorgeschlagen hat. Dabei können wir gerne einen Termin festsetzen und alles weitere bereden. Ihr werdet, nehme ich an, die Edlen des Schlotzer Bundes einladen wollen und auch die Sichler, mit denen der Bund inzwischen vereint ist.“ Adginna sah den Landjunker an, dieser nickte und bemerkte höflich “Ihr seid jederzeit auf Burg Gernatsborn willkommen”.
„Nun, ohnehin hatte ich daran gedacht, die Bande zwischen Schnayttach und ihren Edlen zu stärken und auch eine Annäherung an den Bund der Sichel zu suchen. Ich will nicht vorgreifen, aber ich denke, es wäre eine gute Idee, wenn nicht nur die Edlen, sondern die Baronie als Ganzes sich dem Bund der Sichel anschließt. Was wäre da ein besserer Rahmen als ein Fest auf Eurer Burg? Lasst uns darüber über die kommenden Tage sinnieren und Anfang Praios darüber reden.“

Die Vögtin hatte das Gesinde angewiesen, das Gästezimmer für Alboran von Friedwang her zu richten. “Ich nehme nicht an, dass Ihr an den unheiligen Tagen zurück nach Friedwang reisen wollt” hatte Haldanas Mutter kurz und freundlich zu dem Gießenborner Edlen gesagt, aber eine Antwort gar nicht erst abgewartet. Haldana hatte genickt, noch bevor Alboran antworten konnte. Ohnehin war es ein Gebot der Travia, niemanden in der unheiligen Zeit die Gastung nicht zu gewähren. “Nun, lasst Euch von Rimhilde Euer Zimmer zeigen und seht es mir nach, wenn ich mich mit meiner Tochter ein wenig zurück ziehe” hatte sie gesagt. “Ihr habt sicher Verständnis dafür. Aber es soll Euch an nichts fehlen. Und du, mein guter Tuvok, zeige dem Herrn Rovik doch einmal die Schmiede, da er sich für eine Anstellung eben dort interessiert.”
Mit einem energischen Kopfnicken deutete sie ihrer Tochter, ihr zu folgen. Haldana lächelte Alboran, Tuvok und Rovik noch einmal kurz zu. Dann folgte sie der Mutter in das Haupthaus, führte sie durch den Thronsaal, in dem Schlotzer Axtwappen deutlich sichtbar über dem Kamin angebracht war, durch eine eisenbeschlagene Holztür in die Schreibstube.
„Sind ja gute Nachrichten, dass die Burg am Gernat fertig ist. Dieser Storko scheint mir ein tüchtiger Mann zu sein.“ begann Haldana, nach einem Thema suchend, um nicht gleich von der Mutter auf das genaueste befragt zu werden.
„Das ist er, zweifellos. Ein aufstrebender junger Mann, der nicht umsonst zum Wehrvogt der Mark ernannt wurde. Er hat sich zum einflussreichsten Edlen in Schlotz gemausert und wurde nach der Verteidigung von Rommilys von der Markgräfin zum Landjunker ernannt. Mit ihm als loyalem Vasall haben wir übrigens auch einen guten Kontakt zum Haus Mersingen. Er hat sein ehemals kleines Gut zum einflussreichsten Gut mit Burg in unserer Baronie gemacht. Mindestens dann, wenn der Schattenholzer mit seiner Schwarzen Lanze in Rammholz weilt. Aber das weißt du ohnehin, Tochter. Ich habe dir alles geschrieben, was sich hier ereignet hat während du in Rommilys weiltest. Ach ja… es wäre übrigens denkbar, mit seiner Hilfe für Dich eine Heirat mit dem Haus Mersingen zu arrangieren. Eine gute Partie wäre das.“ Adginna hatte nicht vor, lange um den heißen Brei herum zu reden.
„Ähm, ja, sicherlich, ein einflussreiches Haus. Aber wäre es nicht sinnvoller, den Blick in die Schwarze Sichel zu wenden? Wenn wir in den Sichelbund wollen, dann könnten wir unsere Position im Bund mit der richtigen Vermählung ebenfalls stärken. Der Bund der Sichel hat als Gesamtes sicher einen ähnlich großen Einfluss in der Region wie eine der großen Familien. Und das Haus Binsböckel könnte im Bund zu einem entscheidenden Faktor werden. Solange Tante Valyria dem Hause Baernfarn vorsteht und mit Gallys freundschaftlich verbunden ist und mein Halbbruder in Rammholz herrscht. Meinst du nicht, ich sollte versuchen, eine weitere Baronie der Schwarzen Sichel oder des Bundes der Sichel an unser Haus zu binden?“ Haldana zog es vor, erst einmal strategisch zu argumentieren, in der Hoffnung, dass die Mutter dem eher zugänglich war.
„So gefällst du mir schon besser, Tochter. Immer die Möglichkeiten im Blick haben und nüchtern abwägen. Ja, deine Gedanken haben etwas für sich. Hast du deswegen diesen jungen Friedwangen mit gebracht?“
Nüchtern abwägen, dachte Haldana. Naja, das konnte man nun nicht wirklich sagen. Eher war sie von den Ereignissen überrollt worden. Aber vollständig überrollt. Die Begegnung mit Alboran in der Finsternis des Kurgasberges hatte ihr Leben auf eine ihr völlig unbekannte Art und Weise auf den Kopf gestellt. Aber so direkt wollte sie ihrer Mutter das auch nicht sagen.
„Nun, ja. Was meinst du? Er steht kurz vor dem Ritterschlag, und ist immerhin der Älteste Sohn des Barons. Mit Gallys und Friedwang als Teil der Familie...“
„Ich gehe eher davon aus, dass sich in Friedwang diese Tsalinde durchsetzt. Sie ist ehelich geboren, und weiß das Haus Baernfarn in ihrem Rücken.“ Die Vögtin blieb nüchtern.
„Mag sein… Aber er hat… Talent.“ Haldana wusste nicht, was sie sagen sollte. „Er ist aus der Sichel, er kennt das Land. Ein Adeliger aus Garetien oder von anderswo wäre zeitlebens ein Hereingeschmeckter.“
„Du magst ihn, nicht wahr?“ Adginna fragte ganz direkt.
„Nein. Ich liebe ihn.“ Haldana hatte es gelernt, ebenso direkt zu antworten, und ihre Stimme ließ keinen Zweifel zu, dass sie es ernst meinte.
„In Ordnung. Ich werde darüber nachdenken. Deine Gedanken mit der Anbindung an den Bund der Sichel haben etwas für sich, und dieser Alboran scheint mir kein schlechter Mensch zu sein. Also gut, ich werde ihn mir die nächsten Tage anschauen. Er wird ohnehin mindestens bis zum Neujahr bei uns bleiben. Aber, Haldana, dass mir nichts Unbotmäßiges zu Ohren kommt, meine Tochter. Die Gebote Travias werden in dieser Burg ernst genommen.“ In den freundlichen Worten von Haldanas Mutter lag eine bestimmende Strenge.
„Ja, sicher, aber für Deine Ermahnung ist es ohnehin zu spät.“
Adginna blickte ihre Tochter erneut streng an. Haldana, die ebenso unbeeindruckt zurück blickte, merkte, wiewohl ihre Mutter sich nichts anmerken ließ, dass sie damit nicht gerechnet hatte. Die Altbaronin zögerte mit ihrer Antwort.
„Mutter, es ist mein Leben. Hattest du ein erfülltes Leben mit Tsafried?“
Adginna überhörte die Frage nach Haldanas Vater.
„Es ist nicht Dein Leben. Du bist die Baronin von Schlotz. Dein Leben gehört diesem Land und den Menschen, die hier leben. Diesen Platz haben die Götter Dir zugedacht. Also stehle Dich nicht aus der Verantwortung. Niemand hat gesagt, dass es leicht ist, Rang und Titel zu erben. Das Märchen können die Barden dem einfachen Volk erzählen, die nur das tun müssen, was man Ihnen anschafft. Du bist Baronin, und damit bist du vom Aufstehen bis zum Schlafengehen sowohl Deiner Lehensherrin, der Markgräfin, verantwortlich wie ebenso deinen Lehnsleuten, für deren Wohlergehen du zu sorgen hast. Dafür haben die Götter die Welt so geschaffen, wie sie ist. Füge dich, wenn du eine gute Baronin sein willst.“
„Ja, Mutter. Mit Alboran an meiner Seite füge ich mich.“
Adginna sah ihrer Tochter lange in die Augen.
„Gut. Soll er um Deine Hand anhalten. Hören wir uns an, was das Haus Friedwang uns zu bieten hat. Dann sollte aber nicht nur Alboran hier vorstellig werden. Wer ist das Oberhaupt seiner Familie? Baron Alrik? Ich werde mit ihm reden müssen.“
„Das wirst Du, Mutter. Wir hatten vereinbart, dass er nach Schlotz reist, im neuen Jahr. Er wird sicher bald zu uns kommen.“

 …

In den frühen Morgenstunden betrat der Wehrvogt der Mark den Schlotzer Burghof. Frühes Aufstehen war er seit seinen Kadettenjahren immer gewöhnt und im Sommer war eine Reise in der Kühle des Morgens ohnehin vorzuziehen. Auf ihn warteten bereits vier berittene Soldknechte und ein schwerer abgedeckter Wagen samt Trossleute. Auch sein eigenes Ross war gesattelt und bereit zur Reise. Er nickte den kampferfahrenen Reitern zu, allesamt Veteranen aus Wildermarkzeiten, kaum wurde ein Wort gewechselt und die Gruppe reiste Firunwärts los. Trotz der unheiligen Tage, er hatte keine Zeit zu verlieren.
Storko hatte nicht nur die Schlotzer Burg passiert um der Vögtin einen Besuch abzustatten sowie den hiesigen Tsatempel zu besuchen. Die schwere Fracht, die er mit sich führte musste nach Gernatsborn gebracht werden und der schwere Wagen würde an den Trampelpfaden südlich und westlich des Wutzenwaldes kaum weiter kommen. So blieb nur der Wutzenwalder und dann Hallinger Weg als Option übrig, um dann die verbliebenen Meilen bis zum Gernat mit schweren Ochsen auszukommen. Unter der märkischen Verpflichtung, die durch den Burgausbau von der Markgräfin ausgesprochen war, das obere Gernatstag und strategisch für die Mark wichtig den passierbaren Oberlauf auf Feinde und Schurken zu überwachen, erhielt er nicht nur das Privileg von der Markgräfin zum Landjunker ernannt zu werden. Als Wehrvogt hatte er sich auch eingesetzt, von den sicheren Burgmauern aus dies auch tatsächlich zu können und eine ausrangierte, schwere Feldballiste erhalten, die er nun an den Gernat brachte um sie auf den Gernatsborner Burgfried zu platzieren.
Der erste Reiter hielt das Banner seiner Familie hoch an einer Lanze. Der Gernatsborner blickte kurz hinauf. Drei schwarze Balken auf Gold, darüber horizontal ein blauer Wellenbalken. Nun, er war in den letzten Jahren weit gekommen und nun Teil eines der edelsten Adelshäuser des Reiches geworden. Gernatsborn? Die Adelsfamilie Gernatsborn ging in die Geschichte ein. Gernatsborn war die Burg, aber auch er selbst war ins Haus Mersingen aufgenommen worden und bildete mit Glyrana, seiner Gemahlin, einen neuen aufstrebenden Seitenast der Familie. Alle Reiter waren ebenso wie das Banner in Schwarz und Gold gewandet, nur um den Helmen war ein blaues Band geschnürt. Nun, er konnte sich nicht beklagen und war weit gekommen. Als ernannter Wehrvogt kommt er viel in der Mark herum, um sich um die märkischen Verteidigungsanlagen, Straßen und Brücken zu kümmern - und bei der Verteidigung von Rommilys vor wenigen Jahren konnte er sich unter den Augen des Bannerherrn und der Markgräfin beweisen. Zuletzt wurde er nun zum Landjunker ernannt, und damit aus seiner Sicht einer er höchstrangigen Landadeligen der Mark. Allein, dass er aufgrund der vielen Reisen nur hin und wieder Frau und vier Kinder besuchen kann, trübt ihn etwas. So war es auch Glyrana, die sich in den letzten Jahren um den Burgausbau und auch die Familiengeschäfte gekümmert hat. Als Vögtin von Meidenstein ist es nur ein kurzer Weg in die heimatliche Burg. Ihre zunehmenden Ambitionen für sich und ihre Nachkommen gefielen Storko und er lehnte sich auch etwas zurück, auf viel mehr als er bereits erreicht hatte, konnte er ohnehin nicht hoffen.
Nach kurzer Zeit hatte der Wagenzug den Schlotzer Berg hinter sich gebracht und hier öffnete sich das Land vom Wutzenwald heraus. Hier war auch das Stammland der Schlotzer Barone zu finden. Guter Ackerboden mit Gehöften zwischen den Ausläufern des Waldes gen Efferd und einer Hügelkette gen Rahja, die bereits in der Baronie Rosenbusch lag. Auch hatte man bei gutem Wetter Sicht auf See und Ort Firnsjön, der auch Firnsee genannt wird. Hier residierten mit der Familie Firnsjön alte Getreue der Schlotzer Barone. Geografisch war diese fruchtbare Gegend jedoch am äußersten Nordosten der Baronie, abgeschirmt von des restlichen Gütern und Dörfern durch den tiefen Wutzenwald. Storko musste immer schmunzeln, wenn er an die Worte seines Vaters, Boron habe ihn selig, dachte. “Die Macht der Schlotzer Barone reicht nur so weit, wie sie von Schlotzer Berg aus blicken können” hatte er immer gesagt. Die Burg Schlotz soll ja weitaus älter sein als Menschen hier ihren Fuß erstmals hinsetzten, er hatte selbst bereits die Tunnels unter den Berg einst gemeinsam mit Traviahold von Schnayttach genutzt, und so war sie eine der wehrhaftesten wenn auch rätselhaftesten Burgen der Region. Tatsächlich war die Lage des Hauptortes für die Schlotzer Baronieverwaltung jedoch nicht gut gelegen, so hatte sich auch eine starke Eigensinnigkeit des Schlotzer Landadels etabliert.
Die Gedanken des Gernatsborner, der nun eigentlich ein Mersingen war, wandten sich wieder dem Burgbau zu und dem bevorstehenden Einweihungsfest. Er würde gleich nach der Ankunft mit Glyrana die weiteren Pläne besprechen.

Burg Schlotz, Fünfter der Namenlosen Tage 1042
Es war noch stockfinster, als Haldana aufwachte. Das nur teilweise sichtbare, am Himmel stehende Madamal leuchtete nur matt durch das Fenster. Irgendetwas hatte sie hochschrecken lassen. Nur was? Die junge Baronin sah sich um. War irgendetwas anders als zuvor in ihrem Schlafzimmer? Ihr fiel nichts auf… und doch. Oder hatte sie nur ein ungutes Gefühl? Was nichts Ungewöhnliches wäre, in der Zeit zwischen den Jahren.
Haldana stand auf. Was hätte sie darum gegeben, nicht allein zu sein. Es war unheimlich, ohne sagen zu können, was sie verunsicherte. Natürlich hatten Alboran und sie ihre Mutter nicht heraus gefordert und hatten sich daran gehalten, Travias Gebote zu beachten. Hatte sie Angst deswegen? Wegen Alboran? Mutter hatte ihm die Magd Rimhilde zugegeteilt, sie sollte ihm das Zimmer einrichten und sich auch sonst um sein Wohl kümmern. Ausgerechnet Rimhilde. Die von keinem Stallburschen die Finger lassen konnte. Mit ein wenig Binsböckler Zorn hatte sie ihre Mutter gefragt, was das sollte. Mutter hatte einfach nur mit den Achseln gezuckt und lapidar gesagt, dass sie dann wenigstens gleich wisse, ob auf den jungen Friedwang Verlass sei oder nicht. Und das solle man doch besser vor einer Hochzeit wissen.
Gut, da hatte Mutter auch irgendwie recht. Aber vor Rimhilde musste sie doch sicher keine Angst haben. Außerdem, das seltsame, leicht beklemmende Gefühl, das sie befallen hatte, hatte mit Eifersucht nichts gemeinsam. Irgendetwas war anders. Etwas fehlte. Mit einem Mal wusste Haldana, was sie vermisste.
Nasdja. Ihre Urahnin, sie sie sonst ständig umschwärmte, hatte sie in den unheiligen Tagen noch gar nicht gesehen. Ob sich gute Geister auch versteckten? So wie sich die Menschen in dieser Zeit in ihren Häusern verkrochen?
`Aber was ist eigentlich gut und was ist böse?`fragte Haldana sich.
Dann wurde ihr gewahr, dass das nicht ihre eigenen Gedanken waren, sie sie durchfahren hatten. Wieder sah Haldana sich um, erblickte aber niemanden. Irgendwie war es einen Hauch kälter geworden. Oder bildete sie sich das nur ein?
`Vielleicht sind das die guten Tage, und nur der Rest des Jahres ist böse` durchzuckten wieder Gedanken, die nicht die ihren waren, die junge Baronin. Und mit einem mal wusste Haldana, wessen Gedanken sie vernehmen konnte. Wer immer noch nicht von ihr gegangen war, auch wenn sie die vergangenen Wochen nichts von ihm wahrgenommen hatte.
Haldana nahm sich ihren Umhang, der über dem Bettpfosten hing, und schlug ihn sich um, um die nächtliche Kälte zu vertreiben. Es half nichts.
`Du wirst mir nicht entkommen. Du bist immer noch mein. Sogar mit Travias Segen, auch wenn das völlig überflüssig ist.
`Verschwinde` dachte Haldana mit ungewohnter Schärfe.
`Du hast mir gar nichts zu sagen. Umgekehrt, du tust, was ich sage.` wieder diese kalten, körperlosen Gedanken. Haldana wusste nur zu gut, welche noch nicht zu Boron gefahrene Seele sie hier heimsuchte. Aber Angst… Angst durfte sie nicht haben. Angst war das Schlimmste, was man haben konnte, wenn einen Geister, die einem nichts Gutes wollten, aufsuchten. Aber wie konnte sie Angst verhindern? Das kalte, beklemmende Gefühl griff bereits nach ihr. Haldana schluckte.
`Du bist nicht mein Gemahl, Golo von Glimmerdieck. Ich werde jemand anderen heiraten.` widersprach Haldana.
`Ach, Püppchen. Du kannst doch gar nicht anders. Selbst wenn du dich mir widersetzt, machst du doch nur das, was ich will. Du wohnst meinem eigen Fleisch und Blut bei. Meinst du, du erfülltest damit nicht meinen Willen, wenn du mit Alboran den Traviabund eingehst? Formal zumindest, für die unwürdige Welt da draußen, die die Weisheit des Güldenen noch nicht erblickt, noch nicht erkennt. In Wahrheit vollendest du nur das, was wir begonnen haben. Damals, auf der Flusshexe. Wir sind uns versprochen, wir werden gemeinsam über Rübenscholl und Gießenborn und auch über Schlotz herrschen. Alboran mag mich derisch vertreten, mir seinen Körper zur Verfügung stellen. Mein Sohn ist mir treu und erfüllt meinen Willen. Ebenso wie du. Und ganz gleichgültig, ob er es freiwillig tut oder sich widersetzt. Du bist mein. Du entkommst mir nicht. Ebenso wenig wie mein Sohn.`
`Nein, du irrst`begehrte Haldana auf. `Nur weil du jetzt, in der unheiligen Zeit, Zweifel sähst, hast du dennoch keine Macht. Nicht über mich, nicht über Alboran. Noch nicht einmal über dich selbst. Vergiss nicht, ich habe dich erschlagen, auf der Flusshexe!` Haldana wusste nicht, ob sie selbst das glauben konnte, was sie zu Golo gedacht hatte. Nur eines wusste sie: Sie durfte keine Angst zeigen, wenn die Toten mit ihr redeten.
Ein stimmloses Lachen drang durch die Stille. `Das hättest du wohl gerne, Kindchen. Erschlagen… wie hättest du mich erschlagen können, bin ich doch schon seit vielen Jahren tot. Nein, wen du erschlagen hast, das war Jobdarn. Ich habe ihm die Ehre gewährt, mir seinen Körper auszuleihen. Einen unschuldigen jungen Mann hast du erschlagen. Mit der Schuld musst du jetzt wohl leben… Nein, musst du nicht. Der Güldene sieht keine Schuld darin. Wenn du dich zu ihm bekennst, musst du keine Schuld tragen. Es liegt an Dir.`
Haldana versuchte, mit einer wischenden Handbewegung den unheimlichen Geist zu vertreiben. Natürlich vergebens. Die junge Baronin zitterte.
`Alboran ist nicht dein Sohn. Er ist Alriks Sohn` widersprach Haldana in Gedanken. Es klang eher trotzig als überzeugt.
`Natürlich, natürlich, Kindchen. Wie lange bist du jetzt meine Frau? Sechs Wochen erst? Naja, nicht wirklich lange, aber du solltest inzwischen wissen, dass es eine scheinbare Realität gibt für die Unwissenden und die Wahrheit, die nur diejenigen erkennen, die den Güldenen erblickt haben. Und nun komm, meine Gemahlin.`
Eine schattenhafte Hand streichelte Haldana über die Wange. Der Binsböckel stellten sich die Haare zu Berge. Sie bekam eine Gänsehaut
Haldana schrie.
Sie rannte aus ihrem Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und rannte weiter. Durch die Gänge, durch den großen Saal und hinaus auf den Hof, wo sich die Rondrakapelle befand, die der Geweihte von Gernatsquell, Hochwürden Deggen, vor einigen Jahren eingeweiht hatte. Immerhin geweiht. Vielleicht der einzige Ort in der Burg, an den ihr dieser unheilige Geist Golo nicht folgen konnte.
Weinend kauerte sich Haldana unter die Statue der Herrin Rondra. Sie war froh, dass sie hier allein war und niemand sie sah.
Endlich, einige Stunden später, ging im Rahja über den Gipfeln der Schwarzen Sichel die Sonne auf. Die ersten Sonnenstrahlen des neuen Jahres.

Bishdarielon von Suunkdal

 

Erscheinung: 173 Halbfinger groß, schwarze, schulterlange Ringellocken, stechende, schwarze "Rabenaugen", hohe Stirn, typische "Bocksnase" und "-Lippe" des Hauses Friedwang. Vornehm blass, drahtig, kräftig und wendig, darpatischer Stiernacken. Markanter, düsterer Schönling. Der obere Rand des rechten Ohrs fehlt seit Geburt: ein Erbfehler, der bei allen männlichen Nachkommen des Heiligen Alboran von Baliho auftreten soll. Trägt meist ein dunkelglänzendes Kettenhemd, schwarze Arm- und Beinschienen sowie den weißen Mantel eines Ritters der Golgariten. Den Waffenrock mit dem Gebrochenen Rad streift er nur zu offiziellen Anlässen über, von seinem schmucklosen Schwert "Jasperion" trennt er sich höchst ungern. Üblicherweise führt er am Gürtel noch einen Rabenschnabel.

Tsatag: 1.Rondra 993 BF

Anrede: Euer Hochgeboren 

Wappen: Nach links blickender roter Hahn auf goldenem Kegel vor silberner zwölfstrahliger Sonne auf blauem Grund ("Senkenthaler Hahn")

Hauptgottheiten: BORon, PRAios, RONdra

Aventurische Informationen: Mittlerweile krächzen es die Raben von den Dächern: Dass es sich bei "Bishdarielon von Senkenthal" um den 1008 BF verschleppten wahren Friedwanger Baronieerben Alrik Tsalind handelt. Der damalige Knappe des Grafen Answin von Rabenmund geriet, von Räubern entführt, erst in die Al´Anfanische Sklaverei, dann in den Khomkrieg. In Unau soll ihm vom Patriarchen Tar Honak (mit dem Stab des Vergessens) höchstselbst die Erinnerung an seine Abkunft geraubt worden sein.

Nach zwölf Jahren Dienst bei den Boronsraben, unter dem Ordensnamen Bishdarielon, gab ihm Amir Honak das Gedächtnis zurück - und steckte ihn wieder in den Sklavenkotter. Zusammen mit seinem dort wiedergefundenen jüngeren Zwillingsbruder, dem Brabaker Streuner Francesco di Palazzo, gelang ihm die Flucht. Eine Zeitlang lebte er bei Mohas im Regenwald, zeugte dort ein Kind, wurde erneut von den Al´Anfanern gefangengenommen und kehrte erst auf Umwegen in seine darpatische Heimat zurück. Dort herrschte mittlerweile Francesco unter Alriks Namen als Baron, Bishdarielon hatte das Nachsehen: Er trat als Edler von Senkenthal in den Golgaritenorden ein. Für diesen bewacht er bis heute einen großen Boronanger unweit des Dorfes. Ende 1032 einigten sich die Zwillinge auf eine Teilung der Herrschaft über die Baronie. Bishdarielon ist mit der Baronin Syrenia von Mersingen ä.H. verheiratet, einer Nichte des Großmeisters. Er residiert auf dem malerischen Wasserschloß Suunkdal unweit von Senkenthal, bei Freunden wie engen Verwandten trägt er den Spitznamen "Bisch". Der Landadelige gilt als hochmütig, stolz und affektiert, ist aber ehrenvoll und auch sonst von den Idealen des mittelreichischen Adels, wie Frömmigkeit, Großmut und Treue, erfüllt. Manche munkeln, dass er nach der Begegnung mit einem geflügelten Dämon unter Wahnvorstellungen leiden, gar schon einmal seinen Schatten, ja, sogar seine Seele verloren haben soll. Diesbezüglich dürfte aber jetzt die Boronkirche ihre schützenden Schwingen über ihn halten...

Meisterinformationen: Obige Lebensgeschichte ist nicht unbedingt falsch, aber schon arg für den "öffentlichen Gebrauch" geschönt. Der Streuner Francesco, ein Phexgeweihter, hat seinen Bruder nach der Rückkehr aus der Sklaverei tatsächlich dreist um Namen wie Erbe betrogen. Das Verhältnis zwischen beiden ist, gelinde gesagt, angespannt. Ebenfalls gerne verschwiegen wird, dass der Golgarit Bishdarielon in der Schlacht der Drei Kaiser 1028 BF auf Seiten seines alten Herrn Answin gekämpft hat - gemeinhin nennt man solche Leute "Answinisten" oder "Verräter". Sein Groll auf die Kaiserin Rohaja, und die Blutspur, die er im Bürgerkrieg hinterließ, machten ihn lange Jahre als Baron von Friedwang untragbar. Durch die Verlobung mit einer jungen Mersingen im Götterlauf 1032 BF gewann der Edle wieder soviel Hausmacht, dass er zum "Mitbaron" aufstieg und einen Anteil an der Familienburg Friedstein erhielt: eine "Bardo & Cella-Lösung", die das Ende der Wildermark nicht überdauert hat. Nach Errichtung der "Rommilyser Mark" erhielt er den Titel eines Erbvogts von Friedwang - ein Amt, das mittlerweile seine Gemahlin Syrenia ausfüllt und quasi der Funktion eines Lehensvogts entspricht. 

Als Mitglied des Hochadels ist "Bruder Bisch" ein recht unkonventionell auftretender, weltlich gesonnener Ordenskrieger - gewohnt, auf seinem Außenposten (oder Drückposten?) in der Mark schalten und walten zu können, wie es dem Herrn beliebt. Schließlich erhält der Orden, Bischs Meinung nach, im Gegenzug reichlich Donationen und Pfründe aus seinen Ländereien. Überhaupt scheint die Boronverehrung des "Mannes mit den zwei Gesichtern" immer noch stark al´anfanisch geprägt zu sein (mag er die "Pestbeule des Südens" sonst von Herzen hassen): buntschillernd, machtbewusst bis hin zum Zynismus, gelegentlich schwatzhaft und mindestens so lebenslustig wie todesbejahend. In Wahrheit ist seine Todesverachtung für einen Golgariten nämlich...eher schwach ausgeprägt: Im Jahr des Feuers, bei der ersten Schlacht um Rommilys, stellte er sich angesichts einer verheerenden Niederlage einfach tot, seine Ordensgefährten starben.

Stärken: Aristokratisches, sicheres Auftreten, enorme Hartnäckigkeit. Gutaussehender, kerniger "Frauentyp", wirkt auf das andere Geschlecht gerade durch seine etwas düstere Aura anziehend.

Schwächen: Neigt wie die meisten Friedwangs zu Jähzorn, Launen, Stur- und Unbeherrschtheit. Eitel und überheblich, sowohl was sein Äußeres als auch seinen Adelsstand anbelangt. Ehre, Treue, Gehorsam und Pflichterfüllung sind für ihn oft reine Selbstzwecke, denen er menschlichere Motive (z.B. echte Sympathie, Gewissen und Überzeugung) unterordnet: wie im Falle seines alten Lehrherren Answin, den er zwar nie wirklich mochte, aber bereits als Knappe einen Gehorsamsschwur leisten musste. Durch seine Gutgläubigkeit leicht zu übervorteilen.

Besonderheiten: Bei den Ausritten auf seinem schwarzen Streitross Novadi begleiten ihn oft die beiden Winhaller Wolfsjäger Blitz und Donner.

 

Zitate:

"Bei meiner Treu: Aufgeschoben heißt wahrlich nicht aufgehoben. Boron und ich, wir können warten."

"Habt keine Furcht vor dem Tod, lehrt sie euren Feinden."

"Jeder Atemzug bringt mich ein Stück näher an die Glückseligkeit in Borons Paradies. Wie sollte ich mich da des Lebens nicht erfreuen, bei meiner Seel?"

 

Mersinger Pfahlgarde

Allgemeines: Militärische Hausmacht des Adelshauses Mersingen in der Rommilyser Mark

Obrigkeit: Haus Mersingen zu Gernatsborn, nominell Hauptfrau Jadvige von Kressenbrück 

Besondere Mitglieder: Ritterin Jadvige von Kressenbrück, Ritter Roderick von Oppstein, Knappin Gisla von Zweifelfels

Sollstärke: Etwa ein Halbbanner

Standort: Burg Gernatsborn in der Baronie Schlotz, Teile sind meist mit Glyrana von Mersingen und Storko von Gernatsborn-Mersingen in der Rommilyser Mark unterwegs sowie zuweilen bei Mersinger Besitzungen in den Baronien Friedwang und Gallys anzutreffen

Waffengattung: leichte Hellebardiere und aufgesessene Armbruster

Erfahrung: Kompetent bis Erfahren, einzelne Veteranen

Ausrüstung: Ein Drittel der Pfahlgarde besteht aus berittenen, aufgesessenen Armbrustern mit Schwert und Schild an der Seite, der Rest ist mit Hellebarden und Kurzschwertern bewaffnet. Gerüstet sind die Pfahlgardisten mit Kürass und Sturmhauben, einzelne tragen leichte Plattenrüstungen oder zusätzliche Plattenteile. Recht einheitlich tragen sie dunkle Lederhosen und ein Wams in den Farben Schwarz und Gold. Um den Helmen wird ein blaues Band geschnürt. Für (geplante) Schlachten und Belagerungen steht der Pfahlgarde auch eine schwere Balliste zur Verfügung, die an Burg Gernatsborn stationiert ist.

Mersingen zu Gernatsborn

WappenWappen des Haus Mersingen zu Gernatsborn (Wellenbalken in Blau über drei schwarzen Pfählen auf Gold).

Beschreibung: Die sogenannte Mersinger Pfahlgarde wird von Glyrana von Mersingen und ihrem Gemahl Storko von Gernatsborn-Mersingen sowie zu einem geringeren Teil von Syrenia von Mersingen finanziert und unterhalten und dient als deren militärische Hausmacht in der Rommilyser Mark. Der Name "Pfahlgarde" bezieht sich auf das Wappen des Hauses Mersingen. Hauptsitz der Pfahlgarde ist Burg Gernatsborn samt der Wacht am Gernat, meist dienen sie jedoch dem Gefolge des Wehrvogtes Storko von Gernatsborn, der Meidensteiner Lehensvögtin Glyrana von Mersingen sowie sichern sie weitere Mersinger Besitzungen in den Baronien Friedwang und Gallys. Ebenfalls kann sich Syrenia von Mersingen dem Schutz der Pfahlgarde bei Bedarf sicher sein sowie werden sie gelegentlich auch von anderen Adligen in Sold übergeben, sofern es den Mersinger Interessen dienlich ist. Erstmalig aufgestellt wurde die Pfahlgarde in der aktuellen Form durch Glyrana von Mersingen im Zuge der Befreiung des belagerten Rommilys Anfang 1040 BF und setzt sich aus Glyranas ehemaliger Leibgarde, Gernatsborner Waffenknechten, Söldnern aus Barken sowie ehemaligen Hahnengardisten aus Friedwang zusammen.

14. Kapitel

14. Kapitel

 

Das Gefecht der Toten

 

"Du solltest nicht schneller durch fremde Stollen irren, als dein Schutzgeist fliegen kann."

Eine brummige Zwergenstimme erklang neben Haldana. Oder war es in ihr? Neben ihr? Um sie herum?

"Sind wir gerade eben wirklich durch ein paar Schritt Stein und Holz geschwebt?"

Die Schwärze war unwirklich. Als befänden sie sich wieder am Anfang aller Zeiten, kurz vor Erschaffung der Welt. Wie Los und Sumu. Nur dass Haldana froh war, dass sich noch ein anderes Wesen neben ihr aus dem Nichts formte.

Ingram tauchte auf, immer noch durchscheinend, aber merkwürdig klar und farbig im Vergleich zur Tintenfassschwärze um sie herum. "Ein paar Vorteile hat es, kein Wesen aus Fleisch und Blut mehr zu sein." Der Hochgeweihte klang dennoch traurig.

"Wo ist eigentlich Nasdja?"

"Ich habe sie auch schon länger nicht mehr gesehen."

"Was war das für ein Erdbeben?"

"Ich dachte, du weißt, was in unserem Bergwerk vor sich geht?"

"Vielleicht hängt es wirklich mit dem Erwachen der Grünen Wolke zusammen. Wie bekommen wir jetzt den Karzerkönig aus seinem Gefängnis?"

"Wen?"

"Alboran...Ich kenne ihn von der Knappenschule."

"Ein Bergknappe?"

"Nein, ein angehender Ritter. Wäre schade um ihn. Irgendwie."

"Wie, ah so? Du magst ihn?" Der Geist des Ingerimmpriesters lächelte, wenn auch ein wenig frostig.

"Nein nein. Ich erfülle nur meine Pflicht."

"Also gut. Ich glaube, ich habe vorhin Wühlschrate gehört, da drüben in einem Nebengang."

"Wühlschrate?"

"Steinbeißer. Grottenschrate. Richtiges Kroppzeug. Auf der ersten Sohle haben wir mal eines von den Viechern in die Enge getrieben. Aber diese Biester haben unglaublich scharfe Zähne. Ihre Steinhaut ist so hart und schwer zu durchdringen wie der Leib eines Drachen. Das war einer von den Kleinen. Die kriechen immer als erstes in die Stollen. Ist uns leider entwischt. Das heißt, wenn das Bergwerk schon lange leer steht, wie du sagst. Dann mag es gut sein, dass sich das hirnlose Pack jetzt überall rumtreibt. Und mit seiner Steinfresserei nach und nach alles zum Einsturz bringen. Wie Holzwürmer im Dach. Nur schlimmer. Die, die ich gehört habe, müssen ganz schöne Brocken sein. Wenn man vom Drachen spricht...ich glaube, da kommen sie schon angestapft. Sie lieben lockeres Geröll, da müssen sie nicht so viel beißen." Ingram war die Verachtung anzumerken.

Tatsächlich, Haldana hörte (oder spürte) etwas in der lichtlosen Schwärze. Ein tumbes, plumpes Etwas, das schwerfällig vorwärts stapfte.

"Und jetzt?"

"Da bist du ja, Kindchen" Eine pummelige Norbardin tauchte neben Ingram auf, ebenfalls zart leuchtend und durchscheinend.

"Nasdja, wo kommst du jetzt her?"

"Ganz einfach. Ich bin der Höhlenspinne gefolgt, die sich an deine Fersen geheftet hat."

"Eine...Spinne?" Haldana keuchte.

"Nein, eine Riesenspinne… So groß wie ein Nivesenschlitten. Ein vollbepackter Nivesenschlitten."

Hätte Haldana noch stoffliche Haare gehabt, sie hätten sich jetzt zu Berge gestellt. Allein die Vorstellung, bei ihrem hilflosen Tasten durch die Finsternis in ein derartiges Ungeheuer zu greifen... Oder sich in einem klebrigen Netz zu winden, statt in Alborans Fesseln....Das Grauen!

"Euer Gang ist gerade im richtigen Moment eingestürzt. Die Staubwolke scheint sie erst mal vertrieben zu haben. Jetzt putzt sie sich ausgiebig ihren behaarten Leib."

"Hier bei uns?"

"Nein, auf der anderen Seite der Einsturzstelle. Ich glaube, sie war nur neugierig. Normalerweise warten Höhlenspinnen, bis sich ein Opfer in ihrem Netz verfängt."

"Sehr beruhigend."

"Im Grunde musst du ihr dankbar sein. Die Gruftasseln haben jedenfalls alle Reißaus genommen, ihre bevorzugte Beute. Von denen gibt es einige in den Stollen."

"Ich unterbreche wirklich nur ungern. Aber diese ingerimmverfluchten Wühlschrate kommen immer näher", meinte Ingram.

"Was machen wir nun?" fragte Haldana in die Runde.

"Nun, ich denke, wir sollten diesen Knappen aus seiner misslichen Lage erlösen", meinte Ingram.

"Bevor wir hier zu viert sind."

"Wer ist dieser Knappe?" wollte Nasdja wissen. "Ich bin nur kurz durch ihn durchgegangen."

"Alboran...Alriks Sohn...sie haben ihn in Rommilys entführt. Er ist entkommen, aber nun ist er hinter den Trümmern eingeschlossen." Haldana seufzte. "Aus eigener Kraft kommt er da nie durch."

"Die Wühlschrate schon", meinte Ingram.

"Gute Idee", fand Nasdja.

"Verstehe ich nicht", anwortete Haldana.

"Zeit, dass du lernst, selber mal von einem Zweibeiner Besitz zu ergreifen", verkündete die Zibilja feierlich. "Ich spüre fünf oder sechs Wühlschrate. Vielleicht auch ein oder zwei mehr. Sie sind wirklich dumm wie der Fels, von dem sie sich ernähren. Es ist wirklich nicht schwer, in einen völlig geistlosen Leib zu schlüpfen, als Geist. Sie wollen nur fressen, aber... Wenn wir drei dieser Kreaturen dazu bringen, den Schutt weg zu räumen, müssten wir es eigentlich schaffen, deinen Freund zu befreien… Haldana, du übernimmst den Schrat an der Spitze. Mit etwas Glück ahmen die anderen Unholde uns nach."

Einen Moment lang war die Schlotzerin völlig verwirrt. Da stapfte auch schon ein Schemen auf sie zu. "Es" fühlte sich merkwürdig an, felsig, hart, klobig, starr, aber auch rundlich. Die Leichtigkeit, mit der sie den buckligen Körper des Wühlschrats übernahm, war fast erschreckender, als wenn sein Verstand Widerstand geleistet hätte. Aber da war kein Verstand, kein einziger Funke.

Sein Körper war einfach wie eine überschwere Ritterrüstung, aus Stein statt Stahl. Bizarr, aber auch faszinierend. Haldana stapfte los. Irgend etwas wuselte aus einem Seitengang auf sie zu. Eine Gruftassel? Beiläufig packte die Schlotzerin das hundegroße, gepanzerte Ding, ohne auf die schnappenden Kiefer zu achten, und schlug es gegen die Wand. Das Mistviech schien Reißaus zu nehmen, zumindest wiederholte es seinen Fehler nicht noch einmal.

Haldana stolperte, fing ihren massigen, schweren Gastkörper ab. Stapfte weiter. Dann stand sie schon an den Trümmern. Die Baronstochter wühlte los, konnte sich zwischendurch nicht beherrschen, und schob sich ein kleines Stück Fels zwischen die Hauer. Krachend zermahlte sie ihr "hartes Brot". Bildete sie sich das nur ein, oder schmeckte der Stein wirklich kalkig? Nein, der Geschmack erinnerte eher an Selemer Sauerbrot. Und zwar das der allerdümmsten Sorte. Keuchend und knurrend spuckte sie die staubtrockenen Bröckchen wieder aus. Ein wenig Speichel tropfte hinterher und landete zischend auf dem Boden. Säure? Natürlich, irgendwie mussten diese Steinfresser ihre Nahrung ja verdauen.

Mit kräftigen Armen reichte sie den Abraum nach hinten weiter, Balken, Felsbrocken, große Steinplatten, kleine rundliche Steine. Bald reichte der Platz, um zu zweit zu wühlen, neben Ingram. Oder war es Nasdjas Wühlschrat? Egal.

Nun wurde es schon schwieriger: Ein Decken- und zwei Seitenbalken waren eingesunken und sperrten den Gang, kreuz und quer verkeilt. Dazwischen hatten sich jede Menge Schutt angesammelt. Sie versuchte den ersten morschen, runden Holzbalken beiseite zu drücken, vergebens. Spätestens hier wäre für sie und Alboran kein Durchkommen mehr gewesen. Kurzentschlossen schlug sie ihre Zähne ins Holz, knabberte es an und speichelte. Wunderbar, wenn sie sich das im echten Leben angewöhnte: Dann würde sie als Gaudium in einem Noioniten-Kloster enden. Haldana, die sabbernde Wühlschratin. Aber was sollte sie in ihrer Lage machen, außer sich durchzubeißen? Die Beißkraft des Schrats war wirklich beängstigend, die Säure tat ihr Übriges. Der Rundbalken knickte ein, gab nach.

Klonk.

Klonk.

Die beiden Hälften fielen zu Boden, eine davon auf Haldanas Fuß. Sie spürte den Schlag "Holz auf Stein" kaum. Der zweite Holzstamm war leichter zu beseitigen: ein Hieb mit ihrer keulenähnlichen Faust, noch einer, noch einer - und er gab nach. Blieb der dritte Balken. Zusammen mit einem Schratengefährten riss sie ihn einfach um. Eine harte "Dusche" aus Steinbrocken prasselte herab, ein Regen, der jeden Menschen erschlagen oder zumindest schwer verletzt hätte.

In ihrer neuen Gestalt fühlte es sich an, als wäre ein Korb Äpfel über sie ausgeschüttet worden.

Es folgten wieder schwere Steine, die sich wie eine eingestürzte Mauer übereinander türmten. Was nun? Sie probierte es mit ihren krummen Fingern, die tatsächlich an die Spitze eines Pickels erinnerten. Sie waren dünn genug, um sie in größere Ritzen schieben, aber zugleich ausreichend hart, um sie als Hebel einzusetzen.

Behutsam lockerte sie die Trümmerstücke, zog sie einzeln heraus. Auch wenn ihr "Wirtskörper" kaum mannsgroß sein mochte, er war kräftig, und vor allem hervorragend an das Leben unter Tage angepasst. Ihre kleine Bergmannstruppe arbeitete nun Hand in Hand, oder besser gesagt Klaue in Klaue. Ihre plumpen Gefährten taten genau das, was sie (zusammen mit Ingram und Nasdja) ihnen vorgab. Liebend gerne hätte sie sich jetzt in einem Spiegel betrachtet. Vermutlich sah sie aus wie einer dieser...wie nannte man diese hässlichen Lehm- und Steinmonster in Transysilien? Gagülems?

In Windeseile schwand die letzte Barriere zwischen ihr und Alboran. Sie wollte gar nicht daran denken, was passieren würde, sobald der Durchbruch geschafft war. Der Baronssohn würde den Schreck seines Lebens bekommen, soviel stand fest. Irgendwann merkte sie, dass sie vorsichtiger vorgehen musste. Noch immer rutschte und fiel Gestein von oben nach. So behutsam, wie ihr massiger Körper es zuließ, legte sie den Hohlraum frei. Ihr Blick war ungemein geschärft, merkte sie nun. Ihre Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt. Oder hatte sie sich an ihre neuen Augen gewöhnt?! Statt unerbittlichem Schwarz nahm sie nun graue Schemen und Schatten wahr, als würde gerade die allererste Dämmerung anbrechen, am frühen Morgen. Dort lag ihr Körper und dort der von Alboran, beide reglos. Nein, der Junker hob matt das Schwert und starrte um sich ins Leere. Travia sei Dank, er lebte. Und nun?

 

Rasch wurde es heller. Und heller. Haldana war sich keinesfalls sicher, ob das noch die natürliche Wahrnehmung eines Wühlschrats war.

Das Licht wurde grell, gleißend, schmerzhaft. Haldana drehte sich um, und war sofort geblendet. Einen steinernen Herzschlag lang sah sie die rundlichen Umrisse ihrer "Gefährten", die grollende Geräusche von sich gaben. Offenbar waren sie in Panik, denn sie stapften auf den Seitenstollen zu, aus dem die Gruftassel gekommen war.

Haldana verstand ihre schwerfälligen Schicksalsgenossen nur zu gut. Der Schmerz, und mehr noch die Angst wurde unerträglich! Licht überflutete ihre gepeinigten Sinne. Es war, als würde ein Depot mit Hylailer Feuer in die Luft fliegen, und sie stand mitten drin. Vermutlich wäre der blinde Wühlschrat auch mit ihr durchgegangen, wenn ihm nicht Trümmer den Rückweg erschwert hätten.

 

"Meister Alfengrund? Meister Alfengrund?"

Haldana blinzelte, rieb sich verwundert die Augen. Ihr Hände waren bleich, nicht mehr aus Stein. Sie starrte in das Licht einer Grubenlaterne. Dahinter war ein blutig geprügeltes Gesicht zu sehen.

"Lassen wir den Kadaver da, als Fressen für die Ratten?"

Haldana nickte, ohne den Sinn der Worte recht zu verstehen.

Nun sah sie, dass sie einen Anhänger in Händen hielt, in Form einer Biene. Ihr Anhänger.

"Scheint wirklich verreckt zu sein", knurrte ihr Gegenüber, und trat ihrem leblosen Körper in die Seite. Ihrem Körper. Daneben lag Alboran, die Hände auf den Rücken gefesselt. Er hob sein Gesicht etwas: Das eine Auge war blau, aus der Nase triefte Blut. Aus dem gesunden Auge flossen Tränen und zeichneten Schlieren in sein völlig verdrecktes Gesicht. Weinte er? Um sie?

"Wahrscheinlich hat unser Vögelchen ein Stein getroffen. Oder die Wühlschrate haben ihr eins verpasst. Na, mir soll´s Recht sein. Hauptsache, der kleine Stinker da ist lebend genug, um noch was zu spüren."

Der Mann stellte die Laterne auf den Boden, zerrte Alboran grob auf die Füße und hob die Faust. Als der Baronssohn benommen zusammenzuckte, lachte der Kerl auf, herzlos und roh. "Weißt du, warum sie mich Katz nennen? Weil ich gerne Katz und Maus spiele. Und weil ich neun Leben habe. Du hast dein letztes gerade aufgebraucht, Maus. Sei froh, dass sie dich anzapfen wollen, da unten, sonst würde dein Blut jetzt schon an die Decke spritzen." Breit grinsend legte Katz den Schwertgurt an, und steckte seinen Dolch hinein. "Meinen Kurbul darfst du erst mal behalten, bevor du dich noch mehr verletzt."

Erst jetzt sah Haldana den schweren, rostigen Hammer, der auf dem Boden lag. Außerdem Blutstropfen. War Alboran durch einen Hammerschlag verwundet worden?

"Nun, Meister Alfengrund. Mein kleines Missgeschick bleibt unter uns, nicht wahr? Gut, die Tür und die Ketten sind futsch, aber wo gehobelt wird...." Katz wies auf den Hammer. "Und du, Blödmann, danke für die Blutspur."

Ein Schlag traf Alborans Kopf, mehr eine Ohrfeige. "So, genug geplaudert, Sisa wartet schon auf dich." Der Trollberger legte nun auch noch seinen karierten Umhang an.

Haldana versuchte zu begreifen, was geschehen war. Offenbar steckte sie jetzt im Körper dieses Medicus, statt im Grottenschrat. Aber warum?

Erneut sah sie auf ihr Bienen-Medaillon.

"Gute Idee. Dann hat sich der Ausflug wenigstens ein bisschen gelohnt." Katz riss Alboran das Sonnenamulett vom Hals und steckte es sich ein. Der Junker protestierte schwach. "Klappe halten, oder ich schlag dir doch noch den Schädel ein." Der Räuber griff nach der Laterne und leuchtete ins Dunkle. Auf der anderen Seite war der Gang vollkommen verstopft, mit Geröll und Holzbalken.

"Verdammt, da kommen wir nicht durch...sieht so aus, als ob wir nen Umweg nehmen müssten..."

Katz packte seinen Gefangenen und stieß ihn vor sich in den Gang, in dem die Schrate verschwunden waren. Dieser unterschied sich tatsächlich von den übrigen Stollen. Die Steinbeißer schienen ihn in den blanken Fels gebissen und genagt zu haben. Überall lag Geröll umher. Ein Fraßgang, wie bei Baumkäfern. Sie stolperten vorwärts, in ein Gewirr an Gängen.

Regelmäßig hielt Katz an und leuchte an die Wand, an die Pfeile gemalt waren. Immer wieder gab es kleinere Einbrüche, sowohl im Boden als auch in der Decke. Mal mussten sie über Schutt steigen, mal ein Loch vorsichtig umgehen. Mal führte der Tunnel steil bergauf, dann wieder schräg nach unten.

Nun verstand Haldana den Ingerimmgeweihten: Dieses sinnlose Kreuz und Quer, Auf und Ab im Wühlschrat-Labyrinth musste für jeden echten Bergmann eine Qual sein.

Eines verstand sie allerdings immer noch nicht: Warum sie nun in Korwid Alfengrunds Leib steckte.

Es ist mir eine große Ehre, Meisterin.

Ein Wispern, tief in ihrem Inneren. Nein, nicht in ihrem Inneren.

Du bist die Bienenkönigin, nicht wahr? Unsere Herrin. Ich habe deine Anwesenheit sofort gespürt, als ich das Zeichen gesehen habe. Dieser Ort ist wahrlich erfüllt von deinem Geist, O Mishkara, Bringerin der Plagen.

Das Zeichen, was denn für ein Zeichen?

Das Zeichen der Biene.

Ah, es war Korwid Alfengrund, der da mit ihr sprach.

Gewiss, Meisterin. Gerne habe ich dir Einlass gewährt, auf dass mein unwürdiger Körper dir als Gefäß dienen möge. Diese Haldana war schwach, O Herrin des Siechtums. Ich bin der Leib, der vom Schicksal dazu ausersehen ist, deinem Großen Plan zu dienen.

Ein Leibdiener, sozusagen. Haldana musste kichern – und zuckte sofort zusammen, als sie dabei Korwids Stimme vernahm. Katz sah beunruhigt in seine Richtung. Das Stirnrunzeln verriet, dass der Medicus in seinen Augen nicht mehr ganz richtig im Kopf war. Vermutlich stimmte das auch.

Alboran lief los, versuchte sich in einem Seitengang zu verstecken. O nein, Alboran, nicht schon wieder. Gefesselt und ohne Licht kommst du doch nicht weit. Nicht bei den vielen Löchern im Boden.

Fluchend verfolgte Katz seinen Gefangenen. "Hiergeblieben, Freundchen."

Einen Moment lang wurde es wieder dunkel. Haldana war allein, mit sich und dem Heiler. Dessen Seele nicht grundverdorben war, wie sie nun spürte. Aber nach und nach an der Last zerbrach, die er ihr in den letzten Götterläufen aufgeladen hatte. Das Unheiligtum und seine erzdämonische Ausstrahlung gab ihm wohl gerade den Rest.

Meine Seele gehört allein dir, O Herrin des niederhöllischen Gewimmels.

Er hielt sie tatsächlich...er hielt sie für die Gegenspielerin der Peraine selbst? Keine schlechte Karriere, in einer einzigen Nacht: Vom Wühlschrat zur Erzdämonin. Haldana merkte erschrocken, dass sie Korwid ihre intimsten Gedanken mitteilte. Aber dessen verwirrte Seele schien immer noch in Ehrfurcht erstarrt zu sein.

Ich war blind, jahrelang blind. Aber nun bin ich endlich aufgewacht. Ich danke dir, dass Du mir den Weg gezeigt hast, jede einzelne Krankheit auf Dere zu besiegen. Sisa hat Recht: Es braucht Gift, um die Welt zu heilen. All Ding ist Gift, allein die Menge machts, ob´s wohl tut oder wehe. Um Sumus Blut zu gewinnen, muss Menschenblut fließen, wie bei einem Aderlass. Einzelne müssen sterben, damit der Schwarm weiterleben kann. So war es schon immer. Auch in Rommilys müssen sie das Mysterium begreifen. Die Grüne Wolke ist das wahre Theriak. Erst wird die Seele geläutert, dann kann die Heilung des Körpers beginnen. Du bist die Königin mit den vielfach gespaltenen Augen.

Lass mich dein Gefäß sein.

Bevor Korwids Gebrabbel vollends unerträglich wurde, kehrte das Licht zurück. Mit ihm Katz und sein Gefangener, der aus der Apathie erwacht war. "Er wird Haldanas Tod büßen, das verspreche ich ihm. Ich bring ihn um, ich bring ihn eigenhändig um."

"Halts Maul. Bist ein lausiger Schwertkämpfer, Mann gegen Mann, in nem ehrlichen Duell. Darfst froh sein, Rotznase, wenn dein Ableben so schnell und schmerzlos von statten geht wie bei der Schlampe gerade eben..."

"Wage er es! Haldana war keine Schlampe...Sie..."

Erneut zitterte der Boden. Alboran verstummte und blickte zur Decke. Aber nur ein paar Steine zitterten auf dem Boden. Diese Röhre hier war erstaunlich stabil.

Katz duckte sich ebenfalls, merkte aber rasch, dass nichts Schlimmeres passieren würde. "Ein Blödmann, der von Wühlschraten frei gebuddelt werden muss...und spuckt schon wieder große Töne. Das wird dir vergehen, Bürschchen, das wird dir schon noch vergehen." Katz zog seinen Dolch. "Ich denke, Sisa hat nichts dagegen, wenn ich dir ein Ohr abschneide...oder die Nase? Am besten beides?"

Alboran blickte verstört. Gerne hätte Haldana ihn aufgemuntert, aber was sollte sie tun? Verschwörerisch zuzwinkern allein würde nicht reichen.

"Lass gut sein, Katz", hörte sie sich sagen, mit fremder Stimme. "Sisas Befehle sind eindeutig. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren."

Einen Moment lang wirkte der Räuber aufsässig. Er spuckte aus und hielt die Klinge an Albos Gesicht. "Meine Initialen werde ich ihm noch einritzen dürfen?"

Haldana tastete an Korwids Gürtel entlang. Ein kleines Messer, das war alles, was er an "Waffen" bei sich trug.

"Nein", sagte sie, und versuchte befehlsgewohnt zu klingen. "Du bist selber schuld, wenn du dich so anstellst. Wir sollten unseren Gefangenen besser in die Mitte nehmen."

Der Räuber steckte die Klinge weg und stieß den Junker von Gießenborn in Korwids Richtung.

"Bist wirklich ein Glückskind, Albo. Da gehts lang." Katz drehte sich um und ging kopfschüttelnd voraus.

Haldana packte Alboran am Schlaffittchen. "Noch so ein jämmerlicher Fluchtversuch, und..."

Albo musterte sie kühl.

"Ein bisschen Zeit ist es noch bis zum Sterben. Verstehst du?"

Dem Knappen war nicht anzumerken, ob er die Anspielung wirklich verstand. Ob er überhaupt merkte, dass es eine Anspielung war.

"Man sieht sich immer zweimal im Leben." Haldana-Korwid sprach übertrieben betont.

Alboran schnaubte. "Ich habe ihn noch nie gesehen." Offenbar hielt nun auch der Junker den Medicus für völlig übergeschnappt. "Aber für gewöhnlich verkehre ich auch in anderen Kreisen."

Ihre Lichtquelle entfernte sich. Einerseits war Haldana das Recht, andererseits musste sie sich jetzt beeilen. Sie zog Korwids Messer. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie die Fesseln einfach durchschneiden sollte, aber dann war die Gefahr groß, dass Albo sie angreifen würde. Sie lockerte ein wenig den Knoten.

"Nicht so frech, Karzerkönig. Du solltest aufpassen, deinen Mitmenschen nicht ständig auf die Füße zu treten...nicht nur beim Tanzen."

Nun blickte Alboran doch etwas verdutzt. Diskret schob sie ihm die Klinge unter den Ärmel, zwischen Handgelenk und Strick. Er musste doch spüren, dass in Wahrheit sie es war, die vor ihm stand. Haldana schalt sich eine Närrin. Warum sollte der Karzerkönig auch nur das Geringste von ihren geheimen Begabungen ahnen? Von ihrem Doppelleben, in - oder besser gesagt zwischen zwei Welten?

Katz war nur noch ein verzerrter Schatten, im unsteten Laternenlicht.

Haldana packte den völlig verwirrten Gefangenen, legte einen Finger auf den Mund und schob ihn den Gang hinein.

Der Weg führte nun immer steiler nach unten.

Korwids Leib musste husten. Der Medicus zog sein Taschentusch hervor, würgte und keuchte zum Peraineerbarmen, ohne dass Haldana den geringsten Einfluss darauf hatte. Als er den Stoff von seinen bebenden Lippen entfernte, prangte dort ein großer Blutfleck. Alboran musterte ihn, mit so etwas wie Verstehen in seinem Gesicht. Offenbar glaubte er, dass Korwid nichts mehr zu verlieren hatte. Womöglich sein Seelenheil bei den Götter aufbessern wollte, kurz vor dem Ableben. Ganz abwegig war das ja nicht.

Katz war stehen geblieben. "Ich fürchte, wir müssen durch die Pilzhöhle...alles in Ordnung, Herr Medicus?"

Haldana nickte. Sie konnte deutlich fühlen, dass Korwid Alfengrund krank war. Sein Körper fühlte sich schwach an, ausgelaugt. War das der Grund, warum er ihren Geist so bereitwillig...eingelassen hatte?

Du bist die Erzdämonin. Dein Wasser hat begonnen, mich zu verwandeln. In ein Gefäß, dass deiner würdig ist.

Natürlich.

Warum hast du ihm mein Messer gegeben?

Der Große Plan, Korwid. Zweifelst du etwa an meinem Ratschluss?

Nein, Herrin. Ich gehorche, als dein untertänigster Diener.

Der Gang weitete sich etwas und führte erneut an einem Loch im Boden vorbei. Diesmal stand allerdings eine Leiter in der Öffnung.

Katz grinste: "Nun fragst du dich sicher, wie du da runter steigen sollst, Albo, nicht wahr?"

Alboran schwieg, und starrte seinen Wärter nur feindselig an. Der packte ihn und warf ihn einfach nach unten. Ein schriller Schrei, dann der Aufprall.

"Nach Euch, Meister Alfengrund!" Wieder dieser merkwürdige Blick. Tatsächlich, Korwids Leib bebte, wie im Fieber. Haldana sah nach unten. Ein grünliches Leuchten drang aus dem Loch herauf.

Sie stieg auf die Leiter, und kletterte nach unten, voller Sorge um Alboran. In der Höhle war es einigermaßen hell. Was an den grotesk geformten, grünen Leuchtpilzen lag, die überall wucherten. Sie waren groß, teilweise mannshoch. Alboran war genau in einen der Riesenpilze gestürzt. Nun lag er in den grünlich glimmenden, zermatschten Pilzresten und sah aus wie ein übergroßes Glühwürmchen.

"Da hat sich einer in die Hosen geschissen, was?!" Selbstgefällig grinsend folgte Katz nach. "Auf mit dir!"

Irgendwo in der Nähe plätscherte Wasser. Nun sah Haldana, wo sie sich befanden: eine unregelmäßig geformte Höhle, mit unzähligen Steinzähnen, die von der Decke herab ragten oder vom Boden aufragten. Tatsächlich, dort entsprang ein Bach, mitten aus dem Fels. Auch das Gestein schimmerte grünlich: Erzadern durchzogen den Kalkstein, deren graugrünbraune Farbe Haldana sofort an Aarmarians Ring erinnerte.

"Ich habe Durst" maulte Alboran und klang nun wieder wie ein verwöhntes Junkerlein. "Meine Kehle ist staubtrocken...Außerdem muss ich mich waschen."

Er darf nicht aus dem Bach trinken.

Aber warum?

Wegen dem Theriak. Der ganze Bach ist voll davon. Das Lebenselixier gebührt allein deinen Dienern, O Herrin!

Korwids Hand ging zu seinen Haaren. Er zog daran – und hielt im nächsten Moment eine ganze Haarsträhne zwischen den Fingern.

Ich habe vom Wasser getrunken, auf der Suche nach dem Brauerweib. Nun bin ich erleuchtet.

Alfengrund schniefte, und zog wieder sein Taschentuch hervor. Es war Blut, das ihm aus der Nase tropfte...Auch seine Zähne wackelten, wie Haldana nun bemerkte.

Theriak? Sie hatte auf der Knappenschule davon gehört, beim Vortrag eines Feldschers über die Geheimnisse der Wundheilung. Theriak, das war ein dämonisches "Allheilmittel" ihrer Feinde, das früher mal in Bergwerken in der Warunkei gefördert worden sein sollte. Angeblich verdampfte das grüne Zeug sofort, wenn es nicht mit Eis und Schnee gekühlt wurde. Nein, das schimmelfarbene Erz war kein Theriak, und ganz gewiss kein Heilmittel. Eher Wundbrand in Sumus Leib. Seuchenerz, so hatte Hesindian das verfluchte Metall genannt. Ein Unmetall, das Krankheit, Wahnsinn und Tod brachte?!! Zumindest hörte sich der Name so an.

Das Wort Erzdämonin bekam da eine völlig neue Bedeutung.

Ein anderes Geräusch drang an Haldanas (geliehenes) Ohr, zusätzlich zum leisen Plätschern des Bächleins. Ein düsteres Knistern und Knacken, das geradewegs aus der Quelle zu kommen schien, aus der Tiefe des Felsens. Überall in der feuchten Grotte leuchteten und strahlten die großen, hässlichen, giftgrünen Pilze.

Haldana wollte dem Handlanger befehlen, Alboran ja nichts von dem verseuchten Wasser zu trinken zu geben. Aber der Trollberger dachte gar nicht daran. Er schleifte seinen Gefangenen einfach weiter, den Bach entlang, nicht ohne erneuten, angewiderten Blick auf den Medicus.

Die Höhle wurde noch größer und weiträumiger. Wandgemälde tauchten im Schein der Laterne auf, deren Sinn Haldana auf die Schnelle nicht verstand. Das grüne Zwielicht war allgegenwärtig. Der Bach weitete sich zu einem unterirdischen See. An seinem Ufer hatten sich Menschen versammelt, ein Kessel stand auf einem Feuer, inmitten eines Magiersterns. Gefangene waren an Steinsäulen gekettet. Dort stand Gerrich, in Gestalt des graubärtigen Edelmanns, neben Hesindian, der gut an seiner Robe zu erkennen war. Über das Gesicht hatten sie ihm einen Sack gezogen, nur seine weißen Haare lugten hervor. Der unglückliche Magus lag, an Händen wie Füßen gefesselt, neben dem dampfenden Kessel, mit aufgerissener Robe. Sisa Brundel, die Schwarzhexe, beugte sich wie eine Vampirin über ihn und hielt ihm die Hand auf die Brust.

Ihr Kopf ruckte hoch. "Über mehr astrale Kraft verfügst du nicht, du Praiostagszauberer? Und dafür unterbreche ich meine Zeremonie?" Sisa spuckte aus, geradewegs auf den Sack.

Hesindian stöhnte angeekelt auf. Immerhin, er schien noch am Leben zu sein.

Sisas Blick wanderte umher und entdeckte die Neuankömmlinge.

"Ah, meine getreuen Ritualwachen bemüßigen sich, auch mal wieder vorbeizuschauen? Wo kommt ihr denn her? Habe ich nicht gesagt, ihr sollt euch vom Seuchenerz und der Giftquelle fernhalten? Unser Medicus schaut schon ganz blass aus. Oh, stimmt, bei Korwid habe ich es ganz vergessen. Aber dich, Katz, hätte ich für klüger gehalten." Sisas Spinnenfinger bohrte sich sich in ihre Schläfe: "Schon das grüne Leuchten macht dich wirr im Kopf. Treibt dich auf den schnellsten Weg in den Wahnsinn...Und was glaubt ihr eigentlich, warum es Loderbach heißt? Manche der erzhaltigen Steine fangen das Brennen an, wenn man gegen sie tritt, im giftgrünen Feuer… Aber ich predige gegen den Wind, fürchte ich. Nur her mit dem kleinen Alboran, nur her mit ihm!"

Haldana musste zugeben, dass der Junker sehr gefasst und tapfer in sein Verderben ging. Aber womöglich war er es einfach nicht gewohnt, von Rangniederen geopfert zu werden. Womöglich war es auch die verborgene Waffe, die seinen Mut steigerte.

"In Praios Namen, was ist das hier für ein sündhaftes Tun!" Dumpf hallte Alborans Stimme von den Decken und Wänden wider. "Haltet ein, oder..." Eine wirklich harte Kopfnuss hieß ihn schweigen.

"Verzeiht, Herrin Sisa, die Verzögerung." Der katzbuckelnde Söldner bereitete seinem Spitznamen alle Ehre. "Es gab einen Erdstoss und einen Deckeneinsturz, deswegen mussten wir leider einen Umweg nehmen."

Sieh an, von Alborans Flucht erzählt er nichts, dachte Haldana.

Sisa musterte den Räuber. "So zerschlagen, wie deine Visage aussieht, könnte das glatt stimmen."

"Diese Haldana von Schlotz ist auch tot. Ist dem Steinschlag zum Opfer gefallen."

"Wie schade...da ist unser Golo ja schon wieder Witwer." Sisa lachte grell auf. "So kurz nach der Hochzeit, wie tragisch."

Hesindian stöhnte verzweifelt auf und wendete sich in seinen Fesseln.

"Keine Sorge, du Kretin von einem Hofmagier. Oder soll ich dich lieber Alriks Hofhund nennen? An die Kette gelegt bist du ja schon. Der Rest von deiner Bande wird auch noch zur Strecke gebracht...von den untoten Soldaten! Unser Sieg wird vollkommen sein!" Sisa rammte Hesindian die stumpfe Seite des Hexenbesens in den Rücken. Dieser unterdrückte einen Schrei.

"Apropos gegen den Wind gesprochen", meldete sich Gerrich zu Wort. "Wie schaffen wir es nun, die Grüne Wolke nach Rommilys zu treiben? Nun, wo sich dein Luftsklave...in Luft aufgelöst hat?"

"Dann muss ich eben improvisieren", fauchte Sisa Brundel. "Der Wind beginnt zu drehen und weht bald nach Westen. Ich werde die Wolke auf dem Besen begleiten und versuchen, sie noch ein wenig Richtung Rommilys zu lenken...Auch wenn das mehr Kraft kosten wird als geplant. Aber nun ist es erst einmal an der Zeit, die Wolke zu neuem, unheiligen Leben zu erwecken. Gerrich, verzeih mir, aber ich denke, wir werden nach Titeln und Rangfolge vorgehen. Also bei den Opferungen doch mit Seiner Wohlgeboren anfangen." Die Hexe zückte ein Stilett und warf es vor Korwid-Haldana auf den Boden. Ein kurzer Fingerzeig, und die geflammte Klinge glitt geradewegs vor die Füße des Medicus.

"Lass den Bastard in den Kessel ausbluten. Ich möchte sehen, dass du wirklich mit Begeisterung bei der Sache bist, Korwid."

Der Medicus begann wieder zu husten, Fieberschauder durchzuckten seinen ausgemergelten Körper. Auch Haldana fühlte sich alles andere als wohl in ihrem, nein, seinem sterbenskranken Leib.

Erneut bebte der Fels. Einige kleinere Stalagtiten brachen ab, wie Eiszapfen, und zersplitterten am Höhlenboden. Der Pechvogel Hesindian schrie auf, als er getroffen wurde.

Haldana wich ein wenig ins Dunkel zurück. Erst ein kalter Grufthauch in ihrem Rücken ließ sie innehalten.

"Sieh an, Haldana, sollten wir uns am Ende doch ähnlicher sein, als ich dachte?"

Es war Golos Stimme, die da aus den Schatten flüsterte, selbst für Haldana kaum hörbar.

"Ich fürchte, unser Honigmond ist vorbei. Dein Schlussakkord war ein bisschen zu heftig. Leider. Aber in einem sind wir uns hoffentlich einig. Ich werde nicht zulassen, dass sie meinen Sohn abschlachten, wie ein Stück Vieh. Du hast ihm den Vater genommen, nun rette wenigstens sein Leben!"

 

Sind noch Katzlocher da unten?“ Tuvok konnte nichts sehen in der Tiefe. Er hatte gerade den Korb besteigen wollen, zusammen mit dem Stadtgeck, um sich in den Schacht hinab zu lassen, als das Licht unten verlosch und Kampfeslärm zu hören gewesen war. Und als es wieder hell wurde, hatte er nur gesehen, wie die Räuber den Magier gefesselt und weg getragen hatten, und dass die Soldaten, die offenbar nieder geschlagen waren, sich langsam und linkisch erhoben und in die Gänge der zweiten Sohle verschwanden. Irgendwie unwirklich hatte die Szenerie auf ihn gewirkt. Er hatte auch nicht verhindern können, dass das Seil durchrutschte und ihnen der Weg in die Tiefe ebenso abgeschnitten war wie den Gefährten unten die Möglichkeit zur Flucht genommen worden war.

Noch Katzlocher da unten?“ fragte er erneut, das vereinbarte Losungswort wiederholend.

Plötzlich war unten wieder das Aufflammen einer Fackel zu sehen. Am Boden das Schachtes, knapp zehn Schritt unter ihm, sah er eine ihm bekannte, kleine und bärtige Gestalt, die mit der Fackel in die Gänge leuchtete.

Rovik!“ rief der Jäger nicht zu laut in die Tiefe.

Endlich blickte der Angroschim nach oben. Eine zweite Gestalt kam aus einem Gang, Roviks scharfe Augen erkannten das leicht angegraute Kopfhaar des Barons.

Wo ist Haldana?“ erkundigte der Jäger sich nach seinem Schützling.

Weiß nicht“ antwortete der Zwerg. „Ist in die Dunkelheit getürmt, nehme ich an. Keine Ahnung. Dieses Raubgesindel hat uns angegriffen!“ erläuterte Rovik überflüssigerweise. „Wir kommen hier nicht mehr raus, ohne den Flaschenzug.“ stellte er fest.

Hochgeboren!“ rief Weibel Noris den Baron an. „Wie ist die Lage bei Euch? Wie geht’s meinen Leuten?“

Alrik schluckte. „Ich fürchte, nur wir beide sind übrig. Meinen Magus haben sie verschleppt. Von den anderen fehlt jede Spur. Ich fürchte, sie sind tot.“

Praiosverflucht!“ polterte der Weibel.

Bei den Alveranischen, da war Answine unten!“ schrie Praiobert, seine Stimme überschlug sich.

Die erschütterte Nachricht vom Ableben der Kameraden hatte Unruhe und Angst in die Reihen der Soldaten gebracht. Halfried raufte sich die Haare. Einige Kameraden konnten sich offenbar nur mühsam beherrschen, nicht in unsoldatisches Wehklagen auszubrechen.

Alrik hatte es nicht übers Herz gebracht, dem Weibel von der nekromantischen Wiederbelebung seiner Leute zu erzählen. Das Ableben der Soldaten war schon schlimm genug.

Wir müssen da runter!“ betonte Tuvok.

Allerdings“ bestätigte Jodokus. „Nur wie?“

Tuvok nestelte in der Ledertasche an seinem Gürtel.

Und noch mehr Leute opfern?“ Der Weibel war nicht überzeugt davon. Er hatte sich ohnehin schon weit von seinem eigentlichen Auftrag entfernt, und hatte das Ableben von vier seiner Reiter zu verantworten. Innerlich kämpfte Serdan Noris mit sich selbst. Jetzt sich zurück zu ziehen war vielleicht feig. Aber konnte er es verantworten, seine restlichen Männer, die für einen Kampf unter Tage nicht gerüstet waren, auf einen unbekannten Feind in der Tiefe loszulassen? Wollte er verantwortlich sein, wenn der ganze Trupp sein Leben hier ließ? „Wir sind einmal dem Gegner in die Falle gegangen. Das soll kein zweites Mal passieren. Ohne einen guten Plan werde ich keine weiteren meiner Mannen riskieren!“

Der Weibel legte sich fest, hielt sich jedoch noch ein Hintertürchen offen. Aber es wäre fraglich gewesen, ob er seine Leute zu einem offensichtlichen Alveranskommando hätte befehligen können. Seine Mannen würden ihm zu Recht entgegnen, nicht mehr im Perricumer Land zu sein und weiterhin, dass der Deserteur bereits gefallen sei. Weitere Räuber zu verfolgen, damit hatte er seinen Befehl schon etwas ausgedehnt. Zu weit, um dafür den Verlust von vier Soldaten begründen zu können. „Außerdem kommen wir ohnehin nicht da runter.“

Tuvok war es egal, ob der Weibel mit seinen Leuten mitkäme oder nicht. Als Jäger war er es ohnehin nicht gewohnt, mit einer so großen Truppe unterwegs zu sein.

Rovik!“ rief er. „Ich lasse dir jetzt meine Angelschnur runter. Binde das Seil vom Flaschenzug dran!“

Langsam trallerte die Schnur nach unten. `Es war doch immer gut, einen Waldläufer dabei zu haben,´ dachte Alrik. `Selbst unter Tage.` Mit einem phexischem Grinsen sah er zu, wie der Zwerg die unterschiedlich dicken Seil und Schnur verknotete.

Damit hat der Feind nicht gerechnet. Vorteil für uns“ wollte Alrik die Stimmung wieder aufhellen. Aber er konnte es nur zu gut nachvollziehen, dass die Soldaten nach dem Tod von vier Kameraden sicher nicht in der Stimmung für eine weitere Höhlenexpedition waren. Er konnte auch einschätzen, dass die Angst die Kameraden in die Meuterei treiben konnte. Er konnte Serdan verstehen, dass er nicht mit draufgängerischem Ungestüm reagierte, sondern einen Befehl, weiter in die Tiefe vorzudringen, nicht geben mochte.

Tuvok scherte sich erst einmal nicht um Serdan und seine Leute. Vorsichtig zog er die Angelschnur ein, an der, anders als sonst, kein Fisch hing, sondern das Seilende des Flaschenzugs. Das über eine Seillänge von zehn Schritt durchaus ein stattliches Gewicht hatte. Aber die Angelschnur hielt. Endlich griff Tuvok nach dem Seil und zog es zu sich herauf. Er knotete die Angelschnur wieder ab und fädelte das Tau um die obere Umlenkrolle. Dann ließ er es wieder ab. Rovik brauchte er nicht weiter zu instruieren. Der Zwerg führte das Tau durch die Umlenkrolle am Lastkorb, und knotete es dann erneut an die herunter gelassene Angelschnur. Tuvok zog die Schnur abermals ein und führte es durch die zweite Rolle. Es war nicht schwer, den Flaschenzug wieder instand zu setzen.

Alrik hatte das Zaudern des Weibels mitbekommen. Der Baron der Rommilyser Mark hatte keinerlei Befehlsgewalt über die Grenzreiter einer anderen Provinz. Dass sie mit gekommen waren, um die Räuber zu fassen, zu denen der Hüne gehört hatte, hatte er ihnen nahe gelegt, jedoch konnte er es nicht verdenken, wenn der Weibel entschied, dass ein weiteres Eindringen in die Mine nicht vom Auftrag abgedeckt war. Das war noch nicht einmal feig zu nennen. Vielleicht sogar eher umsichtig. Es war zudem nicht ausgemacht, dass überhaupt jemand von ihnen das Bergwerk lebend wieder verließ. Und dann wäre die Kenntnis um den Urheber der Verschwörung verloren.

Ohnehin… es war nicht zuletzt auch seine Mitverantwortung, dass vier markgräfliche Soldaten ihr Leben verloren hatten. Man würde ihn dafür nicht zur Rechenschaft ziehen. Vermutlich aber sehr wohl den Weibel. Man würde ihn fragen, warum er außerhalb der eigenen Provinz eigenmächtig auf Räuberhatz gegangen war. Ohne Verluste und mit erfolgreicher Jagd, da wäre er vermutlich ein Held in der Truppe gewesen. Aber so war es etwas anderes.

Ohnehin müssen wir die Obrigkeit verständigen.“ rief er nach oben. „Vielleicht brauchen wir Verstärkung.“

Serdan nickte und brummte zustimmend.

Ich lasse Haldana nicht im Stich“ widersprach Tuvok“

Ich auch nicht, das steht außer Frage.“ ergänzte Jodokus, der Alriks Gedanken und Serdans Nöte verstand. „Aber wir müssen erstens diesen Schacht mit dem Transportkorb besser absichern, und wir müssen vorsorgen für den Fall, dass wir scheitern.“ Jodokus brachte diese beiden Aufgaben bewusst ein. Er war im Verhandeln erfahren genug um zu wissen, dass der Weibel seine Leute nicht weiter in die Tiefe schicken konnte, dass der Weibel am besten gesichtswahrend mit einer anderen Aufgabe betraut würde. Und dass es schlicht ein Ding der Unmöglichkeit war, den Soldaten nach dem Tod der Kameraden ein solches Alveranskommando zu befehlen.

Ich kann eine Botschaft nach Perricum bringen.“ bot Serdan an.

Rommilys wäre die bessere Wahl“ warf Jodokus ein. Er achtete darauf, dem Weibel keinen Befehl zu geben, sondern ihn selbst entscheiden zu lassen. Einem Befehl eines Zivilisten hätte sich der Soldat nicht gefügt. „Die Markgrafschaft Rommilys hat Spektabilität Rattel beauftragt, sich dieser Sache anzunehmen, und sie weiß von unserem Kommandounternehmen hier. Sie wird am besten wissen, was zu veranlassen ist, wenn wir nicht zurückkommen. Außerdem ist es nach Rommilys ein kürzerer Weg und Kurgasberg gehört zur Mark Rommilys.“

Ich kann einen Boten auch nach Rommilys schicken, und hier mit dem Rest der Männer den Schacht bewachen.“

Alrik, der von unten zugehört hatte, stimmte zu. Jodokus schrieb einige erläuternde Zeilen in sein Notizbuch, riss die Seite heraus und gab sie Serdan. „Gut, dann machen wir es so. Wir dringen weiter in die Tiefe vor, und wenn wir nicht zurückkommen, dann bringt diese Botschaft zur Spektabilität Rattel in Rommilys.“ Er stieg in den Korb. „Zieht den Korb ein und haltet Wache, bis wir wieder kommen. Aber, wenn ihr keine Hoffnung mehr für uns seht, oder wenn ihr euch zurückziehen müsst, dann lasst den Korb vorher wieder runter. Sonst haben wir da unten ein Problem.“ bat Jodokus die Soldaten. „Auf geht’s, Tuvok. Suchen wir die Gefangenen.“

 

Wohin sollen wir nun?“ Jodokus sah ratlos zu Tuvok und Rovik.

Immer den Schurken nach“ antwortete der Angroschim. „Eine Statue über den Boden Schleifen, das hinterlässt Kratzer. Auch wenn die Statue von einem versteinerten Magier stammt.“ Der Zwerg deutete auf Riefen und Kratzer im Felsboden. „Dort entlang!“

In der Hoffnung, dass dort, wo sie Hesindian hingebracht haben, auch Haldana ist.“ Murrte Tuvok.

Der Zwerg nickte. „Stimmt, Tuvok. Aber das ist eine Spur, die ich hier finden kann. Haldanas Lederstiefel hinterlassen auf dem Fels keine Spuren. Außer du siehst mehr als ich.“

Offenbar sah Tuvok auch keine Spuren der Bardin. Also fügte er sich dem Vorschlag des Zwergs.

 

Haldana war – einmal mehr – verwirrt. Jetzt über Golo, über… ihren verstorbenen `Ehemann`. Immerhin, im Tod zeigte er mehr Vernunft als zuvor im Leben. Hätte er sich damals gegen die Pläne Gerrichs aufgelehnt, die Sache hätte anders ausgehen können.

Oder sponn der Schiefhals irgendwelche Ränke? Wollte er sie zu irgendetwas bewegen, sie instrumentalisieren? Irgendwie hatte Haldana das Gefühl, nur noch eine Getriebene zu sein und selbst gar nicht mehr zu wissen, was richtig ist und was falsch. Nasdja, Ingram und Golo waren alle drei schon verstorben. Tot. Was brachte sie anzunehmen, dass Nasdja und Ingram auf der richtigen Seite standen? Warum sollte Golo auf der falschen Seite stehen? Und warum nahm sie überhaupt Anweisungen und Ratschläge von Toten an? War sie schon verrückt? Oder hatte sie doch richtig gehandelt?

Immerhin, Golo hatte sie gegen ihren Willen heiraten wollen, hatte ihr das Erbe stehlen wollen. Sie hätte ihn nicht mit der Laute erschlagen, hätte er bei der Entführung und Zwangshochzeit nicht mitgemacht. So war es, für sie, Notwehr gewesen.

In Gedanken schob sie die Einflüsterungen der Verstorbenen zur Seite. Hör auf dein Gefühl. Und dass Korvid, nein, dass sie Albo abstechen sollte, das käme nicht in Frage. Nur was tun? Nicht nachdenken, dachte sie… Korvid erfährt deine Pläne.

Haldana bückte sich mit Korvids Körper und griff nach dem Stilett. „Tja, Karzerkönig. Das ist wie beim Tanzen. Man muss sich von seinem Partner einfach führen lassen, dann geht es ganz leicht… Katz, komm mal her und halt ihn fest.“

Der Trollberger gehorchte und packte Albo an den Schultern, beugte ihn nach vorne über den Kessel der Hexe. „Ist es so recht?“ fragte er.

Ja. Alles bestens. Du machst das sehr gut. Ich könnte dich glatt als Gehilfen einstellen. Wenn das hier vorbei ist. Halt ihn gut fest, und sieh genau hin. Du wirst jetzt etwas lernen für den Rest Deines Lebens, etwas, was du noch nie zuvor gesehen hast.“

Haldana war wieder in ihrem Element. Einfach die Umstehenden mit Worten überschütten, dass diese vor lauter Zuhören nicht zum Denken kamen. Das war oft nicht die schlechteste Methode. So konnte auch Korwid sich nicht gegen sie auflehnen, solange sein Geist ihren Worten folgte.

Und jetzt konzentriere dich. Halte ihn gut fest, Katz, er könnte zucken. Und du, Karzerkönig, bereite dich auf den Sprung vor. Den Sprung ins Ungewisse. Man muss seinem Tanzpartner blind vertrauen, sich führen lassen. Einer führt, der andere geht mit. Anders als beim Menuett bist es nun nicht du, der sein Tanzgerät führt, sondern ich. Aber das ist hier auch kein Menuett, sondern ein Totentanz.“ Sacht berührte Haldana mit Korvids Körper den Gefangenen an den gefesselten Händen. Zufrieden stellte Haldana fest, dass Albo begonnen hatte, sich die Fesseln durchzuschneiden. Sehr gut, offenbar hatte ihr Tanzpartner aus Rommilys die vielen Hinweise inzwischen verstanden, die sie sorgsam einstreute in ihre Rede. Nun musste sie noch ein wenig Zeit schinden, bis Albos Hände frei waren, bis er sich selbst wieder verteidigen konnte.

Nun, also. Ein letztes Wort?...

Nein? Na macht nichts. Das muss auch nicht sein. Es ist ohnehin schon mehr als genug geredet. Vielleicht beginnt die große Reise besser schweigend. Es ist letztlich wie beim Menuett. Man muss nur den richtigen Zeitpunkt finden, um sich zu bewegen. Nicht zu früh und nicht zu spät. Und man muss seinem Tanzpartner vertrauen. Es wird Dir nicht wehtun. Du wirst nichts spüren. Es wird ganz schnell gehen. Ich glaube, die Zuschauer werden mehr Schreck verspüren als du.“

Nun mach schon, Korvid, und quatsch hier keine Vinsalter Opern.“ drängelte Sisa.

Natürlich, Herrin!“ bestätigte Haldana.

Haldana griff nach dem Stilett und blickte prüfend auf die Klinge. „Gut. Scharf geschliffen ist sie. Eine gute Klinge, damit niemand lange leiden muss. Katz, beuge dich ein bisschen tiefer, dann siehst du es besser. Und… eines wollte ich Dir noch sagen…“

Haldana hatte während des Blickes auf das Messer weniger dessen Schärfe betrachtet als zufrieden festgestellt, dass Albo seine Fesseln durchschnitten hatte. Der Zeitpunkt war gekommen.

Du wirst nie wieder Schlampe zu mir sagen, Katz!“

Mit diesen Worten stach ihm Haldana das Messer in den Hals. Nicht in Albos Hals. Sondern in Katz´ Hals. Katz riss die Augen überrascht auf, spannte die Muskeln an, wollte wegspringen. Seine Glieder gehorchten ihm nicht mehr, lediglich hinten über fiel er. Gleichzeitig hatte Albo seine Fesseln zerrissen und dem fallenden Räuber wieder das Schwert aus der Scheide gerissen. Dann schlug Katz auf dem Höhlenboden auf.

Und jetzt denk an Trolling.“ rief Haldana. „Der ist genauso gestorben wie du.“ Katz röchelte auf dem Boden. In großen Fontänen spritzte das Blut aus der verletzten Halsschlagader. Eine Blutlache breitete sich auf dem Höhlenboden aus und floss in den unterirdischen See.

Ein schriller Schrei drang aus Glendas Kehle. Die Räuberin zog ihren Knüppel. Than Kaelldor brüllte: „Schnappt Euch den Verräter!“ Auch Roburn sprang hinzu. Ehe Haldana zur Seite springen konnte, schlug Glendas Keule mit voller Wucht auf ihrer linken Schulter ein. Ein Tritt von hinten, jemand sprang ihr ins Kreuz. Haldana kam zu Fall. Noch im Fallen schleuderte sie das Stilett zum noch immer am Boden liegenden und gefesselten Hesindian. Dann hagelten Keule, Kurzschwert und Axt auf Korvids sterbenden Körper ein.

 

Haldana blickte auf den blutigen Körper Korvids, der ihr bis vor kurzem Zuflucht geboten hatte. Die Arme und Beine des Medicus standen in unnatürlichem Winkel vom Körper ab. Die drei Räuber hatten Korvid zu Tode geprügelt und schlugen weiter auf den kaum mehr erkennbaren Doctor ein.

Schatten bewegten sich in der Höhle. Es war kalt. Haldana fröstelte. Etwas zog an ihr, zog sie zum grünlich schimmernden See hin. Was war mit ihr los, warum? Wer zog an ihr? Panik durchflutete Haldana. Wie konnte sie annehmen, einfach so in ihrem körperlosen Zustand ungesehen ausharren zu können? Wie konnte sie ihren eigenen rettenden Körper wieder finden? Niemand hatte ihr gesagt, dass ein Geist sich genauso verlaufen kann, wie ein körperliches Wesen? Und im Dunklen würde sie genau so wenig sehen können wie zuvor in den Stunden des Umherirrens.

Dieser Sog… sie wollte nicht in den See. Warum näherte sie sich ihm dann?

Ohne einen Körper war sie völlig verloren. Glenda. Dann würde sie eben die Räuberin übernehmen. Eine andere Wahl hatte sie ohnehin nicht.

Von hinten sprang sie Glenda an. Einfach eintauchen in den fremden Körper und die Seele zurück drängen. Wie zuvor mit dem Wühlschrat.

Haldana prallte zurück, verspürte einen stechenden Schmerz – ohne sich dabei erklären zu können, wie man ohne Körper überhaupt Schmerzen spüren kann. Ein schriller Schrei – Glenda hatte aufgeschrien und drehte sich um, sah sich nach einem unsichtbaren Angreifer um, den sie nicht wahrnehmen konnte.

Wie drang man in einen anderen Körper ein? Das war mit Korvid und dem Wühlschrat doch einfach gewesen. Warum konnte sie es jetzt nicht mehr? Mit dem Wühlschrat und mit Korvid war es doch gegangen? Was war falsch gelaufen?

Fehlte die Hilfe der Sibillja? Oder war der Verstand Glendas im Vergleich mit einem Wühlschrat einfach zu groß? Gelang es ihr deswegen nicht?

Hätte Haldana jetzt einen Körper besessen, sie hätte zu zittern angefangen vor Angst. Verlor sie sich in der Finsternis und Stofflosigkeit? Was konnte sie tun?

Sie sah sich um. Immerhin, Albo war nicht mehr zu sehen. Es war ihm wohl im Tumult gelungen, zu fliehen und in die Gänge zu entkommen.

Das Ritual muss weiter gehen. Es darf nicht unterbrochen werden, sonst war alles vergebens!“ schrie Sisa, danach folgten einige unverständliche Worte, die für Haldana wie aus weiter Ferne klangen. Gerrich packte den vordersten der Gefangenen – einen der Traviapilger. Dieser schrie, von Panik erfüllt und nicht in der Lage zu irgendeiner Form der Gegenwehr. Die Schwarzhexe drückte den Unglücklichen über den Kessel und setzte ihr Ritualmesser an. Blut tropfte in den dampfenden Sud, der schon im Kessel schmorte und brodelte.

Haldana wollte sich festhalten, aber immer mehr zog es sie zu dem unheilig grün schimmernden See hin. Was zerrte da an ihr?

Nein! Hilfe!“ schrie sie. „Ich will da nicht rein!“

Doch niemand hörte ihre sie schreien. Gerrich und Sisa starrten wie gebannt auf den Braukessel. Than Kaelldor, Glenda und Roburn verschwanden in den Gängen, vielleicht verfolgten sie den fliehenden Alboran. Hoffentlich würde wenigstens er es schaffen, zu entkommen. Dann war ihr Opfer nicht vergeblich gewesen.

Eine Hand. Eine helfende Hand hielt sie plötzlich fest, ehe sie in den grünlichen Tümpel gezogen wurde. Überrascht und erleichtert sah Haldana – mit welchen Augen sah sie in ihrer Geistgestalt eigentlich? – wer ihr helfend die Hand gereicht hatte, wer sie festhielt.

Golo.

Vielmehr Golos Geist.

Immerhin hast du meinen Sohn gerettet, auch wenn es dich selbst fast das Leben gekostet hätte. Vielleicht bist du doch nicht so verderbt und böse, wie ich dachte.“

Verderbt und böse? Haldana konnte sich keinen Reim darauf machen. Wer war hier verderbt und böse?

Böse… Ich dachte, du bist böse?“ stammelte… nein, dachte sie zu Golo gewandt.

Aha. Wer hat mich gleich noch mal erschlagen?“

So gesehen... Da hatte Golo Recht.

Wer hat mich gefangen? Wer wollte mich zwangsverheiraten?“ dachte sie zurück.

Das war Gerrich, nicht ich. Gerrich wollte auch meinen Sohn töten. Und du hast ihn gerettet. Vorerst. Daher helfe ich Dir, auch wenn du es nicht verdient hast. Bilde dir nur nichts darauf ein, mein geliebtes Eheweib. Von mir aus könntest du gerne in der dämonischen Untiefe hier verschwinden. Es würde mich nicht stören, wenn die Erzdämonin deine Seele schluckt. Ist mir egal, ob du in die alveranischen oder die unalveranischen erzdämonischen Niederhöllen eingehst.“

Jetzt verstand Haldana gar nichts mehr. Bis ihr einfiel, dass Golo es mit dem Gott ohne Namen hielt. Dass ein Diener des Namenlosen eine Zwöflgöttergläubige Seele vor einer Erzdämonin bewahrte… so musste es wohl sein, auch wenn das ihr Verstand nicht wahr haben wollte.

Die Welt ist nicht so einfach in schwarz und weiß unterteilt. Ihr Anhänger der alveranischen Erzdämonen seit da einfach zu naiv“ kam die erläuternde Antwort des Golo-Geistes. Richtig. Haldana hatte vergessen, dass die Verständigung zwischen Geistern untereinander über Gedanken und nicht über Worte erfolgte. So konnte Sie auch Gedanken nicht für sich behalten. Daran würde sie sich gewöhnen müssen. Vermutlich würde sie sich daran aber nie gewöhnen können.

Angst griff nach ihr.

Was würde das für ihr Seelenheil bedeuten, von einem Anhänger des Namenlosen gerettet zu werden? Sie würde geweihten Beistand brauchen. Einen Priester der Zwölf aufsuchen müssen, sobald nur irgend möglich.

Aber dafür würde sie erst einmal überleben müssen. Seelisch wie körperlich.

Golo zog sie von dem unheiligen Tümpel weg.

Du fragst dich, warum Korvid dich eingelassen hat? Ich habe es ihm gesagt, dass er es tun soll. Habe ihm gesagt, du bist die wahre Dienerin Mishkaras. Das würde dir ohnehin besser zu Gesicht stehen, als das alberne Traviagetue. Von Mokoscha zu Mishkara ist der Weg nicht weit.“

Haldana schauderte. Man durfte den Namen der Dämonin nicht aussprechen. Galt das auch für Geister. Sie schrie. Sie schrie in tonlosen Gedanken, die nur Golo wahrnehmen konnte.

Halt die Klappe, Eheweib. Nein, Halt die Gedanken. Ich kann dein Gejammere nicht ertragen. Rette meinen Sohn, und dann verschwinde aus meinem Leben.“

Unleben, meinst du wohl“

Halt einfach die Klappe, du Zwölfgötterbuhle.“

Inzwischen hatte Golo sie weit genug weg gezogen von dem unheiligen Tümpel, so dass sie die Sogwirkung nicht mehr spürte.

Ich bring dich jetzt zurück zu deinem hässlichen Frauenkörper. Schade eigentlich, als Mann hättest du mir besser gefallen können. Ich stehe auf Barden. Vielleicht hättest du dann auch nicht so eine schrille Stimme gehabt, ein runder Bariton wäre sicher schöner als dein furchtbares Gequäke.“

Haldana nickte stumm – soweit Geister nicken können – und ließ sich vom Geist ihres Ehemannes durch die Dunkelheit führen. Ohne dessen Hilfe hätte sie nie zurück gefunden zu der Stelle, wo ihr Körper lag. Mit einem Gefühl der Erleichterung schlüpfte sie zurück. Sie fühlte sich endlich wieder lebendig, spürte ihre eigene Atmung und ihren eigenen Herzschlag wieder. Dieser Zustand zwischen Leben und Tod, den sie jetzt schon mehrmals erlebt hatte, seid der Begegnung mit der norbardischen Seherin, war nicht das Wahre für sie. Interessant, faszinierend. Aber auch beängstigend und beklemmend.

Haldana öffnete die Augen. Golo? Wo war Golo? War er weg, oder schwieg er nur?

Ein Lichtschein! Haldana sah einen Lichtschein, nicht weit entfernt, in einem Seitengang. Schnell sprang sie auf und eilte dem Licht entgegen, ehe er sich erneut entfernte und sie wieder in der ewigen Dunkelheit gefangen war, durch den schmalen Gang.

Wieder in ihrem Körper griff die Panik erneut nach ihr. Diese beklemmende Enge, dieses Gefangen sein unter Tage, das ihr so furchtbare Angst machte, schob sich ihn ihre Seele. Die Panik niederkämpfend rannte sie vorwärts, auf den Lichtschein zu. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, dass der Lichtschein auch von den Räubern stammen könnte.

Abermals hatte sie Glück. Es war das Licht der Öllampe, die Rovik trug. Alrik, Tuvok und Jodokus folgten dem Zwerg.

Mit einem Seufzer der Erleichterung umarmte sie den treuen Jäger, der ihr in die Tiefe des Bergwerkes gefolgt war.

Wenn sie hier lebend aus dem Berg heraus kam, dann würde sie den Göttern ein großes Opfer bringen müssen.

 

Alboran hatte im Laufen das Schwert aus der Scheide des fallenden Katz gezogen. Schade, dass er es diesmal nicht mit Schwertgurt und Scheide mitnehmen konnte. Sonst hätte er beide Hände frei gehabt. Weg, er musste weg. Die drei Räuber würden ihn einfach massakrieren.

Beinahe stolperte er, als er durch die schmale Öffnung an der Seite der Grotte hastete. Aber weit kam er nicht.Verflucht, er hätte eine Fackel greifen sollen. Wohin sollte er im Dunkeln fliehen? Das Problem hatte er schon einmal gehabt.

So ganz verstand er ohnehin nicht, was geschehen war? Woher wusste dieser sonderbare Medicus eigentlich so viel über seine Tanzpartnerin? Immerhin hatte dieser sich für ihn geopfert, hatte die Seiten gewechselt, obwohl das für ihn den sicheren Tod bedeutet hatte?

Aber Alboran hatte keine Zeit zum Grübeln. Auch die Entscheidung, wohin er fliehen sollte, wurde ihm abgenommen. Die drei Räuber, die wohl inzwischen diesen Medikus erschlagen hatten, waren ihm nachgeeilt und hatten ihre Klingen gezogen. Gut, sei es drum. Immerhin konnte Alboran etwas erkennen, dank dem Licht der Fackel, die einer der Räuber trug. Alboran hastete an einem Abzweig vorbei und wählte den schmaleren Gang, bevor er sich den Angreifern stellte. Immerhin war der Gang hier schmal genug, so dass er sich nur einem Feind entgegen stellen musste.

Alboran verteidigte sich in dem schmalen Durchgang gegen den Angreifer. Die wuchtigen Schläge, die dieser mit der Axt führte, hätte er unter anderen Umständen kaum zu parieren vermocht. Allerdings kam ihm die Enge hier entgegen. Seinem Gegner war es schlicht nicht möglich, mit der Waffe so weit auszuholen, als dass er genügend Wucht in den Schlag bekam. Mit dem Schwert, das Alboran erbeutet hatte, konnte er hingegen auch zustechen, womit er den Axtkämpfer immer wieder zurück treiben konnte.

Dennoch, er würde nicht auf Dauer seinen Standort verteidigen können. Dazu hatte sein Gegner zu viel Kraft und Ausdauer. Alboran würde ihn nicht für Lange zurück halten können.

Knapp neben seinem Ohr spürte der Friedwang einen Luftzug. Dann hinter ihm den Aufschlag eines Steines an die Felswand. Verdammt, die Frau mit der Schleuder hatte Alboran gar nicht auf dem Schirm gehabt. Aber in geeigneten Momenten, wenn sie freie Schussbahn hatte, deckte diese den Friedwang mit ihren Geschossen ein.

Alboran wage einen Ausfall. In seiner verzweifelten Lage würde reines Verteidigen ihm auch nicht helfen. Also konnte er auch ein Wagnis eingehen. Eine wirkliche Chance hatte er ohnehin nicht gegen die Drei, selbst wenn sie hintereinander stehen mussten.

`Verdammt, ich wünschte es wäre finster oder mein Vater käme!´ er dachte an Alrik. Dem Streunerbaron wäre sicher der passende Ausweg eingefallen. Dann täuschte Alboran rechts an und stieß links zu.

Der Axtkämpfer erahnte seinen Streich und pendelte den Angriff mit einer Behendigkeit aus, die Alboran bei dem stämmigen Mann gar nicht vermutet hätte.

Gib auf, du Wicht“ brüllte dieser ihn an. „Lass das Schwert fallen, und wir werden dich nur wieder gefangen nehmen.“

Das war ein ziemlich leeres Versprechen und ohne jede Verlockung. Alboran hatte ausgiebig genug gesehen, was ihn als Gefangenen des Hexers und seiner Gefährtin mit der Hörnerhaube erwarten würde. Nein, er hatte keine andere Wahl, als hier zu kämpfen, egal wie aussichtslos das war.

Der junge Friedwang nutzte die Gelegenheit und stach erneut zu. Immerhin, der Angriff überraschte den Axtschwinger. Alborans Klinge ritzte eine nicht tiefe, aber sicher unangenehme Schnittwunde in dessen linken Unterarm.

Doch er hatte seine Rechnung ohne Glenda, die Frau mit der Schleuder gemacht. Mit Wucht schlug ein Stein auf seinem linken Ellbogen ein. Alboran schrie auf, um ein Haar hätte er vor Schreck sein Schwert fallen gelassen. Mühsam konnte er den Schmerz herunter schlucken. Er zog sich tiefer in seinen Spalt zurück. Es half nichts, der Axtkämpfer folgte ihm nach.

 

Wir haben unsere Befehle“ sagte Korporal Flux. „Gehen wir weiter.“

Wenn es nur nicht so scheißkalt wäre“ maulte Answine. Zitterte sie? Oder bildete sie sich das ein.

Langsam und Schritt für Schritt drangen die vier Soldaten weiter in die Tiefe vor.

Irgendwo müssen die Feinde ja sein“ brummte Edelfried. „So viel Vorsprung haben sie ja nicht. Hast recht, ist eine Scheißkälte hier unten.“

Warum sollen wir die Männer eigentlich erschlagen?“ murmelte Rahjane. „Hätten wir doch einfacher haben können, vorhin am Schacht.“

Klappe. Befehl ist Befehl.“ wiederholte Flux, auch wenn er selbst nicht verstand, warum sie die Frau fangen und die Männer erschlagen sollten.

Langsam gingen die vier Schritt um Schritt vorwärts.

Wo ist eigentlich die Fackel?“ murmelte Answine.

Ist doch egal. Ist ja hell genug hier.“ brummte Rahjane

Hell? Von was eigentlich?“ hakte Answine nach.

Wen kümmerts. Oder siehst du etwa nichts? Auf, kein Murren. Wir müssen tiefer!“ beharrte Korporal Flux.

Ich will nicht… irgendwas stimmt hier nicht.“ Answine wollte stehen bleiben, aber ihre Füße gehorchten ihr nicht. Sie folgte Flux weiter den Gang entlang. Eine kurze Weile später gelangte die kleine Schar Soldaten an eine Abzweigung.

Flux hielt an. „Wohin?“ murmelte er

Ist doch egal?“ warf Edelfried ein. „Hauptsache tiefer. Irgendwo müssen sie ja sein.“

Oder wir gehen zurück und reden noch mal mit dem Weibel. Warum haben wir uns eigentlich aufgeteilt? Wo sind unsere Kameraden?“ Answine wollte sich umdrehen, aber ihre Füße gehorchten ihr nicht.

Die sind noch oben bei der Winde beschäftigt. Die werden schon nachkommen“ brummte Flux. „Also… rechts oder links? Oder werfen wir eine Münze.“

Links“ rief Rahjane. Die anderen schlossen sich ihrer Meinung an. Auch Answine. Seltsam, dachte sie. Warum kann ich nicht zurückgehen? Nur vorwärts?

Halt!“ rief sie.

Was ist denn?“ Flux war ungehalten.

Ich kann nicht zurück“

Wir wollen auch nicht zurück. Wir haben unsere Befehle!“ Korporal Flux blieb standhaft.

Ja. Aber dennoch.. ich kann mich nicht umdrehen, noch nicht mal wenn ich es will.“ Answine versuchte erneut, sich umzudrehen. Aber die Füße gehorchten ihr nicht.

Das ist so. Wir haben einen Befehl, und der heißt weiter vordringen. Deine Füße sind schlauer als dein Verstand“ beschied der Korporal.

Immerhin versuchte auch Edelfried sich umzudrehen und ein paar Schritte zu Rahjane zu gehen. Auch ihm gelang es nicht. Achselzuckend drehte er sich wieder in Marschrichtung. „Lass gut sein, Rahjane. Je eher wir unseren Auftrag erfüllt haben, umso schneller kommen wir aus dieser Kälte heraus.

Darüber, dass sie sich ohne Fackeln im Bergwerk orientieren konnten, dachte keiner der vier weiter nach.

Irgendwas stimmt hier doch nicht“ wiederholte Answine.

Ach, jammere nicht“ herrschte Flux sie an. „Du hast ohnehin Glück, dass der Stich vorhin nicht so tief war.“ Answine tastete ihre Stichwunde am Hals an. Die fühlte sich kalt und unwirklich an. Dann erinnerte sie sich. Das Gefecht im Dunklen. Sie war über ihre Kameradin Rahjane gestolpert, die am Boden lag. Dann hatte einer der Schurken mit seiner Klinge nach ihrem Hals gestochen. Tatsächlich, dachte sie, es war ein Wunder, dass sie noch lebte. Aber warum gehorchten ihr ihre Füße nicht? Hilfesuchend sah sie sich nach Rahjane um.

Rahjane“ stammelte sie. „Bei dir stakt noch der Bolzen in der Brust.“

Die Angesprochene fasste sich mit den Händen an die Rüstung. „Tatsächlich“ stellte sie überrascht fest. „Hat mich diese Metze mit der Armbrust doch tatsächlich getroffen. Scheint aber nicht tief zu sein. Tut gar nicht weh.“ Mit einem kurzen Ruck riss sie den Bolzen aus ihrer Brust. Kein Blut trat aus der Wunde. „Na war gar nicht so schlimm, Answine. Das heilt schon“ sagte sie und warf den Bolzen achtlos zu Boden.

Nun quatscht hier nicht rum, Mädels. Dass ihr immer was zum schwätzen habt. Wir haben einen Auftrag“ erinnerte sie der Korporal an ihre Pflicht. „Weiter gehen, Leute, es gibt hier nichts zu glotzen. Wir müssen die Männer erschlagen und die Frau gefangen nehmen. Der Meister will es so.“

Einen kurzen Augenblick war Korporal überrascht, dass er vom Weibel als Meister sprach. Oder hatte er gar nicht von Weibel Serdan gesprochen. Der Korporal zog es vor, nicht weiter darüber nachzudenken, sondern einfach nur seinen Auftrag auszuführen.

Answine“ rief Rahjane die Kameradin an. „Du blutest nicht!“

Sag ich ja, die Wunde ist nicht so tief“ antwortete diese. „Glück gehabt, genauso wie du mit deiner Schnittwunde am Hals. Wenn die die Schlagader getroffen hätte, nicht auszudenken.“

Rahjane fasste sich mit der Hand an den Hals, tastete die Wunde ab. Die Finger verschwanden bis zur Handfläche in dem mehrere Finger tiefen Schnitt.

Ich mag dem Befehl nicht folgen“ murrte Edelfried. Der Baron und der Kurze waren doch eben noch unsere Verbündeten. Warum sollen wir sie erschlagen? Habe ich da was nicht mitbekommen?“

Flux hielt inne und wollte einen Schritt auf die Kameraden zugehen, was ihm jedoch nicht gelang. Also blieb er stehen. „Jetzt hört mal mit dem Gelaber auf. Ihr verhaltet Euch ja wie die Waschweiber. Ich weiß auch nicht, was dem Baron angelastet wird. Aber Befehl ist Befehl, so ist es halt beim Militär. Also jetzt Schluss mit dem Gemaule. Je eher wir das geschafft haben umso schneller kommen wir wieder hier raus.“

Tut dir dein Schädel nicht weh?“ wollte Edelfried wissen. „Die Axt ist ja ganz schön tief eingedrungen“

Scheiße Mann“ kreischte Answine und machte einen Schritt auf den Korporal zu, um die Wunde anzusehen.

Ach was, nur ein Kratzer“ antwortete Flux.

Wäre Answine nicht ohnehin schon leichenblass gewesen, sie wäre es jetzt geworden vor Schreck, als ihr die unheimliche Erkenntnis kam. Wieder wollte sie zurück weichen, jedoch konnte sie ihre Füße noch immer nicht in die Gegenrichtung bewegen. Offenbar konnten sie nichts tun, was dem Befehl widersprach. „Rahjane, wir sind schon tot“ kreischte sie mit leichenkalter Stimme. Dann ergab sie sich in das Unvermeidliche und folgte Flux weiter in die Tiefe des Berges.

Rede keinen Blödsinn. Hättest heute Morgen weniger aus deinem flachen Valpo trinken sollen, Answine“ polterte Flux.

Du solltest deiner Gefolgsfrau glauben“ tönte da eine Stimme, die den Vieren unbekannt war. Eine schiefhalsige Gestalt stand plötzlich vor ihnen.

Wer bist denn du? Aus dem Weg oder wir machen den Weg frei!“ brüllte Flux. Er zog seine Klinge und stach zu. Die Klinge fuhr durch die geisterhafte Erscheinung.

Ich bin genau so tot wie ihr. Aber anders als ihr habe ich meinen Verstand behalten. Pech für Euch, habt ihr halt an den falschen Gott geglaubt.“

Bei Pra…“ Flux wollte den Götterfürst anrufen, doch der Name des Sonnengottes kam ihm nicht über die Lippen.

Hast Recht, schweig lieber. Ihr habt einen Auftrag bekommen? Den müsst ihr ausführen. Ihr könnt nicht anders. Das ist so bei einer nekromantischen Beschwörung. Gewöhnt euch lieber daran. Aber ihr müsst nicht mehr denken, als der, der Euch zu eurer armseligen Existenz wieder erweckt hat.“

Die vier untoten Grenzreiter blickten verständnislos. Vielmehr blickten sie genau so ausdruckslos wie durchweg seit ihrem Ableben. Dennoch folgten sie der schiefhalsigen Erscheinung. Offenbar war das dienlich dazu, ihren Auftrag auszuführen.

Ich will nicht tot sein“ kreischte Answine. Ihr Kreischen war ein tonloses Kreischen, wie sie nun bemerkte. Es kam nicht aus ihrer Lunge, ihrer Kehle, auf die sie seltsam, wie von außen herab, blickte Es war ein unhörbares und doch für ihre Mitstreiter vernehmliches Kreischen.

Verstand ist nicht Eure Stärke, klar. Das ist so, wenn der Körper magisch wieder erweckt wird zu einer unheiligen Existenz. Sieh es mal positiv, du fette Kriegspomeranze. Niemand kann dich mehr piesacken. Nichts tut dir mehr weh. Du hast es geschafft. Nimm dir ein Beispiel an deinem hübschen Kameraden… naja, hübsch war er mal, bevor er so blass wurde. Der mault nicht rum, sondern erfüllt seinen Auftrag.“ Die Erscheinung schien, so hatte es den Anschein, Flux auf die Schulter zu klopfen.

Edelfried erschrak. „Sind wir jetzt…. Untote? Oder Geister?“

Golo lachte selemisch.

Beides. Eure Seelen können erst dann Ruhe finden, wenn Eure Leiber Ruhe gefunden haben. Kurz gesagt. Mehr würde eure jämmerlichen Existenzen überfordern.“

Nu mach mal halblang, Schiefhals“ schrie Flux. „Du machst mir meine Leute verrückt mit deinen Spukgeschichten.“

Die sind schon verrückt. Also spiel´ Dich hier nicht auf. Ihr habt Glück dass ich euch hier sage, was auf Euch zukommt…“

Aber… ich will niemanden erschlagen!“ protestierte Edelfried. Der Zwerg hat uns nichts getan, und der einäugige Baron auch nicht… überhaupt, wir sind treue Soldaten des Reiches.“

Und warum sollen wir diese exzentrische Sichelbaronin mit der komischen Frisur einfangen? Was will der Meister von ihr?“

Ihr wart treue Soldaten des Reiches.“ Konterte Golo trocken. „Und jetzt haltet mal den Rand und folgt mir. Eure Seelen werden erst dann über das Nirgendmeer reisen, wenn Eure Leiber Ruhe finden. So ist das nun mal, wenn man gleich nach dem Tod auferweckt wird und ein neues untotes Leben geschenkt bekommt. Ach was, das überfordert euch. Erfüllt Euren Auftrag, und dann habt ihr Ruhe. Weiter, ihr Luschen!“

Golo hatte, während er den Untoten - nein, vielmehr den in der Nähe der untoten Leiber verbliebenen Seelen selbiger - erläutert hatte, was mit ihnen geschehen war - diese tiefer in den Kurgasberg geführt.

Es ist ganz einfach. Erschlagt jeden Mann, den ihr in den Gängen findet. Nehmt die Frau Gefangen.“ Golo zeigte mit seinem geisterhaften Finger nach vorne. „Dort sind Eure Gegner!“

 

Alboran hörte die Frau mit der Schleuder aufschreien. Im Dunkeln hinter der Fackel, die einer der Räuber hielt, konnte er nicht erkennen, was dort genau vor sich ging. Der andere Räuber, Roburn, drehte sich um und stieß ebenfalls einen entsetzten Schrei aus. Innerlich jubelte Alboran. Jemand kam ihm zu Hilfe. Das musste sein Vater mit seinen Leuten sein. Rettung im letzten Augenblick! Haldana hatte nicht zu viel Versprochen, Retter waren unterwegs!

Zwei Gestalten, die er nur schemenhaft wahrnahm, hatten Glenda, die Steinschleuderin, an den Armen gepackt und schleiften Sie nach hinten. Zwei Männer griffen den verbleibenden Räuber an, von hinten droschen sie auf ihn ein. Sicher, nicht sehr rondrianisch. Aber effektiv, dachte Alboran.

Sein Gegner drehte sich blitzschnell um und schlug mit der Axt zu. Den Angreifer, der gerade seine Klinge aus Roburns Leib zog und sich nicht verteidigen konnte, spaltete er glatt mit der Axt. Tot sank einer von Alborans Rettern nieder.

Dieser Than drosch mit der Axt auf den zweiten ein, der der unbändigen Kraft des Räuberhauptmanns nichts entgegen setzen konnte. Der junge Friedwang wunderte sich, dass sein Retter nicht aufschrie, als der Hauptmann diesem glatt den Arm unter der Schulter abhieb. Aber Alboran war beherzt genug, die sich ihm bietende Chance wahr zu nehmen und stach zu. Sein Schwert fand einen Weg unter die Schulter des Than und drang einen Spann tief ein. Rasch zog Alboran die Klinge zurück, holte erneut aus. Zugleich schlug der einarmige Krieger zu.

Der Räuberhauptmann stürzte. Scheppernd fiel die Axt auf den Höhlenboden.

Du hast nach mir gerufen, mein Sohn, und ich bin gekommen. Mit dem Letzten wirst du aber sicher selber fertig“ sagte Golo zu Alboran, wissend, dass dieser seine Geisterstimme nicht hören und ihn auch nicht sehen konnte.

Die am Boden liegende Fackel tauchte den Kampfplatz in ein schaurig flackerndes Licht.

Ein namenloser Schrecken fuhr Alboran in die Glieder, als er einen einarmigen Leichnam mit Reitersäbel auf sich zu wanken sah.

 

Haldana löste sich aus der Umarmung des Jägers. Rovik lächelte freudig die schon beinahe Totgeglaubte an. Auch Alrik war froh, dass seine Truppe fast wieder vollzählig war.

Es ist nicht mehr viel Zeit“ rief Haldana, noch ganz außer Atem. „Die Hexe hat mit dem Ritual schon begonnen. Einen Pilger hat sie schon geopfert! Aber ich kenne den Weg!“ Mit dem Licht das von Roviks Laterne ausging, erkannte sie den Weg wieder, den sie kurz zuvor mit Katz und Alboran entlang gehastet war. Verdammt, hoffentlich kamen sie nicht zu spät. Alboran war allein da unten. Und die anderen Gefangenen, es konnte jeden Augenblick zu spät sein. „Hier lang!“ rief sie erneut. „Alrik, dein Sohn ist auch da unten!“ brachte sie noch hervor.

Wie, Solalin? Was wollen die mit ihm?“

Nein, Alboran“ informierte Haldana ihn.

Alrik folgte Haldana im Sturmschritt. Sein Sohn! Er wusste weder, woher Haldana seinen Sohn kannte, noch wieso er hier unten sein sollte. Aber für lange Erklärungen war keine Zeit.

Haldana führte die Schar den Gang schräg abwärts, zu dem Loch, durch das Katz vor nicht einmal einer Stunde Alboran in die Tiefe geworden hatte.

Es sind nur zwei Schritt“ erläuterte die Bardin. „Aber da unten ist die Höhle, in der die Hexe ihr Ritual vollbringt. Ich befürchte, sie ist so gut wie fertig.

Tuvok nahm sein Seil von der Schulter und band es an einer Sanduhr im Kalkstein fest. Dann warf er die Seilrolle in die Tiefe. Furchtlos ging er voran, beide Füße gegen die Felswand gestemmt, die Hände fest am Seil. Für den Jäger wie seine Begleiter, die am Rand eines Gebirges lebten, keine Herausforderung.

Hält!“ rief Tuvok nach oben. „Die Wand ist trocken und griffig, Alles klar hier.“

Die Gefährten folgten.

Haldana deutete an, leise zu sein. Es war nicht mehr weit zur Tropfsteinhöhle mit dem unterirdischen Loderbachsee. Aus der Dunkelheit waren unerkennbare Geräusche zu hören. Klirren von Metall, Rufe, eine singende Stimme, Klackern von Steinen, alles durcheinander. Mit eiligen Schritten, soweit es sich mit einer leisen Fortbewegung vertrug, eilten die Gefährten voran.

`Wenn ihr in die Seegrotte kommt… die ist einsturzgefährdet´ flüsterte Ingram Haldana zu.

Haldana seufzte. „Schön, dass du auch wieder da bist.“

Alrik, der neben Haldana die Schar anführte, erblickte zu seiner Linken in einem schmalen Spalt – aus diesem klang das Klirren von Metall – nahm den leisen Einwurf der Bardin nicht wahr. Stattdessen drang er in den Spalt vor, aus dem die Kampfgeräusche kamen. Kurz entschlossen folgte die Bardin, musste dann aber stehen bleiben, der Gang vor ihr, der von einer am Boden liegenden Fackel erleuchtet war, war zu schmal für zwei Kämpfer.

Alrik erblickte die schaurige Szenerie, den untoten Leichnam des Grenzreiters, der noch vor wenigen Stunden ihm in das Bergwerk gefolgt war, zu einer unheiligen Existenz gezwungen, eine lebende Seele attackieren, die sich verzweifelt mit einem Schwert wehrte.

Alboran!“ rief Alrik überrascht aus.

Dann stach er mit der Klinge zu, und erlöste damit gleich zwei Menschen aus ihrer Not. Seinen Sohn Alboran von dem Angreifer, und diesen selbst von seiner unheiligen Existenz.

Mein Sohn!“ rief Alrik.

Alboran hastete an seinem Vater vorbei, auf Haldana zu. „Ich dachte du bist tot!“ brachte er hervor und umarmte die überraschte Binsböckel stürmisch. Haldana seufzte kurz auf. Der Baronssohn war ihr schmerzhaft auf den Fuß getreten. Wieder einmal.

"Oh, entschuldige."

"Ist schon gut, Alboran. Einen Moment lang dachte ich, du überlebst das Ganze nicht, da unten in der Höhle."

Alboran sah Haldana erstaunt an, die sich gerade auf die Zunge biss.

"In unserer kleinen Höhle", fügte die Bardin eifrig hinzu, nicht ohne sinnliches Lächeln. Es würde ihr schwer fallen, dem Karzerkönig Dinge zu erklären, die sie selber kaum verstand. "Ein Stein hat mich wohl am Kopf getroffen... kann mich nicht so richtig dran erinnern...vielleicht lag es auch am Luftmangel." Sie griff nach einer Schramme unter ihren Haaren. "War einen Moment lang nicht ganz bei mir." Haldana sprach Garethi, wohl wissend, dass Alboran den "bäurischen" Schwarzsichler Dialekt weder sprach noch gänzlich verstand - und auch nicht sonderlich schätzte, wie er in Rommilys mal kundgetan hatte.

Besorgt griff der Knappe nach der Strähne. "Lass mal sehen..."

Alrik, der völlig verwirrt war, hatte sich wieder gefangen. Er nahm Roviks Laterne an sich und leuchtete dem jungen Mann ungläubig ins Gesicht (nicht ohne irritierten Seitenblick auf Haldana, die immer noch versonnen lächelte). "Träume ich? Das ist doch nicht möglich? Alboran...was machst du hier, beim Heiligen Assaf?"

Der Mondschatten packte seinen "Adoptivsohn" an der Schulter. "Bist du nur eine Illusion, die uns dieses verfluchte Bergwerk vorgaukelt? Du solltest eher...im Güldenland sein, oder auf Uthuria...aber nicht hier!"

"Sie haben mich verschleppt, Vater...in Rommilys...Ich weiß nicht warum. Was sind das für Leute? Banditen? Beschwörer?"

"Ja. Beides. Eine längere Geschichte. Sie wollen Chaos stiften, in der Stadt… ein entfernter Verwandter von uns ist auch beteiligt, Gerrich von Rommilys." Stolz blickte der Friedwang auf den blutbesprenkelten Nachkommen. Den Namen "Golo" erwähnte er besser nicht. "Du hast dich wacker geschlagen, mein Sohn. Für dein erstes Gefecht. Doch wirklich… bei meinem ersten Untoten konnte ich mich kaum rühren vor Schreck..."

"Hab schon Tote gesehen, in der Wildermark. Auch ein paar wandelnde Tote." Alboran wunderte sich, wie ruhig er klang. Völlig reflexartig hatte er die lange eingeübten Hiebe und Stiche ausgeführt, als wäre zur Abwechslung er der Flinke Ferdoker und nicht der Kämpfer aus Fleisch und Blut. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass ihn das erlebte Grauen erst später einholen (und nie mehr verlassen) würde. Noch fühlte sich alles völlig unwirklich an, als wäre er in den Schaukampf auf einer Theaterbühne gestolpert, in eine völlig fremde Aufführung.

"Auch nicht schlimmer als das, was Is...unseren Leuten in Gießenborn passiert ist" fügte er mit kratziger Stimme hinzu.

"Natürlich, Albo, natürlich" Alrik leckte nervös über seine trockene Lippen. "Bist du verletzt? Alles in Ordnung?!"

"Ist nicht mein Blut… bis auf die Hand. Ist aber nur ein Kratzer."

"Hast Glück gehabt. Du solltest dich jetzt besser hinter mir halten.."

"Kommt gar nicht in Frage, Vater...ich bin kein Feigling..."

"Du tust, was ich dir sage." Der Baron von Friedwang klang barsch, aber auch besorgt. Verdammt, das hätte nicht passieren dürfen, dachte er. Nicht Alboran. Nicht mein Sohn. Nun würde er doppelt aufpassen müssen. Er übergab dem Zwergen wieder die Laterne.

"Das da unten sind keine Gegner, die man allein mit dem Schwert besiegen kann...selbst wenn es so wäre...es ist kein Spiel. Hast du gesehen, was mit Hesindian geschehen ist?"

Albo zuckte mit der Schulter und merkte nun, wie seine Knie zitterten.

"Albo?"

"Ja?"

"Ich will dich nicht verlieren...also wirst du unsere Nachhut bilden, ist das klar? Jodokus, hab bitte ein Auge auf ihn..."

Der Patrizier nickte, auch wenn er kaum weniger verwirrt ob der unerwarteten Begegnung wirkte als Alrik. Sein Blick ging zwischen Haldana und Alboran hin und her.

"Ich kann selber auf mich aufpassen. Du hast es doch gerade selbst gesagt." Alboran klang schon wieder aufsässig, wie ein ungezogener Junge.

Dann bebte der Fels erneut. Es war, als habe ein gewaltiges Herz zu schlagen begonnen, ein Herz aus Stein.

 

Hesindian blinzelte, als grünliches Licht in die Schwärze drang, die ihn schon seit geraumer Zeit umgab. Eine übelriechende, selemische Finsternis, ohne viel Luft. Den Sack hatten sie genau über seinem Mund festgebunden, so dass kein Zauberspruch über seine Lippen dringen würde. Was dem freien Atmen auch nicht gerade zuträglich war.

Egal, er hatte ohnehin keine astrale Kraft mehr. Diese Sisa hatte sie ihm gerade ausgesaugt, ein Gefühl, das kaum weniger scheußlich gewesen war als ein Dasein als hilflos über den Boden scharrende Statue. Die Rückverwandlung war das eigentlich Grausame gewesen: ein durchaus schmerzhaftes "Auftauen", das einige Herzschläge in Anspruch genommen hatte. Die Zeit hatten sie genutzt, um ihn in derische Bande zu schlagen. Mit Schaudern dachte Hesindian an den Moment, als Sisas Klauenhand sich auf seine nackte Brust gelegt hatte, genau über dem wie verrückten schlagenden Herz. Es war, als hätte eine Giftspinne auf seiner bebenden Haut Platz genommen. Das gute Reisegewand hatte sie ihm ebenfalls zerfetzt, mit ihren monströsen Fingernägeln.

Nun war er leer und ausgebrannt, was seine magische Energie anging. Nicht, dass es mit seinen körperlichen Kraftreserven viel besser aussah. Zu allem Überfluss hatte auch noch Sumus Leib gebebt, und ihn irgendein spitzer Stein von der Höhlendecke getroffen, wuchtig am Oberschenkel. Immerhin, die Fesselung hatte ihn sogar geschützt - und der Stalaktit das Seil beschädigt. Nun drückte er beide Beine auseinander und sprengte den zerfaserten Strick. Zwar war er immer noch an Händen und Füßen gebunden, aber deutlich beweglicher als vorher. Hesindian Silpho ya Phaitos - der große Entfesselungskünstler!

Er versuchte auch die Klammern um seine Hände und Füße zu lockern, was aber kaum gelang. Wenigstens war jetzt ein kleiner Lichtschimmer zu sehen (und aufgeregtes, verzerrtes Stimmengewirr zu hören, das er unter dem Sack nicht recht verstand. Eine Männerstimme schrie irgendwie was von "Schlampe", "Katze" und "Trollen." Seine Feinde schienen abgelenkt zu sein, sehr gut).

Das Licht am Ende des Tunnels könnte auch das Feuer eines entgegen kriechenden Drachen sein.

Die alte Zwergenweisheit kam ihm in den Sinn. Aber, nein, er hatte Glück: Dort wo ihn Sisa angespuckt hatte, befand sich nun ein faulig riechendes Loch, garniert von grünlichem Schleim. Hesindian musste seinen Kopf weg drehen, um nicht selbst mit dem ätzenden (faulenden?) Zeug in Berührung zu kommen. Eine seiner Haarsträhnen stank schon danach.

Dafür hatte ihm der Schleimbatzen ein wunderbares "Zyklopenauge" im Stoff beschert, mit dem er zumindest ein wenig von seiner Umgebung wahrnahm. Geschrei war zu hören, außerdem waren schnelle Bewegungen zu sehen - womöglich wurde in der Höhle gekämpft? Neben ihm, auf Kopfhöhe, kroch eine kleine, schleimige grüne Schnecke und hinterließ eine dunkle Spur im Höhlenboden. Hesindian blickte erstaunt. Wie hatte Alrik den daimoniden Parasiten genannt: ein Morfunello? Womöglich war Sisa selbst von diesen Tlalucswürmchen befallen?! Ja, nun erinnerte er sich. Als die Paktiererin die Hand auf ihn gelegt hatte, um seine astrale Kraft zu räubern, da hatte er für einen Moment lang etwas in ihr gespürt... irgend eine wimmelnde, astrale, chaotische Präsenz, die nicht ihre eigene war...die Brut der Seuchenherrin...

Egal, er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Der Wanderschleim steuerte einen See an, der in einigen Schritt Entfernung smaragdfarben funkelte. Naja, zumindest faulgrünlich schimmerte, als wäre er schon dreimal umgekippt. Ächzend wälzte Hesindian sich dem Morfunello in den Weg, und bot ihm seine Fußfesseln an, zum Durchfaulen. Das ging erstaunlich gut, und sogar schnell, auch wenn sein Robensaum ebenfalls zu verrotten anfing, außerdem das Leder der Schuhe. Dafür waren die Füße nun frei. Nun sah er, dass ein Stilett neben ihm lag, aus welchem Grund auch immer - das schickten die Götter! Der Magier zog die Klinge mit dem Fuß zu sich heran. Hesindian verzerrte das Gesicht, als ihm die scharfe Schneide die Handgelenke zerschrammte, aber Satinav war gerade nicht auf seiner Seite. Ohne Rücksicht auf Wunden oder Schmerzen befreite er sich aus der Fesselung. Dann riss er sich den Sack vom Kopf. Luft, endlich wieder Luft...nicht frisch, aber dafür reichlich vorhanden.

Der Anblick, der ihn nun traf, war abscheulich. Sisa drückte einen der ohnmächtig stöhnenden Traviapilger über den Hexenkessel und schlachtete ihn wie ein Huhn. Dann stieß sie seinen zuckenden Körper beiseite, der noch immer Blut verspritzte. Verschwenderisch war diese Mörderin auch noch!

Der Graumagier sackte für einen Moment zusammen, als sein eigenes Blut in die Finger und Zehen zurückkehrte. Hesindian blickte sich um, während er die Reste des Stricks von seinen Händen löste. Dort lag Nasrûlgin, sein treuer Stab, auf einem Stein. Daneben saß Sisas Kröte, gluckste und schluckte mit feistem Hals vor sich hin. Der Magus hob gebieterisch die Hand, um das magische Holz herbeizurufen, wie gewohnt - und merkte, dass er völlig "blank" war. Der Apport versagte.

Wieder hatte er Glück. Sisa und Gerrich waren vollauf damit beschäftigt, den sich heftig wehrenden Dormarian loszuketten und herbei zu zerren. Einige Fledermäuse hatten sich in die Höhle verirrt und flatterten aufgeregt umher. Nein, sie hatten sich nicht verirrt. Die hässlichen, verkrüppelt wirkenden Viecher schien der Blutgeruch anzulocken. Auch einige Ratten huschten heran, schnupperten, witterten.

Ein weiterer Toter lag auf dem Boden, in einer riesigen Blutlache, die in wilden Verästelungen auf den brodelnden Hexenkessel zufloss. Hesindian überlegte, wie er nun vorgehen sollte. Er hatte nur wenige Herzschläge Zeit, bevor ihn ein Fluch oder ein Kampfzauber treffen würde, das spürte er. Er brauchte erst einmal eine Waffe. Quälend langsam humpelte er auf seinen Stab zu - und schrie auf, als die fette Hexenkröte in seine Hand biss. Reflexartig holte er mit dem Stab aus, und schlug das zappelnde Warzenvieh durch die Luft.

Glibba pflatschte schwer in die kochende Dämonenbrühe, schrie jämmerlich und schien im nächsten Moment regelrecht zu zerplatzen: zumindest sahen die hochgeschleuderten Hautfetzen und die Dampfwolke so aus. Beim Immanspiel wäre das ein Dreipunkte-Treffer gewesen!

Viel Zeit für Triumphgefühle blieb dem Magier nicht. Sisa und Gerrich ließen ihren Gefangenen fallen. Die Hexe starrte erst Hesindian, dann die "Froschschenkelsuppe" im Kessel an, als wäre Praios Strafgericht persönlich über sie hereingebrochen.

Ihr Gesicht wurde nicht nur bleich (das war es eh schon), sondern kreideweiß. Infernalischer Hass wechselte sich darin ab mit blankem Entsetzen. "Gliiiibbbaaaa!!! Neeiiiin!"

Der Hexer von Rommilys reagierte als erster, und hob drohend die Faust. Einen Moment lang wurde er von den Fledermäusen abgelenkt, die sich als schwarzer Schwarm auf die Leichen stürzten. Hesindian nutzte seine Chance und versuchte einen rettenden Ausgang zu finden. Das dunkle Loch, das wie eine kleine Nebenhöhle aussah, war leider nur ein Schatten an der Kavernenwand.

"FULMINICTUS DONNERKEIL - triff und töte wie ein Pfeil!"

Hesindian wollte noch hinter einem Stalagmiten in Deckung hechten, da traf ihn auch schon Gerrichs unsichtbarer Faustschlag. Der Faustschlag eines Riesen...Schreiend verlor er das Gleichgewicht und stürzte in den Loderbach. Das kalte, übelriechende Wasser brachte ihn wieder einigermaßen zur Besinnung. Panisch umklammerte er einen aus dem Wasser ragenden Steinkegel.

Obwohl der Loderbach kaum einen Schritt tief war, wurde der Magier einfach mitgerissen, auf eine kleine Öffnung in der Felswand zu. Dann flog er auch schon nach draußen, hinaus in die Nacht über dem Kurgastal, den rauschenden Loderbachfall hinab. Mit den Händen rudernd stürzte Hesindian in die Tiefe, während sein Zauberstab an ihm vorbei wirbelte.

"Aarmaaariaaaaan!!!"

 

Domarian sprang auf und versuchte, den dampfenden Kessel umzukippen. Er wollte ihn offenkundig weg vom Wasser ausleeren, in eine kleine Senke. Da bohrte sich auch schon Sisas Ritualdolch in seinen Rücken. Schreiend stolperte der Akoluth über das erste Opfer und prallte gegen das heiße, grünspanfarbene Metall. Dumpf scheppernd fiel der Kupferkessel um. Die grüne Brühe wäre sogar einigermaßen in die richtige Richtung geflossen, weg vom Bach. Aber Sumus Gesetze schienen nicht mehr zu gelten. In grünen Lachen strömte das Gebräu "bergaufwärts", aus der Kuhle im Gestein auf den Loderbach zu. Eine der blutverschmierten Fledermäuse wurde gekocht und hauchte kreischend ihr Leben aus. Zischend wie Lava vereinigte sich die unheilige Flüssigkeit mit dem Gewässer.

In der Höhle brachen die Niederhöllen los. Der Fels bebte wie am Tag des Weltuntergangs. Schwere Steine stürzten herab, zermalmten Dormarian sowie einen weiteren der Gefangenen, zerschmetterten den Kessel und verfehlten die Hexe nur um Haaresbreite. Der See begann zu dampfen und sich linkerhand zu drehen, wie ein gewaltiger Mahlstrom. Ätzender, grüner Dampf stieg auf, eine eklige, beißende, stinkende, ölige Wolke. Gerrich zog Sisa in Deckung. Steingeschosse klatschten ins Wasser.

Immer mehr Steine kollerten und krachten herunter, bis ein großes Loch in der Decke klaffte. Die Trümmer bildeten eine regelrechte Treppe nach oben, an deren Ende ein verblüffter Zwerg mit einer Laterne stand. Hinter ihm waren weitere Gestalten zu sehen. Nur langsam beruhigte sich der Berg wieder.

Die Grüne Wolke verfestigte sich und rotierte jetzt ebenfalls, wie ein Wirbelsturm über der Blutigen See.

Langsam stieg das Miasma auf, schien mal hierhin, mal dorthin zu greifen, mit unzähligen nebligen Fühlerchen, Beinchen, Tentakeln - und nach einem Weg ins Freie zu tasten. Der Gestank, nach Schwefel, Verwesung, Siechenhaus und Fäulnis, hätte jeden Basilisken die Flucht ergreifen lassen.

Sisa begann sich stoßweise zu erbrechen. Ein grünlicher Schwall sprühte aus Mund der Hexe, flog auf die Wolke zu und wurde eins mit dem schwirrenden Pesthauch ihrer erzdämonischen Herrin.

Im Steinhaufen, der sich unter dem Loch in der Decke türmte, war nun ebenfalls Bewegung auszumachen. Die völlig zertrümmerten Hände der Grenzreiter-Zombies, blutig und staubbedeckt, schoben sich aus dem Schutt und räumten ihn mit übermenschlicher, nein, überderischer Anstrengung beiseite. Dann tauchten die dazugehörigen Köpfe auf, arg lädiert. Die blauroten, zerfetzten, mit Staub und Blut bedeckten Waffenröcke waren kaum noch zu erahnen. Die Untoten packten Glendas Überreste an den Armen, schlurften damit auf die Kultisten zu und ließen auf ihrem stumpfsinnigen Weg durch die grüne Wolke das eine oder andere Stückchen Räuberin fallen.

Sisa war hin und her gerissen zwischen dem Anblick ihres zerbeulten Hexenkessels und der grünlichen Lache, in dem die Überreste ihres Vertrautentieres dampften. Dem Schauspiel der unheiligen Grünen Wolke, die dichter und dichter wurde, über dem unterirdischen Loderbachsee. Und dem Anblick der verhassten Neuankömmlinge, die verdutzt über der Stelle standen, wo ein Teil der Höhlendecke eingestürzt war.

Mit hasserfüllten Kreischen deutete sie erst auf die Wolke und dann auf Haldana und ihre Gefährten: "Lass sie ersticken! Und ihr, meine lieben Gefährten der Nacht - schnappt sie, beißt sie, kratzt sie!" Letzterer Befehl galt den Fledermäusen, die zu Dutzenden an der verbliebenen Höhlendecke schwirrten.

Die gelbgrünlichen Schwaden der Wolke strömten nun gemächlich die "Steintreppe" hinauf. Tuvok legte einen Pfeil auf die Sehne, und überlegte, auf wen er zuerst zielen sollte: die bleiche Hexe oder diesen Gerrich, der gerade eine kleine Phiole aus seiner Gürteltasche hervorzauberte, mit einer rubinfarben leuchtenden Flüssigkeit. Instinktiv legte er auf den "Hexer von Rommilys" an.

Einen Moment lang wurde er durch den hochsteigenden Nebel irritiert. Der Waldläufer testete sein Glück - und sah, wie der Pfeil neben Gerrich von einem Felsen abprallte. Tuvok unterdrückte einen Fluch. Ganz umsonst war der Schuss allerdings nicht gewesen. Die Phiole fiel auf den Boden, rollte auf den See zu und verschwand im grünen Dunst. Ein Streifschuss an Gerrichs Arm vorbei, immerhin.

Dann flatterten die Fledermäuse in den Gang, halb panisch ob des Miasmas, halb hasserfüllt. Verfingen sich in ihren Haaren, kratzten, bissen, zirpten. Wisperten.

Die Gefährten zogen blank und schlugen um sich, merkten aber bald, dass sie sich im engen Gang, der hier abschüssig nach unten führte, eher gegenseitig attackierten als die Geschöpfe der Finsternis. Fluchend traten sie den Rückzug an, am Seil entlang.

Haldana hatte wieder mal die schlechteste Karte gezogen, bei diesem verrückten Boltanspiel. Die Fledermäuse stürzten sich vor allem auf sie, schlugen mit den ledrigen Flügeln, wickelten sich in ihr langes Haar, schnappten zu.

Im nächsten Moment gab der Boden nach und sie schlitterte nach unten, auf den Geröllberg in der Höhle zu. Gleich darauf war sie von stinkendem Grün eingehüllt. Schmerzhaft bohrte sich eine Felskante in ihr Knie, ein weiterer Steinblock traf ihre Seite und prellte die Rippe. Sie schrie...und atmete "Tlalucs Brodem" ein. Im ersten Moment dachte sie, es wäre ein alchimistisches Gift, was nun in ihre Lungen strömte. Aber es war vor allem beißender, widerlicher Gestank. Als wäre sie gerade in eine Dämonenlatrine geplumpst...Im nächsten Moment würde sie kotzen. Die Bardin rollte nach unten, hörte, wie sich ihr Rapier klirrend irgendwohin verabschiedete, landete selbst dumpf auf dem Höhlenboden, unweit des Sees.

Sie hustete, keuchte, würgte, erbrach sich. Aber sie erstickte nicht. Noch nicht.

Mit tränenden Augen merkte sie, dass sie unter dem niederhöllischen Dampf lag, der nun fast die gesamte Höhle ausfüllte. Im toten Winkel, sozusagen. "Fffpp...pfff..." Haldana spuckte kräftig aus und zog sich ihr Hemd über Mund und Nase, als notdürftigen Schutz.

Auf den Fingern und den Handrücken hatten sich bereits hässliche kleine Rötungen und Pusteln gebildet, aber das sollte jetzt ihre geringste Sorge sein. Haldana robbte los, ungefähr in die Richtung, wo sie ihr Rapier vermutete. Es war kaum mehr als ein hilfloses Tasten, ob ihrer verklebten Augen und dem ekligen Schleim, der ihr aus Mund und Nase floss. Schlotzerin, dieser Beiname passte jetzt wortwörtlich. Ihr Geruchssinn war längst betäubt, Peraine sei Dank.

Sie kroch durch irgendetwas Klebriges, Schlammiges, erspürte erst einen Handschuh und dann ein lebloses Bündel, auf das mehrere Steine gefallen waren.

Korvid?! Ja, es war der erschlagene Medicus. Erst jetzt bemerkte sie die große Umhängetasche an seiner Seite. Die hatte sie vorhin gar nicht bemerkt. Irgendetwas Krummes, Dunkles ragte heraus. Haldana tastete danach - und hielt die Storchenmaske des Pestdoktors in Händen. Die schickte wahrlich die Milde Göttin.

Offenbar wurde der Schutz gegen den Pestodem mit Hilfe einer samtigen Stoffhaube über den Kopf gestülpt. Die Schlotzerin überlegte nicht lange, sondern säuberte sich notdürftig das Gesicht und streifte die groteske Maske über.

Langsam wurde ihr Blick klarer, auch wenn die brillenartigen Glasscheiben vor ihren Augen nicht wirklich durchsichtig waren.

Die Welt sah plötzlich verschwommen aus. Ein kräftiger Geruch nach Kampfer, Rosenwasser, Harz und anderen Kräutertinkturen trat an ihre gefolterte Nase. Das Parfüm war eine wahre Wohltat. Haldana richtete sich auf, und merkte, dass sie die herbsüßliche Luft atmen konnte, wenn auch mit etwas Widerstand. Sie ertastete zwei Löcher an der Spitze des Storchenschnabels.

"Habt Dank, Doktor Schnabel", hörte sie sich sagen, mit dumpfer, halb erstickter Stimme. Langsam blickte sie wirklich klarer, atmete ruhiger. Dickes, öliges, fahl leuchtendes Grün hüllte sie nun ein. Sie hatte die Maske im richtigen Moment aufgesetzt: Noch einmal dieses Miasma ein zu schnaufen wäre wahrlich niederhöllisch gewesen. Einen Moment lang kämpfte sie mit erneutem Brechreiz. Nein, sich in den Schnabel zu übergeben, wie ein Storch, der seine Nahrung wieder herauswürgte - das wäre keine gute Idee.

Die Siebte Sphäre. So ähnlich musste das Reich der Gehörnten aussehen. Das flackernde, grüne Wabern, zwischen den Zähnen oder Hörnern der Stalaktiten und Stalagmiten und einem brodelnden Gifttümpel, war eindeutig nicht mehr von dieser Welt. Eine der untoten Grenzreiterinnen wankte in ihre Richtung. Beide Arme waren gebrochen, der Kopf ebenfalls verstümmelte. Ihre Gefährtin hinkte hinterher, mit zertrümmerten Bein, stürzte und kroch weiter. Dann hatten sie Haldana entdeckt und bewegten sich linkisch auf sie zu.

Hektisch atmend sah sich die "Storchenfrau" um, bis sie ihren Rapier entdeckt hatte, der matt in den Steintrümmern blinkte, die in den See gerutscht waren. Keinen Herzschlag zu früh. Der erste Schatten grapschte bereits nach ihr. Ein scharfer Hieb, und die Angreiferin fiel einfach um, sauber enthauptet. Bei der Kriecherin war Haldanas Stich fast schon ein Gnadenstoß.

Dann erspähte Haldana auch noch die kleine Phiole, in der eine orangefarbene, leicht zähflüssige Flüssigkeit schwappte. Sie hob sie auf. Nein, der Inhalt war nicht orange, eher rötlichblau.

Im nächsten Moment wurde sie mit Wucht umgerissen, das Rapier fiel ihr schon wieder aus der Hand.

Die verzerrte Fliegenfratze Gerrichs ragte über ihrem eingeengten Gesichtskreis auf. Sabber tropfte ihr auf die Maske und die Augengläser (wofür sie ob des scheußlichen Anblicks sogar dankbar war).

"Her mit dem Zaubertrank" summte der Paktierer hinter vielfach gespaltenen Augen, "das ist meine letzte Phiole, junge Dame. Der Notvorrat."

Haldana versuchte das Fläschchen an einem Felsen zu zertrümmern, aber die schwarzbehaarte Hand des Paktierers hielt die ihrige fest. In der Rechten hob der Hexer ein Stilett (die Waffe, die sie eigentlich Hesindian zugeworfen hatte) und versuchte sie zu durchbohren. Er schien allerdings verwundet zu sein, weißliches Fliegenblut rann unter dem Ärmel hervor.

Die Bardin nutzte ihren Vorteil. Sie schlug wiederum Gerrichs unförmige Fliegenfinger gegen den Stein, denen die Klinge entglitt. Mit wütendem Summen versuchte er, ihr die Maske vom Gesicht zu reißen, vor allem aber den kostbaren Trank zurück zu erobern.

"Diese Phiole habe ich teuer bezahlt, drüben in Yol-Ghurmak. Das ist mein Zaubertrank, du Miststück."

Eine Storchenfrau, die mit einem Fliegenmenschen kämpfte - ein Außenstehender hätte bei diesem wahrhaft dämonischen Anblick nur mehr das nackte Grauen empfunden.

 

Mit ungebremster Wucht sauste Hesindian nach unten, ins nachtschwarze Tal. Der Magier fühlte sich leicht, so unendlich leicht. Und so schwer, wie noch nie zuvor in seinem Leben, in Sumus erbarmungslosem Griff. Das Geröll des Loderbachs raste im Mondlicht näher und näher. Der Magier schrie zum Göttererbarmen. Sein Zauberstab schlug auf dem letzten Felsen auf, über den der Wasserfall hinweg schäumte, bevor der Bach sich in einen viel zu flachen, kiesgesäumten See ergoss. So sah also das Ende aus. Gerne hätte er noch einige Szenen aus seinem Leben gesehen. Aber vermutlich war es besser so, dass ihm nun die Zeit dafür fehlte.

Dann prallte Hesindian auf.

Hesindian schlug auf, und hatte im nächsten Moment das Gefühl, wieder nach oben zu steigen.

Natürlich, seine Seele war bereits auf dem Weg gen Alveran, kein Wunder bei dieser Fallhöhe. Oder? Zu Hesindes Paradies ging es ja wohl nach oben, in die Niederhöllen nach unten. Sagte ja schon der Name...andererseits, das Unheiligtum der Erzdämonin befand sich auch hoch über seinem Kopf.

Eigentlich verharrte er gerade, in der Schwebe. Begann so die zwölfgöttliche Verdammnis? Als ewiger Schwebezustand? Lag seine Seele bereits auf der Boronwaage Rethon? Oder deutete das leichte Schaukeln eher auf die Fahrt über das Nirgendmeer hin? Konnte man nach seinem Ableben überhaupt noch über derartige Dinge nachdenken?

Der Magier öffnete die Augen, und merkte, dass er kaum zwei Schritt über dem blockigen Geröll schwebte, über das die Kaskaden des Wasserfalls hinweg schäumten: wie ein tulamidischer Fakir, der gerade sein Publikum mit einem Zaubertrick verblüffte. Die Fetzen seiner Roben flatterten im Wind, ebenso seine Haare. Ein sanfter Sturm umbrauste seinen Körper, die Luft hatte sich unter ihm merkwürdig verdichtet, wie die Hand eines Riesen.

Eine Hand, die ihn nun sanft absetzte. Im Mondschein war der trollgroße Elementar noch undeutlicher wahrzunehmen, als es bei Tageslicht der Fall gewesen wäre: eine im sanften Blau schimmernde Silhouette, die halb unter einem sprühenden Ausläufer des Wasserfalls stand.

Hesindian stürzte ins Gras, rappelte sich auf.

"Aarmarian...Ich danke Dir...Aarmar Iama...oder wie immer du heißt."

Ihm war ziemlich flau im Magen. Die Knie zitterten, sein Herz war ein Klumpen Eis, seine Gewänder tropften wie frisch aufgehängte Wäsche am Waschtag.

So was nannte man wohl Anbandeln mit Marbo. Ein atemberaubender Klippensprung, wie beim Flug der Zehn in Al´Anfa.

Langsam wurde er zu alt für solche Ausflüge über den Felsrand. "Herrin Hesinde, auch dir danke ich für die Hilfe, die du mir in deiner unergründlichen Weisheit geschickt hast."

Nur ein pulsierendes grünliches Leuchten über ihm zeigte die Höhle an, aus der er gerade herauskatapultiert worden war. Dazu herrschte ein merkwürdiger Misston in der unheilschwangeren Luft, eigentlich mehr ein Gefühl als ein Geräusch. Wie das Pochen eines gewaltigen, aufgeregt zuckenden Herzens. Seuchenherz. Seuchenerz... Die Worte schwirrten in Hesindians gepeinigten Hirn umher.

Das Leuchtfeuer des Irrsinns dort oben musste meilenweit zu sehen sein.

Hesindian hatte nicht lange Zeit, sich an seinem wiedergewonnenen Leben zu erfreuen.

Hoch oben, am Fels, wo der Loderbachfall über mehrere Felsvorsprünge hinweg in die Tiefe stürzte, war ein

schrilles Kreischen zu hören. "Luftsklave, du wagst es! Elender Verräter!"

Sisa schwirrte aus der Höhle, mit wehenden schwarzen Haaren. Harpyiengleich saß sie auf ihrem Besen, das Gesicht von Hass, Wut und Trauer verzerrt.

"Mörder! Unhold! Tierquäler! Du sollst leiden, für das, was du meiner armen Glibba angetan hast!"

Hesindian sah sich nach einer Deckung um. Weit würde er nicht kommen, zwischen kleinen Tannen und steilen Abhängen, soviel stand fest. Sisa hatte eindeutig die bessere Übersicht.

"Aarmarian, kannst Du mir deine Meisterin vom Leib halten? Diese elende Sklaventreiberin ??!! Schmeiß sie von ihrem Haushaltsgerät runter - dann gibt sie endlich Ruhe!"

"Das wirst du nicht tun, du laues Lüftchen! Wer hat dich damals gerettet, Aarmarian? Schon vergessen?" Die Hexe schraubte auf ihrem Besen tiefer. "Pack den Zauberer, trag ihn hinauf über das Kurgastal...und dann lass ihn nochmal fallen... und nochmal... und nochmaaal!"

Tatsächlich schien der Luftgeist zu verharren, ein Brausen inmitten der Nacht. Die Zweige der Nadelbäume rauschten und bogen sich. Der Elementar wirkte unschlüssig, hin und her gerissen. Sisa landete neben Hesindian und schien zu überlegen, wie sie ihn langsam und qualvoll zu Tode martern sollte.

Hesindian erstarrte, was nicht an den Hasstiraden der Schwarzhexe lag. So etwas war er fast schon gewohnt.

Sie waren nicht zu dritt, wenn man die durchsichtige Gestalt eines Elementarherrn überhaupt als Gesellschaft werten wollte.

Von den Ruinen des Dorfes Kurgasberg her schwebte eine Schar Spukgestalten heran, die kaum stofflicher wirkten als Aarmarian: Die Kurgasberger?!!

Allerdings waren die Dörfler ziemlich blass, teilweise sogar skelettiert. Die Geisterstunde war noch nicht zu Ende...Im gespenstischen Fackellicht und hellem Mondschein rückten sie näher, einem Zwerg mit Zöpfen, Lederschürze und Hammer hinterher. War das dieser Ingram, von dem Haldana erzählt hatte? Oder war der hochgewachsene Mann mit Schnauzbart vor seinem Totenschädel der Anführer? Das Licht auf dem Berg, das ebenso wenig von dieser Welt war wie die Meute, schien sie anzulocken, wie Motten in Richtung einer Straßenlaterne flatterten. Tatsächlich leuchteten die Kurgasberger im selben daimoniden Grün wie die Grotte, als seien sie bereits Teil des Insanctuariums im Bergwerk.

Der Bärtige stutzte, zumindest kam Hesindian das so vor. "Sisa, bist du das? Aber das ist doch nicht möglich."

"Deine Tochter ist ganz schön groß geworden, Wim", spottete ein weibliches Gespenst, das eine fleckige Wirtsschürze trug, ebenso eine große Schnapsflasche in der knochigen Linken, mit einer zuckenden Made als Inhalt.

Eine pummelige, zartleuchtende Frau löste sich aus der Menge: "Meine Tochter, meine geliebte Tochter Sisa ist zurückgekehrt...? Oh, ihr guten Götter, habt ein Einsehen."

Mit weit ausgestreckten Armen lief sie auf die Hexe zu, ebenso wie der Dorfschulze. Eine merkwürdige Verwandlung schien mit den beiden Gespenstern vor sich zu gehen: bei jedem Schritt wurden sie derischer, körperlicher...menschlicher. Die Knochengestalt verschwand, das Fleisch wurde rosiger, der Blick lebendiger, sogar Tränen rannen ihnen über die Gesichter. Auch Sisa Brundel wirkte nun nicht mehr wie eine finstere Erzhexe...eher wie ein kleines, verstörtes Mädchen, das gerade bei irgendeinem dummen Streich erwischt wurde, von ihren Eltern.

Wieder ein Erdstoß, heftiger als je zuvor, der Hesindian von den Beinen riss, gefolgt von einem Grollen. Steine kollerten hie und da die Hänge herunter, kleine Bäume stürzten um. Als wäre der Kurgasberg in Wahrheit ein Vulkan, spie er nun die Grüne Wolke aus, als Eruption über den Loderbachfall hinweg. Selbst hier unten war der infernalische Gestank des Miasmas deutlich wahrzunehmen.

Die Wolke sah einen Moment lang aus wie eine hässliche, warzige Kröte über dem Tal - und weitete erst dann ihre giftgrünen Schwingen, um die nachtschlafenen Lande am Darpat zu verseuchen.

 

Haldana hielt den Zaubertrank mit beiden Händen fest und ignorierte die Fausthiebe, mit denen Gerrich sie bedachte. Sie stolperte nach hinten, als sie einen Tritt im Bauch verspürte, japste nach Luft und schlug der Länge nach auf dem Rücken auf. Eine warme Flüssigkeit rann ihr ins Auge, unter der Platzwunde auf der Stirn, wohin Gerrich geschlagen hatte. Der obere Rand der Storchenmaske war hart und kantig. Das merkte sie zuerst, danach spürte sie einen stechenden Schmerz in der Seite.

In der Dunkelheit konnte sie nicht erkennen, ob sie von einem Wurfgeschoss getroffen war oder ob sie sich eine - oder mehrere - Rippen gebrochen hatte. Der Schmerz, der ihr jäh in die Seite fuhr, konnte alles bedeuten. Ihr linker Arm lag schlaff an ihrer Seite. Hätte sie das Fläschchen mit Gerrichs Zaubertrank nicht auch mit der rechten Hand umklammert, es wäre ihr entglitten.

Dann sah sie den Felsabsatz, den sie herab gestürzt war. Anderthalb Schritt tief war sie gefallen und neben dem Loderbach zum Liegen gekommen. Da wunderten sie die Schmerzen nicht mehr.

`Wen kümmert schon die Phiole?´ dachte sich Haldana. Im Liegen holte sie aus und warf das gläserne Gefäß mit aller Kraft von sich an die Felswand vor ihr. Das Fläschchen zersprang in dutzende Scherben, die kostbare Flüssigkeit spritzte von der Wand in alle Richtungen weg. Ein stöhnender Schrei entfuhr Haldanas Lippen. Bei dem Wurf durchfuhr eine neue Welle Schmerz ihre linke Seite.

Der laute, entsetzte Aufschrei des Schwarzmagiers drang durch die Höhle. Wie ein Verdurstender in der Wüste kniete Gerrich sich hin und versuchte verzweifelt, die kostbaren Tropfen vom Boden der Höhle ab zu lecken. Plötzlich straffte sich sein Oberkörper, schlug nach vorne auf dem Stein auf. Erst jetzt sah Haldana den Pfeil, der aus dem insektoiden Leib des Magiers stakte.

Noch einmal ruckte Gerrichs Körper kurz auf. Dann hörte Haldana ein leichtes Pfeifen im selben Rhythmus, wie der Brustkorb des Sterbenden sich schnell hob und senkte. Lungentreffer. Haldana erkannte durch den grünen Dunst den treuen Jäger, der soeben einen dritten Pfeil auf die Sehne legte, zielte, schoss. Das Geschoss schlug in Gerrichs Hinterkopf ein.

Tuvok hatte die Gelegenheit genutzt, da Haldana und Gerrich nicht mehr miteinander rangen und er ohne die Schlotzerin zu gefährden, auf den Schwarzmagier anlegen konnte. Durch den giftigen, grünen Nebel hatten weder er noch die anderen Gefährten es vermocht, zu Haldana zu eilen. Allein, das Schussfeld war jetzt endlich frei gewesen.

Haldana versuchte, aufzustehen, doch kam sie nicht auf die Beine. Zu sehr schmerzte der ganze Oberkörper. Warum half ihr keiner der Gefährten? Jetzt, da Gerrich tot und die Schwarzhexe entschwunden war? Haldana erkannte ihre Gefährten nur schemenhaft hinter dem grünen Nebel.

Verzweifelt stand Tuvok am Rand der Wolke, die nur langsam mit dem Loderbach aus der Kaverne entwich, jedoch traute er sich nicht, seinem Schützling zu helfen.

Wieder stürzten einzelne Steine aus der Höhlendecke herab, fielen in den Loderbachsee und verursachten ringförmige Wellen in der Wasseroberfläche.

Wir müssen hier raus, hier stürzt noch alles zusammen!“ rief Alrik.

Nicht ohne Haldana!“ rief Tuvok. Den Gesichtern von Jodokus und Alboran war anzusehen, dass sie den Standpunkt des Jägers entschlossen teilten.

Nicht, dass Alrik die Bardin hätte zurück lassen wollen. Er hatte nur ausgesprochen, was notwendig war. Das Ritual hatte offenbar die Struktur der Mine erschüttert. Vielleicht war sie auch von vorne herein instabil durch das Wirken der Wühlschrate geworden. Aber die Kaverne konnte jeden Augenblick einstürzen.

Ein dumpfes Klong - der Aufprall von Metall auf Stein - ließ die Gefährten aufblicken. Der pragmatische Zwerg hatte seine Axt ergriffen und hackte auf die Fußketten der Gefangenen Pilger ein. Recht hat er, dachte Alrik. Da können wir jetzt wenigstens etwas tun. Die vier überlebenden Pilger waren immer noch mit Ketten an in die Wand geschlagenen Ringen gefesselt. Mit der schweren Axt auf die Kettenglieder einzudreschen, da hatte Rovik das einzig richtige getan. Durch die grüne Wolke zu Haldana vordringen konnte er nicht, aber die Gefesselten befreien, das tat jetzt Not.

Wieder schlug die Axt auf ein Kettenglied ein. Nach diesem `Kampf´ gegen die eisernen Kettenglieder würde er seine Kriegsaxt bestenfalls noch als Schmiedehammer hernehmen können, dachte der Zwerg mit einem Anflug des Bedauerns. Die gute Schneide würde diese Verwendung nicht überstehen.

Klong.

Der dritte Pilger war von der Wand befreit. Nur ein Fußring mit zwei verbliebenen Kettenglieder hatte jeder noch am Fuß. Rovik kümmerte sich um den Vierten. Alrik zückte seinen Dolch und befreite zeitgleich die Brauersfrau und ihre Kinder von den ledernen Schnüren, mit denen die Gefangenen gefesselt waren.

Die grüne Wolke zog langsam in den Spalt ab, durch den der Loderbach entschwand, und in dem zuvor Hesindian mit der reißenden Flut aus der Höhle gespült worden war.

Alboran eilte nun, da der Weg frei war, zu Haldana, während Alrik und Rovik die Geiseln befreiten und ihnen aufstehen halfen. Tuvok sicherte mit seinem Bogen die Szenerie. Sisa indes blieb entschwunden, und vom verblichenen Schwarzmagier Gerrich, ging keine Gefahr mehr aus. Mit einem verächtlichen Tritt beförderte Jodokus dessen Leichnam in den Loderbach. Dann sah er nach der Gemahlin seines Braumeisters, die sich ihre Handgelenke, nunmehr von den Fesseln befreit, massierte.

Wieder schlugen einige herabfallende Steine auf dem Boden auf. Jodokus riss die Tochter der Brauerin gerade noch rechtzeitig zur Seite, bevor ein kopfgroßer Brocken genau dort aufschlug, wo diese gerade noch eben gelegen hatte. Eine Gerölllawine folgte den Steinbrocken.

Rovik blickte auf. Haldana und Alboran konnte er hinter dem Staub nicht erkennen. „Zurück in den Gang!“ rief er aus und zerrte die Pilger mit sich. Alrik schubste die Brauersfrau hinterher, dann herrschte er die Kinder an, ihm zu folgen. „Wir müssen hier raus, solange die Gänge nicht eingestürzt sind. Raus, folgt mir! Jodokus, du gehst voran, ich bleibe als letzter, damit niemand verloren geht.“

Der Friedwanger sah sich nach Tuvok um. Der Jäger versuchte noch immer, die junge Baronin durch den Staub zu erkennen, doch es war nichts zu sehen.

Haldana!“ schrie Tuvok, aber er konnte weder Alboran noch die Schlotzerin durch den Staub erkennen. Alrik zog ihn zurück in den Gang.

Keinen Augenblick zu früh. Immer mehr Geröll löste sich von der Decke. Das Klackern der Steine hallte durch die unterirdischen Gänge. „Alrik, ohne Haldana können wir hier nicht weg!“

Mein Sohn ist auch da unten.“ erwiderte Alrik. „Aber jetzt können wir nichts tun. Sollen wir alle verschüttet werden?“

Die beiden können im Loderbach unterkommen!“ schrie Rovik. „Da ist vorhin die Hexe durch geflogen, also gibt es da auch einen Ausgang. Außerdem sah es mir dort noch stabil aus. Ich bin sicher, wir sehen sie draußen wieder. Und wenn nicht… wir können nach ihnen graben, wenn der Berg sich beruhigt hat. Aber wenn wir jetzt hier bleiben, wird niemand nach ihnen graben. Und jetzt komm!"

Rovik hatte die richtigen Worte gefunden, seinen Kameraden zum Gehen zu bewegen. Auch Alrik hatte gezögert. Sein Sohn war hier, gefangen mit Haldana hinter der Wand, die sich aus herabfallenden Steinen bildete. Und er konnte nichts tun. Aber er wusste intuitiv, dass Rovik Recht hatte, dass es die richtige Entscheidung war.

`Es ist Nacht, wenn Friedwangs Sterne scheinen´ rief er sich seinen Wahlspruch in Erinnerung. Sein Sohn war auch ein Friedwang, der Fuchsgott würde seine schützende Hand auch über ihn halten. Dann folgte er der Schar.

Rovik schloss auf zu Jodokus und übernahm die Führung durch die Gänge nach oben, zum Ausgang, wo, wie er hoffte, die Grenzreiter warteten und den Schachtkorb verteidigt hatten.

 

Alboran packte seine Verletzte Mitknappin unter den Schultern und zog sie aus dem Gefahrenbereich der herabfallenden Steine, auf dem schmalen Sims neben dem Loderbach. Er riskierte einen skeptischen Blick nach oben, aber die Höhlendecke schien hier stabil zu sein. Der Friedwang schüttelte den Staub aus seinen Haaren, der seine Haare grau wirken ließ. Dann blickte er zurück.

Bei Praios, wir sind hier eingesperrt!“ fluchte er und zeigte auf die Wand aus Geröll, Steinen und Felsbrocken, die quer durch die vormalige Kaverne verlief. „Wo sind die anderen? Wo ist mein Vater?“

Schon wieder eingesperrt?“ Haldana drehte sich langsam und mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht auf die Seite. Entsetzt sah sie, dass der Rückweg tatsächlich abgeschnitten war. Dann deutete sie auf den Bach.

Nein, wir sind nicht eingesperrt. Der Loderbach führt ins Freie. Den Wasserfall habe ich draußen am Berg gesehen. Da kommen wir raus.“ Die Schlotzerin versuchte, eine Spur Optimismus zu verbreiten und wollte aufstehen. Doch sie ließ den Versuch bleiben, als ihr eine neue Welle Schmerz durch den Leib fuhr.

Immer optimistisch, Binsböckel? Und wenn wir durch den Fluss tauchen müssen? Dass der Bach dort aus dem Berg fließt heißt nicht, dass wir dort auch hindurch kommen.

Immerhin ist die Wolke da abgezogen.“ Haldana stöhnte erneut. Beim Sprechen schmerzte ihre Lunge. „Also muss immer Luft über dem Bach sein. Keine Wolke zieht durchs Wasser ab.“

Dein Wort in Praios Ohr, Klampfin“ antwortete Alboran. „Kannst du überhaupt Laufen? Oder Schwimmen?“ Der Friedwang blickte sorgenvoll auf die Seite der Schlotzerin, an der sich das Gewand leicht blutig rot färbte. Bei dem Aufschlag musste sich die Bardin schwerer verletzt und nicht nur Prellungen zugezogen haben. Aber genauer konnte er das nicht feststellen, in dem matt flackernden Licht der Fackel.

Ich muss. Also kann ich“ sagte Haldana entschlossen. Wie um das zu beweisen drehte sich Haldana auf den Bauch und stemmte sich, mit den Händen an den Felsen abstützend, nach oben. Tatsächlich machte Haldana zwei, drei Schritte, am Loderbachufer entlang, nicht ohne sich dabei mit der rechten Hand am Fels abzustützen. Der linke Arm hing schlaff herunter.

Alboran schmunzelte. „Ist das jetzt Schwarzsichler Stolz oder Schlotzer Dickkopf? Mit einem Messer im Rücken geht der Sichler noch lange nicht nach Hause, den alten Spruch kenne ich doch. Aber Heldentum und Unvernunft liegen nah beieinander. Und jetzt sei vernünftig.“ Alboran stützte die Bardin, während er mit der Linken die Fackel hielt. Den schlaffen Arm Haldanas zog er sich vorsichtig über die Schulter, während er sie mit seinem rechten Arm umfasste und stützte. Dabei musste er im kalten Wasser des Loderbachs waten, der schmale Sims neben dem Bach reichte nicht für zwei. Aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Immerhin, nach der nächsten Kurve spürte er schon den Luftzug, der vom Ausfluss des Baches aus dem Berg her rührte. Langsam stapfte er mit der Binsböckel an der Seite vorwärts.

Im kräftig dahin fließenden Loderbach musste Alboran sich bemühen, Halt und festen Tritt für seine Füße zu finden. Erschwerend kam hinzu, dass das eiskalte Wasser ihm das Gefühl in den Füßen raubte. Kein Wunder, dass Hesindian von der Flut einfach mitgerissen worden war, zuvor.

Der schmale Felssims, auf dem Haldana Halt fand, wurde immer schmaler. Zugleich wurde das Wasser tiefer, erst reichte es Alboran zu den Knien, dann schon zu den Oberschenkeln.

Ich kann hier nicht weiter. Klettern geht nicht“ sagte Haldana leise.

Du musst in den Bach kommen. Ich kann dich durchs Wasser ziehen.“

Haldana nickte und ließ sich auf die Knie, und dann langsam in das kalte Wasser herab.

Ganz rechts ist die Strömung am schwächsten“ informierte der Friedwang Haldana. Immerhin, der Sims an der Felswand war zwar zu schmal, um darauf zu laufen, aber zum Einhalten mit der Hand war er griffig genug.

Der Bach wurde tiefer. Das Wasser reichte nun bis zur Hüfte, dann schon bis zur Brust. Zum Glück war die Strömung hier auch langsamer. So konnte Alboran sich mit der Hand gut am Sims festhalten und langsam von der Strömung voran tragen lassen. Und, im Wasser treibend, war die Fortbewegung auch für Haldana weit weniger schmerzhaft.

Weitere zehn Schritt bachabwärts war der Loderbach endgültig zu tief, um den Grund noch zu berühren. Alboran hielt sich mit der Rechten am Sims fest und mit der Linken die Fackel nach oben. Für Haldana konnte er ohne freie Hand nicht mehr tun, als sie, sollte sie mit der Strömung gerissen werden, mit dem eigenen Körper abzufangen und aufzuhalten. Aber den Göttern zum Dank gelang es Haldana, sich treibend am Felssims voran zu tasten.

Ein dunkelblauer Schimmer hob sich leicht von der Schwärze des unterirdischen Flusslaufes ab. Endlich war wieder Himmel zu sehen, wenn auch nur ein kleiner Ausschnitt des Nachthimmels über dem schwarz dahinströmenden Loderbach.

Zugleich vernahmen die Ohren Haldanas und Alborans ein Rauschen, das nichts Gutes verhieß.

Das muss der Loderbachfall sein. Der stürzt gut dreißig Schritt in die Tiefe, direkt aus dem Berg“ erläuterte Haldana. „Den haben wir im Aufstieg gesehen.“

Alboran sagte nichts. Er durfte auf keinen Fall mit der Strömung mitgerissen werden. Und… wenn Haldana sich nicht mehr am Sims halten konnte, er würde wenig tun können, dann ihr Abstürzen in die Tiefe mit dem Wasserfall zu verhindern. Immerhin, mit der Fackel konnte er den Bachlauf einigermaßen erkennen. Während auf der linken Seite der Bach rasch dahinfloss - und vermutlich auch flacher war - war der Loderbach rechtsseitig träge und tief.

Halte mal die Fackel zur Seite, in dem hellen Lichtschein kann ich den Bachlauf gar nicht weit voraus erkennen“ bat Haldana. Alboran gehorchte. Im fast stillstehenden Wasser stieß er sich von der Wand ab, schwamm, mit einer Hand die Fackel hoch haltend, hinter Haldana.

Gut so“ murmelte Haldana.

Siehst du mehr?“ fragte Alboran. Auch er hielt jetzt die Fackel ein wenig hinter seinem Kopf, bis seine Augen nicht mehr von der Flamme geblendet waren und sich langsam an die Dunkelheit gewöhnten, während er und Haldana sich an der Wand festhielten. „Wir müssen uns ganz rechts halten“ sagte er schließlich“

Stimmt. Die Strömung links schießt aus der Höhle heraus, speist den Loderbachfall. Rechts sind Felsen im Weg.“

Ein wenig Hoffnung kam in Alboran wieder hoch. Mit der langsamen Strömung ließen er und Haldana sich weiter treiben, immer leicht nach rechts schwimmend, zum Ausgang der Höhle zu.

Drei Schritt vor dem Felsentor fanden Alborans Füße wieder Halt. Steil stieg der Grund des Baches an. Rasch zog er Haldana zu sich heran, bevor diese weiter zum Loderbachfall treiben konnte.

Hier wird es flacher!“ rief Alboran ihr zu. Auch die Schlotzerin ertastete Grund unter ihren Füßen. Langsam wateten beide vorwärts, bis zum Ausgang der Höhle. Die Strömung nahm zu.

Hinter einer Reihe großen Felsbrocken, die den Loderbach nach links leiteten, kamen beide zum Stehen. Zwar strömte der Bach durch die Ritzen der Steine hindurch, bildeten kleinere Wasserkaskaden, die in die Tiefe stürzten, aber immerhin fanden Alboran und Haldana hier Halt und konnten ausharren, ohne mit dem Wasserfall in die Tiefe gerissen zu werden.

Alboran stand auf und blickte über die natürliche Reuse aus Felsgestein ins Freie. Die Fackel erleuchtete ihm das Umfeld. Nach den Tagen der Gefangenschaft genoss er die frische Luft und den Blick auf den freien Sternenhimmel über ihm.

 

Sisa! Unsere liebe Tochter! Den Göttern sei Dank, du lebst!“

Die Eltern starrten noch immer auf die Hexe, buchstäblich entgeistert. Dann ging ihr Blick hinauf zur Grünen Wolke, die sich langsam vor das Madamal und die Sterne schob, sich mal zusammen ballte, mal auseinander waberte - vielförmig wie Tinte, die in ein Wasserglas gegossen worden war. Ein wenig erinnerte Hesindian das Ding auch an eine Krake, oder aber einen Fliegenschwarm, der über einen Tümpel mal hier hin, mal dort hin schwirrte.

Der Magier blickte sich nach seinem Zauberstab um. Ah, dort funkelte der vertraute Bergkristall, zwischen vermoosten Felsblöcken, auf denen bereits winzige, kleine, grüne Leuchtpilze wucherten. Nasrûlgins Blutulmenholz war magisch, hoffentlich konnte er sich damit gegen Geisterwesen wehren. Hesindian wunderte sich selbst, wie wenig Grauen er beim Anblick der halbskelettierten, sanft vor sich hin leuchtenden Kurgasberger empfand. Nun gut, er stammte aus Brig-Lo, sein erstes Gespenst hatte er gesehen, da war er keine sieben Götterläufe alt gewesen. Eigentlich nur ein spukendes Pferd, aber immerhin. So etwas war durchaus prägend, für einen Dorfschreibersohn, der spät abends noch Gänsefutter am Ufer der Brigella gepflückt hatte, unweit des Schlachtfelds. Bei Hufgeklapper und schrillem Wiehern zuckte er heute noch zusammen.

Kurzentschlossen sprang Hesindian über das Geröll, stolperte und knickte ein. Tropfnass fischte er Nasrûlgin aus einem plätschernden Seitenärmchen des Loderbachs, fest entschlossen, sein kleines Inselreich zu verteidigen. Irgendwo hatte er einmal gehört, dass Geister fließendes Wasser nicht sonderlich mochten. Oder galt das nur für Vampire? Er würde es sicher gleich herausfinden.

Was war nun los? Wo gerade eben noch Sisa die Schwarzhexe gestanden hatte, zitterte ein kleines Kind in Bergbauerntracht, mit schwarzen Haaren und süßen Kulleraugen - ein bisschen blass vielleicht, aber durchaus herzig anzusehen. Das Mädchen schniefte und weinte. Tränchen liefen ihr über das Gesicht.

Nur der Hexenbesen und die deutliche Ähnlichkeit der Gesichtszüge zeigten, dass es tatsächlich die Dämonenbuhle war. Hesindian hatte von einem Zauber der Töchter Satuarias gehört, mit dem diese sich eine harmlos scheinende Gestalt gaben, in feindseliger Umgebung.

Der böse Mann da ist an allem schuld...“ schluchzte das Mägdelein, und deutete auf Hesindian, ganz verfolgte Unschuld. „Der wollte mir ein Leid antun...ich glaube, das...die Grüne Wolke und das Licht, das hat er herbeigezaubert.“

Unzählige Geisteraugen leuchteten in Richtung des Graumagiers. „Du wagst es, Hand an meine Tochter zu legen, du Unhold?“ Wim Brundel stemmte die Arme in die Seite. „Dafür wirst du auf dem Scheiterhaufen brennen! Es wird Zeit, dass wieder Ordnung im Reich einkehrt! Im Reich - und in diesem Dorf!“

Ingram, der Zwerg mischte sich ein: „Nein, nein, ich habe es doch erklärt...es ist ein unheiliges Ritual, das gerade im Berg stattfindet...wir müssen das Schlimmste verhindern. Sisa...sie ist nicht das, was sie zu sein scheint! Versteh doch...das ist nicht mehr das alte Kurgasberg, wie wir es kennen.“

Bislang habe ich nur verstanden, dass du uns Fremde aus dem Tiefland ins Dorf geholt hast, Ingram. Gegen jede Regel.“ Der Dorfschulze wirkte verwirrt, aber auch erbost. „Es sind Hexen, nicht wahr, die uns nun mit ihrem namenlosen Blendwerk narren...“ Wims misstrauischer Blick galt durchaus auch Sisa. In seinem bärtigen Gesicht wechselte sich Hoffnung ab mit Furcht und Zweifel. „Bist du wirklich noch meine Tochter? Praios steh uns bei gegen die Ränke des Namenlosen!“

Schau mich an, Vater, ich bin es wirklich, das schwöre ich bei allem, was mir heilig ist...Ja, es sind böse Hexen, die hinter all dem stecken! Sie wollen die Pestilenz über unser Dorf bringen...der Weißhaarige da ist ihr Anführer. Ein finsterer Schwarzmagier. Ihr müsst ihn aufhalten!“

Na, ich weiß ja nicht, Dorfschulze. Deine Tochter ist aber auch etwas seltsam in letzter Zeit...Jetzt übertreibt sie es ein wenig mit ihren Marotten, finde ich. Grad war sie noch ein ganzes Stück größer. Und älter?! Jetzt ist sie wieder geschrumpft, oder hab ich mich da etwa verguckt?“

Die Wirtsfrau deutete mit der Knochenhand den Größenunterschied an. Dann nahm sie kopfschüttelnd einen Schluck aus der Schnapsflasche, ohne auf die fette Made darin zu achten. Der underische Brannt rann ihr deutlich sichtbar in die Kehle und verschwand dann im geisterhaften Flirren ihres Nicht-Körpers. Raulinde Alfengrund schwankte bei ihren Worten. Hesindian staunte. Ein betrunkener Geist? So etwas sah selbst ein Nekromant nicht alle Tage. Wenn es nicht so elend kalt gewesen wäre, der Anblick wäre beinahe schon amüsant gewesen.

Heutzutage soll noch einer durchblicken“. Das Gespenst der Gastwirtin schüttelte den grün schimmernden Kopf. „Ich kenne Leute, die würden so etwas ebenfalls als schwarze Kunst bezeichnen. Aber gut, wir rufen ja selber schon Geister herbei, um unser Dorf vor dem bösen Wind aus dem Westen zu schützen. Statt einfach auf Alveran zu vertrauen. Finde ich auch nicht richtig, nee, finde ich auch nicht richtig... „

In der Geisterschar wurde dumpfes Gemurmel laut.

Sisa begann wieder herzerweichend zu schluchzen. „Das war der Magier. Er hat mir die Gestalt einer erwachsenen Frau gegeben...weil ihm das Pflücken von reifem Obst besser gefällt, hat er gesagt...ich verstehe nicht, was er damit meint. Aber er ist bestimmt ganz, ganz böse!! Helft mir doch, ich hab solche Angst!“

Kompliment, Eure Tochter hat eine blühende Phantasie!“ Hesindian wich etwas in Richtung Wasserfall zurück. Irgendwie hatte er die absurde Hoffnung, dass sich dahinter eine größere Höhle oder gar ein Fluchttunnel befinden könnte. Aber da war offenkundig nur zerfurchter, moosgrüner Fels hinter und neben den Wasserschleiern.

Der Vorwurf, ein belkelelischer Kinderschänder zu sein, hätte ihn auch dann hart getroffen, wenn er nicht gerade einen steilen Felsabhang von vierzig, fünfzig Schritt heruntergestürzt wäre, geradewegs vor ein Rudel Geister. Hilfesuchend sah er sich nach Aarmarian um, dessen Gestalt kaum zu erahnen war. Nur ein zartes Säuseln war aus dieser Richtung zu hören. Der Silph schien ebenfalls verwirrt zu sein, zumindest unschlüssig. Jedenfalls behandelte der Elementar seine Umgebung, nun ja, wie Luft.

Neinneinnein...ich habe es doch erklärt...es ist ein grausamer Fluch...“ Ingram meldete sich wieder zu Wort. „Ich habe alles gesehen. Wir müssen Ingerimm um Beistand anflehen. Und um die Erlösung unserer Seelen bitten!“

Erklärt? Erklärt hast du uns gar nichts, im Gegenteil.“ Wim Brundel grollte. „Vor allem...vor allem hast du Kiara und mir kein Sterbenswörtchen davon gesagt, dass unsere Tochter sich in der Gewalt eines verderbten Schwarzkünstlers befindet.“

Du hast es gehört, Geweihter! Nicht Ingerimms Reich soll geschändet werden, an meiner Tochter will sich das Scheusal vergreifen...“ Die Stimme der Frau Dorfschulzin überschlug sich und hallte zugleich geisterhaft wieder. Fast hätte Hesindian Mitleid mit den Kurgasbergern bekommen, deren Welt schon seit vielen Götterläufen untergegangen war. Kiara Brundel trug den Rock, das Mieder und den Schurz einer ehrbaren Rommilyser Bürgersfrau. Irgendwie schien sie sogar mit Ochsenwasser-Dialekt zu sprechen. Der Eindruck täuschte nicht: „Ich hätte niemals in dieses götterverlassene Nest kommen sollen“, schimpfte die erste Frau im Dorf. „Hätte ich doch nur auf meine Mutter gehört, gütige Herrin Travia! Unternimm endlich was, Wim Brundel!“

Der Dorfschulze nickte. „Meine letzte Warnung an dich, Magier. Entweder wirst du diese verdammte Grüne Wolke wegzaubern, oder...“

Hesindian zuckte mit den Schultern: „Das ist nicht meine Grüne Wolke, gütige Herrin Hesinde. Schaut euch doch mal an. Ihr leuchtet grün, nicht ich!“

Im nächsten Moment drängten die fahlen Gestalten auch schon heran, bewaffnet mit Dreschflegeln, Forken, Äxten, Hämmern.

Ein eiskalter Wind wehte Hesindian ins Gesicht. Es roch modrig, nach Verwesung und Fäulnis.

Aarmarian, das sind nicht mehr die Kurgasberger, die du beschützen solltest. Treib den Gestank des Todes aus diesem Tal aus.“ Nichts geschah.

Sie griffen an, ein geisterhafter Reigen, nein, ein Totentanz aus nichtweltlichen Waffen und nebligen Schemen. Hasserfüllte Gesichter, durchsichtig wie Glas, leuchteten matt in Wahnsinnsgrün. Verzerrte Fratzen, leere Augen, skelettierte Hände, bleiche Hände.

Nun drohte doch das nackte Grauen den Magier zu lähmen.

Aarmar Iama, du bist aus Luft. Luft ist Leben! Sie atmen nicht einmal mehr, spürst du das nicht?“

Eine Sense hauchte knapp an ihm vorbei.

Hesindian schlug mit dem Zauberstab zu, der eine Art Leuchtspur im „Sensenmann“ hinterließ.

Erzheilige Canyzeth, steh mir bei.“ Der nächste Wuchthieb galt dem Kopf, den eine Bauernkappe schmückte, mit Feder. Das Gespenst darunter zerstob ins Nichts. Einen Moment lang hoffte Hesindian, dass dieser Effekt die Übrigen zur Besinnung bringen würde. Aber die schienen den Angriff nur für einen besonders heimtückischen Zauber zu halten – und für Mord. Kalt und schmerzhaft trafen ihn die ersten Hiebe und Stiche. Hesindian spürte, wie er schwächer und schwächer wurde.

Freund Aarmars, du bist jetzt frei! Frei! Verstehst Du? Steh mir bei gegen diese Spukgestalten!“

Ingrams Stimme dröhnte: „Ja, er hat recht! Wir sind tot! Wir sind alle Geister!!! Versteht Ihr das denn immer noch nicht?! Herr der Feuers, hilf uns in der Stunde der Dunkelheit!“

Halt endlich die Klappe, elender Wicht!“ fauchte Kiara. „Du bist ja völlig verrückt geworden, Hochwürden...kein Wunder, dass es in unserem Dorf spukt! Ich sag euch, seitdem der Zwerg diese...götterlästerliche Seilbahn gebaut hat, dreht er endgültig am Rad. Wenn er nicht mit den Beschwörern unter einer Decke steckt!“

Einen Moment lang stutzten die Dörfler und hielten mit ihren Angriffen inne. Hesindian wich etwas zurück, spürte den Sprühregen des Wasserfalls. Warum zögerte der Elementar, einzugreifen? Sie hatten ihn doch befreit und kannten seinen Wahren Namen. Oder etwa nicht? Offenbar fühlte sich Aarmarian noch immer seiner Retterin von einst verbunden, und deren Dorf, das er beschützen sollte. Womöglich war ihm, als Geist, der Unterschied zwischen Lebenden und Toten wirklich nicht so ganz bewusst.

Erschlagt ihn!“ giftete die kleine Sisa. „Macht ihn endlich tot! Dann verschwindet auch die Dämonenwolke!“

Die Bauern und Bergleute rückten wieder näher.

Eine helle Stimme übertönte alles, selbst das Rauschen des Wasserfalls. Sie kam von oben.

Luftikus, mein Freund!“ erklang die Stimme Haldanas, von der Höhle herab. „Ich bitte dich, im Namen der Guten Götter, bereite diesem Spuk ein Ende. Erlöse die Kurgasberger, die nicht Luft sind und nicht Fleisch und Blut! Erlöse sie von dem Fluch des Bösen, der die Luft über diesem Tal verpestet!“

Luftsklave, das wirst du nicht tun!“ schimpfte das Hexlein. „Ich habe dich gerettet, schon vergessen? Warte nur, bis ich dich wieder in meinen Bann...“

Im nächsten Herzschlag walzte bereits ein Wirbelsturm heran, und fegte die Schar der Angreifer auseinander. Das Dröhnen war ungeheuerlich.

Hesindian wurde durch die Luft geschleudert, prallte auf den Boden, rollte über eine Wiese. Es war, als würde ein Alchimistenlabor in die Luft fliegen. Laub, Holz, Gras, Tannennadeln fegten an ihm vorbei - und Gespenster, die heulend durch die Luft geschleudert wurden wie Nebelfetzen.

Der Magier prallte schmerzhaft gegen ein Bäumchen, mit dem Rücken, und klammerte sich fest. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Sisa sich auf ihren Besen schwang und nach oben schwirrte, der Grünen Wolke entgegen. Dann flog sein Zauberstab heran, knallte gegen seine Stirn und schickte seinen eigenen Geist in die Dunkelheit.

Sisa schrie triumphierend, und war wieder das kleine Mädchen von damals, wie sie breitbeinig auf dem Besen kauerte, und der Flugwind an ihr vorbei brauste. Aarmarian war beschäftigt, sehr gut, und dieser Magier Hesindian lag reglos neben einer Tanne. Den würde sie sich später vorknöpfen.

Sie kreiste höher und höher und spürte den kräftiger werdenden Ostwind. Die stete Brise begann, die Grüne Wolke ungefähr in Richtung Ochsenwasser treiben. Sie musste sich nur ein klein wenig auf die dämonische Entität konzentrieren, und den Kurs korrigieren, um sie aus dem engen Tal herauszubekommen. Die Rommilyser würden die Macht der Seuchenherrin zu spüren bekommen, schon bald.

Die Kind-Hexe spürte die Kraft der Siebten Sphäre und versuchte, den Brodem zwischen zwei Bergen hindurch zu lenken. Es war, als würde sie Teil eines Schwarms werden. Dieser wunderbare Geruch, nach...nach verfaulenden Seelen!

Allein der Blick über die nächtlichen Trollzacken, bis hinüber zum Silberband des Darpat war einer Göttin würdig. Sie jauchzte vor Vergnügen. Niemand mehr würde sie jetzt aufhalten, sie würde in die Geschichte eingehen als die Erzhexe, die Grauen, Panik und Schrecken über die Hauptstadt der Rommilyser Mark gebracht hatte. Sie würde Rommilys bis ins Mark erschüttern! Die Schwarzhexe jauchzte und versuchte den Gedanken an Glibba zu verdrängen.

Aber sie konnte es nicht. Der Mörder ihrer Kröte war noch am Leben. Haldana war noch am Leben, und konnte ihren Meisterplan durchkreuzen! Aus irgendeinem Grund akzeptierte Aarmarian ihre Befehle. Sisa drehte sich um, strich sich ihr pechschwarzes Haar aus dem Gesicht.

Tatsächlich, nun sah sie ihre Gegenspielerin. Am Ausgang der kleinen Höhle, von der aus der Loderbach in die Tiefe stürzte, klammerten sich zwei Gestalten an ein umschäumtes Stückchen Fels. Sisa vollführte eine Wendung, ging tiefer.

Haldana ....und Alboran... Ein kleiner Stoß würde genügen, um sie in den Abgrund zu befördern. Dann würde sie sich dem Magier zuwenden. Und dann den Rommilysern.

Aufkreischend ging die Hexe in den Sturzflug über.

Ohne Vorwarnung packte sie der Sturmwind. Der Hexenbesen wirbelte um sich selbst, wie eine Wurfaxt. Sisa schrie auf, und hatte Mühe, sich festzuhalten.

Lass sie in Ruhe!“ brüllte der Elementar. Zumindest hörte sich das Toben des Orkans so an. „Sie hat ein gutes Herz...kein Seuchenherz, so wie du!“

Sisa wurde hin und her geschleudert, mal befanden sich die Sterne und die Wolke über ihren Füßen, dann wieder darunter.

Abfangen, abfangen, sie musste den Besen abfangen. Das erste Zweiglein flog aus dem Reisigbündel, dann das nächste. Auch wenn das Holz unzerbrechlich war – oder es eigentlich sein sollte - bog es sich ächzend durch.

Wieder ein Hieb aus Luft, wieder ein Luftschlag, und wieder. Nun rasten die Berge näher und näher.

Hochziehen, hochziehen, hochziehen...alles in ihr schrie auf.

Aarmariaaan, nein!“

Du verpestest den Himmel. Das kann ich nicht zulassen. Es tut mir leid, Siiisaaa.“

Was war das? Sie trudelte geradewegs auf die Ruine des Ingerimmtempels zu. Sisa biss die schönen weißen Kinderzähne zusammen, zog am Besenstiel, presste ihre Beinchen gegen das Holz. Tatsächlich, ja, ja, es gelang ihr den freien Fall abzufangen. Ein Krachen, offenbar hatte sie das Dach gestreift. Ihr wurde schwarz vor Augen, was vermutlich an ihren Haaren lag. Dann fühlte sie sich plötzlich wieder leicht und unbeschwert. Sie hatte alles im Griff.

Sisa blinzelte und die Schwärze verschwand.

Über ihr glitt die unheilschwangere Grüne Wolke dahin. Ihr Werk, majestätisch und wunderschön. Was geschah nun? Sturm kam auf, blies direkt in das herrliche Miasma. Blies es auf, wie, wie... Sisa wehrte sich gegen den Gedanken, aber der Vergleich drängte sich ihr in den Sinn. Wie ein grausames Kind eine Kröte.

Die Wolke blähte sich, wurde rundlicher und rundlicher... und zerplatzte einfach, wie eine Schweinsblase...

BLOBBB.

Kein dramatischer Endkampf, kein Ringen der Urgewalten. Die Blase platzte, es klang kläglich. Aus der großen Wolken wurden viele kleine, die hastig auseinander stoben, und sich in Windeseile am Nachthimmel auflösten. Nach einer Weile blieb nur übler Gestank, nach fauligem Sumpf und Rommilyser Kanalisation. Einige Augenblicke lang glühte noch ein grünes Leuchten nach, wie Firunslicht in den Schneelanden.

Sisa seufzte. In ihrer linken Hand spürte sie hart das Holz ihres Besens. Und noch etwas anderes.

Das Blut fühlte sich klebrig an, klebrig und zäh. Die Lache breitete sich schnell unter ihrem zerbrochenen Körper aus. Ihr Atem ging nun stockend, schnappend, während sie verstört durch das große Loch starrte, das sie gerade selbst in den Überrest des Tempeldachs geschlagen hatte.

Gesichter beugten sich über sie, sahen sie teils liebevoll, teils traurig an. Wim, ihr Vater, Kiara, ihre Mutter und Ingram, dieser verfluchte Zwergengeweihte. Er schien still zu beten.

Sisa, meine Tochter...ich habe dich geliebt.“ Wim Brundel seufzte, während ihm Tränen durch das Gesicht rannen. „Was hast du getan?“

Auch ihre Mutter weinte. Ingram sprach ein Sterbegebet, zumindest hörten sich die feierlichen Worte auf Rogolan so an, die er in seinen Bart murmelte.

Licht, überall war plötzlich Licht. Kein grünes Licht, sondern ein sanftes, bernsteinfarbenes Leuchten, wie die Sonne an einem Frühlingstag. Warm, hell und freundlich. Es versprach Erlösung. Frieden. Ewige Ruhe und Freude in einem der alveranischen Paradiese. War es das Nirgendmeer, das dahinter rauschte? Sie hatte es sich düster und grau vorgestellt, aber es erinnerte mehr an die Geschichten vom Perlenmeer und dem Tiefen Süden.

Sisa lächelte entspannt, zum ersten Mal seit langem in ihrem Leben, während das Beinchen, das nicht gebrochen war, zuckte und zuckte.

Wir müssen nun gehen“ sagte Kiara Brundel ernst, und schlug das Zeichen der Heiligen Gans. Wim Brundel zeichnete das Sonnenrad über seine Tochter, bevor er ihr einen kühlen Kuss auf die Stirn drückte.

Ihr?“ hörte sich Sisa fragen. „Aber ich sterbe doch und muss jetzt hinüber in die andere Welt?“

Der Zwergenpriester seufzte.

Nein“, sagte er. „Das Dorf wurde erlöst, die Macht der Grünen Wolke ist gebrochen. Du aber hast deine Seele an eine Erzdämonin verkauft, Sisa Brundel. Du kannst nicht mitkommen, dorthin, wo ich und deine Eltern nun gehen werden. Was an dir unsterblich ist, darf Dere nicht mehr verlassen, oder du wirst endlose Qualen in den Niederhöllen erleiden müssen. Ich habe Ingerimm darum gebeten, dir bis auf weiteres Zuflucht auf seinem heiligen Grund zu gewähren.“ Ingrams graue Lippen zitterten. Sanft berührte er Sisas Körper.

Erneut fühlte sie sich leicht, schwebend, schwerelos. Frieden kehrte ein, als die kleine Sisa Brundel ihren letzten Atemzug tat, und dabei ihre schuldbeladene Seele aushauchte.

Verwirrt stand das Kind neben sich selbst und sah auf ihren verrenkten Körper, der einen Moment lang noch lebendig schien, wie schlafend. Dann verwandelte ihr sterblicher Leib sich auch schon in eine totenblasse Puppe, mit starren Augen. Die Blutlache am Hinterkopf wurde größer und größer, neben Trümmern und den Scherben von Dachziegeln. Wie zum Hohn lag in der verkrampften Linken der Besen, als wolle er das tote Mädchen zum Kehraus auffordern.

Das Licht...ihre Eltern...sie musste...

Das letzte, was sie von dem Geweihten und dem Ehepaar Brundel sah, waren ihre Schemen, die hinüber gingen in eine bessere Welt. Kiara, ihre Mutter, drehte sich noch einmal um, mit zaghaften Winken.

Dann war der Geist der kleinen Sisa Brundel allein. Die anderen Kurgasberger gingen in diesem Moment ebenfalls über das Nirgendmeer, hinüber in die Zwölfgöttlichen Paradiese, manch einer auch in die Verdammnis.

Nur in die Niederhöllen wanderte in dieser Nacht keine der ruhelosen Seelen von Kurgasberg. Mit einer Ausnahme.

 

Gerrich erwachte aus seiner Erstarrung. Er spürte etwas Hartes, Schmerzhaftes im Rücken und einen dumpfen Schmerz im Hinterkopf.

Sich tot stellen - wenn Fliegen etwas meisterlich beherrschten, dann das. Allerdings war ihm das mit dem Tot stellen leicht gefallen, in seinem Zustand. Er tastete nach dem Fremdkörper im Schädel, griff nach einem Pfeil und zog ihn mit nassem, schmatzenden Geräusch heraus. Das Geschoss im Rücken war bereits verrottet und weitaus einfach zu entfernen.

Der Paktierer krabbelte aus dem Loderbach, wo er gegen einen großen Steinblock gespült worden war. Ein Stein, der wohl von oben stammte. Dank der Gnade der Plagenbringerin war er nicht nur gegen derische Krankheiten gefeit. Er regenerierte auch Wunden weitaus besser als ein Storchenanbeter. Dennoch, die Treffer waren schwer gewesen. Die klaffenden Löcher schlossen sich nicht so schnell, wie er es gewohnt war. Erstaunt sah er auf seine borstigen Hände, deren Finger dünner waren als noch gerade eben. Kein Zweifel: Jedes Mal, wenn ihm die Herrin in höchster Not beigestanden hatte, verwandelte er sich ein wenig mehr in eine ihrer schwarzen Lieblinge.

Er putzte sich ausgiebig die nassen Haare im Gesicht und merkte, dass er zwei Flügel auf seinem Rücken hatte, die feucht und verklebt waren. Wunderbar, fliegen würde er demnächst auch können.

Gerrich krabbelte los, ohne auf die Steine zu achten, die links und rechts immer noch herab kollerten oder von der Decke stürzten. Es roch lecker nach Blut, der tote Medicus auch schon ein klein wenig nach Verwesung.

Ein Rest des unheiligen Herdfeuers flackerte noch immer. Gerrich wich ihm instinktiv aus, und folgte der Duftspur. Da war sie auch schon, die herrliche Lache mit dem köstlichen Elixier. Der Schwarzmagier drückte seinen Mundstempel hinein und schlürfte am pappigen Rest vom Zaubertrank. Verzückt schmeckte er mit seinen Vorderfüßen das Labsal. Mit seinen Vorderfüßen??? Moment - warum hatte er plötzlich einen Rüssel? Dann sah er sein Gesicht in einer der Glasscherben der Phiole. Rote Augen, eine rundliche schwarze Fratze, und eben eine Art Stempel, wo sich vor kurzem noch sein Mundloch befunden hatte.

Es half alles nichts. Für einen VERWANDLUNGEN BEENDEN hatte er weder Zeit noch genügend astrale Kraft. Gerrich konzentrierte sich auf den Heilzauber und spürte, wie etwas Lebenskraft in ihn zurückkehrte. Na also.

Dennoch, irgendwie fiel ihm das klare Denken schwer. Ein Schatten senkte sich von der Höhlendecke herab - der Dämonenknecht sprang beiseite, und wich in letzter Sekunde einem großen Felsbrocken aus, der neben ihm zersplitterte. Die vielfach gespaltenen Augen sahen mehr als die eines Menschen, das bewährte sich nun. Halb geduckt, halb krabbelnd schlurchte der Hexer von Rommilys durch Staubwolken, Trümmer, grüne Schwaden. Neben dem zerbeulten Hexenkessel hielt er kurz inne.

Die Schriftrolle, mit dem Rezept für Kurgasberger Grün und der Anrufungsformel...dort lag sie. Die würde in gewissen Kreisen Gold wert sein, wenn erst einmal die Seuchenwolke über Rommilys aufgetaucht war.

Er betastete sie mit seinem Fliegenmund und klebte sie sich dann an den Bauch, der noch immer mit seinem eitrigen „Blut“ bedeckt war. Die Finger waren jetzt leider zu unförmig, um noch irgendetwas zu halten. Auch seine Menschengewänder waren vollkommen vermodert und fielen nach und nach ab.

Nein, die Schriftrolle hielt nicht, sondern fiel immer wieder zu Boden. Kurz entschlossen warf er sie in den Loderbach. Das Pergament war nur schwer zerstörbar, das wusste er. Gerrich würde es später aus dem Bach fischen. Ein OCULIS ASTRALIS sollte genügen, um die Spur aufzunehmen. Ein magischer Blick aus unzähligen Facettenaugen. Interessanter Gedanke.

Leider waren die Flügel immer noch nicht trocken, aber das würde sich geben. Die Höhle war zur Hälfte eingestürzt, aber es gab noch eine verbliebene, kaum beschädigte Seitenhöhle, aus der das Bächlein heran plätscherte. Dort drüben war er ja, der ursprüngliche Durchbruch, aus der Mine in die Grüne Grotte. Mit seinem unförmigen, feisten Fliegenleib zwängte er sich an einem umgestürzten Balken vorbei.

Er tastete sich durch einen kurzen Tunnel. Von dort führte ein schräger Schacht nach oben, auf die zweite Sohle - zu glatt für einen Menschen. Für ihn war es kein Hindernis. Er schlupfte in die Röhre, und kletterte mit seinen klebrigen Fliegenfingern und -füßen hinauf.

Es war faszinierend. Allein die Vorstellung, als mannsgroße Fliege aus dem Bergwerk zu schwirren, und noch ein wenig mehr Grauen nach Rommilys zu tragen: Wunderbar. So was nannte man wohl aus einer Schmeißfliege einen Drachen machen...Er würde sich als erstes einen schönen großen, warmen, dampfenden Misthaufen suchen, sich daran laben und dann ausruhen. Er, der Herr der Fliegen. Der Gesandte der Großen Königin des niederhöllischen Schwarms von Mishkara. Gerrich war sich keinesfalls sicher, ob er magisch gegen die Verwandlung vorgehen sollte. In seiner neuen Gestalt begriff er das wahre Wesen der Insektengöttin weitaus besser als im beschränkten, plumpen Körper eines Zweibeiners.

Gerrich krabbelte aus dem Loch und putzte sich erneut. Wie viel Staub hier überall herum wehte! Eigentlich hätte es auf der zweiten Sohle stockdunkel sein müssen, aber da war eine matte Ahnung von Licht aus einem der Seitengänge. Das Durcheinander war unbeschreiblich. Überall waren Steine und Balken heruntergefallen, einige Stollen komplett verschlossen. Das Ganze erinnerte wirklich mehr an den...Stock eines Insektenstaats als an ein Bergwerk. Er eilte auf das Licht zu. Das verschwand so plötzlich, wie es aufgetaucht war. Dort, dort entlang. Dort wurde es wieder heller.

Die Riesenfliege, der kaum noch menschliche Züge anhafteten, spreizte ihre Flügel und versuchte einige Schritt weit zu fliegen.

Bssss....sssss....BSSSSS.

Es hätte ganz gut geklappt, wäre da nicht das Gespinst aus feinen, klebrigen Fäden gewesen, in denen Gerrich jäh landete.

Aufgeregt begann der Paktierer zu zappeln. Jetzt erst merkte er, dass er bereits sechs Gliedmaßen hatte statt vier.

Mit jeder Bewegung verhedderte er sich ein wenig mehr im feinsilbrigen Netz der Höhlenspinne. Sein summender Zweikampf mit der Spinnenseide zog sich eine ganze Weile hin, bis seine Kräfte nachließen.

Schließlich spürte er haarige, spitze Beine, die ihn vorsichtig betasteten. Gerrich erstarrte.

Im nächsten Moment durchbohrte ihn die Hüterin der Falle mit ihren dolchähnlichen Beißzangen. Pumpte ihn voller Gift. Am Anfang war der Schmerz kaum erträglich, aber die Wirkung des Arachnae setzte erstaunlich schnell ein.

Mit kaum mehr als einem pelzigen Gefühl im Leib spürte Gerrich, wie die truhengroße Spinne ihn, ihr unverhofftes Festmahl, langsam einwob und kunstvoll fesselte.

Dann begann das ausgehungerte Biest auch schon, ihre Beute auszusaugen.

Das letzte, was Gerrich mit einigermaßen klaren Verstand wahrnahm, war der zart leuchtende Leib von Nasdja, der Zibilja, die am Ende des Ganges endgültig in der Finsternis verschwand.

 

Von ihrem nassen und kalten Felsenbalkon über dem Loderbach aus hatten Alboran und Haldana das schaurige Geschehen verfolgt. Alboran, der zuvor noch meinte, sein Gefecht mit den drei nekromantisch wiederbelebten Soldaten würde ihn ein Leben lang in seinen Gedanken begleiten, wusste nicht, was er von der Erscheinung von über einhundert Geistwesen halten sollte. Gut, die hatten ihn wenigstens nicht angegriffen, nur den weißhaarigen Hofmagier seines Vaters. Aber dennoch, allein der Anblick der skeletthaften, schimmernden Kurgasberger hatte ihn bis ins Mark erschüttert. Was ihn allerdings noch mehr verwunderte war, dass die Schlotzerin neben ihm, anders als zuvor in der Enge der Höhle, eher beruhigt schien und der schaurigen Schar am Ufer es Loderbaches eher fasziniert und neugierig zuschaute. Auch als die Geister Hesindian angegriffen hatten schien es nicht so, als verspüre Haldana Angst oder Besorgnis. Und dann zu erleben, dass die Gefährtin sogar einem Luftelementar Weisungen erteilte – der Friedwang musste zugeben, dass er vieles nicht verstand. Er wusste noch nicht einmal, welche der vielen Fragen, die ihn beschäftigten, er der Bardin stellen sollte.

Außerdem war es kalt. Alboran sah sich um, ob er irgendwie ins Freie käme, ob es einen gangbaren Pfad nach unten gäbe. Er sah keinen. Es wäre eine halsbrecherische Kletterei, die nasse Felswand herab. Dafür sah Albo etwas anderes. Ein kleines Pergament, das durch auf dem Loderbach entlang trieb und sich an der Felsreuse verfangen hatte. Der Friedwang griff danach.

Scheint Bosparano zu sein“ murmelte er leise, als er feststellte, dass er das Geschriebene darauf nicht entziffern konnte.

Zeig mal her“ bat Haldana und nahm das Pergament. Dann las sie mit leiser Stimme vor.

 

Sacrificantes in villa de viridi ad dominam Mishkara vectare per nubem

 

In salsa aqua contaminari triens aes liquefacta.

Duo sanguinis mortariola ex persona nuper defuncti,

Cochlearium de pulveris in vespertilio alis exaruit

Grated aranea pedes

A filum ex aranea telam de spelunca

Unum oculum flavo Calcenterum a bufo

Denique iacere et viventem per viventem in celia

Sat est stella ex aere spiritum spiritus et virtutis

 

Pone ollam super prunas et quod quid est dicitur carbo. Applica mixturam vaporetur agitatione perpetua. Si suus siccatum sit, vos adepto a nube. Uenena coquere et refrigeratum post potionem potest.

Vide quam non cadit in lucem solis interdiu ceruisam paratus. Item dicunt quod est tantum available pro viridi nubes noctis, quoniam in clara meridiem Praios destruit suum effectum. Producat in nube in villa, uti pilae tempestas, ventus magia, nisi a vento directionem Efferd non aequare. *

 

Ich wusste gar nicht, dass du Bosparano kannst“ murmelte Alboran. „Was heißt das?“

Das...“ Haldana zögerte einen Moment. Sollte sie ihm sagen, wofür sie das Pergament hielt? Und wenn, nicht, was dann? Nein, eigentlich wollte sie nur nicht von Nasdja erzählen, ihrer Urahnin, die ihr einen Teil ihres Wissens offenbart hatte. „Das sieht mir aus wie eine Rezeptur. Die Rezeptur, mit der diese Schwarzhexe die Grüne Wolke erschaffen hat. Unheiliges Wissen.“

Das sollten wir der Obrigkeit in Rommilys übergeben. Ein wichtiges Beweismittel, für die Vorkommnisse hier.“

Der Gedanke gefiel Haldana gar nicht. Ihre Ahnin hatte anderes erbeten. Die Vernichtung der Rezeptur. Noch einmal hielt sie das Pergament vor ihr Gesicht, las es. „Reich mal die Fackel rüber, Alboran“ bat sie. Der Friedwang hielt sie ihr entgegen. Aber die Bardin konnte mit ihrem immer noch gefühllosen Arm – vermutlich war die Schulter ausgekugelt – nicht danach greifen, und in der rechten Hand hielt sie ja die Rezeptur. Rasch hob sie das Pergament hoch und hielt es in die Fackel. Alboran sah sie überrascht an, zog die Feuerquelle jedoch nicht weg.

Nein. Das ist zu riskant. Wer weiß, wem das Rezept irgendwann in die Hände fällt. Das hier darf sich nicht wiederholen. Dieses unheilige Wissen ist zu gefährlich.“ Die Flamme hatte auf das Pergament über gegriffen und fraß sich vorwärts. Kleiner und kleiner wurde es, während verkohlte brüchige Pergament-Asche-Flocken herab bröselten. Zuletzt hielt die Bardin nur noch eine kleine, weiße, schriftfreie Ecke des Rezeptes in der Hand. Dann ließ sie diese Ecke in den Loderbach fallen. Langsam trieb es seitlich an der Reuse entlang, bis es zwischen den Steinen mit dem fließenden Wasser entschwand.

Sicher ist sicher. Jetzt wird niemand jemals mehr das Unheil der Tiefe erwecken. Manches Wissen ist nicht für diese Welt bestimmt.“

Jetzt hörst du dich an wie ein Praiosgeweihter.“ Alboran wusste nicht, was er von Haldanas Eigenmächtigkeit der Verbrennung halten sollte. Aber als Beweismittel war es auch nicht so wichtig. Das Wort eines Barons würde in Rommilys sicher genug zählen. Ohnehin hatten sie beide hier andere Sorgen.

Wie kommen wir eigentlich hier runter?“ sprach der Friedwang das drängendere Problem an. „Langsam wird es kalt hier.“

Haldana nickte.

Der Wasserfall mündet unten in einen See. Wir könnten springen. Mit etwas Glück ist es tief genug?“

Alboran lachte auf.

Selbst wenn. Mit einem Arm kannst du kaum aus den Strudeln und Wirbeln heraus schwimmen.“

Nein. Ich nicht. Aber du. Du musst nicht mit mir hier erfrieren.“

Vielleicht“ brummte Alboran einsilbig. Im behagte weder die Vorstellung an einem Sprung in die Tiefe noch die, sein Tanzgerät hier allein zu lassen. „Oder wir bleiben beide hier. So langsam haben wir ja Routine und Übung darin, zusammen eingesperrt zu sein.“

Das auch“ nickte Haldana. „Kannst du mir eigentlich die Schulter einrenken?“

Ähm… und deine Rippen zusammen zaubern? Nein. Ich bin kein Medicus. Keine Ahnung, wie das geht.“

Dachte ich mir. Ich kann es auch nicht. Gut, dann bleiben wir hier.Vielleicht fällt uns was ein, wenn es hell wird.“

 

 

*

Ein Dorf der Herrin Mishkara durch die Grüne Wolke zu opfern

 

Vier Unzen verseuchtes Erz, in salzigem Wasser gelöst.

Zwei Schöpflöffel Blut eines frisch Verstorbenen

Ein Löffel Pulver aus getrockneten Fledermausflügeln

Zerriebene Spinnenbeine

Ein Faden vom Netz einer Höhlenspinne

Ein Auge einer Gelbbauchunke

Zuletzt wirf ein lebendes Geschöpf in den Sud

Ausreichend Sternenkraft und der Atem eines Luftgeistes

 

Fülle die genannten Essenzen in einen Kessel über der Glut von Steinkohle. Bringe die Mixtur unter ständigem Rühren zum dampfen. Lässt man es verdampfen, erhält man eine Wolke. Nach dem Kochen abgekühlt kann man Tränke vergiften.

 

Achte darauf, dass während der Zubereitung kein Sonnenlicht auf das Gebräu fällt. Bedenke auch, dass die grüne Wolke Dir nur eine Nacht zur Verfügung steht, denn des Praios heller Schein vernichtet deren Wirkung. Bringe die Wolke über das Dorf, nutze hierbei Wettermeisterschaft, Windzauber, wenn die von Efferd gegebene Windrichtung nicht passt.

 

 

 

 

Hesindian war wie benommen und überwältigt. Instinktiv war er dem Zug der Geister, die ihn wenig zuvor noch angegriffen hatten, gefolgt bis zum Ingerimmtempel. Hatte die Geister begleitet und beobachtet, bis diese nach und nach immer durchscheinender und stoffloser wurden und das grünliche Schimmern allmählich verblasste. Zuletzt war nur noch ein totes Hexenkind im Tempel des Feuers verblieben. Hesindian hatte die Worte der Geister nicht hören können, nur die Stimme der sterbenden Sisa hatte er vernommen. Aber das war genug gewesen, um sich die Ereignisse in der Geisterwelt zusammen reimen zu können. Das Dorf war erlöst worden, die Seelen der Verstorbenen hatten einen Weg über das Nirgendmeer gefunden. Eine ungemein beruhigende Erkenntnis nach all dem Unheimlichen, das er in der vergangenen Nacht im Bergwerk erlebt hatte. Als Magier hatte er weniger Angst vor den Wesen der Zwischenwelt empfunden, irgendwie auch ein Stück weit Neugier, die seine Vorsicht überlagerte. Auch wenn er, anders als Haldana, kein Medium war, hatte er doch genug über Kurgasberg erfahren, um sich einen Reim auf das Geschehene zu machen. Vom Standpunkt des Wissenschaftlers gesehen war das Ereignete – nun – interessant war gar kein Ausdruck. Selbst auf dem Gräberfeld von Brig-Lo hatte er nicht so intensive Erfahrungen mit der Zwischenwelt gemacht wie in dem verwunschenen Bergdorf. Er würde seine Beobachtungen hier zusammentragen, niederschreiben müssen. Ein Augenzeugenbericht für die Graue Gilde, das war das mindeste, was er auf jeden Fall tun musste. Das war er seiner Zunft schuldig. Nur Sisa… hatte er das richtig verstanden, dass Sisa der Weg über das Nirgendmeer verwehrt blieb und sie auf dem heiligen Boden des alten Tempels bleiben musste, um nicht den Niederhöllen anheim zu fallen? Ein Ingerimm-Tempel, in dem eine der Mishkara verpfändete Seele ihr ruheloses Dasein führte? Der Gedanke war schwer zu glauben, und er würde noch schwerer zu erklären sein, aber eine andere Deutung ließen die Ereignisse nicht zu. Würde es eine Erlösung für Sisa geben? Als Anhänger Hesindes musste er hoffen, dass es gelang der Erzdämonin diese Seele noch zu entreißen. Doch eine Lösung fiel ihm nicht ein. Die ruhelose Seele Sisas würde wohl dauerhaft im Kurgasberger Feuertempel verweilen müssen. Eine trostlose Vorstellung. Ein wenig Mitleid empfand der Magier.

Aber auch die Geweihtenschaft des Ingerimm musste davon erfahren, musste Kenntnis bekommen von dem, was in einem verwaisten Tempel ihrer Glaubensgemeinschaft geschehen war. Zwerch? Sollte er dem Ingerimmtempel in Zwerch davon berichten? Ein näherer Tempel des Herrn des Feuers fiel ihm spontan nicht ein. Aber waren die Diener des Schmiedegottes denn dazu in der Lage, überhaupt nur theoretisch zu verstehen, geschweige denn magietheoretisch? Hesindian hatte seine Zweifel daran. Nun, eine verdorbene Seele zu retten war eigentlich nicht seine Aufgabe. Zumal diese ihn erst wenige Stunden zuvor in einem finsteren und grausamen Ritual der Antiperaine opfern wollte.

Aber konnte er für die kindliche Tote vor seinen Füßen anders empfinden als Mitleid?

Der Magier begann, den Leichnam mit Steinen aus den Ruinen Kurgasbergs zu bedecken.

 

 

Täuschte sich Alboran oder wurde es wirklich langsam heller, am Nachthimmel über den weißen Bergen der Trollzacken? Kein Zweifel, es dämmerte. Die Luft färbte sich sogar ein klein wenig rötlich. "Aarmarian", rief Haldana, mit klappernden Zähnen und verzerrtem Gesicht. "Luftikus!" Langsam wurde es ungemütlich, in einem kalten Gebirgsbach am Rande des Abgrunds zu sitzen. Immerhin, das Rumoren in Ingerimms Reich hatte sich beruhigt. Nur vom Silph war weit und breit nichts zu sehen. Aves Element, das in der Höhe brauste, war wohl der übliche Nachtwind, vermischt mit einem Hauch von Morgenluft.

Ein großer Schatten senkte sich herab, begleitet von einem flackernden, rötlichen Licht. Haldana duckte sich, ebenso Alboran. War die Grüne Wolke zurückgekehrt? Nun sahen die beiden Adeligen das Riesenfass von Rommilys in voller Pracht. Gemächlich schwebte es von oben herab, wie ein Göttergeschenk. Das Hexenhaus mit seinem krummen Ofenrohr war etwa so groß wie ein Fischerboot auf dem Ochsenwasser. Anders als bei Haldanas letzten Ausflug stand das Fliegende Fass nicht senkrecht in der Luft, sondern war zur Seite umgekippt. Neben der Felsreuse hielt das Fluggerät einfach an, als wäre es das selbstverständlichste von der Welt. Alboran, der gerade eben noch der Meinung gewesen war, ihn könnte in dieser Nacht nichts mehr erschüttern, starrte den Neuankömmling verwirrt an.

Haldana lächelte. Offenbar wollte Aarmarian sie beide standesgemäß ins Tal befördern. Oder hatte der gute Geist gemerkt, wie schwer angeschlagen sie war? Eine Himmelskutsche, nicht schlecht. Die schmiedeeiserne Laterne über der Eingangstür brannte tatsächlich, aus welchen Gründen auch immer. Im nächsten Moment sprang die Tür darunter auf.

Die Schlotzerin erhob sich mühsam in der Strömung, fiel, vom Wasserdruck angetrieben, nach vorne und stolperte polternd hinein, ins "Hexenhäuschen". Drinnen flammten Kerzen auf, die auf Kandelabern steckten. Fast sah es gemütlich aus, im rustikalen Eichenholz-Refugium der Schwarzhexe. Das Möbel schien am Boden festgedübelt zu sein wie an Bord eines Schiffes: Ein schön geschnitzter Tisch, gepolsterte Stühle, ein altdarpatischer Bauernschrank, eine Kommode mit Spiegel sowie eine klobige Truhe, auf der ein Totenschädel grinste, den Hauern nach zu urteilen der Überrest eines Orks oder Goblins. Sogar eine gemauerte Feuerstelle gab es (der dazu gehörige Kessel lag wohl im Bergwerk).

Die Fensterläden waren geschlossen. Haldana reichte Albo, trotz ihrer Schmerzen, galant die Hand und half ihm aus der Höhle ins Innere der Fasshütte, über den Rand des Wasserfalls hinweg. Ein Bild an der Wand - es war leicht verrutscht - zeigte ein nächtliches, levthansgefälliges Hexenfest, rund um ein riesiges Lagerfeuer im Wald, ein anderes ein imposantes Porträt der Schwarzhexe. Die kleine, gelbe Made, die Sisa übers blasse Gesicht kroch, tat ihrer Schönheit doch etwas Abbruch. Spielten Haldanas überreizte Sinne ihr einen Streich oder rümpfte die Hexe gerade wirklich ihre Nase? Auf dem Boden lag ein Wolfsfell, die Luft duftete leicht nach Rotwein.

Die junge Binsböckel merkte erst jetzt, wie erschöpft sie nach all den Strapazen war, zusätzlich zu ihren Blessuren. Ächzend ließ sie sich auf einen der Salonstühle fallen. Nein, der war nicht am Boden befestigt. Der Stuhl wurde ihr regelrecht unter den Hintern geschoben, als stünde ein unsichtbarer Lakaie dahinter. Magie, natürlich...Es hatte Zeiten gegeben, da wäre sie nun schreiend nach draußen gelaufen. Aber dann wäre sie sicherlich fünfzig Schritt in die Tiefe gefallen. Nervös blickte sich die Adelige um. Ein wenig unterkühlt wirkte das Interieur schon, aber im Vergleich zum Unheiligtum gerade eben war das Hexenhaus beinahe schon bieder und behaglich. An beiden Fenstern hingen sogar Gardinen.

Von der Wand starrte sie die Trophäe eines Rehbocks an, mit grotesk verwachsenem Gehörn. Die wilden Wucherungen sahen aus wie Wachstropfen an einer Kerze oder Geschwüre. "Perückenbock" wurde das Opfer einer solchen Krankheit genannt. Das eine Auge war beinahe zugewachsen, die drei Horngeschwulste erinnerten mehr an einen Dämon als an ein firunsgefälliges Wildtier. In finsterem Humor hatte die Schwarzhexe dem Rehkopf ihren schwarzen Spitzhut ans Geweih gehängt. Alboran stand staunend im Raum und fiel ebenfalls in einen der Sessel, als sich das Fass nach unten bewegte, wie der berühmte Rommilyser Aufzug.

Das Fass zitterte und vibrierte, als wäre es wirklich ein Schiff. Im jähen Luftzug schlug die Eingangstür zu. Sie sanken nach unten, während die Luft leise fauchend vorbeistrich. Die Fensterläden klapperten aufgeregt, auch das Ofenrohr mitsamt Rauchfang bewegte sich. Dann setzte das Haus auch schon auf dem Boden auf, rumpelnd, aber erstaunlich sanft. Haldana erinnerte sich an Kutschfahrten, die weit weniger angenehm gewesen waren. "Ei der daus", sagte der Karzerkönig, atmete erst mal durch und weitete seinen Kragen. "Träume ich das gerade? Praios steh uns bei...Du scheinst bei diesem...Luftgeist wirklich ein Stein im Brett zu haben."

"Danke, Luftikus" hauchte Haldana.

"Und jetzt?" wollte Albo wissen. Irgendwie schien ihm die Situation sogar Spaß zu machen. Zumindest hatte er beschlossen, den leichtfüßigen Aristokraten herauszukehren, den so schnell nichts aus der Fassung brachte. Der die Situation jederzeit im Griff hatte. Er zog seine Stiefel aus und goss den Inhalt in einen Blumentopf - in dem eine Art runzeliges, gelbbraunes Wurzelmännchen mit grünen Blättern als "Haarschopf" wuchs. Eine Alraune? Albo entfernte auch noch seine Socken. "Da hinten scheint das Schlafzimmer zu sein." Der barfüßige Junker von Gießenborn grinste, durchaus etwas anzüglich. Zumindest kam es Haldana so vor. Hoffentlich würde er jetzt nicht auch noch die Hose, die Lederrüstung und sein Wams abstreifen.

Die Baronstochter gähnte mehrdeutig und stand auf. Ihr Blick fiel auf die Spiegelkommode, mit allerhand Schminkutensilien, Parfümfläschchen, Kamm und Haarnadeln in den Schubfächern. Schwarz schien die Lieblingsfarbe Sisa Brundels zu sein. Der Spiegel zeigte ein totenblasses, verdrecktes, blutiggeschrammtes Gesicht mit wirren, nassen Haaren auf der einen Seite. Haldana prallte zurück - was für ein dämonisches Wesen blickte sie da an? Erst nach einigen Herzschlägen begriff sie, dass sie selbst es war, die sich da verstört anstarrte. Beiläufig öffnete sie eine mit Schleckwerk gefüllte Dose. Ah, Rommilyser Lebkuchen. Niederhöllischen Hunger hatte sie auch. Einen Augenblick lang fragte sie sich, wie bekömmlich die Näschereien einer Seuchenhexe sein mochten - dann langte sie einfach zu. Hmmm, lecker...

"Knuschprig, knuschprig...mit Nüssli und Schoggi. Wilscht a?"

Alboran verzog stolz (oder schmerzerfüllt?) seinen Mund. Er sah aus, als hätte er sich die ganze Nacht mit Thorwalern geprügelt. Verstohlen sah er nach seiner verwundeten Hand.

So langsam geriet Haldana in Plünderlaune. In der Truhe befand sich Besteck und zinnenes Geschirr, vor allem Becher und Teller. Aber auch eine Flasche Rotwein, die zum Glück schon angebrochen war. Die Sichlerin zog den Korken heraus und genehmigte sich einen Schluck, aus einem feinziselierten Kelch. Was gabs noch? Ein kastenartiges Bücherbord, mit Folianten, die mit merkwürdigen Zeichen geschmückt und festgekettet waren. Darum sollte sich mal lieber Hesindian kümmern, ganz so tollkühn war sie auch wieder nicht. Sie hatte mal gehört, dass Zauberbücher manchmal nach einem schnappten oder in der Gegend herumflogen. Der Bauernschrank interessierte sie schon eher. Der Schlüssel steckte.

Ah, hier verwahrte Sisa ihre Gewandung. Sehr opulent, aber doch eher etwas für Damen, die Festkönigin beim Hexentanzabend werden wollten. Alles ein wenig düster, muffig und freudlos für ihren Geschmack. Sie begnügte sich damit, ihre nassen Schuhe und Socken gegen Pantoffeln zu vertauschen. In einem Fach lag ein samtener Dukatenbeutel, der gut gefüllt zu sein schien. Den Inhalt würde sie später mal nachzählen, sobald sie wieder beide Hände zur Verfügung hatte. Was war das? Eine Fliegenklatsche. Das ebenholzfarbene Kästchen sah interessant aus.

Haldana öffnete den Kasten, der mit rotem Samt ausgeschlagen war. Darin lag ein Dolch, daneben eine große Phiole, mit rotgoldener Flüssigkeit. Auf einem Etikett war das Zeichen der Peraine zu sehen. Der Geruch war ungemein kraftvoll, erfrischend und würzig. Irgendwie...belebend. Ein Heiltrank?

Die schmale, zerbrechlich wirkende Klinge erinnerte sie an ein Waffenkunde-Seminar auf dem Hohenstein, bei dem es um heimtückische Meuchlerwaffen der Feinde im Osten gegangen war. Der Griff war hohl und konnte mit einem Stöpsel verschlossen werden. Ein Mengbilar? Die Kombination eines Giftdolchs mit einem Lebenselixier hätte Haldana selbst dann verwirrt, wenn sich nicht beides im Besitz einer Paktiererin der Anti-Peraine befunden hätte.

Haldana nahm die Phiole genauer in Augenschein. Bei der leuchtenden Farbe war sie sich nicht ganz sicher, aber der Geruch erinnerte sie wirklich stark an einen Heiltrank, der ihr einmal eingeflößt worden war. Wirselkraut, ja, das Aroma schnupperte sie eindeutig heraus. Oder war das eine heimtückische Falle? Wenn die geheimnisvolle Flüssigkeit echter, womöglich sogar gesegneter Heiltrank war, dann musste sie auf Dämonenknechte und – mägde wie pures Gift wirken. Oder? So langsam ahnte sie, was es damit auf sich hatte. Gerrich, der Fliegenmensch, war eindeutig mit der Erzdämonin im Bunde gewesen. Hatte sich Sisa die Phiole als Rückversicherung zurückgelegt, um den mächtigen Magier bei Bedarf vernichten zu können?

Etwas anderes kam ihr in den Sinn. Sie hatte buchstäblich hautnah miterlebt, wie Korwid Alfengrund zu Grunde gegangen war, nachdem er vom verfluchten Wasser des Loderbachs getrunken hatte. Sie selbst hatte gerade regelrecht in dem niederhöllischen Nass gebadet, ebenso Hesindian und Albo. Gut, sie waren ein ganzes Stück weit von den Seuchenerz-Adern entfernt gewesen. Dennoch, allein der Gedanke, körperlich und seelisch zu verfallen wie der Medicus, bereitete ihr Angst. Irgendetwas zehrte bereits an ihr, der Schmerz und die Müdigkeit, gewiss. Aber der Anblick im Spiegel war fürchterlicher gewesen, als sie es selbst nach einer solchen Schreckensnacht erwartet hätte. Die eingefallenen Wangen, die blutunterlaufenen Augen. Die geschundene Seele dahinter.

"Wohlsein, Haldana." Kurz entschlossen und mit einem Stoßgebet an die Bewahrerin des Lebens nippte sie am vermeintlichen Heiltrank. Einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, als müsste ihre Kehle sofort wie Feuer brennen. Aber der Geschmack auf ihrer Zungenspitze war wohltuend, sanft, bekömmlich. Milde Wärme bereitete sich in ihrem Körper aus, ebenso eine erdige Kraft und ungemein belebende Frische.

Haldana trank beherzt einen ganzen Schluck, dann einen weiteren. Die dämonischen Schmerzen in den Rippen ließen sofort nach, ebenso in der Schulter. Es war, als würde sie sich von selbst wieder einrenken. Als würde Haldana in diesem Moment neu geboren. Die Adelige wischte sich den Schmutz aus dem Gesicht, wie eine Bäuerin, die am Abend erschöpft, aber zufrieden und stolz auf ihr Tagwerk zurückblickte. Wahrlich, das war kein gewöhnlicher Heiltrank. Sie hatte auf Anhieb mehr als ein Drittel davon getrunken. Einen Moment lang befiel sie das schlechte Gewissen. Albo und Hesindian würden einen Anteil vertragen können, wahrscheinlich auch ihre übrigen Gefährten.

Alboran, was tat er jetzt schon wieder? Er hatte sich tatsächlich ins Schlafgemach der Hexe zurückgezogen. War er eingeschlafen? Sah fast so aus. Oder besser gesagt, das sanfte Schnarchen hörte sich so an. Schien völlig fertig zu sein, mit dieser und allen anderen Welten, denen er in den letzten Stunden begegnet war. Haldana ging hinüber zum Spiegel auf der Frisierkommode, und wischte sich ihr Gesicht mit einem Tuch sauber. Die gütige Peraine hatte ihr Stoßgebet erhört: Ihr Ebenbild war immer noch schmutzig, wirkte aber deutlich rosiger, kraftvoller und gesünder als gerade eben.

Im nächsten Moment schrie sie auf, als erneut eine blutige, zerschrammte Fratze im Spiegel auftauchte. Es war nicht ihr Antlitz. Ein Kind mit wirren, schwarzen Haaren fauchte sie an. "Du blöde Kuh, raus aus meiner Hütte!"

Entsetzt prallte Haldana zurück, drehte sich um. Aber da stand niemand.

"Das würde dir so passen, verdammtes Miststück, dich hier an Aaarmarian ran zu schmeißen. Und dich in meinem Fliegenden Fass breit zu machen. Raus, aber sofort! Verschwinde!"

Verwirrt blickte die Bardin wieder Richtung Spiegel, aus dem sie das Kind mit wahrhaft bösem Blick anstarrte. "Ich sags nicht noch einmal, Haldana von Schmutz! Das ist mein Fass!"

"Sisa? Sisa Brundel?"

"Für dich Selisa Brundel! Ich...ich.."

Das Mädchen mit dem zerstörten Gesicht erbrach sich würgend über ihr Bauernkleidchen.

Angeekelt verzog Haldana ihr Gesicht. Sie blickte sich erneut um, aber bis auf den schlummernden Albo war niemand mehr in der Hütte. "Was machst du da drin? Du bist doch gerade in den Ingerimmtempel gestürzt?"

Die Bardin empfand fast schon Mitleid. Die Wunden in Sisas Gesicht sahen nicht gut aus.

"Glaubt Ihr, ich bin besiegt? Denkt Ihr, Ihr habt mich bezwungen? Dieser Narr Ingram hat gedacht, mich auf heiligem Grund bannen zu können. Mich, eine Dienerin der Herrin Belzorash! In einer armseligen Ruine? In einem bloßen Trümmerhaufen? Nichts da! Meinen guten alten Hexenspiegel gibt es auch noch, um meine Seele an Dere und Feste zu binden! Eines Tages werden sie mich daraus befreien! Dann werde ich den großen Plan vollenden! Ihr werdet schon sehen, ich komme zurück!!!"

"Sie? Wer genau ist das?"

"Das wirst du schon noch merken, Geisterseherin! Meine Rache wird fürchterlich sein. Ich verfluche dich, ich verfluche euch alle...Für immer und ewig!"

Die kleine Sisa spuckte einen Zahn aus, und Blut. Ihre hasserfüllten Augen leuchteten grünlich.

Haldana konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. "Gerade noch auf Wolke Sieben, jetzt ist der Traum  geplatzt? Das heißt, der Alptraum...so schnell kanns gehen, auf, wie sagst du, Dere und Feste?"

"Haldana...was ist..." Albo klang schlaftrunken. "Redest du mit mir...? Ich glaube mir ist schlecht. Bin völlig fertig...."

"Äh ja, ich habe einen Heiltrank gefunden, den uns Sisa dankenswerter Weise hinterlassen hat."

"Finger weg von meinen Sachen!" schimpfte es aus dem Spiegel. "Elende Diebin!"

"Was...was denn für ein Heiltrank?" Alboran richtete sich im Bett auf. Er schien die Spiegelhexe nicht sehen (oder hören) zu können, zum Glück.

"Raus, raus, aus meinem Fass, alle beide, aber ein bisschen zackig!" Sisa versuchte aus dem Spiegelrahmen zu entkommen, der ineinander verschnörkselte, albernisch wirkende Ornamente zeigte. Zumindest sahen ihre wilden Gesten und Verrenkungen so aus. Wie ein gefangene Ratte im Käfig presste Sisa ihre Nase an den Rand des Spiegels. Die wütenden Befreiungsversuche wirkten zunehmend verzweifelt.

"Sei gefälligst still, wenn sich Erwachsene unterhalten." Haldana hängte sorgfältig ihr Handtuch über den Spiegel.

Tatsächlich wurde es darunter ruhig. Die Schlotzerin lüpfte kurz den Stoff. "Sisa?!"

"Miststück" grollte es wie aus weiter Ferne.

Alboran öffnete die Fensterläden, um frische Luft zu schnappen. Das erste rahjagefällige Morgenrot drang von außen herein, ebenso das Rauschen des Wasserfalls.

"Wieder mal ne Nacht durchgemacht", ächzte der Baronssohn. "Hast du gerade `Süßer´ zu mir gesagt?

„Nun sag schon ja. Nicht dass du das wieder so verbockst wie mit Jodokus“ sagte Nasdja.
„J..ja“ stammelte Haldana, bevor sie länger nachdenken konnte. In ihrem Körper rangen die Erschöpfung ob der durchgemachten Nacht wie auch die belebende Wirkung des Heiltrankes um die Oberhand. Und so langsam drang auch das Gefühl, dem Herrn Boron gerade noch einmal von der Schaufel gesprungen zu sein, in ihr Bewusstsein. Dass schon wieder ein Geist um sie herum schwirrte, war da schon fast nicht mehr bemerkenswert. Inzwischen empfand Haldana die Anwesenheit ihrer geisterhaften Urahnin nicht mehr als Anwesenheit einer Fremden, sondern schon fast als Teil ihrer Persönlichkeit.
Haldana zog das Handtuch über dem Spiegel zurecht, um die Schwarzhexe - vielmehr den Geist von ihr, nicht sehen oder hören zu müssen, als sie spürte, wie sie von hinten sanft umarmt wurde und ihr ein Kuss seitlich auf den Hals gedrückt wurde. Auf die linke Seite, wo keine Haare im Weg waren. Ein angenehmes Gefühl. Und warum sollte sie sich auch dagegen wehren. Den Wunsch ihrer Mutter, die Tochter keusch zu verheiraten, hatte sie ohnehin schon unterlaufen. Auch fühlte es sich mit dem Karzerkönig seltsam vertraut an. Weshalb also sollte sie es nicht geschehen lassen? Haldana ließ sich die Liebkosungen des Friedwangen gefallen.

Rovik führte die bunt gemischte Schar seiner Gefährten und der befreiten Gefangenen durch die Gänge des Bergwerks. Der Weg zurück durch den Berg war lang und beschwerlich. Nicht minder beschwerlich als der Abstieg, auch wenn jetzt nicht mehr zu befürchten war, dass ihnen Untote, Schwarzmagier und andere Gegner in der Dunkelheit auflauerten. Aber die Erschütterungen im Berg hatten doch mehr Schaden angerichtet. Manche Gänge waren eingestürzt und mussten umgangen werden, an anderen Stellen musste zumindest ein wenig Schutt abgetragen werden, um den Weg wieder passierbar zu machen. Hätte Rovik nicht eine Stille Zuversicht ausgestrahlt und erfolgreich den erfahrenen Bergmann gemimt, Angst oder gar Panik hätten den Rückweg der Gruppe gelähmt oder gar verhindert. Aber es fiel den Gefährten nicht auf, dass Roviks Kenntnisse von Bergbau doch recht rudimentär waren. Immerhin, sein Richtungssinn verließ den Zwerg auch unter Tage nicht, und so konnte er die schadhaften Gänge umgehen und auch ohne seine zahlreichen Markierungen immer wieder zurück zur Aufstiegsroute finden. Dennoch dauerte es mehrere Stunden, bis sie endlich den Abstiegsschacht mit dem Flaschenzug erreichten.
Alrik stellte sich unter den Schacht und schwenkte die Fackel über seinem Kopf. „Heda, ihr da oben. Wir Katzlocher gehen nicht unter!“ rief der Baron lautstark nach oben. „Holt uns hier raus, fahrt den Korb runter.“
Es dauerte eine Weile, dann hörten die Gefährten Rumpeln und Schritte von oben. Eine Laterne wurde über den Schacht geschwenkt. Alrik erkannte das Gesicht von Weibel Serdan.
„Ha! Ihr lebt, Hochgeboren! Gibt’s zur Abwechslung wieder mal gute Nachrichten? Praiobert, lass den Korb runter!“
Schnarrend und Quietschend drehte sich die Seilrolle. Der Korb setzte sich in Bewegung, schwebte langsam herab.
„Hört zu, Weibel!“ rief Alrik. „Wir haben mehrere Gefangene befreit. Sieben an Zahl. Die sind völlig erschöpft, teils verletzt. Ihr müsst ihnen oben aus dem Korb helfen.“
„Jawohl, Hochgeboren“ bestätigte der Weibel, immer noch mit sichtlicher Erleichterung in der Stimme.
„Hesindian, du gehst voran mit der Brauerstochter. Du kannst oben am besten helfen. Danach dann die Brauerin mit ihrem Sohn, und dann die Pilger.“ Alrik legte die Reihenfolge fest, bevor Diskussionen aufkommen konnten. Außerdem war es selbstverständlich, die arg mitgenommenen `Zivilisten`, wie man beim Militär sagen würde, als erste aus der dunklen Tiefe zu befreien. Es war ihnen anzusehen, dass das Warten auf den Transport nach oben manchen fast noch mehr zusetzte, als zuvor der anstrengende Irrweg durch die Mine.
Als Rovik, der als Letzter oben angelangt war die ganze Schar endlich aus dem Bergwerk geführt hatte, stand die vormittägliche Sonne schon hoch am Himmel.  
Die völlige Erschöpfung war allen anzumerken. Alrik beschloss, die Gruppe noch bis zum Ingerimmtempel zu führen. Dort würde er ihnen gestatten, zu lagern und sich auszuruhen. Er selbst fühlte sich völlig ausgelaugt, und Jodokus sah er an, dass es ihm nicht besser ging. Rovik und Tuvok konnte er nicht einschätzen, ob diese noch über mehr Reserven verfügten als er selbst, aber den Traviapilgern und den Krummbachern war selbst der Abstieg zur Tempelruine kaum mehr zuzumuten. Die Kinder der Krummbacherin wurden schließlich von den Soldaten getragen, da sie keinen Schritt mehr tun konnten.
Die sieben Schlaflager, die vom Räuberlager noch vorhanden waren, wies Alrik den befreiten Geiseln zu. Erst dann nahm er wahr, dass ein Steinhaufen vor dem Altar errichtet war, den er aus seinem ersten Besuch in der Tempelruine nicht in Erinnerung hatte. Und erst dann realisierte er, dass ein weißhaariger Mann daneben, an den Altar angelehnt, zusammen gesunken saß und leise schnarchte.
Hesindian!
Jodokus ließ sich, kaum im Tempel angekommen, ebenfalls nieder, lehnte sich an die Wand und war sofort eingeschlafen. Alrik war ohnehin überrascht gewesen, dass der Rommilyser Stadtadelige auf dem Gewaltritt und der Strapaze im Bergwerk eine erstaunliche Kondition an den Tag gelegt hatte. Der Streunerbaron setzte sich daneben und schnaufte kurz durch.

Alboran blickte auf Haldanas Körper, der sinnlich und anregend neben ihm lag. Hätte ihm jemand in der Knappenschule gesagt, dass er mit der Binsböckel zusammen käme, er hätte ihn einen Narren gescholten. Auch hätte früher nicht gedacht, dass er die eher klein und kräftig gewachsene Schlotzerin attraktiv finden könnte. Aber dem war definitiv so. Der junge Friedwang lächelte.
Anders als er das bei seiner Mutter beobachtet hatte, küsste Haldana mit einer leichten Zurückhaltung und Schüchternheit, und nicht fordernd-impulsiv, aber deswegen nicht mit weniger Leidenschaft. Auch die „Geräuschkulisse“, die er auf Gut Senkenthal von seiner Mutter aus dem Schlafgemach des Öfteren gehört hatte, war nicht Haldanas Art, die offenbar lieber leise genoss. Aber Alboran war zu dem Schluss gekommen, dass ihm die stille Rahjagefälligkeit Haldanas mehr Gefallen bereitete als das wilde levthansgefällige Treiben seiner Mutter. Sie hatten sich beide viel Zeit gelassen, sich langsam beschnuppert und angenähert und erst lange und ausgiebig geküsst, bevor er erst Haldana und dann sich selbst entkleidet hatte und die Schlotzerin sanft in das Bett getragen hatte.
Dann, danach, war Haldana, die genauso übernächtigt und erschöpft war wie auch er, eingeschlafen. Alboran hatte sich an sie geschmiegt. Erst jetzt, da seine Augen Haldanas schlafenden Körper musterten, fiel dem Junker ein, dass Haldana doch eigentlich noch eine Jungmaid hätte sein müssen. Kurz war er überrascht. Aber dann erinnerte er sich, dass Haldana zwangsverheiratet worden war, auf der Flusshexe. Haldana hatte ihre kurze `Ehe` nicht weiter thematisiert und auch nicht im Detail erwähnt, was Golo ihr wohl angetan hatte. Nun, er würde nicht danach fragen. Wenn Haldana nicht von selbst eines Tages davon erzählen würde, dann sollte der Mantel des Schweigens darüber liegen.
Alboran schmiegte sich an Haldana und legte seinen Kopf auf ihre Schulter und zog ihren Arm über sich. Er fühlte sich irgendwie besser, behüteter, wenn die Binsböckel ihn mit dem Arm umfasste, selbst wenn diese schlief. Es dauerte nicht lange, dann schlief auch Alboran ein, ebenso mit einem Lächeln auf dem Gesicht wie Haldana.

Und noch jemand lächelte. Wenn dieser Jemand denn lächeln könnte, ohne ein eigenes Gesicht zu haben. Ein körperloser Jemand, der sich in Haldanas Leib eingeschlichen hatte, ohne dass die Schlotzerin das bemerkt hatte. Wie hätte sie das auch merken sollen, da er doch nicht versucht hatte, ihren Geist zurück zu drängen und ihre sterbliche Hülle zu übernehmen. Er hatte nicht mehr getan, denn als `blinder Passagier` mit ihr aus dem einstürzenden Bergwerk zu fliehen und sich ins Freie tragen zu lassen. Nun aber wurde es Zeit, zu gehen. Haldana war ein Medium, zudem eines, das Talent hatte und das ihm auf längere Zeit hin gefährlich werden konnte. Ihren Körper zu übernehmen würde ihm nicht gelingen, jedenfalls nicht auf lange Sicht. Das spürte er. Und nicht zuletzt hätte Haldanas Schutzgeist, diese Nasdja, dann seine Anwesenheit bemerkt. Besser, er zog sich beizeiten zurück. Er war nicht abhängig davon, Haldanas Körper in Besitz zu nehmen. Er würde eine andere Lösung für sich finden.
Aber Golo lächelte spitzbübisch. Er hatte lange nicht mehr mit einem Mann geschlafen.

Das Schiff wackelte und schaukelte im Orkan, der über das Südmeer tobte. Die Hafeneinfahrt von Brabak war bei diesem Wetter nicht leicht zu nehmen. Man musste wohl zu Efferd beten, dass der Steuermann den richtigen Kurs fand. Eine plötzliche Bö fuhr über das Deck. Alrik rutsche auf den nassen Planken aus und stieß sich den Kopf am Mast.
Der Streuner stöhnte. Wie durch einen dichten, sich nur langsam lichtenden Nebel nahm er seine Umgebung wahr. Wie kam die Steinmauer auf das Schiff?
Richtig. Er war im Ingerimmtempel vom Kurgasberg und hatte sich kurz neben Jodokus gesetzt und an die Wand gelehnt. Er musste eingenickt sein. Nur ganz kurz.
Langsam stand Alrik auf und stieß dabei gegen Jodokus, der ebenfalls aufschreckte. „Ich geh mal raus.“ murmelte er. „Etwas kaltes Wasser übers Gesicht tut sicher gut“ brabbelte er. Auch Jodokus blickte auf und sah zu Alrik, der zur Tür wankte, schlaftrunken.
Draußen ging eben die Sonne unter. Der Himmel über den Trollzacken hatte sich blutig rot gefärbt.
„Phex nochmal!“ Alrik erschrak, als er erkannte, dass er den ganzen Tag über geschlafen hatte. Nun, verwunderlich war das nicht.
„Ich hätte dich ohnehin bald geweckt“ hörte Alrik die vertraute Stimme des Jägers.
Alrik schöpfte sich ein paar Hände voll Wasser aus dem Trog und nässte sich Haare und Gesicht. Das kalte Wasser belebte ungemein. Langsam verzog sich der Nebel in seinem Kopf.
„Hast du Wache gehalten?“
Der Nivese nickte.
„Respekt. Die Ausdauer möchte ich auch haben. Allein?“
„Ja. Aber ich habe mit den Grenzreitern vereinbart, dass sie ab Sonnenuntergang die Wache übernehmen. Hensgar und Brinia sind ausgeruht, die waren ja nicht im Berg. Ist schon in Ordnung.“
Jodokus trat zu den Gefährten. „Ist Haldana aufgetaucht? Und Alboran? Scheiße, Mann, wir schlafen hier und die beiden stecken womöglich noch im Berg fest?
„Glaube ich nicht“ beruhigte Tuvok. „Wenn Hesindian durch den Bach raus gekommen ist, dann können das Haldana und Alboran auch schaffen. Und unten am Wasserfall steht das Riesenfass. Ich vermute mal, dieser Luftgeist hat ihnen geholfen. Aber wir sollten nachsehen. Wie gesagt, ich wollte Euch ohnehin wecken.“
„Na, das ist mal beruhigend“ murmelte Alrik. „Jodokus, wenn sich Tuvok nicht sicher wäre, dass es Haldana gut geht, er hätte uns nicht schlafen gelassen.“
„Da hast du auch wieder recht“ brummte der Stadtadelige. Aber, ja, jetzt sollten wir wirklich nachsehen.“
Alrik nickte. Tuvok rüttelte die beiden Grenzreiter wach.
„Beeindruckend, diese Aussicht und das Glühen der Trollzacken“ murmelte Jodokus, während er dem Jäger auf dem Pfad zum Wasserfall folgte.
„Nicht wahr? So etwas kriegt man in Rommilys nicht zu sehen. Da haben die Berge schon ihren Vorteil. Und das Bergglühen ist auf dem hellen Kalkstein der Zacken noch herrlicher als im dunklen Sichelgebirge.“ Der Jäger stimmte zu. Alrik stellte fest, dass zwischen Jodokus und Tuvok kein Zwist mehr lag. Offenbar einte die gemeinsame Sorge um Haldana die beiden, mindestens vorübergehend. Aber die überstandenen Gefahren hatten sicher auch das ihrige getan, den Zwist um Haldana wie in ferner Vergangenheit wirken zu lassen.
„Verdammt steil hier.“ murmelte Jodokus und bemühte sich, seine Füße sicher auf dem felsigen Boden aufzusetzen. Die gleiche Trittsicherheit wie der berggewohnte Jäger hatte er nicht. Aber er ließ sich nichts anmerken.
Das Rauschen des Loderbachfalles nahm im gleichen Maß zu, wie die drei sich dem Riesenfass näherten.
„Das Fass sollte ich nach Rommilys bringen lassen“ murmelte der Brauereibesitzer. „Zum Bierausschank. Das fällt ins Auge, mit so einer Ausschankbude sticht die Darpatperle jede Konkurrenz aus.“
„Immer das Geschäft im Sinn?“ murmelte Alrik. „Wer weiß, vielleicht kommt das mal irgendwann groß in Mode, in einem Fass zu übernachten.“ Der Friedwang lachte. „Man stelle sich das mal vor, eine Reihe Fässer am Darpatufer, vermietet an Durchreisende, und in einer Taverne am Fluss wird dein Bier ausgeschenkt. Wer weiß.“
Tuvok und Jodokus lachten. Sie hatten den Abstieg zum Loderbach hinter sich gebracht und näherten sich mit zügigen Schritten dem Fass. Auf dem schmalen Pfad schritt der Jäger vorneweg, umrundete das Fass, der den Blick auf den dahinter liegenden See am Fuß des Wasserfalls verdeckte.
„Haldana!“ rief Tuvok.
Alrik und Jodokus vermochten nicht zu sagen, ob die Stimme des Jägers überrascht, erfreut oder vielleicht doch vorwurfsvoll klang. Beide verfielen in Laufschritt, schlossen zum Jäger auf und umrundeten ebenfalls das am Bachufer stehende Fass.
Alrik lachte laut auf bei dem Anblick, der sich im nun bot.
Sein Sohn Alboran und die kleine, kräftige Schlotzer Baronin, beide im Rahjagewand, standen bis zur Hüfte im eiskalten Wasser, neckten sich gegenseitig und bespritzten sich mit Wasser. Als beide den Jäger rufen hörten, drehten sie sich um, einen völlig überraschten und irgendwie ertappten Ausdruck auf dem Gesicht.
„Möchte mal wissen, wer von Euch jetzt röter im Gesicht ist. Du, mein Sohn, die schmucke Baronin von Schlotz oder das untergehende Antlitz des Herrn Praios.“ Alrik lachte wieder. „Ich würde mal sagen, der Herr Praios liegt auf dem letzten Rang.“
Der Baron blickte auf Jodokus und Tuvok. Auf deren Reaktion war er jetzt gespannt. Der ebenfalls überraschte Jäger rang nach Worten.
„Nun, ich lege mich fest“ lachte Alrik weiter. „Der Gewinner ist Tuvok.“ Er lachte nicht nur, um seiner heiteren Stimmung Ausdruck zu verleihen, sondern einer Moralpredigt des Jägers ebenso wie einer Szene des Rommilyser gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Jodokus fasste sich fast genauso schnell wieder wie der Friedwanger Baron. Er hatte es irgendwie geahnt, bereits vorhin im Berg, und jetzt hatte er Sicherheit. Den Kampf um Haldana hatte er verloren. Nun, jeder konnte einmal verlieren. Aber er war von Stand, er war ein Rommilyser Patrizier. Und ob man zu Recht als edel von Geblüt gelten durfte oder nicht, das zeigte sich in der Niederlage. Jodokus ging hier als Verlierer vom Platz, kein Zweifel. Aber er würde nicht als schlechter Verlierer gehen.
„Liebe Kusine! Alboran, ich freue mich, dass ihr beide Wohlauf seid. Wir haben uns Sorgen um Euch gemacht, nach dem Steinschlag im Berg.“ Neid oder gar Eifersucht auf den jungen Friedwang war ihm jedenfalls nicht anzumerken.
„Haldana!“ polterte Tuvok, der sich deutlich langsamer wieder fasste. „Was...“ begann er, aber ihm fehlten die Worte.
Die Bardin seufzte. Dann kämpfte sie ein kurzes Zittern ob des erneuten Ertappt seins nieder. Sie hatte den Kurgasberg überlebt und sie redete mit Geistern. Sie war zwangsverheiratet und verwitwet. Nun war sie, schon zum zweiten Mal, dabei erwischt worden, als ihre Gefühle sie übermannt hatten. Aber sie war kein Kind mehr. Sie war eine Baronin der Sichel und musste sich vor niemandem für ihre Gefühle rechtfertigen außer vor den Göttern selbst.
„Ach, Tuvok. Es ist mein Leben, das ich lebe und es ist mein Herz, das ich verschenke. Sage das meiner Mutter, wenn sie dich fragt.“
Haldana war sich nicht sicher, ob sie alles richtig gemacht hatte, schwankte zwischen dem Gefühl der Pflichtverletzung und der Freude über das Geschehene. Sie hätte Alboran dazu bewegen können, zu warten, sicher. Aber was geschehen war, war ihre Sache und nicht die des treuen Jägers.
„Haldana… du weißt… das Gerede der Leute, wenn du unkeusch irgendwann den Traviabund….“
„Ach was, Tuvok. Du vergisst, Haldana ist Witwe. Da muss sie sich nicht mehr rechtfertigen über fehlende Keuschheit. Das kann doch noch nicht einmal ein Traviafrömmler monieren.“ Jodokus verteidigte die junge Baronin.
„Ähm, nun...“ dem Jäger blieb die Sprache weg. Aber der Punkt ging zweifelsfrei an Jodokus.
Haldana beschloss, dem Hofjäger zu Schnayttach, der Tuvok war, ein für alle Mal zu zeigen, dass sie über ihr Leben selbst entschied und nicht ihre Mutter. Sie drehte sich zu Alboran um und küsste ihn mit zarter, aber bestimmter Leidenschaft auf den Mund, drückte ihn fest an sich, mit ihren kräftigen Händen den schlanken Junker an dessen Gesäß fest gegen sich drückend. Die klein gewachsene Sichlerin musste sich hierfür auf die Zehenspitzen stellen, um Alborans Gesicht zu erreichen.
Alboran, der immer noch knallrot im Gesicht, war völlig überrascht und brauchte einen Augenblick, um den Kuss zu erwidern. Die Traviafrömmlerin der Knappenschule, sein Tanzgerät, stand hier nackend vor allem, aber statt sich zitternd ihren Rahjaschatz zu bedecken bedachte sie ihn in aller Öffentlichkeit mit einem Kuss, der mit der darin liegenden Selbstsicherheit und Zielstrebigkeit jeden Schwätzer zum Schweigen brachte.
Dem getreuen Schlotzer Jäger blieb der Mund offen stehen.
„Und… wenn nun kein standesgemäßer...“ stammelte der Nivese.
„Bei Firun, geschätzter Waidmann“ unterbrach Jodokus und legte dem Nivesen mit brüderlicher Geste den Arm um die Schultern. „Der Sohn des Barons von Friedwang ist für eine Tochter aus hochgeborenem Haus durchaus standesgemäß. Schließlich ist er anerkannt von seinem Vater. Also sei unbesorgt. Ich glaube, auch die ehrwürdige Altbaronin hat nichts dagegen einzuwenden.“ Jodokus reichte der Sichlerin ihr am Ufer bereit gelegtes Trockentuch.
Haldana war überrascht. Neben einem vorwurfsvollen Jäger hätte sie mit einem eifersüchtigen Stadtadeligen gerechnet. Nicht damit, dass gerade der von ihr abservierte Galan sie auf das Ritterlichste verteidigte. Auch Alrik hätte mit allem anderen gerechnet als damit. Aber die Reaktion des jungen Stadtadeligen nötigte ihm Respekt ab.
„Das denke ich doch auch, dass mein Sohn standesgemäß ist.“ stimmte der Baron von Friedwang zu

 

Hesindian schrie, während er versuchte, sich auf dem Strohbett hoch zu rucken und aufzusetzen. Mit dem Zauberstab als Krücke gelang es ihm, wenn auch mehr schlecht als recht. Ächzend saß er in der kleinen, bäuerlichen Kammer, und starrte auf den ekligen Ausschlag an seinen Händen. Rötliche Pusteln, die irgendwie an Krötenwarzen erinnerten. Oder an die horasische Krankheit. Der Hexenschuss im Kreuz erinnerte ihn eindeutig an Sisa Brundel. Bei all den Schmerzen fragte er sich, wie er es geschafft hatte, Alrik und den anderen Gefährten zum ein Stück weit unterhalb Kurgasberg gelegenen Bergbauernhof zu folgen.
Der weißhaarige Zauberer zog die Boltankarten hervor, und warf sie auf den gestampften Lehmboden. Sie purzelten wild durcheinander, wieder einmal. Der Magus fingerte nun nach den Knochenwürfeln, in seiner Gürteltasche. Auch die Würfel rollten "normal" über den Boden. Hesindian war zufrieden. Die magischen Spielgeräte besaßen seit der Gespensternacht kein unheiliges Eigenleben mehr. Das bedeutete, dass der "Hexer von Rommilys" nicht mehr in der Dritten Sphäre weilte. Wenn das mal keine guten Nachrichten waren.
Einer der Würfel klackerte gegen Holz. Genauer gegen einen klobigen Holzschuh. Trotz der niederhöllischen Schmerzen zwischen Rücken und Steißbein schaffte es Hesindan, hoch zu blicken. Ein dralles, hübsches Ding blickte ihn verlegen an – oder angewidert? Immerhin schienen ihm die Pusteln auch im Gesicht zu sprießen. Ein Bergbauernmädel im schlichten, erdfarbenen Gewand. Aber durchaus gefällig anzuschauen, mit ihren brünetten Zöpfen und dem sommerfrischen Gesicht. Der Mund war klein, die Lippen leicht gespitzt. Ihre blauen Augen leuchteten.
Jetzt vollführte die Maid auch noch formvollendet einen Knicks: "Bitteschön, der Herr, das Bad ist fertig." Hesindian versuchte aufzustehen, und wäre beinahe schreiend hingefallen. Ächzend humpelte er los, krumm wie ein Greis. Seine "Dienstmagd" führte ihn in die Gute Stube, wo Dielen knarrten. Dort dampfte tatsächlich ein heißes Bad, in einem großen Zuber, im hellen Licht des Frühlings. Es roch nach Harz, Fichten- und Zirbennadelöl. Das Bad schien ein einziger Kräuterabsud zu sein. Der Magier wurde Stück für Stück ausgezogen, gegen seinen sanften Widerstand. "Keine Widerrede, der Herr… Ihr habt im Loderbach gelegen… Wenn Ihr von Eurer Sieche genesen wollt... da hilft am besten ein Zackenländer Bad. Habt Ihr noch nie vom Fluch des Pechmanderls gehört, das droben im Berg sitzt und die Viehseuche bringt?"
Stöhnend ließ sich Hesindian in den Zuber gleiten, und schrie noch einmal auf. Klappernd fiel sein Stab um.
"Ich glaube, ich habe es sogar gesehen, dein Pechmanderl." Schnurrend wie eine Katze legte sich Hesindian ins heiße, dampfende Wasser. "Mittlerweile hat es die Fliege gemacht. Aaah, tut das gut..." Überall um ihn herum trieben Baumnadeln und ölige Flecken.
Die Trollbergerin rieb ihn mit Duftseife ein. Herrlich. Derartige Annehmlichkeiten war er einfach nicht mehr gewohnt. Das Bauernmädchen schien nicht die geringste Angst vor ihm zu haben, ihm, dem bösen Zauberer. Nicht einmal Scheu. Die Schmerzen ließen ein wenig nach. Auch seine Seele fand langsam Ruhe.
In der Nachbarbadewanne saß Alboran, während sich neben ihm Haldana räkelte, als befänden sich beide in den Darpatthermen. Ebenfalls nackt, wie Frau Rahja sie geschaffen hatte.
"Du hättest einen größeren Schluck vom Heiltrank nehmen sollen", sagte der Junker, und pflückte sich eine einzelne, grüne Nadel von der Nase. Die war immer noch ziemlich blass. Schien sich körperlich völlig verausgabt zu haben. Im alten Bergwerk - und danach im Fass?
"Es wird zu viel auf Alchimie vertraut, in der Heilkunde." Hesindian schloss die Augen und genoss es, die Haare eingeseift zu bekommen, von seiner liebreizenden "Reibermagd". Herrlich, herrlich. Vielleicht nicht so luxuriös wie in Rommilys, aber doch fast wie zuhause in Markt Friedwang, im Badehaus von Ruffus Munkel. Auf der Alm, da gibts keine Sünd. Fehlte nur noch die Schwitzstube.
"Wie ist dein Name?"
Das Bauernkind deutete wieder einen Knicks an. "Janne, Herr."
"Janne wie noch?"
"Föhrenhof, Herr. Janne vom Föhrenhof. "
"Das passt..." Hesindian ließ sich wohlig seufzend ein ganzes Stück tiefer sinken, ins heiße, dampfende Wasser. "Du musst mich nicht ständig Herr nennen… mein Edlengut ist schon vor Jahren abgebrannt."
"Ihr seid edler Abkunft?" Ehrfurcht breitete sich in Jannes Stimme aus. Noch mehr Ehrfurcht.
"Bei der Geburt war ich nicht edler als du" sagte Hesindian kokett . "Vom, von, was ist der Unterschied, im Angesicht der Allweisen Herrin? Jaja. Wurde mal geadelt, weil ich mich mit den Schergen des Bethaniers herumgeschlagen habe. Auf der anderen Seite der Trollzacken."
Der Magier öffnete die Augen wieder.
Alboran legte gerade den Arm um Haldana, wobei er irgendwie grinste. Anzüglich und "wissend". Natürlich, Alriks Sohn war gerade in Rahjas siebtem Himmel, da sah er wohl überall neue Liebespärchen um die Ecke schweben.
Hesindian hätte Jannes Vater sein können, schließlich war er kaum jünger als Alrik. Alboran. Er konnte sich noch gut an den verzogenen kleinen "Sonnenjunker" erinnern, das verhätschelte Albolein, wie es durch Burg Friedstein getobt war, mit seiner Trommel. Unglaublich, dass der junge, drahtige Knappe da drüben der gleiche Mensch sein sollte. Er war reifer geworden, so viel stand fest. Nicht nur an Jahren. Obwohl, gestern hatte der junge Aristokrat ihm den Rest vom Lebenselixier weg getrunken, schlotternd und fröstelnd. Nicht mal absichtlich. Einfach alles rein gekippt, als er vor der Fasshütte kollabiert war, und man ihm die Phiole gereicht hatte. Gerne hätte Hesindian das "Hexenhaus" selber unter die Lupe genommen, aber die Tür war wieder zugeschlagen und hatte sich seitdem nicht mehr geöffnet. Auch die Fensterläden waren mit Rumms zugeklappt, als wolle Sisas Domizil auf bessere Zeiten warten. Hesindian hätte es nicht einmal gewundert, wenn das Fass einfach davongerollt wäre.
"Unser Herr Magus führt schon wieder yesatanische Reden." Alboran klang ein wenig arrogant. Allerdings wirkte er dabei erheitert. "Zu viel in den Pamphleten diesen feinen Herrn Eslamsgrund gelesen, hm? Oder in diesen Büchern des Iltis? Mit solchen Ketzereien fängt es immer an, das Unheil..." Auf einem Brett zwischen Albo und Haldana stand das verspätete Mittagessen: Ziegenkäse, Brot und Bergbauernmilch. Die Höfler bewirteten sie mehr als nur traviagefällig. Verwöhnten ihre Gäste geradezu. Hesindian verstand ihre Gastgeber nur zu gut. Das schlechte Gewissen.
"Ilaris" sagte Hesindian leise. "Die Chroniken von Ilaris. Auch bekannt als Mensch, sei nicht so ängstlich… Die Ilaristen waren schon scharfsinnige Leute. Ich bevorzuge dennoch ein heißes Fichtennadelbad."
Albo blickte verständnislos.
"Nun, die Ilaristen waren Freunde des Feuerschlicks, einer Alge, die im Perlenmeer bei Elburum gedeiht" dozierte der Magier. "Genauer des heiligen Feuerschlick-Pulvers, das den Geist für neue Erkenntnisse öffnet."
"Elburum, natürlich..." Alboran tauchte unter und wieder auf. "Wo sonst sollten derartige Machwerke herkommen?" Neckisch spritzte der Baronssohn Haldana ins Gesicht.
"Die Chroniken sind schon 200 Jahre alt."
"Das Böse stirbt eben nie. Am Ende hat man in Oron mehr als nur dem Rauschkraut und wirren Irrlehren gefrönt."
"Ich weiß. War schon mal dort." Hesindian schmatzte, während er Jannes Massage genoss. Die Bauerntochter zuckte zurück.
"In geheimer Mission" fügte der Magier hastig hinzu. Er öffnete die Augen, und sah Jannes Zöpfe über sich pendeln, roch den Duft ihrer Brüste und blickte in ihr wohlgeformtes Gesicht. Das Mädel begann erneut zu lächeln, mit leichter Skepsis, die ihm mehr gefiel als die untertänige Bewunderung, die sie bislang zur Schau gestellt hatte.

Draußen, vor dem Föhrenhof, stand Alrik und paffte in der Frühlingssonne. Wäre Hesindian nicht von einem Hexenschuss niedergestreckt worden, sie wären schon längst auf dem Weg nach Rommilys. Auch Alboran schien ziemlich erschöpft zu sein. Sei es drum. Sie alle konnten eine Atempause gebrauchen, nach den Strapazen und Blessuren der letzten Tage. Jetzt, nachdem sich sämtliche dunkle - und vor allem grüne - Wolken verzogen hatten, ließ es sich in der Bergeinsamkeit aushalten, hoch über dem Kurgastal. Irgendwo in der Ferne bimmelten Ziegenglocken. Die frische Luft war herrlich. Ein paar Gämsen waren am gegenüberliegenden Hang zu sehen.
Auf der Wiese vor dem Bauernhof wurde gerade Feuerholz aufgeschichtet und die Tafel gedeckt. Fürs sogenannte "Frühlingsfest", zu dem sich die Bergbauern, Holzfäller, Köhler und Pechsieder der Umgebung einfinden sollten. Bei Tageslicht sah das Tal freundlich und harmlos aus, selbst das Wenige, was man von den dunklen Ruinen sah. Der Wasserfall glänzte in der Sonne. Ein Wanderer, der sich erst jetzt in die raue Einöde verirrt hätte, dem wäre kaum etwas Ungewöhnliches aufgefallen. Alrik allerdings schon. Dort drüben, eine der Fichtenspitzen hatte sich bräunlich verfärbt. Der Friedwanger war sich sicher, dass das mit den Überresten der Grünen Wolke zusammenhing.
"Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft!" Letztere Worte galten Gerbald, dem Hofbesitzer, der gerade aus der Scheune schritt, in Festtagstracht. "Es soll Euer Schaden nicht sein."
"Ich bitte Euch, Euer Hochgeboren. Selbst wenn Gastfreundschaft nicht Frau Travias Gebot wäre. Ihr habt uns dieses Räubergesindel vom Hals geschafft und noch weit Schlimmeres verhindert" Gerbald war ein stämmiger, gutmütiger Zackenländer mit blondem Bart, blauen Augen und wettergegerbter Haut. Er schlug das Zeichen der Heiligen Gans. "Kaelldors Clan hat uns seit Wochen schikaniert. Haben sich alles genommen, was nicht niet und nagelfest war, diese elenden Strauchdiebe und Langfinger… um ein Haar auch meine Töchter." Der Bergbauer schlug die Augen nieder. "Wir haben gedacht, dieser Korvid Alfengrund meint es gut mit uns, als Stadtmensch, mit uns und seiner alten Heimat. Aber zuletzt, da hat er immer mehr sein wahres Gesicht gezeigt. Dort drüben in der Scheune steht das Fuhrwerk, mit dem er hierher gekommen ist. Falls ihr es benötigt, um euren Gefährten bis nach Rommilys zu bringen...? Er scheint großes Ungemach zu erdulden."
"Ein Hexenschuss, ja, ich glaube, Hesindian hatte noch Glück. Dieser Loderbach ist nicht gerade eine Heilquelle. Nach allem, was wir so mitbekommen haben. Ihr müsst euch doch zu Tode erschrocken haben, bei dem Spektakel vorgestern Nacht."
"Der Jahrtag." Gerbald nickt ernst. "Wahrlich, die Nacht der Grünen Wolke ist für uns Kurgastaler oft schlimmer als die zwölfgötterverfluchten Tage zwischen Rahja und Praios. Niemand geht aus dem Haus oder zündet ein Licht an, um… um ja nichts anzulocken, vom Hexenberg her. Nur den üblen Pestodem, den haben wir schon gerochen. Was für ein Gestank! Selbst die Harpyien meiden den Berg in dieser Zeit. Es tut mir leid, das alles so gekommen ist… aber was soll ich sagen? Korvid war überaus beliebt, als Heiler und Kräuterkundiger, zumindest am Anfang. Ebenso seine reichen Gönner aus Rommilys. Wir sind arme Leute, müsst ihr wissen, götterfürchtig, aber arm, und können nicht wählerisch sein. Die Angst hat dann den Rest erledigt. Vor Than Kaelldor und seiner Bande, aber auch vor der Siechen Sisa. Ich hoffe, ihr bekommt jetzt keinen falschen Eindruck… und werdet nichts Schlechtes über uns berichten, wenn Ihr nach Rommilys zurückkehrt?"
"Nun ja… Ihr hättet schon beizeiten um Hilfe nachsuchen können, in der Stadt."
"Wer konnte denn ahnen, dass es derart schlimm werden würde?"
"Immerhin, da drüben, fast in Sichtweite, hat eine Schwarzhexe gehaust, ein Dämonenknecht und eine Räuberbande. Die wackeren Grenzreiter haben viel Blut dafür bezahlt, um diesen Alptraum zu beenden und die Traviapilger zu befreien. Ich habe auch schon angenehmere Nächte verbracht, ebenso meine Begleiter". Alrik blickte streng.
Obwohl es nicht allzu heiß war, wischte sich Gerbald aufgeregt mit seinem Taschentüchlein durchs Gesicht. Die sprichwörtlichen Drei Goblins kamen dem Friedwanger in den Sinn. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Undurchsichtig wirkten sie schon, die Bergbewohner, wie seine Sichler zuhause. Irgendwie hatte Alrik das Gefühl, dass Gerbald und Korvid Blutsverwandte gewesen waren. Die Nachricht von seinem Ableben schien durchaus Bedauern in ihm hervorgerufen zu haben.
"Gewiss, Herr", sagte der Bergbauer unterwürfig. "Aber bedenkt, dass die Menschen hier oben weit verstreut leben. Sie misstrauen den Tiefländern, und umgekehrt ist es ja auch so. Verzeiht, dass heißt nicht, dass ich Euch und Euren Gefährten misstraue. Das mit den Tiefländern ist auch nicht beleidigend gemeint… es ist nur… man lebt bei uns die meiste Zeit für sich, jeder nach seinen Regeln…"
"Ja, ja, schon gut. Ich komme aus den Sichelbergen, wir sind auch unsere Freiheit gewohnt. Aber gerade deswegen stehen wir gegen äußere Feinde zusammen, egal ob als Hoch- oder Tieflandbewohner." Alrik atmete tief durch, verschluckte sich am eigenen Tabaksrauch und hustete. Eigentlich hatte er sich ja für die Gastfreundschaft bedanken wollen. Nun stand Gerbald Föhrenhof da wie ein begossenes Murmeltier.
Wortfetzen und stampfende Hufe lenkten den Baron ab. Die Geräusche kamen vom Pfad, der sich den steilen Hang hinauf schlängelte, Richtung Hof.
"Lasst...lasst mich los!"
Zwei der Grenzreiter näherten sich, einer zerrte ein bockiges Maultier hinter sich her. Der andere eskortierte einen blonden, hageren Mann mit großer Nase, der in den Trollzacken kaum deplatzierter hätte wirken können. Der Neuankömmling sah aus wie ein Kapitän zur See, mit blauer Uniformjacke, Rüschenkragen und mächtigem Dreispitz. Gerade eben hatte er sich losgerissen.
"Ah, Flarion Silbertaler" Alrik blickte ehrlich erstaunt, war aber zugleich erleichtert, dass er das Gespräch über die Eigenheiten der Trollzacker nicht weiter vertiefen musste. "Wie ich sehe, kennt Ihr den Weg nach Kurgasberg ja doch?"
"Ihr kennt den Vogel?" Flarions Bewacher ließ seinen Gefangenen los, hielt aber misstrauisch die Hand am Säbel. "Wir dachten, das sei noch einer von diesen verfluchten Trollberger Marodeuren…"
"Natürlich kennen wir uns..." Flachwasser-Flarion lüpfte den Hut und deutete einen Kratzfuß an. "Hochgeboren Alrik, nicht wahr, so heißt Ihr doch? Es freut mich, Euch gesund und munter wiederzusehen, Euer Hochgeboren. Was ist aus Gerrich geworden, und seiner, äh, Hofmagierin?"
"Eine lange Geschichte. Die süße Sisa liegt da unten, im Tal, unter einem kleinen Steinhaufen, und Gerrich mit zwei Pfeilen im Bergwerk. Unter einem großen Steinhaufen… Sieht so aus, als hätten wir zwei Fliegen mit einer Klappe erschlagen. Und bei der Gelegenheit auch noch manch anderes Geschmeiß beseitigt." Alrik musterte den Neuankömmling streng. Einerseits traute er Gerrichs Handlanger nicht. Andererseits hätte er ihn eher auf der Flucht als auf dem Weg ins Geisterdorf vermutet.
Der Käpt´n legte wieder mal sein dummschlaues Boltansgesicht auf. "Was, in des Unergründlichen Namen, ist geschehen?"
"Sagen wir, die Stimmung ist übergekocht, zusammen mit Sisas Hexenkessel. Was ist mit Euch, Silbertaler? Habt Ihr von Eurem Flusskahn aufs Maultier umgesattelt? Heißt es nicht, dass ein Kapitän immer als Letzter von Bord geht, und nicht ständig als Erster?"
"Ich bitte Euch, als Kapitän der Flusshexe bin ich nicht nur für mein Schiff verantwortlich, sondern auch für die Ladung. Das Handelshaus Warrlinger wird Antworten erwarten. Ich hatte Glück, mit Hilfe von Efferdi Falswegen und einigen Fischern habe ich die Flusshexe wiedergefunden und wieder flott bekommen. Wenig später ist dann sogar meine Mannschaft eingetroffen. Naja, ein Teil davon… Nun wollte ich einmal im Kurgastal nach dem Rechten sehen. Immerhin wartet hier noch eine Ladung bestes Trollzacker Pech auf Abholung."
"Ihr habt Nerven!" Alrik schüttelte den Kopf, nicht ohne Bewunderung für die dreiste Art des Süßwasser-Kapitäns. "Was macht Euch eigentlich so sicher, demnächst nicht in einem Kerker in Rommilys zu sitzen? Oder vielleicht auf der Ruderbank einer kaiserlichen Trireme, irgendwo weit draußen auf der Blutigen See?"
"Ich...ich verstehe nicht. Bei Efferd, ich habe mit den Ränken dieses Gerrich nichts zu tun und nur meine Pflicht erfüllt. Diese Haldana kann das bezeugen." Flarion setzte seinen Dreispitz wieder auf.
"Sicher, sicher… Orkscheiße ist etwas Wunderbares. Myriaden von Fliegen können sich nicht irren. Die Flusshexe hat ein paar besonders buntschillernde Brummer angelockt, scheint mir."
"Was wollt Ihr mir damit sagen: Mitgefangen, mitgehangen? Ich bitte Euch, Euer Hochgeboren. Ganz so einfach liegen die Dinge nicht. Ihr seht mir aus wie jemand, der eine Sache gründlich zu Ende denkt, bevor er entscheidet. Gerrich von Friedwang, der bisherige Miteigner, hat seine gerechte Strafe bekommen? Sehr gut. Damit wären sein nächster Verwandter Golo und dessen Gemahlin Haldana die rechtmäßigen Erben… vorausgesetzt, das Schiff wird nicht einfach in Rommilys beschlagnahmt... und es kommt in Folge nicht zu endlosen Rechtsstreitigkeiten mit dem Handelshaus Warrlinger. Das nun wirklich nichts für die, äh, Missverständnisse der letzten Zeit kann."
"Golo? Der hat sich in Luft aufgelöst. Was die Gültigkeit dieses sogenannten Traviabunds betrifft… da gehen die Meinungen ein klein wenig auseinander." Alrik zwirbelte seinen Spitzbart und überlegte kurz. "Allerdings, wie es der Zufall will, bin ich rechtmäßiges Oberhaupt des Hauses Friedwang. Ich bin somit in der Lage, Gerrichs Erbe zu regeln."
Flarion hob die Augenbrauen. "Verstehe. Hab ich Euch eigentlich erzählt, dass sich ein nicht unbeträchtlicher Teil der Schiffskasse in meinen Besitz befindet?" Der Kapitän schlug auf die Satteltaschen des Maultiers. Ein leises Klirren war zu hören. "Das sollte Euch überzeugen, dass ich nichts, aber auch rein gar nichts mit diesen götterlosen Schurken gemein habe. Ich hätte mich jederzeit mit den Dukaten aus dem Staub machen können… nein, ich bin bereit, das bestellte Pech zu erwerben… und es dann in Perricum zu verkaufen, für die Werften, zu einem guten Preis. Dort kann ich dann gerne mit dem Kontor Warrlinger reden, was Eure Erbansprüche betrifft. Eine Aufbesserung der Gewinnbeteiligung des Hauses Friedwang erscheint mir durchaus denkbar. Immerhin könnt Ihr das Handelshaus davor bewahren, in eine wirklich üble Geschichte hineingezogen zu werden..."
"Silbertaler, die sich mit Duckern aus dem Staub machen? Das kenne ich nur zu gut."
Flarion blickte perplex, also probierte es Alrik mit einem füchsischen Lächeln. "Welchen Anteil hatte Gerrich nochmal an der Flusshexe?"
"So in etwa 20 Prozent."
"Machen wir das Doppelte draus – dann bin ich gerne bereit, etwaige Missverständnisse zu bereinigen… oder gar nicht erst aufkommen zu lassen, am Hof der Markgräfin."
Alrik blickte auf die Satteltaschen. Die schienen gut gefüllt zu sein. Flarion hatte Nerven, mit einem solchen "Goldesel" in die Trollzacken zu reiten. Andererseits war es sicher ebenso wenig ratsam, die Münzen unbeaufsichtigt auf der Flusshexe zurück zu lassen. Vom Handelshaus Warrlinger hatte er schon gehört. Es sollte in Khunchom als Strohmann für Dhachmani, Gerbelstein und Stoerrebrandt fungieren, und ihnen so den Maraskan-Handel ermöglichen, der ein Monopol für Kaufleute aus dem Neuen Reich war. Teobaldo, der Erbe des einstmals in Perricum ansässigen Handelshauses, feierte mittlerweile rauschende Feste am Mhanadi, in seiner Villa. Wer mit der Käferinsel Geschäfte machte, mit der Schmugglerdynastie Dhachmani oder mit Giftmischern wie den Gerbelsteins in Mengbilla - so jemand dachte sicher ähnlich wie ein Phexgeweihter aus dem Tiefen Süden. Das bedeutete, dass man auf Augenhöhe würde miteinander verhandeln können.
"Vie… Vierzig Prozent, das ist… sehr viel, findet Ihr nicht, Euer Hochgeboren. Ich meine, dafür, dass Ihr noch nie Geschäfte mit dem Haus Warrlinger getätigt habt."
"Glaubt mir, ich habe Erfahrung mit dem Maraskanhandel… und wie er abgewickelt wird. Die Beteiligung ist aber nicht für mich. Ich dachte da eher an Frau Haldana, die, wie Ihr schon sagtet, rechtmäßige Erbin von Gerrichs Anteil ist. Schon allein dadurch, dass sie sich gerade mit Golos Sohn verlobt hat, meinen Adoptivsohn. Dann gäbe es noch das Handelshaus Romerzi und die Brauerei Baernfarn in Rommilys, die um ein Haar durch den Geschäftspartner des Herrn Warrlinger geschädigt worden wären. Übelst geschädigt. Ich denke, da wären weitere 20 Prozent eine angemessene Wiedergutmachung, um ein paar wirklich hässliche Gerüchte zu vermeiden. Macht summa summarum 40 Prozent. Damit behält Warrlinger sogar noch die Mehrheit an der Flusshexe…"
"Ich werde in Perricum davon berichten", sagte Silbertaler, etwas dünnlippig. "Möchte da aber besser nicht zu viel versprechen. Wenn Warrlinger verhandelt…"
"Fällt der Rechenschieber um, ich weiß. Ihr solltet auch einmal mit Haldana und Jodokus reden. Wer weiß, vielleicht springt sogar eine Provision für Euch heraus? Aber nun ist es erst einmal an der Zeit, den glimpflichen Ausgang des Ganzen zu feiern."

So langsam senkte sich Abendstimmung über das Tal und den Föhrenhof, wo das Lagerfeuer in hellen Flammen stand. Funken wirbelten hinauf zum Himmel, an dem bereits die ersten Sterne funkelten.
Pärchen drehten sich im Tanz oder schäkerten miteinander. Drei, vier Dutzend Besucher hatten sich auf der Festwiese eingefunden. Ganz so menschenleer, wer Gerbald behauptet hatte, war dieser Teil der Trollzacken offenbar nicht. Der rote Himmel war herrlich, die Zacken glühten in voller Pracht, unter einem zarten Schleier aus Wolken. Auch Alboran und Haldana schwangen das Tanzbein. Auch wenn sein Sohn sich ein wenig linkisch abmühte, war es doch offensichtlich, dass der Funke übergesprungen war. Es gab sogar Musici, die mit Trommel, Fiedel und Flöte für gute Laune sorgten. Die Mundartlieder waren kaum zu verstehen (irgendwie hörten sich die Worte trollisch an), aber überaus beschwingt.
Alrik wippte im Takt mit den Beinen mit. Dennoch betrachtete er die Szene mit gemischten Gefühlen, auf seinem Ehrenplatz an der Festtafel. Der Trollzacker Rotwein in seinem Tonbecher schmeckte bitter. Fast schon vermisste er die Zeiten, als der kleine Albo sein Sorgenkind gewesen war. Nun hatte er sich gemausert, vom Jüngling zum Mann. Das bedeutete aber auch, dass Alrik loslassen musste. Dass er selbst wieder ein ganzes Stück älter geworden war. Neben ihm saß Jodokus und prostete ihm zu.
"Schmeckt dir der Wein?" fragte der Friedwanger leise.
"Ehrlich gesagt, im ersten Moment habe ich gedacht, ich hätte versehentlich einen Krug voller Harz oder Pech erwischt." Der Baernfarn lachte auf, und wandte sich dann wieder dem Ziegenbraten zu. "Das Wildbret ist nicht schlecht, und die Kräutersoße. Auch wenn ich immer noch rätsele, was das sein soll? Gämse?"
"Wahrscheinlich Gebirgsbiber" schmunzelte Alrik und sah hinüber zu Hesindian, der mit Janne plauderte. Sein Magus hatte sich in den Kopf gesetzt, die Bauerntochter mit nach Rommilys zu nehmen, als seine "Dienerin": Schon nach dem zweiten Becher Rebensaft, was bei Hesindians sprunghaften Ideen ungewöhnlich war.
Der Mondschatten hatte erwartet, dass Gerbald Föhrenhof sich mit Händen und Füßen dagegen wehren würde. Aber der Bergbauer schien sogar froh zu sein, seine Tochter in den Händen eines gutsituierten Magieredlen zu wissen. Die Geschichte von Korvid Alfengrund, der es vom Kaminkehrer zum geachteten Medicus gebracht hatte, drunten im Tiefland: Einer der alten, zahnlosen und furchtlosen Bauern hatte sie Alrik krächzend erzählt, die Zunge vom Birnenschnaps gelockert.
Flarion Silbertaler war ebenfalls schon ziemlich angeheitert. Leicht schwankend stand er auf und schlug mit dem Essmesser gegen einen buntbemalten Weinkrug.
"Liebe Gäste… liebe Gäste. Wenn ich kurz um Aufmerksamkeit bitten dürfte…"
Ein paar Gesichter drehten sich um.
"Nun, was soll ich sagen. Eine überaus gefahrvolle Reise ist zu Ende gegangen. Eine bezaubernde junge Edeldame hat Schreckliches erlebt und überlebt… und nach vielen Wirrungen doch noch die Liebe ihres Lebens gefunden. Ein furchtbares Ritual wurde verhindert, und manch Bösewicht hat seine gerechte Strafe gefunden. Die Wege der Götter sind unergründlich, aber ich denke, wir alle haben gelernt, dass ..."
"Jaja, so ist es, da habt Ihr völlig Recht." Alrik beförderte den Kapitän wieder auf seinen Sitzplatz. "Schaut mal, die Fackeln am Haus werden entzündet… und da kommt auch schon der Nachtisch."
Die Tänzer kehrten nach und nach zurück an die Tische. Tatsächlich wurde nun Quitten- und Birnenkompott aufgetischt. Haldana setzte sich mit ihrer Laute zu den Spielleuten, und stimmte mit glockenheller Stimme ein Lied aus der Schwarzen Sichel an.
"Und?" fragte Alrik zu Jodokus.
"Schmeckt holzig wie Sägespäne. Aber dieses wunderbare Aussicht macht einiges wieder wett… und diese Luft, diese herrliche Abendluft. Da, eine Sternschnuppe." Der Patrizier deutete in Richtung des dunkelblau werdenden Himmels, wo tatsächlich ein milchiger Schweif dahin flirrte und rasch zerstob.
"Du darfst dir etwas wünschen", sagte Rovik, der zwei Plätze weiter seinen Bart voller Mus kleckerte. "Sehr süß, sehr süß… damit könnte man einen Troll glatt bis nach Rommilys locken… Also los, einen Wunsch hast du frei."
"Wer, ich?" fragte der Friedwanger.
"Derjenige, der den Phexensgruß entdeckt hat", sagte Tuvok. "Glaube ich jedenfalls."
"Na los, wünsch dir was." Alrik knuffte Jodokus aufmunternd in die Seite.
"Hm, weiß nicht…"
"Das ist nicht dein Ernst. In deinem Alter muss man doch noch Wünsche haben?!"
"Vielleicht… Ja… Ein Sitz im Rommilyser Stadtrat, das wärs."
"Was? Ach komm, so was ist aber nun wirklich unromantisch."
"Du kennst den Sitzungssaal im altehrwürdigen Rathaus zu Rommilys schlecht… Er ist wunderschön. Ansonsten ist mein Bedarf an romantischen Gefühlen gedeckt." Jodokus blickte hinüber zu Haldana. "Bis auf Weiteres."
"Darf ich deinen Nachtisch noch haben?" nuschelte der Zwerg und langte auch schon zu. "Wenn wir gerade beim Thema Edelmut und Verzicht sind?"
"Sieh an, da ist einer noch im Wachstum", spöttelte der Jäger und kraulte Rovik den Kopf. "Schön hier draußen. Wollen wir wirklich morgen schon in die Stadt zurückkehren?"
Alrik goss sich noch etwas Trollzacker in den Becher und trank. Na also, so langsam verschwand der bittere Geschmack aus seinem Mund. Zufrieden lächelnd lehnte er sich zurück und musterte das zwanglose Festtreiben um sich herum.
"Ja, das sollten wir, das müssen wir sogar. Ich glaube, die Quarantäne ist jetzt ein für alle mal beendet."